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Leuchten

von

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Unter Leuchten

Vollkommen verwirrt sah Einar sich um. Eigentlich müsste er doch längst da sein, aber nichts, rein gar nichts in seiner Umgebung sah aus wie Stockholm, jedenfalls nicht so, wie es ihm beschrieben worden war. Und weit und breit war natürlich niemand zu sehen, der ihm hätte helfen können. Resigniert sah er auf seine Uhr. Er hatte noch eine halbe Stunde, bis er wieder zurück sein musste, und er hatte noch nichts gegessen. Wie sollte er denn bitte mitten in der Lampenabteilung ein Sofa finden? Oder, um die bessere Frage zu stellen: Wie sollte er die Sofaabteilung in diesem Labyrinth finden?

Einmal mehr verfluchte Einar sich selbst, dass er so schnell zu allem Ja sagte. Möbel ausmessen, Möbel schleppen, Möbel aufbauen. Seit seine Mutter mit der Umgestaltung ihrer Wohnung angefangen hatte, konnte er dem nicht entkommen. Und sie war noch nicht fertig. Bis jetzt war gerade einmal ihr Schlafzimmer und das Esszimmer, das einst sein Kinderzimmer gewesen war, fertig. Jetzt fehlten noch das Wohnzimmer – daher die Suche nach dem Sofa – sowie Gästezimmer, Küche und Diele. Schon jetzt war er mehr als nur ein bisschen dankbar, dass sie die Küche von Profis planen, anliefern und aufbauen ließ, das hätte er einfach nicht überlebt. Heute würde er auch nicht überleben, da seine Mutter sich nicht auf die Zahlen aus dem Internet verließ und ihn in seiner heiligen Mittagspause in diesen hassenswerten blauen Kasten schickte, um ein verdammtes Sofa auszumessen.

„Hallo“, begrüßte ihn plötzlich jemand freundlich.

Einar schaute auf und sah ihn das lächelnde Gesicht eines Mitarbeiters in den ebenso aufdringlichen wie rettenden IKEA-Farben.

„Hallo“, murmelte er leise.

„Du siehst verloren aus“, lächelte Tarek ihn an, seines Zeichens heute für die Lampenabteilung und alle darin verlorenen Seelen zuständig. „Wohin willst du denn?“

„Ich suche das Sofa 'Stockholm'“, gab Einar zu. „Aber ich bin komplett falsch.“

„Ja, das bist du. Aber das können wir ändern.“ Tarek lächelte weiter. „Komm mit.“

Etwas zögerlich folgte Einar ihm, der ihn weiter in das Labyrinth hinein zu führen schien. Doch nach zwei Minuten standen sie vor der Treppe, die wieder nach oben führte, und die Einar am Anfang seines Irrlaufs herunter gekommen war.

„So, du gehst jetzt einfach hoch und oben nach links, dort am Fahrstuhl vorbei und dann gleich wieder links, dann bleibst du immer auf dem großen, grauen Weg. Folge einfach den Pfeilen und du kannst die Sofas gar nicht verfehlen“, erklärte Tarek lächelnd und Einar fragte sich, ob er für ein größeres Lächeln einen Bonus bekam. Er glaubte jedenfalls nicht daran, dass der Mann, der ihm gegenüber stand, freiwillig so breit lächelte. Wieso sollte er, wo er doch in diesem seelenlosen Kasten arbeiten musste?

„Danke“, meinte Einar nur und ging los. Ohne dass er es merkte, beobachtete Tarek ihn, wie er die Treppe hoch lief. Selbst Tarek bemerkte es nicht wirklich, bis ihn eine Kollegin anstupste.

„Gibt's was schönes zu sehen?“, grinste sie ihn an.

„Was?“

„Ob es was schönes zu sehen gibt, wenn du dem Jungen hinterher starrst“, grinste sie weiter. Claudia war doppelt so alt wie Tarek, benahm sich manchmal aber wie seine kleine Schwester.

„Wollte nur sicher gehen, dass er sich auf der Treppe nicht verläuft“, meinte Tarek knapp und ging auf schnellstem Wege wieder in seine Abteilung.

Es war mal wieder einer der Tage, an denen nur wenige Menschen Möbel kaufen wollten, und den man genauso gut hätte draußen verbringen können. Seine Freunde hatten sich zum Fußball spielen im Park verabredet, aber nein, Tarek musste sich ja zwischen seinen Lampen langweilen. Alles war aufgeräumt, ordentlich ausgepreist und funktionstüchtig. Ab und an kam jemand vorbei, aber die wenigsten hatten Fragen. So kam es, dass Tarek bald wieder an den Verirrten dachte. Und er wurde neugierig. Warum suchte jemand, der diesen Laden so offensichtlich nicht mochte, ein Sofa hier? Warum hatte er ständig auf seine Uhr geschaut und einmal dabei seinen Bauch getätschelt? Und warum interessierte Tarek das alles überhaupt? Seufzend beobachtete er ein kleines Kind, dass mit großen Augen durch die Abteilung lief, genau in dem Moment erklang die Ansage „Der kleine Tobias wird von seinen Eltern gesucht“ und das Kind fing an, sich nach seinen Eltern umzuschauen und nach ihnen zu rufen. Noch ein Verirrter.

Zur selben Zeit, nicht weit entfernt, langweilte sich auch Einar in seinem Laden. Nach dem Ausmessen des Sofas hatte er es nur geschafft, sich einen der labbrigen Hot Dogs zu holen und auf dem Weg zwischen dem blauen Klotz und dem kleinen Buchladen im benachbarten Einkaufszentrum zu essen. Das Wetter war mies, was in seiner Definition „viel zu sonnig und warm“ bedeutete, und am liebsten hätte er sich wieder in seinem Bett verkrochen, aber er musste hier ja den Laden bewachen. Zum Glück störte es niemanden, wenn er während der Arbeit in Bücher vertieft war, solange er die Kunden nicht vor den Kopf stieß. Da es heute kaum Kunden gab, war auch dafür die Wahrscheinlichkeit gering, und er konnte in aller Ruhe sein Buch zu Ende lesen. Als er fertig war, fiel Einar auf, dass er auf den letzten Seiten immer das Gesicht des grinsenden IKEA-Typen vor sich sah, wenn von einem bestimmten Charakter die Rede war. Er schob es einfach darauf, dass der Charakter auch dunkle Haare hatte und immer fröhlich war. Damit war das für ihn erledigt. Die letzte halbe Stunde seines Arbeitstages verbrachte Einar damit, den Laden zu wischen und die wenige Unordnung zu richten, die die wenigen Kunden hinterlassen hatten. Ein paar Stammkunden waren wenigstens vorbei gekommen und hatten ihm und der Kasse ein bisschen Freude bereitet, auch wenn keiner ihm etwas zu essen mitgebracht hatte. Dann wäre er jetzt wenigstens nicht so verdammt hungrig. Ein Hot Dog reichte definitiv nicht zum Mittag.

Als er das Gebäude verließ, um zum Bus zu gehen, bemerkte er nicht, dass auf dem Mitarbeiterparkplatz einer der Fahrer der Wagen verdutzt zu ihm starrte. Tarek saß am Steuer seines kleinen alten Autos und begann, Schlussfolgerungen zu ziehen: Der Verirrte kam aus dem Mitarbeitereingang des Einkaufszentrums. Er schien den Weg zur Haltestelle sehr gut zu kennen, denn er sah nicht auf, während er ging. Und er schien gern zu lesen, jedenfalls las er im Laufen.

Tarek wurde von Dan aus seinen Gedanken gerissen. Dan war Kollege, Mitfahrer und Nervensäge in einem, aber er wohnte ganz ihn Tareks Nähe und gab ihm immer mal ein Bier aus, um sich fürs Mitnehmen zu bedanken. Leider brauchte Dan immer länger, um sich nach der Arbeit umzuziehen und so war es reine Routine, dass Tarek schon im Wagen saß, meistens Musik hörend, und auf Dan wartete.

„Alles in Ordnung?“, wunderte Dan sich.

„Klar, was soll schon sein?“, fragte Tarek zurück.

„Was weiß ich, du hast deine Musik gar nicht an. Da kann man sich doch mal wundern, oder?“

„Mir war nicht danach“, meinte Tarek nur und bekam am Rande mit, dass der Verirrte in den Bus einstieg, der in Richtung Innenstadt fuhr und auch dabei nicht von seinem Buch aufsah.

Schweigend fuhr Tarek nach Hause, was Dan zwar wunderte, aber er ließ es ausnahmsweise mal zu. Sonst redete er fast ununterbrochen, heute döste er nur vor sich hin, den Fahrtwind, der durch die offenen Fenster drang, im Gesicht.
 

Der Sommer sollte diese Woche seinen Höhepunkt erreichen und die Temperaturen auf knapp 40 Grad ansteigen. Nicht weit von einander entfernt waren zwei Menschen sehr dankbar für die Klimaanlagen ihn den Gebäuden, in denen sie arbeiteten. Leider waren ihre Kunden auch heute wieder lieber in Park, Schwimmbad oder gar nicht unterwegs, so dass sie beide sich wieder langweilten.

Tarek, der seine Kollegen sehr mit der Ankündigung verwunderte, er wolle zum Mittag einen Eisbecher essen, ging ins Einkaufszentrum und schlenderte, mit einer Eiswaffel als Tarnung, so unauffällig wie möglich an jedem einzelnen Laden vorbei, immer auf der Suche nach dem Verirrten. Er wusste selbst nicht wieso, aber er wollte ihn unbedingt wiederfinden. Einar war unterdessen damit beschäftigt, eine neue Lieferung auszupacken und verbrachte Tareks gesamte Mittagspause in dem kleinen Lagerraum hinter dem Laden, während seine Kollegin vorne Platz für die Neuheiten schuf. An diesem Tag sollte Tarek ihn erst sehen, als er auf Dan wartend, den Weg zur Haltestelle beobachtete, den Einar lesend bestritt.

Am Abend saß Tarek deprimiert in seinem Zimmer. Seine Eltern wunderten sich, dass er nicht ausging, schließlich war Freitag und er hatte das Wochenende über frei. Doch ihm gingen ganz andere Dinge durch den Kopf. Der Verirrte arbeitete in seiner Nähe, also musste er ihn finden können. Er wusste, wenn er ihn fand, würde alles klarer werden.

Einar hingegen verschwendete an diesem Abend keinen Gedanken an den Grinser und saß bis Mitternacht lesend auf seinem Bett. Er war so in sein Buch vertieft, dass er den lautstarken Streit seiner Nachbarn oder die Sirenen der vorbeifahrenden Feuerwehr gar nicht bemerkte. Und so war er mit diesem Buch auch schon wieder fertig, als er sich bei weit geöffnetem Fenster schlafen legte.
 

Obwohl er frei hatte, obwohl seine Kumpels an den See fuhren um wenigstens für einen Tag der Hitze der Stadt zu entkommen, zog es Tarek wieder zum Einkaufszentrum, wieder schlenderte er durch die klimatisierte Passage, mal mit Eis, mal mit Kaffee als Tarnung. Und wieder konnte er nur hoffen, dass... Er stoppte plötzlich und starrte unverhohlen über die Blumenkästen hinweg in die Buchhandlung auf der anderen Seite des Ganges. Da stand er lächelnd und sprach mit einer älteren Frau. Er zeigte ihr mehrere Bücher, sie lachten und schließlich kaufte sie zwei davon.

Buchladen. Natürlich, dachte Tarek. Deswegen hatte der Verirrte auch immer ein Buch in der Hand, wenn er zum Bus ging. Das war so logisch, dass es Tarek nicht im geringsten wunderte, dass er zu dieser Schlussfolgerung nicht selbst gelangt war.

Nachdem die Frau den Laden verlassen hatte, schaute sich Einar endlich um. Er hatte schon seit ein paar Minuten das Gefühl, beobachtet zu werden, und sah doch nur einen Typen, der auf sein Handy starrte und dabei mitten im Weg stand. Seufzend machte er sich daran, die Bücher, die die Dame nicht genommen hatte, wieder ins Regal zu stellen.

Allerdings hatte er auch später noch das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, auch wenn er nie jemanden sah. Er verließ schließlich den Laden mit einem unguten Gefühl und sah sich auch auf dem Weg zum Bus ständig um, ob er nicht doch jemanden entdeckte. Es war niemand da. Erst als er zu Hause in seiner Wohnung war, fühlte er sich sicherer. Und doch ging ihm dieses Gefühl nicht aus dem Kopf bis er schließlich einschlief.

Tarek hatte sich kurz vor 20 Uhr aus dem Staub gemacht. Je länger er sich in der Nähe des Ladens aufgehalten hatte, desto öfter hatte der Verirrte sich unsicher umgeschaut, als wüsste er, dass jemand immer wieder absichtlich an der Buchhandlung vorbei ging, nur um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Der Verirrte hatte an seinem Arbeitsplatz deutlich entspannter gewirkt als zwei Tage zuvor in der Lampenabteilung. Bei einer Naturdoku würde der Begriff „natürlicher Lebensraum“ fallen, was für einen Menschen eher unangebracht war, aber auf den Verirrten durchaus zutraf. Er lächelte und schien bei seinen Kunden nicht einmal ansatzweise so eingeschüchtert wie im Möbelhaus. Er bewegte sich durch den Laden als wäre er dort aufgewachsen und schien jeden Millimeter zu kennen. Eine Tatsache, die Tarek bewunderte. Selbst er kannte sich nach über einem Jahr noch nicht so gut in seiner Abteilung aus.

Immer noch grübelnd verbrachte Tarek den Sonntag wieder in seinem Zimmer, egal wie oft seine Freunde ihn anriefen oder ihm Nachrichten schickten. Sie fuhren zum See und er fuhr in Gedanken immer wieder zum gestrigen Tag. Gern hätte er den Mut aufgebracht, einfach hin zu gehen und sich dem Verirrten vorzustellen. Er hätte ja unter einem Vorwand in den Laden gehen können. Aber nein, er war zu feige gewesen. Und das, obwohl er das Gefühl hatte, sie könnten sich anfreunden.
 

Am Montag hatte Tarek seinen Vorwand: Seine Mutter hatte ihn gebeten, ein Kochbuch zu besorgen, ein ganz bestimmtes, in dem angeblich vernünftige Kuchenrezepte sein sollten. Doch zu seinem Verdruss war der Verirrte an diesem Tag nicht im Laden, so dass er das Buch bei dessen Kollegin bestellen musste, am nächsten Tag würde er es abholen können.

Einar saß glücklich und zufrieden den halben Tag in seiner Küche und den anderen halben Tag auf seinem Bett und las, wie er es auch am Tag davor getan hatte. Zwischendurch suchte er zwar einmal nach anderer Musik, aber das dauerte auch nur zehn Minuten. Seine Mutter rief am Nachmittag an, um ihm zu sagen, wann das Sofa geliefert würde, und dass er danach bitte zu ihr kommen sollte, um ihr beim Aufbau zu helfen. Er sagte zu und sie erinnerte ihn vorm Auflegen daran, dass er doch bitte ordentlich essen sollte. Etwas, das er mal wieder vollkommen vergessen hatte. Er hatte am Sonntag eine ganze Schüssel Müsli gegessen und am Montag bislang nur Kaffee und Wasser zu sich genommen. Und es war ihm nicht aufgefallen. Seiner Mutter gegenüber beschwerte er sich immer, wenn sie so etwas sagte, aber innerlich wusste er, dass es so besser war. Er würde es an manchen Tagen einfach vergessen. Sie erinnerte ihn auch, dass er öfter ausgehen sollte und nicht nur in seinen Büchern abtauchen. Er verschwieg ihr, dass er sich beobachtet gefühlt hatte und die Abgeschiedenheit seiner eigenen vier Wände heute zumindest allem anderen vorzog. Stattdessen schob er seinen Unwillen, das Haus zu verlassen, auf das Buch, das ihn gerade nicht losließ. Sie glaubte ihm.
 

„Hallo“, grüßte Einar Tarek am nächsten Tag, als der in der Mittagspause die Buchhandlung betrat.

„Hallo“, erwiderte Tarek und ging geradewegs auf den Tresen zu, hinter dem Einar gerade noch in einem Verlagsprogramm geblättert hatte. „Ich hatte ein Buch bestellt und ihre Kollegin sagte, es wäre heute schon da.“

„Ja, auf welchen Namen, bitte?“, fragte Einar und drehte sich schon zu dem Regal mit den Bestellungen.

Tarek nannte seinen Nachnamen und fügte gleich an: „Es ist das große Kochbuch, das dort liegt.“

Nickend nahm Einar das Buch und hielt es Tarek hin. „Wollen Sie nochmal kurz reinschauen?“

„Nein, es ist das richtige“, antwortete er nur und überlegte, wie er ein Gespräch anfangen sollte. Die Umstände würden es hergeben, sie waren allein im Laden. Doch es wollte ihm partout nichts einfallen, was er hätte sagen können. So kam es, dass Tarek nur noch bezahlte und mit dem Buch den Laden verlassen wollte.

„Danke nochmal, für die Rettung letzte Woche“, rief Einar ihm plötzlich hinterher und er sah sich verwundert um.

„Rettung?“, wunderte Tarek sich. Er war zu tief in den eigenen Gedanken gewesen, um Einars Gedankengang folgen zu können.

„Du arbeitest doch in der Lampenabteilung, oder?“, fragte Einar und deutete auf Tareks Shirt, dass seinen Arbeitsplatz nur allzu deutlich betonte.

„Äh... Ja.“

„Dann warst du es auch, der mir letzten Donnerstag geholfen hat, aus eurem Labyrinth zu entkommen. Danke“, lächelte Einar ihn an.

„Also... Labyrinth würde ich jetzt nicht dazu sagen... Du musst einfach nur immer den breiten, grauen Weg und den Pfeilen folgen.“

Einar lachte. „Seid ihr vertraglich dazu verpflichtet, so was zu sagen?“

„Nur solange wir die Arbeitskleidung tragen“, grinste Tarek.

„Schade, dass du sie trägst.“

„In dem Fall würde ich es auch ohne sagen, weil es doch nicht so schwer ist, sich da zurecht zu finden. Ein Weg, der überall hinführt. Ganz einfach.“

Wieder lachte Einar. „Wie der gelbe Ziegelsteinweg, was?“

„Der bitte was?“

„Der gelbe Ziegelsteinweg.“

Tarek blinzelte ihn nur verwirrt an, sein Gehirn wie leer gefegt.

„Kennst du nicht den Zauberer von Oz, seine Smaragdstadt und den gelben Ziegelsteinweg, der zu ihr führt, egal, in welcher Ecke des Landes man sich aufhält?“

Jetzt fiel bei Tarek sichtbar der Groschen. „Ja, klar, das war der Lieblingsfilm meiner Schwester als sie klein war.“

„Den Film habe ich ehrlich gesagt nie gesehen“, gab Einar zu.

„Was? Und das gibst du freiwillig zu?“, meinte sein Gegenüber entsetzt.

„Das Buch habe ich vielleicht zehnmal gelesen, wenn es dich beruhigt“, gab Einar zurück.

„Na gut, das lass ich dann mal zählen“, lächelte Tarek schon wieder. „Außer es gibt noch mehr Filmklassiker, die du nicht kennst.“

„Da wird es einige geben. Ich lese lieber als Filme zu schauen.“

„Von Berufswegen?“

„Nein, schon immer. Seit ich lesen kann. Und vorher habe ich mir halt nur die Bilder angeschaut und meine Mutter lesen lassen. Ständig. Das wirft sie mir heute noch vor.“ Ein schelmisches Grinsen breitete sich auf Einars Gesicht aus.

„Und was ist dein absolutes Lieblingsbuch?“, wollte Tarek wissen.

„Das gibt es nicht. Oder besser gesagt, es wären zu viele, und welches mein Liebling ist, wechselt ein bisschen je nach Stimmung. Im Moment würde ich sagen... 'Siddhartha'. Gelesen?“

„Nein. Ich... schaue lieber Filme...“, gab Tarek kleinlaut zu. Plötzlich kam es ihm so falsch vor, mit dem Verirrten zu reden, und er fühlte sich gerade in diesem Moment so unglaublich dumm. Seine Freunde waren allesamt keine Bücherfreunde, so fiel er nicht auf, aber ab und zu kam ihm schon der Gedanke, dass er mehr lesen sollte als nur Zeitschriften über Filme. Meist verwarf er diesen Gedanken schnell wieder und heute verfluchte er sich dafür.

„Vielleicht sollte ich das auch öfter tun...“, sinnierte unterdessen Einar.

„Ja, ab und an auf jeden Fall“, stimmte Tarek zu.

„War Dienstag nicht immer Kinotag?“, grinste Einar ein wenig.

So kam es, dass die beiden sich für den Abend verabredeten, um gemeinsam ins Kino zu gehen. Bei der anhaltenden Hitzewelle hielt man es im wohltemperierten Kinosaal eh besser aus als in den überhitzten Wohnungen.

Nachdem Tarek Dan hatte stehen lassen und Einar vom Weg auf den Mitarbeiterparkplatz abgebogen war, fuhren sie also zusammen in die Innenstadt. Einar streckte während der Fahrt die Hand aus dem geöffneten Fenster und schloss die Augen.

„Besser als der Bus, oder?“, meinte sein Fahrer lächelnd.

„Ja“, lächelte Einar ihn an. „Bei den meisten Bussen ist mittlerweile die Klimaanlage kaputt. Die halten dem Wetter noch weniger Stand als wir.“

„Und wir haben schon tierische Probleme damit“, grinste Tarek.

Sie lachten beide und bogen in die Tiefgarage des Kinos ab, die angenehm kühl war.

„Vielleicht sollten wir hier unten bleiben“, schlug Einar vor.

Tarek schüttelte den Kopf. „Die Luft ist zu mies. Ich geh lieber hoch und bleibe neben der Popcornmaschine.“

Sie sahen sich an und lachten keine Sekunde später, dann grinsten und schwiegen sie bis sie vor der Kinokasse standen.

„So, wir haben die Wahl...“, meinte Tarek und scannte die Anzeigetafeln.

„Ich habe keine Ahnung, was das alles für Filme sind, such du einen aus“, erwiderte Einar.

Um es Einar etwas leichter zu machen, wählte Tarek etwas aus, für das ihn seine Freunde nur aufgezogen hätten. Es war ein schlichter Arthouse-Film, in dem nichts explodierte und keine Witze unter der Gürtellinie gemacht wurden. Normalerweise schaute er sich so etwas nur an, wenn er allein war, wenn es niemanden gab, der diese Art Film verstanden hätte. Bei Einar war er sich aber sicher, dass er es verstehen würde, dass er diesen Film zu schätzen wusste. Gleichzeitig wunderte er sich, warum es so wichtig für ihn war, dass Einar sich wohlfühlte mit seiner Auswahl, dass er ihn nicht wie andere abstempelte.

Einar dagegen fühlte sich generell fremd in dieser Umgebung. Er war seit Jahren nicht mehr im Kino gewesen und damals auch nur in einem kleinen Programmkino, das es jetzt nicht mehr gab. Nicht wissend, wie er sich verhalten sollte, folgte er einfach Tareks Beispiel und holte sich eine Cola und Popcorn und ging hinter ihm in den Saal, der bis auf sie leer war. Kaum saßen sie, fing auch schon die Werbung an.

„Das hatte ich auch noch nie“, lächelte Tarek als er sich umsah.

„Was?“

„Wir haben den Saal für uns.“

Einar legte den Kopf schief. „Ist das gut oder schlecht?“

„Gut. Keiner, der Lärm macht, keiner, der von hinten an deinen Sitz tritt, keiner, der dumme Kommentare abgibt.“

„Vielleicht fange ich an, dumme Kommentare abzugeben“, sagte Einar nur.

„Dann fliegst du raus“, grinste Tarek und wieder lachten sie gemeinsam.

Am Ende des Films starrte Einar nur auf die dunkle Leinwand und konnte sich nicht rühren. Zu gern wäre er in den Film abgetaucht, in die Bilder, die Musik, zu gern würde er immer hier sitzen und in diesem Film leben. Tarek beobachtete ihn lächelnd von der Seite und stupste ihn an, als ein Kinomitarbeiter rein kam, um aufzuräumen.

„Komm, wir müssen gehen“, lächelte er den verdutzten Einar an.

„Schade“, murmelte der Angesprochene, stand aber auf.

„Schade?“

„Ja, der Film war fantastisch“, lächelte Einar.

Tarek strahlte. „Freut mich, dass er dir gefallen hat. Und wenn du nichts dagegen hast, können wir das ja öfter machen.“

Immer noch lächelnd stimmte Einar zu und sie gingen wieder schweigend in die Tiefgarage.

„Ich bring dich nach Hause. Wo wohnst du?“, meinte Tarek.

Einar nannte ihm die Adresse und sie fuhren los.

Die Fenster weit geöffnet, saß Einar später wieder im Dunkeln, aber diesmal ohne Film, ohne jemanden neben sich, ohne Popcorn. So schön der Abend auch war, so merkwürdig war er für ihn. Es hatte sich einfach zu sehr nach einem Date angefühlt, und das wollte er verhindern. Nicht, dass er etwas gegen Dates mit Männern gehabt hätte, ganz im Gegenteil, aber 1. wusste er nicht, wie Tarek zu Schwulen stand, und 2. war der Anfang seiner letzten, katastrophalen Beziehung auch ein Abend im Kino gewesen. Seine ganze Hoffnung konzentrierte er jetzt darauf, mit Tarek einfach nur befreundet zu sein. Denn genau das hatte er in den letzten anderthalb Jahren am schmerzlichsten vermisst: einen Freund.

Tarek grübelte ebenfalls. Auch ihm war die Ähnlichkeit des Abends mit einem Date aufgefallen, und genau das beschäftigte ihn. Wenn er mal mit nur einem Freund etwas unternahm, fühlte es sich nie so an, nicht einmal, wenn sie ins Kino oder essen gingen. Bis jetzt war ihm noch nie in den Sinn gekommen, dass sich ein Abend mit einem Mann so anfühlen könnte. Bis jetzt war er sich zu 100 Prozent sicher, dass er nur auf Frauen stand.
 

Die nächsten Tage wagte es keiner der beiden in den Laden des anderen zu gehen. Einar hatte immer seine Siddhartha-Ausgabe dabei, um sie Tarek geben zu können, sollte der vorbei kommen, aber er kam nicht vorbei, und auch auf dem Parkplatz entdeckte er abends das kleine, rostrote Auto, das der andere fuhr, nicht. Natürlich hätte Einar locker in die Lampenabteilung gehen können, aber die Angst, sich wieder zu verlaufen und sich wieder zum Deppen zu machen, war zu groß, also wartete er.

Tarek zog sich dagegen komplett zurück. Er nahm Dan nicht mehr mit, aß allein in der Kantine und redete abends kein Wort mit seiner Familie. Zu verwirrt war von sich selbst. Und erst langsam begann er, sich über sein eigenes Verhalten zu wundern. Warum hatte er Einar an der Treppe beobachtet? Warum hatte er ihn unbedingt finden wollen? Warum wollte er mit ihm sprechen?

Ja, da war das Gefühl gewesen, dass sie sich gut verstehen würden, Freunde werden konnten, aber eigentlich hatte er genug Freunde, bei denen er manchmal schon Probleme hatte, alle unter einen Hut zu bringen und keinen vor den Kopf zu stoßen. Was war mit ihm los?

Morgenleuchten

Eine Woche nach dem Abend im Kino stand Tarek plötzlich wieder vor Einar im Laden. Die Hitzewelle war in die Verlängerung gegangen und dementsprechend glücklich sah er aus, als er endlich im Kühlen Zuflucht gefunden hatte.

„Was ist denn mit dir passiert?“, wunderte Einar sich noch vor dem Hallo über das verschwitze Aussehen seines Gegenübers.

„Das Auto ist in der Werkstatt und der Bus hat zwei Kilometer vor dem Ziel den Geist aufgegeben“, grinste Tarek.

„Und du bist gelaufen, die Straße ohne Bäume oder sonstigen Schatten entlang“, schlussfolgerte Einar. „Du bist wahnsinnig.“

„Nur ein bisschen.“

„Okay. Was führt dich her, wo doch offenbar dein freier Tag ist?“

Tarek erhob lächelnd den Zeigefinger. „Hier muss ich korrigieren. Seit gestern habe ich drei Wochen Urlaub.“

„Das erklärt noch nicht, weshalb du jetzt vor mir stehst“, erinnerte Einar ihn.

„Ich wollte dich fragen, ob wir heute wieder ins Kino wollen?“

Einar stockte, fing sich aber gleich wieder. „Fragst du mich nach einem Date?“, fragte er leicht grinsend, und hoffte, Tarek verstand den Scherz.

„Hast du sie noch alle?“, meinte Tarek empört. „Ich wollte nur nicht alleine in einen Film, von dem ich glaube, er würde dir gefallen.“

„Schon gut, das war ein Scherz“, lächelte Einar beschwichtigend. „Und, ja, gerne.“

Tarek lächelte breit. „Sehr schön. Dann... wann hast du Feierabend?“

Einar sah auf seine Uhr. „In einer Stunde.“

„Was dagegen, wenn ich solange hier bleibe? Die Hitze ist noch unerträglicher als gestern.“

„Klar, kannst uns ja helfen“, grinste Einar und wie aufs Stichwort kam seine Kollegin mit einem riesigen Stapel Bücher aus dem Lager.

Unbewusst verzog Tarek das Gesicht.

„Anderer Plan“, lachte Einar. „Du besorgst uns Milchshakes und Melanie und ich erledigen das mit den Büchern.“

„Deal“, grinste Tarek, ließ sich von den beiden noch sagen, welche Sorte sie wollten und ging in Richtung Eiscafé. Vor einem der anderen Geschäfte sah er sich zufällig im Schaufenster und stellte fest, dass er sich besser noch ein anderes Shirt besorgen sollte, seines war komplett durchgeschwitzt. Er ging zielsicher in einen Laden und dort auf einen Tisch mit T-Shirts zu, als ihm etwas auffiel. Schnell wand er sich von den T-Shirts ab und griff nach einem einfachen weißen Hemd. Warum? Das fragte er sich selbst, konnte aber nicht anders.

Kurze Zeit später standen Tarek, Einar und dessen Kollegin Melanie um den Ladentisch, tranken ihre Milchshakes und unterhielten sich. Es stellte sich heraus, dass Melanie den Film kannte, den Tarek sehen wollte, und sie war ebenfalls der Meinung, er würde Einar gefallen. Sie jagte die beiden dann auch regelrecht aus dem Laden, noch vor Einars offiziellem Feierabend.

„Und genieß deinen Urlaub“, zwinkerte sie ihm zu.

Dieses Zwinkern ließ in Einar die Befürchtung aufkommen, sie dachte, er und Tarek hätten etwas miteinander. Auch um seine Unsicherheit zu überspielen, grinste er: „Immer.“
 

„Du hast dich umgezogen“, stellte Einar trocken fest, als sie nebeneinander im Bus saßen.

„Das Shirt war nicht mehr zu retten, nicht mit dem besten Waschmittel“, meinte Tarek nur. Beide sahen gerade nach vorn.

„Du hast es weggeworfen?“

„Klar, was hättest du gemacht?“

Einar zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich das selbe.“

„Siehste“, grinste Tarek ihn jetzt doch an und Einar grinste zurück. „Was meinte Melanie eigentlich mit 'Genieß deinen Urlaub'?“

„Dass ich Urlaub habe, zweieinhalb Wochen lang.“

„Cool“, lächelte Tarek und ein wohliges Gefühl machte sich in ihm breit. Einars Urlaub in Verbindung mit seinem eigenen bedeutete, dass sie durchaus mehr unternehmen konnten als nur Kino nach Feierabend.

„Ach ja?“, hakte Einar nach.

„Ja, dann hab ich jemanden, der auch tagsüber Zeit hat, und den ich nerven kann.“

„Und das lasse ich einfach so zu?“, wollte Einar wissen.

„Wenn ich Milchshakes mitbringe, sicher“, lachte Tarek.

Einen Moment lang sah Einar ihn abwägend an, dann nickte er. „Ja, das ist ein guter Plan.“

„Gut, dann gib mir mal deine Telefonnummer während wir hier so unnütz im Bus sitzen.“

Einar nickte und zog sein Handy hervor. „Ich hab's noch nicht lange und kann mir die Nummer nicht merken...“

„Ich kann meine nach 5 Jahren noch nicht auswendig“, gab Tarek zu und tippte die Nummer in sein Telefon, als Einar sie ansagte.

„Meine vorherige kannte ich, die hatte ich seit kurz nach dem Abi, aber... na ja.“

„Was 'na ja'?“, wollte Tarek wissen.

Einar sah aus dem Fenster. „Es sind ein paar unschöne Dinge passiert... Beziehungsstress, oder besser Ex-Beziehungsstress, und darüber will ich nicht wirklich reden.“

„So schlimm?“

„Ja, und vielleicht erzähle ich es dir irgendwann, aber nicht heute, ja?“, bat Einar ihn und sah ihn wieder direkt an.

„Geht klar“, lächelte Tarek. „Heute schauen wir Filme und genießen die Nacht danach.“

Dankbar lächelnd nickte Einar.
 

Der Bus hielt in der Innenstadt und sie unterhielten sich zwischen der Haltestelle und dem Kino nur über Tareks Familie. Seine Großeltern waren mit ihren schon fast erwachsenen Kindern von Tunesien nach Deutschland gekommen und hatten darauf bestanden, dass die Kinder beide etwas solides lernten. So wurde aus Tareks Vater Elektriker und aus seiner Mutter Krankenschwester. Tarek selbst wurde von seinen Eltern dazu gedrängt, Abitur zu machen und schaffte es knapp. Er hatte sich in einen NC-freien Studiengang eingeschrieben, um die Erwartungen der Familie zu erfüllen, war aber schon im ersten Semester durch jede Prüfung gefallen. Am Ende hatte er ohne das Wissen seiner Eltern oder seiner Schwester einen Ausbildungsplatz bei IKEA bekommen und war dort einigermaßen zufrieden mit seinem Job, so zufrieden man in einem großen Konzern mit netten Kollegen und merkwürdigen Chefs eben sein kann. Jetzt wohnte er immer noch bei ihnen, weil seine Mutter es jedes Mal, wenn er sich eine Wohnung suchen wollte, schaffte, ihn zu überreden, doch da zu bleiben. Er würde allein ja gar nicht klar kommen, wand sie immer ein, obwohl er kochen, waschen und putzen konnte. „Mütter halt...“, seufzte Tarek und sie standen vor der Kinokasse.

Im Saal dann stellte Tarek eine Frage, über die er sich schon von Beginn an gewundert hatte.

„Wie kommt es eigentlich, dass du Einar heißt? Ist ja für unsere Gegend doch ungewöhnlich...“

„Der Name meines Vaters“, fing Einar an zu erzählen.

Sein Vater war Norweger und hatte sich während seines Auslandssemesters in Deutschland in seine Mutter verliebt, also kam er nach seinem Abschluss zurück. Er machte ihr einen Antrag, sie wurde schwanger. Dann, einen Monat vor der Geburt und sechs Monate vor der geplanten Hochzeit, hatte er einen Autounfall. So kam Einar ohne Vater zur Welt, dafür aber mit dessen Namen und einer Mutter, die ihn über alles liebte und verwöhnte wo sie nur konnte und eine der stärksten Frauen war, die er je kennengelernt hat. Seine einzigen Großeltern lebten in Norwegen, doch die hatte er in seinem Leben vielleicht viermal gesehen. Sie erkannten in ihm zu oft ihren eigenen, einzigen Sohn und konnten seinen Anblick nur schwer ertragen, da Einar seinem Vater als Kind zum Verwechseln ähnlich sah, selbst jetzt tat er das noch. Allerdings schrieben sie ihm regelmäßig, so wie auch Einar regelmäßig schrieb, seit er 16 war sogar auf norwegisch.

„Du kannst norwegisch?“, fragte Tarek anerkennend.

„Ein bisschen. Wenn ich ihnen schreibe, sitze ich immer noch mit Wörterbuch da, auch nach über zehn Jahren. Ich scheine trotzdem besser zu werden, jedenfalls haben sie das geschrieben.“

„Cool. Ich soll immer arabisch lernen, dabei bin ich schon froh, dass ich in der Schule Englisch und Französisch überstanden habe.“

Einar lachte. „Kein Glück mit Sprachen?“

„Englisch geht mittlerweile, auch weil ich viele Filme im Original schaue, das hilft, auch wenn ich noch oft Untertitel anhabe. Alles andere? Nein, kein Glück.“ Tarek lächelte ihn an und der Film ging los.

Er hatte ein hoffnungsvolles Ende und doch, als Tarek zu Einar sah, rollten unzählige Tränen über dessen Wangen.

„He, was ist denn los?“, fragte Tarek vorsichtig und Einar sah ihn direkt an, weinte aber weiter.

Kurzentschlossen zog Tarek ihn in seine Arme und strich ihm über den Rücken, schwieg aber erst einmal.

Einige Minuten vergingen, in denen Einar sich am Hemd des anderen festkrallte und lautlose Tränen flossen. Schließlich löste er sich von Tarek und wischte sich ungeschickt die letzten Tränen aus dem Gesicht.

„Lass uns gehen“, meinte Tarek ruhig und stand auf. Einar folgte ihm.

Sie liefen schweigend und ziellos durch die Innenstadt, bis Einar auf eine Bar zeigte, Tarek nickte und sie sich einen Tisch suchten. Es war Dienstag, also war nicht viel los und sie konnten sich den ruhigsten Tisch aussuchen.

„Was willst du trinken?“, wollte Tarek wissen, als der Kellner kam, Einar aber noch nicht in die Karte geschaut hatte.

„Irgendwas“, antwortete Einar nur und sah weiter abwesend aus dem Fenster, also bestellte Tarek zwei Whiskey.

Tarek lehnte sich zurück und beobachtete ihn nur. Irgendwann sah Einar zu ihm.

„Was ist?“, wollte er wissen.

„Ich frage mich, ob alles in Ordnung ist. Ob ich dir helfen kann.“

Einar sah für einen Augenblick überrascht, ja fast schon erschrocken aus, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, es ist nur... etwas an dem Film hat mich an früher erinnert, an die Ex-Beziehung, über die ich nicht reden kann. Am... am liebsten wäre ich zwischendurch aufgestanden und abgehauen, aber ich konnte mich nicht bewegen.“

„Es tut mir so leid“, sagte Tarek leise, ernst und ehrlich. „Hätte ich das gewusst...“

„Ich weiß. Du konntest es nicht wissen. Von dem, was du und Melanie über den Film gesagt habt, wusste ich es ja nicht mal.“

„Melanie weiß auch nichts über die Ex-Beziehung, oder?“

Wieder schüttelte Einar den Kopf. „Ich habe den Job in dem Buchladen erst nach dem ganzen Stress angefangen. Und ich wollte den Stress von dort weghalten. Von der Zeit davor habe ich nur noch meine Bücher, meine Musik und meine Klamotten, alles andere ist weg.“

„Dann ist es schlimmer als ich angenommen habe“, murmelte Tarek.

„Ich wollte einen Schlussstrich ziehen, den hat er Film heute aber leider teilweise weg radiert.“

„Es tut mir leid“, wiederholte Tarek.

„Muss es nicht. Es hat gut getan, einfach mal zu heulen, auch wenn es verdammt peinlich ist.“

Tarek lächelte ihn an. „Es muss dir nicht peinlich sein, solange es dir besser geht.“

„Danke.“ Und ein kleines, noch unsicheres Lächeln stahl sich auf Einars Gesicht.

Ihr Whiskey wurde gebracht und sie stießen auf den Urlaub an.

„Okay, lass uns von fröhlicheren Dingen reden“, lächelte Einar nach dem ersten Schluck.

„Was denn?“, hakte Tarek nach.

„Bücher und Filme?“, schlug der andere vor. „Oder das Wetter, nervige Lehrer, Vorgesetzte und Kollegen.“

„Okay, also...“ Tarek begann zu erzählen und bald waren sie in einer lebhaften Unterhaltung gefangen, die einige Gläser Whiskey dauerte, bevor der Kellner ihnen mitteilte, dass die Bar schloss.

„Ganz ehrlich, ich kann so nicht nach Hause...“, lallte Tarek etwas.

„Wieso?“, wunderte Einar sich.

„Meine Eltern. Solange ich bei ihnen wohne, darf ich nicht trinken, nicht offiziell jedenfalls. Meine Eltern sind religiös, auch wenn ich es nicht bin.“

„Komm mit zu mir“, schlug Einar vor und ohne lange zu zögern, stimmte Tarek zu.

Sie liefen, was Dank Umwegen über eine Stunde dauerte, die beiden aber wieder einigermaßen aufrichtete, wenn auch nicht komplett ausnüchterte. Und natürlich redeten sie ununterbrochen weiter. Unterwegs war es einfach, Erinnerungen zu teilen. Beide waren in dieser Stadt aufgewachsen, beide erinnerten sich an dieselben längst geschlossenen Läden, an dieselben komischen Käuze, die es in jeder Stadt gibt. Insgeheim bedauerten beide, sich nicht früher getroffen zu haben, doch das blieb das einzig unausgesprochene.

Einars Wohnung lag in einem Altbau in der dritten Etage und bestand aus Flur, Küche, Bad, einem großen Zimmer, Holzfußböden und hohen Decken. Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, streifte Einar die Schuhe ab und warf sie in eine Ecke, nach nur kurzem Zögern folgte Tarek seinem Beispiel. Schon im Flur wurde Tarek klar, dass Einar eher sparsam mit Möbeln umging. Es gab im Flur ein paar Kleiderhaken, in der Küche war alles komplett zusammen gewürfelt und der Router stand in einer Ecke des Flurs auf dem Boden.

Nachdem er noch zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank geholt hatte, ging Einar ins Wohnzimmer. Tarek sah sich interessiert um während sein Gastgeber nur eine Schreibtischlampe neben dem Bett und eine auf dem Schreibtisch anschaltete. Auch hier gab es wenige Möbel, nicht einmal ein Bett im eigentlichen Sinne. Direkt unter dem Fenster, in einem Erker, lag eine große Matratze. Neben der großen, alten Flügeltür stand ein Kleiderschrank, auf der anderen Seite der Tür eine Kommode. Ein Schreibtisch stand neben dem Erker unter einem weiteren Fenster, darauf Laptop und Drucker, davor ein alter, gepolsterter Stuhl. Alle restlichen Wände wurden von Bücherregalen verdeckt. Vor einem der Regale stand ein Plattenspieler auf dem Boden. Mit großen Augen stellte Tarek fest, dass die Regale vollgestopft waren mit Büchern. Selbst auf der Kommode stapelten sie sich, neben er kleinen Lampe am Bett und unter dem Fenster auf der anderen Seite des Erkers. Die einzigen Orte ohne Bücher waren die Fensterbänke, das ungemachte Bett und der große freie Raum in der Mitte des Zimmers.

„Du hast bestimmt etwas anderes erwartet“, lächelte Einar, ließ sich auf den Boden vor einem Regal fallen, lehnte sich daran und trank von seinem Bier.

„Wenn ich an Wohnungen denke, stelle ich mir für gewöhnlich mehr Möbel vor. Sofas, Sessel, Betten“, gab Tarek zu und setzte sich auf den Stuhl.

Einar lachte. „Das hatte ich anfangs auch vor, aber erstens hasse ich Möbelhäuser und zweitens habe ich mein Geld dann doch lieber für Bücher ausgegeben. Die Küche habe ich so übernommen, nur einen neuen Kühlschrank musste ich kaufen. Die Matratze und die Regale sind neu, alles andere ist gebraucht.“

„Warum?“

„Geld war der Hauptgrund. Ich hatte nichts außer meinen Klamotten und meinen Büchern.“

„Wieso?“

Einars Lächeln verschwand. „Wegen des Ex-Beziehungsstresses. Vor langer, langer Zeit habe ich schon ein halbes Sofa, ein halbes Bett, einen halben Esstisch besessen. Dann stand ich eines Tages vor der Tür meiner Mutter und alles war vorbei. Die für mich wichtigsten Sachen habe ich retten können.“

„Die Bücher“, flüsterte Tarek.

„Genau“, lächelte Einar ihn traurig an und Tarek wünschte sich nichts mehr als zu wissen, wie er diese Traurigkeit beenden könnte.

„Du liebst sie mehr als alles andere, oder?“

„Im Moment ja“, gab er zu.

Etwas wehmütig beobachtete Tarek Einars Blick, der über die Regale glitt. Zu gern hätte er auch etwas gehabt, das er so liebte, doch selbst Filme lösten nicht das in ihm aus, was in Einars Augen schimmerte.

„Was hast du?“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. „Zweifelst du an meiner geistigen Gesundheit?“

Tarek schreckte auf. „Was? Nein, sorry. Ich bin nur abgedriftet, das passiert oft, wenn ich was getrunken habe.“

„Kann man was dagegen tun?“

„Beschäftige mich“, lächelte Tarek auffordernd.

„Und wie?“

„Lass dir was einfallen, es ist deine Wohnung.“

Einar überlegte. „Ich habe eine Idee. Komm mit.“

Er sprang auf und lief in den Flur. Etwas verwirrt folgte Tarek ihn.

Nachdem sie ihre Schuhe angezogen hatten, verließ Einar die Wohnung, ging allerdings die Treppe nach oben. Tarek wunderte sich noch mehr.

Am Ende der Treppe schloss Einar eine Metalltür auf und winkte Tarek, ihm weiter zu folgen. Sie standen schließlich auf dem Dach. Ein paar Meter waren flach, dann ging es steil nach unten.

„Dürfen wir hier sein?“, fragte Tarek. Seine Begeisterung konnte Einar aber nur zu deutlich sehen.

„Ich glaube nicht, aber ich habe den Schlüssel. Mein ehemaliger Nachbar hat ihn mir bei seinem Auszug gegeben.“

„Cool.“

Einar nickte und sah sich um. Die Nacht war klar, die Temperaturen endlich einmal erträglich und ganz im Osten wurde der Himmel langsam heller.

„Danke.“ Tarek strahlte übers ganze Gesicht, während er nach Osten sah.

Innerlich seufzte Einar. Seit er hier lebte, hatte er den Sonnenaufgang an diesem Ort schon unzählige Male gesehen und egal, wie fantastisch das Farbspektakel war, er konnte es nie so genießen wie es Tarek augenscheinlich tat. Er beneidete ihn darum.

Erst als die Sonne vollständig aufgegangen war, schaute Tarek wieder zu Einar, der gerade herzhaft gähnte.

„Lass uns schlafen gehen“, lächelte er.

„Gute Idee“, stimmte Einar zu.

In der Wohnung sah Tarek ihn an. „Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit hast du kein Gästebett.“

„Ist das schlimm?“

„Nein, ich wollte nur sichergehen.“

„Sorry. Dafür habe ich aber noch eine neue Zahnbürste im Bad.“

Tarek lachte. „Danke.“

Als sie schließlich nebeneinander im Bett lagen, von dünnen dünnen Laken als Deckenersatz bedeckt und unter den offenen Fenstern, und an die Decke starrten, fragte Einar sich, wie Tarek wohl reagieren würde, wenn er erfuhr, dass die Ex-Beziehung ein Mann gewesen war. Wie würde er reagieren, wenn er wüsste, dass es bis jetzt und in alle Ewigkeit nur Männer waren und sein würden? Er gab es ungern zu, aber er hatte Angst, Tarek gleich wieder zu verlieren.

Neben ihm fragte Tarek sich, weshalb er Einar so genau beobachtet hatte, als dieser ins Bett kam, nur mit Boxershorts bekleidet. Es war ein Gedanke, der ihn zutiefst verwirrte und eine ganze Weile sein Einschlafen verhinderte.
 

Es war schon wieder unerträglich heiß, als Einar an diesem Mittwoch erwachte. Ein bisschen spürte er, dass er am Abend zuvor zu viel getrunken hatte, aber etwas anderes störte ihn in diesem Augenblick. Er spürte einen merkwürdigen Druck auf der Brust, hatte aber keine Schmerzen. Langsam öffnete er die Augen und sah einen Kopf auf sich liegen. Schwarze Haare standen in alle Richtungen ab, Bartstoppel bedeckten das Kinn und das Gesicht war so friedlich, dass Einar sich nicht einmal wunderte, was es da machte. Er beobachtete Tarek einfach noch ein paar Minuten beim Schlafen, auch weil er ihn nicht wecken wollte durch irgendwelche Bewegungen.

Leider musste er bald ins Bad und versuchte, Tareks Kopf vorsichtig hochzuheben während er zur Seite rutschen wollte, dann hätte er Tarek nur wieder hinlegen müssen und er wäre frei. Natürlich ging der Plan nicht auf und nach einigen Sekunden blinzelte Tarek ihn an.

„Tut mir leid“, flüsterte Einar.

„Was?“, wunderte Tarek sich verschlafen.

„Dass ich dich geweckt habe, aber... na ja, du liegst halb auf mir und ich muss aufs Klo.“

Der andere blinzelte ihn weiter verwirrt an, bis die Worte sein Gehirn erreichten, dann rutschte er zur Seite. „Sorry“, murmelte er rot werdend.

„Schon gut“, lächelte Einar und stand auf. „Schlaf noch ein bisschen weiter.“

Tarek nickte und drehte sich zur Seite. Er hörte, wie Einar den Raum verließ, und vergrub sein Gesicht im Kissen nachdem die Tür wieder ins Schloss gefallen war. Er hatte auf ihm gelegen? Was sollte das denn werden? Warum tat sein Körper so etwas während sein Verstand sich nicht wehren konnte? Er hatte sich schon mit Menschen das Bett geteilt, ohne am Ende der Nacht auf ihnen zu liegen, ohne sie zu berühren, ohne sich danach für irgendetwas entschuldigen zu müssen. Frustriert zog er sich das Laken ganz über den Kopf und machte seinem Körper für diese Peinlichkeit Vorwürfe.

In der Küche wurde in der Zwischenzeit Kaffee gekocht und ein leichtes Frühstück vorbereitet, was nach Einars Definition einer Schale Müsli entsprach. Er saß danach grübelnd an seinem kleinen Küchentisch und überlegte, was als nächstes zu tun war. Zu seinem Bedauern konnte er sich nicht konzentrieren. Was genau er bedauerte, war die Unfähigkeit zur Konzentration, nicht was ständig vor seinem inneren Auge auftauchte: Die verwuschelten Haare, die weichen Lippen, der friedliche Ausdruck auf Tareks Gesicht.

Irgendwann hielt Tarek es nicht mehr aus und stand ebenfalls auf. Er zog sich an, ging kurz ins Bad und fand Einar schließlich in der Küche.

„Hey“, grüßte er ihn leise.

„Morgen, Schlafmütze“, lächelte Einar. „Kaffee?“

„Gute Idee“, erwiderte Tarek und setzte sich, während der andere eine neue Maschine ansetzte.

„Dauert ein paar Minuten, den ersten habe ich schon alle gemacht.“

„Schon gut. Eigentlich wäre Eiskaffe ja eh besser bei diesen Temperaturen“, meinte Tarek.

„Eigentlich ja“, stimmte Einar zu.

„Danke.“

Einar sah ihn verwundert an. „Wofür?“

„Dass ich hier schlafen konnte. Für den Sonnenaufgang. Den Kaffee.“

„Du musst dich dafür nicht bedanken“, lächelte Einar.

„Wirst du mich schlagen, wenn ich es trotzdem tue?“

„Nur wenn du nicht auf so was stehst“, grinste Einar.

Für den Bruchteil einer Sekunde stockte Tarek, dann lachte er.

Die Kaffeemaschine verkündete schließlich durch ein lautes Röcheln, dass sie mit ihrer Arbeit fertig war, und Tarek lobte brav den Kaffee, den er zwar mochte, der aber gern hätte stärker sein dürfen. Seine Familie war mit Genen gesegnet, die sehr starken Kaffee vorzogen.

„Was hast du heute vor?“, fragte Tarek.

„Nichts“, gab Einar zu. „Was ist mit dir?“

„Nichts. Noch nicht.“

Einar sah ihn abwägend an. „Wie wäre es also, wenn wir zusammen nichts tun?“

„Oder wir machen zusammen etwas.“

„Oder Alles und Nichts.“

„Oder wir lassen den Tag einfach auf uns zukommen.“ Tarek sah ihn leicht lächelnd an.

Einar nickte. „Klingt nach einem perfekten Plan für den Sommer.“

„Ich habe nur perfekte Pläne“, meinte Tarek gespielt arrogant.

„Wie der Film gestern“, lachte Einar.

„Das tut mir wirklich Leid. Hätte ich das gewusst....“, entschuldigte Tarek sich zum gefühlt 3.542.158. Mal. Einar hatte nach dem sechsten Mal aufgehört zu zählen.

„Ich zieh dich nur auf. Manchmal bemerke ich auch bei Büchern zu spät, dass sie die Wunden aufreißen, dann ist nur keiner da, der mich trösten könnte. Und wenn du schon mal in einem vollen Bus in Tränen ausgebrochen bist, weißt du, was peinlich ist.“

„Ich glaube, ich verzichte gern auf diese Erfahrung.“

Sie grinsten sich an und instinktiv wusste Einar, dass er jetzt nicht mehr allein war. Und wenn alles gut lief, da war er sich sicher, würde diese Freundschaft ein Leben lang halten.

Wetterleuchten

Sie lagen im Wohnzimmer auf dem Boden und hörten nur auf die Musik. Es lief eine von Einars Lieblingsplatten, ein Musical von dem Tarek noch nie etwas gehört hatte. Aber eigentlich hatte er von keinem der Künstler etwas gehört, die Einar hatte. Tarek mochte tanzbare Musik. Er ging gerne in die Clubs und tanzte sich den Kopf frei. Ohne Beat war Musik langweilig.

Jetzt lag er hier schon seit mehreren Stunden und lernte, dass es gar keinen Beat brauchte. Was auch immer Einar aufgelegt hatte, hatte ihm gefallen. Diese Erkenntnis fand er sehr faszinierend und fragte sich, weshalb er so lange dafür gebraucht hatte.

Plötzlich wurde die Ruhe allerdings durch das Summen von Einars Handy gestört, der seufzend aufstand und das eingehende Telefonat annahm.

„Wir müssen doch nochmal raus“, verkündete er grinsend und machte die Musik aus.

„Wieso?“

„Ich muss zum Optiker.“

„Du hast eine Brille? Oder Kontaktlinsen?“, wunderte Tarek sich, der weder das eine noch Hinweise auf das andere gesehen hatte.

„Noch nicht. Die haben gerade angerufen, dass ich meine neue Brille abholen kann“, erklärte Einar. „Meine alte ist vor kurzem total zerstört worden, als sie mir in der Küche runtergefallen ist und ich Volltrottel draufgetreten bin.“

„Soll das heißen, du siehst momentan nicht viel?“

Einar lachte. „Ich sehe genug, so schlecht sind meine Augen nicht, aber mit der Zeit wird es anstrengend. Ein Film im Kino ist die Grenze des Möglichen.“

„Dann holen wir dir jetzt die Brille und gehen dann in eine Doppelvorstellung“, schlug Tarek grinsend vor.

„Jetzt werd mal nicht übermütig.“ Wieder lachte Einar und ging zum Schrank, um sich ein neues Shirt zu holen.

Als er sich das alte T-Shirt auszog, fiel Tarek eine lange Narbe auf, die quer über seinen Rücken ging. Instinktiv wollte er danach fragen, ahnte aber, dass er damit nur in Wunden bohren würde, also ließ er es sein. Zum Dank wurde er mit einem T-Shirt beworfen.

„Hier, das dürfte dir passen und ist sauber“, lächelte Einar ihn an.

„Danke“, murmelte Tarek und zog es über. Nach dem Kaffee und dem Gespräch in der Küche hatte er geduscht und sein neues Hemd nicht wieder angezogen, weil es den gestrigen Abend nicht sauber überstanden hatte.

Sie liefen wieder in die Innenstadt, benötigten diesmal nur eine halbe Stunde. Es war immer noch heiß und die Luft flirrte über den Straßen, aber sie liefen unter den großen, alten Bäumen in Einars Viertel entlang und holten sich zwei Straßen von seiner Wohnung entfernt Frappuccinos für den Weg. Tarek erzählte auf dem Weg viel von seiner kleinen Schwester, die ihn als Kind ständig genervt hatte und als Erwachsene weiter machte. Sie war gerade achtzehn geworden und machte eine Ausbildung zur Krankenschwester, wie ihre Mutter eine war. Aus jedem Wort, das er über sie sagte, hörte Einar heraus, dass Tarek sie trotzdem von ganzem Herzen liebte und jedem wehtun würde, der ihr wehtat.

„Du liebst deine Familie“, stellte Einar daher fest als sie an einer Ampel warten mussten.

„Am Ende sind sie diejenigen, die du hast. Freundschaften können zerbrechen, manche sehr schnell, aber Familie bliebt. Ich stimme nicht mit allem überein, was meine Eltern oder Yasmin tun und denken und sagen, aber ich liebe sie trotzdem. Und du bist der erste, dem ich das so offen sagen kann...“

Einar strahlte ihn an. „Das freut mich“, sagte er leise.

Lächelnd schüttelte Tarek den Kopf und sah zur Ampel, die gerade wieder auf Rot schaltete. „Und jetzt müssen wir weiter warten.“

„Deine Schuld.“

„Meine? Niemals! Deine!“

Sie lachten.

Zehn Minuten später standen sie beim Optiker und Einars Brille wurde ein letztes Mal angepasst. Einar hatte ihn angegrinst, als er sie das erste Mal aufgesetzt hatte. Sie war perfekt für ihn, auch wenn für Tareks Geschmack zu viele Idioten mit ähnlichen Brillen durch die Gegend liefen, denen sie nicht einmal standen. Bei Einar war das anders. Das dunkle Gestell war wie für sein Gesicht gemacht. Schon im ersten Moment wurden Brille, die dunkelblonden Locken und das leicht kantige Gesicht zu einer Einheit. Einer makellosen Einheit.

Etwas erschrocken über seine eigenen Gedanken schüttelte Tarek schnell den Kopf und sah aus dem Schaufenster nach draußen. Die Fußgängerzone war so gut wie leer, und die wenigen Menschen, die vorbei liefen, hatten Eis oder kalte Getränke in der Hand, einige auch Schirme gegen die Sonne. Durch Tareks Kopf schossen aber andere Dinge als der Kampf gegen den Sommer. Wieso hatte er das gedacht? Was sollte das bitte bedeuten? Einmal mehr zutiefst verwirrt bemerkte er nicht, dass Einar neben ihn trat und verkündete, dass sie gehen konnten. Erst als sein Arm angestupst wurde, fand er wieder zurück in die Gegenwart.

„Wo warst du denn?“, lächelte Einar ihn an.

„Weg“, gab Tarek leise zu.

„Lass uns gehen.“

Tarek sah ihn fragend an. „Wohin?“

Einige Sekunden überlegte Einar, dann nickte er und ging einfach los.

„Sagst du mir jetzt, wo wir hin gehen?“, rief Tarek, folgte ihm aber.

„Wir holen uns noch was zu trinken und dann gehen wir zu einem meiner Lieblingsplätze in der Stadt.“

„Klingt gut“, erwiderte Tarek.

Sie holten sich in einem Coffeeshop riesige Becher frischen Eistee. Noch etwas, was Tarek eigentlich nicht mochte, aber es schmeckte und schien Einar glücklich zu machen, zwei Gründe, Vorurteile über Bord zu werfen. Dann gingen sie in einen Park und dort in die Nähe eines kleinen Sees, der von Ruder- und Tretbooten bevölkert wurde. Auf dem großen Spielplatz direkt neben der Eisdiele liefen Kinder, aufgeputscht von Eis, durch den Sand und Eltern saßen auf den Bänken im Schatten und beobachteten ihre Sprösslinge. Die Terrasse des Cafés war voller Rentner, die sich über den Lärm der Kinder beschwerten und die Schlange am Fenster für den Straßenverkauf schien unendlich. Einar führte Tarek an all dem vorbei und bog in einen ruhigeren Teil des Parks ein, wo sich alte, kaum beachtete Laubengänge befanden, an deren Steinsäulen Efeu empor wuchs.

„Hier komme ich gern her zum Lesen. Der Lärm dringt kaum durch die Pflanzen und Säulen und kein Mensch verirrt sich hier her.“

„Nur du“, korrigierte Tarek.

„Ja, nur ich. Früher saßen hier öfter irgendwelche Säufer, aber seit der Spielplatz vorne existiert und der ganze Park aufgeräumt wurde, kommt die Polizei öfter vorbei und die Säufer sind weg. Jetzt ist es einer der friedlichsten Orte, die ich kenne“, erklärte Einar.

„Ich glaube, ich weiß, was du meinst.“

„Komm, setzen wir uns“, lächelte Einar und ging zu einer der Steinbänke, die zwischen den Säulen standen.

„Wie oft kommst du her?“, fragte Tarek.

„Immer wenn mir zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, ich aber trotzdem meine Ruhe haben will“, meinte Einar mit geschlossenen Augen. „Natürlich muss das Wetter mitspielen.“

„Hast du viele solcher Orte?“

„Nur das Dach und diese Ecke hier. Wenn mir nach Trubel ist, setze ich mich aber auch gern einfach in ein Café, trinke meinen Kaffee dort und lese.“

Tarek zögerte, dann fragte er leise: „Darf ich dir eine Frage stellen, die etwas persönlicher ist? Du musst sie auch nicht beantworten, wenn du nicht willst.“

„Das kommt auf die Frage an“, antwortete Einar.

„Die Narbe auf deinem Rücken... woher kommt die?“

Einar sah ihn mit großen Augen an, dann senkte er den Kopf. Er wusste, dass er darüber reden musste, irgendwann, und er ahnte, dass Tarek genau der richtige Mensch dafür war, aber war er bereit?

Er schluckte, atmete tief durch und begann: „Die Ex-Beziehung. Bevor wir zusammen waren, war ich noch kein Einzelgänger, ganz im Gegenteil. Aber er war eifersüchtig. Jedes Mal, wenn ich mich mit meinen Freunden traf, musste ich Rechenschaft ablegen. Ich war wirklich verliebt und wollte für immer mit ihm zusammen sein, also tat ich alles, um ihn zu halten. Ich gab meine Freunde auf, meine Zeit für mich. Wir zogen zusammen und wenn ich später als gewöhnlich von der Arbeit kam, ließ ich die Vorwürfe über mich ergehen. Meine Mutter meinte einmal zu mir 'Du bist nicht mehr du', und sie hatte Recht. Dann fing in dem Laden, in dem ich damals gearbeitet habe, ein neuer an und wir verstanden uns wirklich gut, als Freunde. Ich hatte nur noch auf der Arbeit die Chance so etwas wie eine Freundschaft aufzubauen, und ich wollte das so sehr. Jeder braucht doch Freunde, oder? Während der Arbeitszeit war auch alles gut, doch dann gingen wir eines Tages gemeinsam in der Pause essen. Wir redeten und lachten und taten nichts, was wir sonst nicht auch taten, nur dass wir keine Bücher dabei einsortierten, sondern aßen. Am Abend kam ich nach Hause und er rastete aus. Ich würde ihn betrügen, ihn hintergehen, ihn nicht wirklich lieben. Egal, was ich sagte, es wurde nicht gehört. Alles Ausreden. Die Freundin meines angeblichen Kollegen würde ich auch nur erfinden. Ich saß heulend in der Ecke und es hörte nicht auf. Ich wollte nur noch raus. Und er hatte plötzlich ein Messer in der Hand. Ich rannte und er schaffte es nur, meinen Rücken zu streifen. Ich rannte den ganzen Weg durch die halbe Stadt zu meiner Mutter und fiel ihr heulend in die Arme, mein kompletter Rücken voller Blut. Sie brachte mich ins Krankenhaus und danach zur Polizei. Freunde meiner Mutter, gestandene Männer, holten meine Sachen aus der Wohnung, meine Klamotten, die Bücher und ein paar meiner Platten. Ich holte mir ein neues Telefon mit anderer Nummer, suchte mir einen anderen Job und zog in meine jetzige Wohnung. Er wurde auf Bewährung verurteilt und darf nicht mehr in meine Nähe kommen. Die Angst, dass er trotzdem wieder auftaucht, bleibt aber. Deswegen gehe ich selten aus. Und wenn ich nicht hier bin, dann immer an Orten mit vielen Menschen. Er kennt diesen Ort nicht. Zum Glück.“

Tausend Gedanken gingen in Tareks Kopf umher, aber einer ließ ihn handeln. Wie schon im Kino zog er den wieder weinenden Einar einfach in seine Arme und strich ihm sanft über den Rücken. Jedes Wort wäre zu viel gewesen.

Einar krallte sich wieder an ihm fest und weinte einfach. Diese Geschichte zu erzählen hatte ihm alles abverlangt und er war dankbar, dass Tarek ihn einfach nur hielt. Zu viele Bilder tauchten wieder auf, Bilder, die er gern vergessen hätte. Zu viele Tränen bahnten sich ihren Weg, die er gern zurück gehalten hätte, aber er ließ sie laufen. Jede Träne, die floss, machte es leichter. Jedes mal, wenn Tareks Hand über seinen Rücken strich, fühlte er sich besser.

Es dauerte, aber die Tränen versiegten schließlich. Einar allerdings blieb an Tarek gelehnt, und Tarek behielt ihn in seinen Armen. Beide wussten, dass Einar den Halt, den sie ihm gaben, noch brauchte. So saßen sie eine gefühlte Ewigkeit da, im Schatten der Säulen in dieser verlassenen Ecke des Parks, ganz in der Ferne war Kinderlachen zu hören.

„Wie... Wie lange ward ihr zusammen?“, fragte Tarek dann doch irgendwann.

„Fünf Jahre“, flüsterte Einar.

„Wenn es nach mir geht, wird dir nie wieder jemand so weh tun“, sagte Tarek bestimmt.

Einar löste sich von ihm und sah ihn mit großen Augen an, die Brille hing schief auf seiner Nase, dann fiel er Tarek einfach um den Hals.

„Danke“, hauchte er kaum hörbar.

Wieder drückte Tarek ihn an sich und wieder strich er ihm über den Rücken. „Schon gut.“

Mehrere Minuten saßen sie so da, bis Einar sich endgültig beruhigt hatte und sich langsam von Tarek löste. Er fühlte sich das erste Mal seit Jahren wieder vollkommen wohl.

Tarek sah ihn unsicher an. „Besser?“, fragte er leise.

„Viel besser, Danke.“ antwortete Einar lächelnd und befreite seine Brille von Tränenrückständen.

Er wurde von Tarek dabei beobachtet, in dessen Kopf gerade absolutes Chaos herrschte. In seiner Erzählung hatte Einar doch von einem Er gesprochen, oder hatte er sich verhört? Plötzlich tauchten wieder Bilder auf: Einar beim Ins-Bett-Gehen, sein Rücken beim Umziehen vorhin, sein Grinsen beim Optiker, die verwuschelten Haare beim Aufwachen.

„He!“ Einar stupste ihn an. „Ich frage nicht viermal, ob wir gehen wollen.“

Tarek blinzelte ihn ein paar Mal an. „Ja, klar.“

„Sehr gut. Ich habe Hunger“, lächelte Einar. Seine Augen waren noch rot, sein Strahlen aber war echt.

„Worauf hast du denn Lust?“, wollte Tarek wissen während sie sich auf den Weg machten.

„Weiß ich noch nicht.“ Einar schien es wirklich besser zu gehen, stellte Tarek fest.

Nachdem sie ein Stück schweigend zurückgelegt hatten, traute Tarek sich, eine der zwei Fragen zu stellen, die ihm durch den Kopf gingen. „Sag mal, dein Ex... ist ein Mann, oder?“

Einar nickte. „Alle meine Ex-Freunde sind Männer“, gab er leise zu, auf Ablehnung gefasst.

So wie Einar befürchtet hatte, blieb Tarek auf einmal stehen. Etwas ängstlich drehte er sich um, doch statt Ablehnung oder Ekel oder Wut sah er in Tareks Gesicht Verwirrung.

„Alles in Ordnung?“, fragte Einar vorsichtig.

Tarek sah ihn an und schüttelte langsam den Kopf. Dann überwand er die Entfernung zwischen ihnen in einem Schritt, legte seine Hand in Einars Nacken und küsste ihn.

Nach dem Kuss wurde auch seine zweite Frage beantwortet. Die Antwort: Ja, es fühlte sich sehr gut an, Einar zu küssen.

Der Geküsste hingegen war nun sehr verwirrt und sah Tarek vollkommen fassungslos an. „Was...?“, war das einzige Wort, das er zustande brachte.

„Ich... ich weiß nicht...“, gab Tarek leise zu, raufte sich die Haare und ging an Einar vorbei.

„Warte“, rief Einar und folgte ihm.

„Es tut mir leid“, murmelte Tarek als Einar wieder neben ihm lief.

„Warum hast du es getan?“

Tarek zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich einfach Neugier.“

„Und was hast du rausgefunden?“

„Deine Lippen sind weich“, flüsterte Tarek.

Einar sah ihn ein paar Momente an, dann murmelte er ein Danke und musste lachen.

Etwas irritiert wunderte Tarek sich, was daran so komisch war, allerdings dauerte das nicht lange, da Einars Lachen sehr ansteckend war.

„Jetzt weiß ich, was ich essen will“, sagte Einar als er sich beruhigt hatte.

„Was?“

„Pizza.“

Tarek nickte nur und ging weiter. Er versuchte wieder so selbstsicher wie immer zu wirken, doch innerlich verfluchte er sich für sein Handeln. Ja, die zweite Frage in seinem Kopf war „Ob es sich wohl gut anfühlt, Einar zu küssen?“ gewesen, aber musste er wirklich auf alles eine Antwort bekommen? Er war so dumm...

„Alles ist gut“, meinte Einar neben ihm und lächelte ihn an.

„Wirklich?“

„Ja, du hast mich überrascht, aber ich bin dir nicht böse oder so.“

„Echt nicht?“

„Nein. Der Letzte, der mich geküsst hat, hat mir den Rücken zerschnitten und hätte sicher noch schlimmeres anstellen können, da bin ich froh, dass ich jetzt einen neuen Kuss habe. Und ganz ehrlich: Du bist darin nicht schlecht.“

Grinsend sah Einar Tarek an und ohne etwas dagegen tun zu können, lächelte Tarek zurück, wurde aber gleichzeitig rot. „Danke“, murmelte er.

Sie gingen schweigend nebeneinander her, bis Einar sie zu seinem Lieblingsitaliener gelotst hatte, ganz unauffällig. Solange Tarek nichts dagegen hatte, konnte er das schon machen. Und Tarek schien immer noch peinlich zu sein, was er getan und was Einar gesagt hatte. Die Verlegenheit machte ihn richtig süß, irgendwie. Schnell verdrängte Einar den Gedanken wieder und suchte einen Tisch für sie beide.

Nach dem Essen sah Tarek das erste Mal wieder auf sein stumm geschaltetes Handy. Irgendwas musste passiert sein. Seine Mutter hatte ihn zigmal angerufen und seine Schwester hatte ihm schon am Nachmittag, als er gerade Einar tröstete, eine Nachricht geschickt, in der sie fragte, wo er steckte. Normalerweise schrieb er seinen Eltern schnell eine SMS, damit sie sich keine Sorgen machten, wenn seine Schuhe am Morgen nicht im Flur standen. Seit er Einar kannte, war ihm das egal.

„Ich fürchte, ich muss nach Hause, sonst schickt meine Mutter einen Suchtrupp los“, erklärte er beim Verlassen des Restaurants.

„Schon gut. Melde dich einfach morgen, ja?“ Einar lächelte ihn breit an.

„Mach ich“, lächelte Tarek zurück und umarmte Einar nochmal kurz. „Und wenn du mich brauchst, ruf an.“

Einar nickte. „Du aber auch.“

„Bis morgen“, verabschiedete Tarek sich und ging zum Bus.

Einar sah ihm noch nach, dann schlenderte er in die andere Richtung davon. Beim letzten offenen Eiscafé holte er sich noch drei Kugeln Eis, alles Schoko, und lief dann langsam nach Hause. Die Luft war noch warm und sehr feucht, Regen und Gewitter lagen in der Luft. Doch der erste Tropfen fiel erst, als Einar gerade seine Haustür öffnete. Er ging nach oben und sah aus dem Treppenhausfenster, wie der Regen einsetzte.

In seiner Wohnung öffnete er schnell alle Fenster, um die heiße Luft raus zu lassen. Der Regen würde sie weg waschen, wie er auch den Sommerstaub aus der Luft und von den Blättern der Bäume wusch. Nach und nach mischte sich unter das Prasseln des Regens das Grollen des Donners. Die Bäume vor seinem Fenster wurden immer öfter von Blitzen erleuchtet und Einar konnte nichts anderes tun, als im Dunkeln auf seinem Schreibtischstuhl zu sitzen und nach draußen zu starren. Ab und zu wanderten seine Finger zu seinen Lippen und betasteten diese. Ein Mensch, den er mochte, hatte ihn geküsst. Dabei war es vollkommen egal, dass Tarek nur ein Freund war. Es war endlich einmal ein gutes Gefühl, eine gute Erinnerung an einen Kuss. Die Küsse seines Ex waren zerfressen gewesen von Eifersucht und Kontrollwahn. Nie hatte Einar ihn so küssen können, wie er es gewollt hatte. Vielleicht ganz am Anfang, aber das war so weit weg, dass es ein anderes Leben war. Dieser Mensch vom Anfang war lange verschwunden. Der Mensch, der Einar die Welt zeigen wollte, der Einar einfach nur glücklich machte. Damals war der Anfang anders gewesen als jetzt mit Tarek. Sie hatten sich kennengelernt und waren noch am selben Abend im Bett gelandet. Selbst wenn Tarek wirklich nichts mit ihm anfangen würde, und dafür sprach einiges, so gäbe es doch die Möglichkeit einer Freundschaft. Die Wahrscheinlichkeit dafür, schätzte Einar, lag bei 99 Prozent.

Nachdem er festgestellt hatte, dass es rein regnet und er alle Fenster wieder geschlossen hatte, legte Einar sich auf seine Matratze und las. Fünf Kapitel später klingelte es. Unsicher sah Einar auf seine Uhr, mittlerweile war es halb zwei Uhr nachts. Panik stieg in ihm auf. Wer würde um diese Uhrzeit bei ihm klingeln? Doch nur einer und der durfte ihm nicht zu nahe kommen. Einar wusste, dass diese Person es trotzdem versuchen würde. Er zog das Laken über seinen Kopf und umklammerte sein Handy mit der Hand, für den Fall, dass er schnell die Polizei rufen müsste.

Es klingelte wieder und Einar rollte sich zusammen. Wenn er sich ganz klein machte, verschwand er doch, oder?

In seiner Hand vibrierte sein Handy. Vorsichtig schielte er auf das Display.

„Eingehender Anruf: Tarek“, verkündete das Gerät und erleichtert nahm Einar ab.

„Hallo“, lächelte er leise.

„Hey. Ich will... kann ich hoch kommen?“, fragte Tarek mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme. Er schien Angst zu haben.

„Ja, klar. Warte kurz.“ Einar stand schnell auf und öffnete ihm die Tür.

Vollkommen durchnässt und mit hängendem Kopf kam Tarek die Treppe hoch, langsam humpelnd.

„Hallo“, grüßte Einar ihn vorsichtig.

Tarek sah ihn ausdruckslos an, sein linkes Auge geschwollen. „Hallo“, murmelte er.

„Scheiße, was ist passiert?“, fragte Einar erschrocken.

„Kann ich hier schlafen?“, fragte Tarek zurück.

„Klar, komm rein“, meinte Einar und ließ Tarek vorbei. „Wurdest du überfallen?“

„Nein“, kam es nur von Tarek, der tropfend im Flur stehen blieb.

„Was ist passiert?“, wollte Einar wissen während er ein Handtuch holte.

Tarek antwortete nicht.

„Du willst nicht darüber reden?“

Tarek schüttelte den Kopf und ließ sich von Einar den Kopf trocken rubbeln.

„Du blutest“, murmelte Einar und berührte eine Stelle an Tareks Augenbraue, aber er meinte auch seine Lippe.

„Kann sein.“ Tarek war erschreckend teilnahmslos und ließ sich widerstandslos ins Bad ziehen, wo Einar ihn auf den Badewannenrand setzte und Pflaster suchte.

Als die Pflaster geklebt waren, sah Einar ihn an.

„Zieh die Klamotten aus, die sind zu nass“, forderte er Tarek auf.

Ohne eine Regung zog Tarek sich bis auf die Unterhosen aus, obwohl selbst diese nass waren. Einar erschrak abermals als er mit einer Trainingshose und einem neuen T-Shirt wieder ins Bad kam. Auf Tareks gesamtem Körper begann die Haut, sich zu verfärben. Morgen würde er mit blauen Flecken übersät sein.

„Welches Arschloch war das? Den mach ich fertig“, platzte es wütend aus Einar heraus während er Tarek die Klamotten reichte.

Tarek schüttelte nur den Kopf und trocknete sich ab.

„Tee?“, fragte er Einar.

„Klar, ich mach uns welchen. Hast du besondere Wünsche?“

„Irgendwas mit Früchten?“

„Geht klar“, antwortete Einar und ging in die Küche.

Immer noch abwesend zog Tarek die trockenen Sachen an und schlurfte ins Wohnzimmer, wo er sich aufs Bett setzte. Alles tat ihm weh, aber das war nicht das wichtigste im Moment, da die Verzweiflung überwog.

Einar brachte ihm schließlich eine große Tasse Tee, die nach Weihnachten duftete. „Mit Früchten habe ich gerade nur Weihnachtssorten da, sorry“, lächelte er schief.

„Schon gut“, murmelte Tarek und trank schweigend.

Einar wollte so gern nachfragen, doch er ließ es. Er wollte ihn so gern in den Arm nehmen und trösten, doch er ließ es. Er wollte so viel auf einmal tun, doch er setzte sich nur auf den Boden und sah zu Tarek.

Dieser stellte irgendwann die leere Tasse neben die Nachttischlampe und rollte sich zusammen. Er weinte. Worüber er nicht weinte, waren seine Schmerzen. Es war alles, was er verloren hatte, das ihm die Tränen in die Augen trieb. Und es war sein Stolz, der Einar wegschob, als dieser seine Hand nach ihm ausstreckte und ihn trösten wollte.

Einar rutschte weg und beobachtete, an den Kleiderschrank gelehnt, nur, wie Tarek immer kleiner wurde. Er wollte so gerne für ihn da sein, so wie der andere für ihn da gewesen war. Er wollte ihm helfen, wollte Rache üben, wollte die Verletzungen verschwinden lassen, die sichtbaren und unsichtbaren. Und ja, es verletzte ihn ein wenig, dass Tarek das nicht zuließ.

Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde Tarek ruhiger. Einar, der schließlich den Blick abgewandt hatte und dessen Kopf auf seinen Knien lag, hörte leise seinen Namen. Er machte sich nicht die Mühe aufzustehen, sondern krabbelte auf allen Vieren zum Bett und sah Tarek an.

„Lass uns schlafen“, flüsterte der nur und rückte zur Seite, damit Einar sich hinlegen konnte.

„Schlaf gut“, murmelte Einar als er lag.

„Du auch.“

Sie lagen wieder nebeneinander und sahen an die Decke, doch Tarek tastete sich bald mit der Hand zu Einars Hand vor und drückte diese. Einar erwiderte den Druck leicht und im nächsten Moment lag Tarek dicht neben ihm. Einar lehnte sich ebenfalls rüber, so dass sie Hand in Hand, Arm an Arm, Kopf an Kopf einschliefen.

Aufleuchten

„Hier.“ Tarek nahm die Tasse, die Einar ihm reichte, mit der rechten Hand entgegen, seine linke drückte eine Kühlkompresse auf sein geschwollenes Auge. Er saß an die Heizung gelehnt auf dem Bett und starrte in seinen Kaffee.

„Magst du reden?“, wollte Einar leise wissen. Er setzte sich ebenfalls aufs Bett und lehnte sich an die kurze Wand des Erkers.

„Ich... keine Ahnung“, murmelte Tarek.

„Wer war es?“ Einar fragte nur leise und sah Tarek vorsichtig an. Etwas an Tareks Verhalten sorgte dafür, dass selbst er Angst vor der Antwort hatte. Und auch wenn er nicht wirklich daran glaubte, wusste er doch, dass sein Ex ebenfalls als Täter in Frage kam.

„Mein Vater.“

Tarek sah langsam auf und blickte in ein vollkommen überraschtes Gesicht. Es schien, als wäre die Antwort noch nicht bei Einar angekommen, wohl aber ihre Bedeutung. Nach ein paar Sekunden senkte Tarek den Blick wieder und trank von seinem Kaffee, dann atmete tief durch.

„Als ich nach Hause kam, wartete er schon auf mich. Er gab mir eine Ohrfeige, ohne ein Wort zu sagen, dann fing er an zu schimpfen, dass ich krank sei, pervers, ein Monster. Ich wollte mich so gerne wehren, aber ich wusste nicht mal, wovon er redete. Also fragte ich ihn, was er wollte, wovon er sprach. Dann rückte er damit raus. Er hatte in der Nähe des Parks einen Auftrag und ist dann durch den Park gegangen, um sich ein Eis zu holen. Er hat gesehen, wie ich dich geküsst habe. Und er habe einen Mann aus mir gemacht, keine Schwuchtel. Dann hat er mich wieder geschlagen, mehr und mehr, fester und fester. Ich sei nicht mehr sein Sohn, hat er geschrien und als ich auf dem Boden lag, hat er mich getreten. Ich glaube, meine Mutter wollte mir helfen, aber plötzlich sah ich sie weinend auf dem Boden sitzen. Schließlich kamen meine Schwester und unser Nachbar, die meinen Vater von mir weggezogen haben und mir nur zugerufen haben, ich soll rennen. Ich weiß nicht einmal genau, wie ich hergekommen bin, ich stand einfach plötzlich vor deinem Haus. Er hätte mich wahrscheinlich gern umgebracht.“

Einar schaffte es nicht, seine Gedanken zu ordnen. Von „Ich glaub das nicht“ über „Warum tut ein Mensch, ein Vater, so was?“ bis hin zu „Den mach ich fertig!“ war so ziemlich alles dabei, und alles flog in seinem Kopf wild durcheinander. Er schüttelte den Kopf, sah verloren zu Tarek und raufte sich die Haare.

„Ich spüre nicht, ob mein Auge weh tut“, gab Tarek zu. „Ich habe blaue Flecken überall und ich fühle sie nicht. Da ist Schmerz, ja, aber er kommt nicht von den Schlägen und Tritten.“

„Was brauchst du?“, fragte Einar leise nach einer längeren Pause.

„Alles“, flüsterte Tarek. „Ich kann nicht mehr zurück.“

„Dann bleib hier. Wir besorgen noch eine Matratze für den Anfang, der Platz ist ja da. Und alles andere besorgen wir dir auch. Mach dir erstmal keine Gedanken darüber, wo du schläfst oder was du isst, darum kümmere ich mich.“

Tarek sah ihn an, die Tasse in seiner Hand fing an zu zittern und er ließ die Kühlkompresse sinken. Gerade noch rechtzeitig stellte er die Tasse aufs Fensterbrett, bevor er anfing zu weinen. Diesmal ließ er es allerdings zu, dass Einar ihn in den Arm nahm.

Es war frustrierend für Einar, dass er nicht mehr für Tarek tun konnte, dass er ihm seinen Schmerz nicht einfach abnehmen konnte. Nach der Sache mit seinem Ex war er einfach nur froh gewesen, endlich aus dieser Beziehung raus zu sein, diesen Menschen nicht mehr in seinem Leben zu haben. Für ihn war dieser entscheidende Moment seines Lebens eines der bestes Dinge, die ihm je passiert sind, und er bezahlte gern mit einer Narbe dafür. Er konnte sich gar nicht vorstellen, was ein Bruch mit einer geliebten Familie bedeutete. Tareks Worte hallten in seinem Kopf wieder. „Am Ende sind sie diejenigen, die du hast. Freundschaften können zerbrechen, manche sehr schnell, aber Familie bleibt. Ich stimme nicht mit allem überein, was meine Eltern oder Yasmin tun und denken und sagen, aber ich liebe sie trotzdem.“ Diese Worte und Tareks Tränen trieben ihm selbst Tränen in die Augen, auch wenn er versuchte, sie zurückzuhalten.

„Warum heulst du denn jetzt?“, fragte Tareks brüchige Stimme.

„Keine Ahnung“, presse Einar hervor.

Tarek seufzte. „Wenn uns einer sehen könnte... Zwei erwachsene Männer, die sich heulend in den Armen liegen...“

„Also ich sehe so was schon ab und zu... Jedes Mal wenn ich zufällig was von einem Fußballspiel mitbekomme.“

Sie sahen sich an, sahen sich fest in die verheulten Augen, doch nach wenigen Sekunden konnten sie nicht mehr und lachten einfach. Und dieses Lachen war der Befreiungsschlag, der ihre Tränen stoppte.

„Hör auf zu lachen“, murrte Tarek schließlich grinsend und stupste Einars Nase.

Einar lachte nur noch mehr und ließ sich nach hinten fallen, als ob Tareks Stupsen die Kraft gehabt hätte, ihn umzuwerfen. Seinem guten Beispiel folgend, ließ Tarek sich neben ihn fallen und sie lehnten ihre Beine aus Platzgründen senkrecht an die Heizung.

„Danke“, flüsterte Tarek nachdem sie sich beruhigt hatten.

„Nichts zu danken“, antwortete Einar ebenso leise.

„Als ich bei dir geklingelt habe, dachte ich, alles wäre vorbei. Jetzt habe ich gelacht und denke, ich kann es vielleicht doch schaffen.“

„Natürlich wirst du es schaffen. Wir werden es zusammen schaffen“, sagte Einar und nahm Tareks Hand.

„Zusammen?“, wunderte der andere sich.

„Als du bei mir geklingelt hast, dachte ich, er hätte meine Adresse rausgefunden. Ich konnte mir keinen anderen vorstellen, der um diese Uhrzeit bei mir klingelt. Als du angerufen hast, lag ich unter der Decke zusammengerollt im Bett und machte mich auf das schlimmste gefasst.“

Tarek drückte Einars Hand und lächelte ihn an. „Zusammen.“
 

Den gesamten rechtlichen Tag verbrachten sie fast ununterbrochen auf dem Bett und hörten wieder Musik. Beiden war nicht nach reden, aber sie schafften es immer, sich irgendwie zu berühren. Mal waren es ihre Füße, mal lag Tareks Hand auf Einars Schulter, oder Einar schlief halb auf Tareks Arm liegend ein. Tarek weckte ihn erst, als sein Arm lange eingeschlafen und die Platte, die sie gehört hatten, lange zu Ende war.

Am späten Abend beschlossen sie, wirklich schlafen zu gehen und fingen doch wieder an zu reden.

„Ich glaube, ich brauche doch ein paar Sachen“, murmelte Tarek als sie im Bett lagen.

„Wir können morgen einkaufen gehen“, schlug Einar vor.

„Yasmin hat mir geschrieben. Sie scheint sich Sorgen zu machen und hat gefragt, was ich von meinen Sachen brauche, sie könnte sie mir bringen.“

Etwas skeptisch sah Einar ihn an. „Vertraust du ihr?“

„Ich habe mir überlegt, sie in der Stadt zu treffen. Im Moment will ich nicht, dass mein Vater irgendwie herausfinden kann, wo ich bin.“

„Hast du Angst, er könnte dir wieder weh tun?“

Tarek nickte. „Vor allem, wenn er erfährt, dass ich bei dir bin.“

„Triff dich mit ihr, rede mit ihr.“

„Sie und ich, wir sind in unserer Familie die Modernen. Vielleicht weil wir jünger und in einer moderneren Gesellschaft aufgewachsen sind, wer weiß. Auf jeden Fall waren wir beide positiv überrascht, als die Iren dafür gestimmt haben, dass Schwule und Lesben heiraten dürfen, und noch besser fanden wir es, als das in den USA beschlossen wurde. Nicht, weil es uns etwas gebracht hätte oder unseren Freunden, sondern weil wir beide daran glauben, dass alle die gleichen Rechte haben. Wir sind zwar religiös erzogen worden, aber was kümmert uns schon die Meinung von alten Männern, die mit der Realität nicht in Berührung zu kommen scheinen? Was nützt ein Gebot, dass mehrere tausend Jahre alt ist, wenn sich die Realität und die wahre Zusammensetzung der Dinge uns mehr und mehr offenbart? Wir hatten beide das Glück, Lehrer gehabt zu haben, die uns dahin geführt haben. Ja, Yasmin glaubt an Gott, aber sie ist der Meinung, dass jeder genau so ist, wie Gott es gewollt hat, egal, welche Orientierung er hat. Um es kurz zu sagen: Ja, ich vertraue ihr.“

„Dann solltest du sie erst recht treffen. Wenn du willst, komme ich mit.“

„Gerne“, flüsterte Tarek und legte seinen Kopf auf Einars Schulter. „Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, murmelte Einar und schloss die Augen.

Tarek schlief nicht. Er beobachtete, wie Einars Atem immer gleichmäßiger wurde, wie der andere sich an ihn kuschelte. Ein bisschen zweifelte er noch an seinem Glück, doch dieser Zweifel wurde immer kleiner. In seinem Leben hatte er noch nie einen Menschen getroffen, dem er so schnell so sehr vertraute wie Einar. Es machte ihm offen gestanden ein wenig Angst, dass so etwas möglich war. Natürlich war er schon verliebt gewesen oder hatte sich schnell mit jemandem angefreundet, aber dieses Gefühl von Sicherheit hatte er bei niemandem finden können, weder in seinen Beziehungen noch in seinen Freundschaften. Er dachte die halbe Nacht darüber nach, was das genau zu bedeuten hatte. Die andere Hälfte der Nacht verbrachte er mit dem Gedanken, dass es schön wäre, Einar nochmal zu küssen.

Kurz nach Sonnenaufgang wachte Einar auf, nur um festzustellen, dass er seine eigenen Arme fest um Tarek geschlungen hatte. Tarek schien das nichts auszumachen, er sah lächelnd ins Nichts und bemerkte Einar nicht.

„Morgen“, murmelte Einar, seine Stimme schlief offenbar noch.

Tarek sah ihn an und etwas in seinen Augen leuchtete auf. „Morgen“, flüsterte er. „Gut geschlafen?“

„Mh“, kam es nur statt eines Ja von Einar, der sich schon wieder mit geschlossenen Augen an ihn kuschelte.

„Und noch nicht fertig damit“, grinste Tarek und kraulte Einars Kopf. Schon die ganze Nacht hatte es ihn gereizt, das zu tun, er hatte nur Angst, Einar damit zu wecken.

„Lass das“, murrte der Gekraulte plötzlich.

„Doch wach?“

„Fast.“

„Soll ich uns schon Mal Kaffee machen?“

„Okay“, murmelte Einar, ließ Tarek aber nicht los.

„Das funktioniert so nicht“, stellte Tarek trocken fest.

„Doch.“

Tarek seufzte und versuchte vorsichtig, Einar von sich zu lösen, was ihm nach ein paar Minuten und viel gutem Zureden auch gelang. Einen Moment beobachtete er noch, wie Einar sich in sein Kissen kuschelte und den Lockenkopf dadurch noch stärker verwuschelte, dann ging er in die Küche.

Während die Kaffeemaschine ihre Arbeit tat, schrieb Tarek seiner Schwester, die sofort antwortete. Sie habe schon seinen großen Koffer und seine Sporttasche mit Klamotten gefüllt. Einige Dinge, von denen sie wusste, dass sie ihm wichtig waren, seien auch dabei. Seine Filmsammlung dürfte schwieriger werden, da sie nicht wusste, wie sie sie transportieren sollte. Die Werkstatt habe aber angerufen, er könne sein Auto abholen.

Er schlug ihr als Treffpunkt ein Café in der Innenstadt vor, in dem sie sich am Nachmittag treffen könnten. Dort, so sein Gedanke, würde ihr Vater sie definitiv nicht sehen, da er um solche Cafés einen großen Bogen machte, viel zu modern.

„Du hast echt Glück, dass ich frei habe. Bis dann. Ich hab dich lieb.“

Tarek las ihre letzte Nachricht und lächelte leicht. Er war so froh, sie zu haben. Sie und Einar.

„Kaffee?“, fragte plötzlich jemand und ein verwuschelter Lockenkopf schob sich in Tareks Blickfeld.

Tarek sah von seinem Handy auf und lächelte. „Müsste fertig sein.“ Er stand auf und holte Tassen aus dem Schrank.

„Hast du jetzt ausgeschlafen?“

Einar kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ja, schon.“

„Sehr gut“, sagte Tarek während er den Kaffee eingoss.

„Was hast du gemacht?“

„Mit Yasmin geschrieben. Wir treffen uns heute Nachmittag. Und danach kann ich mein Auto aus der Werkstatt holen.“

Mit einem Lächeln nahm Einar seine Tasse entgegen und sog den Duft in sich auf. Beim Trinken verzog er allerdings das Gesicht.

„Zu stark?“, lächelte Tarek.

„Bisschen“, murrte Einar und holte Milch und Zucker. „Wie kann man so was trinken?“

„Ganz einfach“, lachte Tarek und trank.

Einar schüttelte den Kopf und kippte Milch und Zucker in seine Tasse.

Tarek beobachtete ihn amüsiert. „Ich dachte, du trinkst ihn schwarz?“

„Nur wenn ich ihn nicht kauen kann.“

„Komm, so schlimm kann es nicht sein. Ich habe ihn extra nicht so stark wie sonst gemacht.“

Einar sah ihn entgeistert an. „Was machst du sonst? Die Tasse mit Kaffeepulver füllen und einen Schluck Wasser drauf gießen?“

Tarek konnte nur noch lachen.

„Das ist etwas, bei dem wir uns nie werden einigen können, was?“, stellte Einar schließlich fest und trank seinen endlich genießbaren Kaffee.
 

Ein paar Stunden und etwas zu Essen später saßen sie in der hintersten Ecke des Cafés und beobachteten, wie Yasmin mit dem angekündigten Gepäck rein kam. Sobald sie vor ihm stand, ließ sie alles fallen und umarmte Tarek fest.

„Mein armer Kleiner“, murmelte sie. Tarek war gut einen Kopf größer als sie und sieben Jahre älter.

Anstatt aber wie sonst diese Anrede mit einem missbilligendem Blick zu strafen, drückte er sie nur fest an sich.

Als sie sich schließlich gesetzt hatten, sah sie ihren Bruder besorgt an. „Wie geht es dir?“

„Viele blaue Flecken, ein blaues Auge und ziemlich düstere Gedanken. Aber gegen letzteres habe ich Einar.“

Erst jetzt schien Yasmin ihn wirklich zu sehen. „Bist du Tareks Freund?“

Einar sah sie fragend an. „Kommt darauf an, wie du Freund in diesem Zusammenhang definierst. Wir sind Freunde, ja, aber ein Freund im Sinne von Liebhaber bin ich nicht. Und um deine nächste Frage zu beantworten: Ja, ich war es mit dem euer Vater Tarek im Park gesehen hat.“

„Und nein, er redet nicht immer so geschwollen daher“, ergänzte Tarek.

„Ach nein? Wie schade.“ Sie lächelte Einar an. „Ich kann verstehen, dass du angespannt bist, aber ich werde ihm nichts sagen. Und ich kann gut Geheimnisse bewahren. Unsere Eltern wissen bis heute nichts von meinem Freund.“

Tarek legte seinen Arm um seine kleine Schwester und lächelte stolz. „Ist sie nicht toll?“

Einar betrachtete die Geschwister und stellte fest, dass sie sich tatsächlich ähnlich sahen, ihr Nasen und Augen hatten Ähnlichkeit, Haare und Augen die gleiche Farben, schwarz und dunkelbraun. Und beide sahen gut aus.

„Ja, aber ich müsste sie besser kennen, um das genau beurteilen zu können. Eine Einschätzung meinerseits bedarf daher noch einiger Treffen.“

„Hey! Ich hab gerade gesagt, dass du nicht immer so redest!“

Einar nickte. „Und Yasmin findet das Schade, also tue ich ihr einen kleinen Gefallen indem ich weiter so rede. Oder hast du etwas dagegen?“

Die letzten Worte waren an sie gerichtet und sie beantwortete sie mit einem Grinsen und einem Kopfschütteln. Tarek seufzte nur.

Sie blieben über eine Stunde im Café und überlegten sich, wie es mit Tarek weitergehen sollte. Alle waren sich einig, dass er vorerst bei Einar am besten aufgehoben war. Yasmin, weil sie ihn sicher wusste, Einar, weil er ihn vermissen würde. Auch dass eine Begegnung mit ihrem Vater möglichst zu vermeiden war, stand außer Frage. Das Problem stellte Tareks Job dar. Sobald sein Urlaub vorbei war, konnte er sich nicht so einfach verstecken. Doch das wollte Tarek erst einmal auf sich zukommen lassen.

„Lasst mich bitte erst das hier verdauen bevor ich auch noch die letzte Konstante meines Lebens verliere“, bat er die anderen beiden.

„Ich habe nur Angst um dich“, murmelte Yasmin entschuldigend.

„Ich weiß, aber ich muss erstmal mit der jetzigen Situation klar kommen, bevor ich mir ein neues Problem schaffe. Ich... Ich weiß doch auch nicht weiter...“, gab er zu und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken.

„Und wir helfen dir“, sagte Einar und strich ihm durch die Haare.

Tarek sah zu ihm auf, dann zu seiner Schwester. „Danke“, murmelte er.

Nachdem sie sich von Yasmin verabschiedet hatten, brachten sie Tareks Sachen zu Einar und holten Tareks Auto aus der Werkstatt.

„Kannst du mich bitte am ZOB absetzen?“, bat Einar unvermittelt als sie ins Auto stiegen.

„Willst du wegfahren?“

„Noch nicht. Aber wenn, würdest du mitkommen?“

„Solange ich mal aus dieser Stadt komme, wäre mir sogar das Ziel egal“, gab Tarek zu.

Einar nickte. „Okay.“

Sie fuhren schweigend zum ZOB, wo Einar Tarek seinen Wohnungsschlüssel mit folgenden Worten überreichte: „Hier, fahr schon mal vor, bei mir dauert es vielleicht eine Stunde, ich muss noch einkaufen.“

„Wir können doch auch zusammen einkaufen, dann musst du nicht alles allein schleppen“, schlug Tarek vor.

„Das ist lieb, aber ich brauche nur ein paar Sachen von Rossmann und neuen Tee. Das schaffe ich schon allein“, lächelte Einar. „Du kannst ja schon mal auspacken.“

„Na gut“, meinte Tarek nur, immer noch irritiert.

Dann fuhr er zu Einar und stand neben seinem offenen Koffer vorm Schrank. Er schaute rein und stellte fest, mit welcher Präzision Einars Klamotten geordnet waren. Oder besser, wie sie nicht geordnet waren. Wahrscheinlich hängte Einar seine Sachen einfach dahin, wo Platz war. Dieses Chaos sorgte allerdings dafür, dass für Tareks Sachen kein Platz war, auch nicht in der Kommode. Seufzend schuf Tarek also nur Ordnung in seinem Koffer und seiner Reisetasche, brachte sein Rasierzeug ins Bad und legte die paar Erinnerungsstücke, die Yasmin mitgebracht hatte, auf dem Schreibtisch ab.

Als er fertig war, betrachtete er, was von seinem Leben übrig geblieben war. Ein paar Klamotten, ein paar Fotos und seine Lieblingstasse. Er hätte heulen können, legte aber stattdessen Musik auf und tanzte.

„Sieht gut aus“, riss Einar ihn plötzlich aus seiner kleinen Welt.

Tarek stoppte. „Du bist wieder da, hey.“

„Hab doch gesagt, dass ich nur eine Stunde brauche“, lächelte Einar. „Und ich sehe, du hast nicht ausgepackt.“

„Ich habe keinen Platz in deinem Schrank gefunden.“

Einar lachte. „Dann finden wir zusammen welchen“, meinte er und öffnete schwungvoll die Schranktüren.

Gemeinsam räumten sie den Schrank auf und Tareks Klamotten rein. Später entdeckte Einar auch die Tasse und ohne ein Wort zu sagen, brachte er sie in die Küche und stellte sie dort zu seinen eigenen.

An diesem Abend, nachdem sie einen Film geschaut hatten, den Einar im Supermarkt gesehen und spontan gekauft hatte, fing Einar an, wieder Sachen aus dem Schrank zu holen und zu stapeln.

„Was tust du?“, fragte Tarek verwundert.

„Packen“, grinste Einar nur.

„Und wofür?“, hakte Tarek nach.

„Wir fahren weg“, verkündete Einar. „Ich habe schon eine Weile geplant, wegzufahren und vorhin habe ich nur den Mietwagen abgeholt. Ich habe von unterwegs im Hotel angerufen und das mit dem Frühstück geklärt, wir müssen uns also nicht eine Portion teilen.“

„Wohin willst du denn?“

„Das ist eine Überraschung“, grinste Einar nur und zeigte auf Tareks Koffer. „Wir werden sieben Nächte weg sein.“
 

Am nächsten Morgen stiegen sie in ein Oldtimer-Cabrio und fuhren aus der Stadt raus. Tarek saß auf dem Beifahrersitz und genoss mit geschlossenen Augen den Fahrtwind in der sonst schon wieder heißen Luft. Einar schielte ab und an zu ihm rüber und lächelte. Er fuhr den relativ großen Wagen als würde er das jeden Tag tun. Jedes Jahr mietete er für ein paar Tage im Sommer so ein Auto und flüchtete aus der Stadt, vor der Trennung mit seinem Ex, seitdem wieder allein. Dieses Jahr lag das Ziel etwas weiter weg, weshalb sie schon kurz vor neun aufgebrochen waren. Tarek schlief einen Großteil der Fahrt und war schon allein deswegen ein besserer Beifahrer für Einar als seine Mutter oder sein Ex.

Gegen 17 Uhr kamen sie an und Einar ließ Tarek vor einem kleinen Schloss aussteigen.

„Wo sind wir hier?“, fragte Tarek während er sich umsah.

„Mecklenburger Seenplatte. Ich habe das Hotel im Netz gefunden. Weit weg von allem. Perfekt für eine Flucht also“, erklärte Einar.

„Ist das nicht viel zu teuer?“, wunderte Tarek sich.

„Nein, ist es sicher nicht. Und dass du mitkommst, ändert eigentlich nur etwas an den Kosten für das Essen. Du kannst es mir später zurückzahlen.“

„Mach ich“, versprach Tarek.

„Und jetzt hilf mir bitte mal mit dem Gepäck.“

Sie checkten ein und gingen in ihr Zimmer, ein schlicht aber elegant eingerichteter Raum mit Blick auf den See, großem Doppelbett und einer Badewanne im Bad, von der aus man ebenfalls den See im Blick hatte.

„Ich frage lieber nicht, was so was kostet, oder?“, meinte Tarek während er sich umsah.

„Besser nicht, das stimmt. Allerdings habe ich auch Sonderkonditionen erwischt, weil ich länger als nur übers Wochenende bleibe. Ich plane so was jedes Jahr und habe schon ein ganz gutes Händchen dafür entwickelt.“

Tarek sah ihn skeptisch an. „Okay, ich glaube dir das jetzt einfach mal.“

„Lass uns auspacken und dann nochmal raus gehen“, schlug Einar nur lächelnd vor.

Sie packten aus und verließen das Hotel über den Zugang zum Garten, der direkt am See lag. Tarek atmete tief durch und schloss kurz die Augen. Natürlich fuhr er gerade im Sommer aus der Stadt raus, vor allem zum Baden, aber so reine Luft konnte er selten genießen, hier war das nächste Industriegebiet einfach weiter weg als überall sonst. Und diese Reinheit, diese Ruhe hier wirkten schon im ersten Moment. Er spürte, dass jemand vorsichtig seine Hand nahm und sah zu Einar, der ihn anlächelte.

„Komm“, flüsterte er und zog Tarek weiter.

Über eine Stunde erkundeten sie das Gelände und doch merkten sie erst, als sie wieder am Hotel waren, dass ihre Hände sich noch immer hielten. Sie ließen sich los, grinsten sich an und betraten das Restaurant.

Während des Essens, das drei Gänge und guten Wein beinhaltete, tauschten sie Geschichten aus der Kindheit aus. Sie lachten über strenge Lehrer, peinliche Missgeschicke und die eigenen, kindlichen Dummheiten. Erst am späten Abend waren sie wieder auf ihrem Zimmer und Tarek ging noch schnell duschen. Als er im Bademantel ins Zimmer kam, hatte Einar beschlossen, ebenfalls noch unter die Dusche zu springen.

Tarek sah ihm kurz nach, dann löschte er da Licht und öffnete das Fenster. Die Nachtluft war angenehm kühl auf seinem Gesicht und er fühlte sich einfach wohl in diesem Moment. Ein bisschen Wasser aus seinen nassen Haaren lief ihm noch übers Gesicht, ein Gefühl, das er liebte, besonders im Sommer. Er hatte erwartet, in völlige Dunkelheit zu schauen, doch er sah mehr Sterne als je zuvor am Himmel und am Boden schwirrten einige Glühwürmchen durch den Garten. Die Luft war erfüllt von den Geräuschen einer Sommernacht. Irgendetwas ließ das Wasser im See plätschern, in der Ferne rief eine Eule, Grillen zirpten. Es war fast zu perfekt, um wahr zu sein.

„Was siehst du da draußen?“, wollte Einar plötzlich neben ihm wissen, seine Brille hatte er offenbar im Bad gelassen.

„Glühwürmchen und Sterne“, flüsterte Tarek.

„Schön“, murmelte Einar und lehnte sich mit dem Rücken zum Fenster an die Fensterbank. Im Dunkeln konnte Tarek ausmachen, dass Einar ebenfalls einen Bademantel trug und nasse Haare hatte. Er strich ihm eine tropfend nasse Locke aus der Stirn und fuhr mit den Fingern sanft über Einars Gesicht bis zu dessen weichen Lippen.

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, aber fragte dennoch die Frage, die ihn seit dem Essen beschäftigte: „Darf ich nochmal?“

Einar sah ihn mit großen Augen an, dann nickte er und beugte sich Tarek entgegen. Der andere kam ihm entgegen und ihr Lippen trafen sich auch halbem Wege.

Sehr schnell wurde daraus mehr als der unschuldige Kuss im Park, der nur drei Sekunden gedauert hatte. Als sie sich voneinander lösten, war es diesmal Tarek, der Einars Hand griff und „Komm!“ flüsterte während er ihn zum Bett zog.

Sommerleuchten

Von der Sonne wurde Einar am nächsten Morgen schon früh geweckt. Er sah den schlafenden Tarek neben sich und lächelte sanft. Tarek hatte sich tief ins Kissen gekuschelt und zeigte keinerlei Anzeichen, dass er bald aufwachen würde. Ja, sie hatten sich wieder geküsst, und ja, es war fantastisch gewesen, doch im entscheidenden Moment hatte Tarek so unsicher gewirkt, dass Einar ihn und auch sich etwas gestoppt hatte. Sie hatten also nicht miteinander geschlafen, und Einar bereute es nicht. Er wollte mit Tarek schlafen, klar, aber der andere sollte sich dabei auch vollkommen sicher sein. Tarek hatte schon mit Frauen geschlafen, soviel wusste Einar, aber ein Mann war dann doch etwas anderes. Vorsichtig verließ Einar das Bett und ging ins Bad. Er blieb sehr viel länger unter der Dusche stehen als nötig, einfach nur weil er sich seinen nächsten Schritt überlegte.

Sobald Tarek hörte, wie das Wasser im Nebenraum lief, öffnete er die Augen. Er hatte schon eine ganze Weile wach gelegen, sich nur schlafend gestellt als Einar aufwachte. In der Nacht war er einen Moment unsicher gewesen, ob es das war, was er wollte, und diesen Moment hatte Einar bemerkt. Dieser eine Moment brachte ihn jetzt dazu, sich zu ärgern und sich selbst zu verfluchen. Er hatte es gewollt, davor und danach, aber Einar hatte gerade dieses Aufflackern von Unsicherheit sehen müssen. Er seufzte und starrte die Decke an. Für diese Unsicherheit hasste er sich, gleichzeitig war er froh, dass er Einar nach einem weiteren Kuss gefragt hatte. Vielleicht war diese Frage ja wirklich der Anfang von etwas Gutem.
 

„Morgen“, lächelte Einar ihn an, als er wieder ins Zimmer kam.

Tarek sah zu ihm und lächelte breit. „Guten Morgen.“

„Habe ich dich geweckt?“ Einar sah ihn entschuldigend an.

„Nein, hast du nicht.“

Einars Blick wurde etwas unsicher. „Wie geht es dir?“

„Gut“, meinte Tarek und setzte sich endlich im Bett auf. „Und dir?“

„Gut“, erwiderte Einar nur.

„Gut“, sagte Tarek.

„Gut.“

„Gut.“

„Wir sollten damit aufhören“, stellte Einar trocken fest.

„Gut.“ Das Grinsen, das Tarek sich verkniff, war dennoch deutlich zu erahnen. Keine Sekunde später lachten beide herzlich.

Einar kniete sich aufs Bett, er trug wieder nur den Hotelbademantel.

„Was wollen wir heute machen?“, fragte er.

„Was kann man hier machen?“, fragte Tarek zurück.

Einen Moment lang überlegte Einar, dann stand er wieder auf und holte ein Prospekt vom Schreibtisch. „Im ehemaligen Zeughaus gibt es einen großen Wellnessbereich, die Seen hier haben viele Badestellen, die verleihen hier Fahrräder und organisieren gern so Sachen wie Ausritte... Und wir haben das Auto, können also auch Ausflüge ohne Organisation machen.“

Tarek streckte sich, griff nach Einars Arm, zog ihn wieder aufs Bett und sah mit in das Prospekt.

„Ich hätte es dir auch gegeben“, murrte Einar, der etwas unbequem quer auf Tarek gelandet war.

„Aber dann ständest du immer noch da...“, meinte der andere kleinlaut.

„Und jetzt ist es besser?“, wollte Einar trocken wissen.

„Ja“, lächelte Tarek nur und nahm das Prospekt.

„Spinner.“ Einar drückte sich wieder hoch und ging zum offenen Fenster.

Wenige Minuten schwiegen sie, Tarek las und Einar beobachtete ein paar Eichhörnchen draußen im Garten. Dann schoben sich Tareks Arme um Einar und er lehnte sich an ihn.

„Ich habe eine Idee“, flüsterte Tarek.

„Und die wäre?“, flüsterte auch Einar.

„Wir leihen uns zwei Räder, fragen nach ein paar Sandwiches und fahren los. Wir nehmen die Badesachen mit und wenn wir an einer schönen Badestelle vorbeikommen, gehen wir schwimmen.“

„Klingt nach einem schönen Tag“, stimmte Einar zu und drehte seinen Kopf zu Tarek.

„Ich weiß.“ Tarek lächelte ihn an und küsste ihn kurz.

Einar drehte sich in Tareks Armen und umarmte ihn fest.

„Es ist alles gut, oder?“, fragte er leise.

„Natürlich ist alles gut, oder willst du nicht?“, antwortete Tarek ebenso leise.

„Doch. Aber... Ich weiß nicht...“

Tarek löste sich ein wenig von ihm und sah ihm in die Augen. „Ich will mit dir zusammen sein. Ja, ich habe keine Ahnung, ob wir funktionieren werden. Ja, ich verliebe mich gerade in dich. Ja, du bist der erste Mann, für den ich so fühle. Ja, es gibt Momente, in denen es mir lieber wäre, es wäre nicht so, Momente in denen ich an meinen Vater denke, an meine ganze Situation. Aber im selben Moment denke ich an dich und ich habe Hoffnung. Ich habe dich in meinen Armen und es geht mir gut.“

Einar hatte Tränen in den den Augen und es war ihm egal. Er hauchte Tarek einen Kuss auf die Lippen und kuschelte sich an ihn. In diesem Moment erst fiel Einar etwas auf. „Du hast dir nichts übergezogen, oder?“

„Nein. Ich stehe so hier, wie wir gestern eingeschlafen sind.“

„Also nackt“, schlussfolgerte Einar und grinste ihn an.

„Hast du was dagegen?“, fragte Tarek.

„Kommt darauf an, ob wir frühstücken wollen oder nicht.“

Ein nachdenkliches Gesicht sah ihn an. „Hm... Wäre vielleicht besser.“ Und wie aufs Kommando gab Tareks Bauch knurrende Geräusche von sich.

Einar sah ihn an und fing an zu lachen.

„Das ist nicht lustig...“, murrte Tarek.

„Geh duschen und dann gehen wir runter“, lachte Einar nur und holte sich Klamotten aus dem Schrank.
 

Noch vor dem Frühstück gingen sie zur Rezeption, um sich nach den Rädern und der Möglichkeit, Sandwiches für unterwegs zu bekommen, zu erkundigen. In einer Stunde könnten sie beides abholen, teilte ihnen die freundliche junge Frau mit.

Während des Essens redeten sie kaum, warfen sich aber immer wieder verschwörerische Blicke zu und schnitten Grimassen, so dass sie bald nur noch lachten. Von anderen Tischen wurden sie dafür skeptisch beäugt, vom sonst gelangweilten Personal freundlich angelächelt. Die Servicemitarbeiter hatten seit langem keine so gut gelaunten Gäste mehr gesehen, und das obwohl jeder, der hier Urlaub machte, doch eigentlich gut gelaunt und entspannt sein sollte.

Als sie die Räder holten, stellten sie fest, dass es statt einfacher Sandwiches einen ganzen Picknickkorb für sie gab, inklusive einer Flasche Wein, einer großen Decke und einer Radkarte der Gegend. Sie holten noch schnell eine Tasche mit ihren Badesachen und machten sich auf den Weg. Das Wetter war zwar wieder warm, aber hier auf dem Land bei weitem nicht so unerträglich. Die Wege waren von Bäumen gesäumt und sie trafen nur wenige Menschen für eine ganze Weile, bis sie an einen See kamen, an dessen Ufern sehr viele kleine Buchten zu finden waren, so sagte es jedenfalls die Karte. Sie fuhren über immer kleinere Wege, bis sie die Räder schließlich schieben mussten und über einen kleinen Trampelpfad zum See gelangten. In dieser kleinen Bucht konnte wirklich keiner sie sehen. Außer einer vielleicht vier Meter breiten Badestelle, war das gesamte Ufer mit Schilf bewachsen und die nächste Badestelle war außer Sichtweite. Die Höhe des Grases deutete auf sehr wenige Besucher an dieser Stelle hin.

„Lass uns hier bleiben“, schlug Einar vor.

„Sehr gern“, erwiderte Tarek und holte die Decke von seinem Gepäckträger.

Sie breiteten sie aus und packten das Picknick aus. Es bestand aus Sandwiches, Obst, einem undefinierbaren Dessert in kleinen Schraubgläsern, Wein, Salat und zwei Flaschen Wasser.

„Die haben sich Mühe gegeben“, meinte Tarek.

Einar nickte nur und beobachtete, wie Tarek den Wein öffnete.

Sie stießen auf die Zukunft an, auf ihre Zukunft. Dann genossen sie das Essen, den Wein und die Ruhe, störten letzteres allerdings oft mit ihrem Lachen.

Nach dem Essen lagen sie einfach im Halbschatten der Bäume und dösten. Sie hatten ihre T-Shirts ausgezogen und sich gegenseitig dick mit Sonnencreme eingecremt, auch wenn Tarek beteuerte, keinen Sonnenbrand zu bekommen. Einar hatte sich nicht abbringen lassen und das Gefühl unter seinen Fingern hatte ihm mehr als nur ein bisschen gefallen.

"Trainierst du eigentlich?", fragte er jetzt leise.

"Einmal pro Woche schleppt mich ein Kumpel ins Fitnessstudio. Er wollte mehr trainieren und ich habe ihm versprochen, ihn zu unterstützen. Ab und zu gehe ich joggen. Und du?"

"Ich geh gerne schwimmen, aber nicht regelmäßig. Dafür esse ich wenig, vor allem, wenn ich frei habe."

Tarek setzte sich auf und sah auf Einars Rücken. "Dafür, dass du kaum was machst, sieht dein Körper aber gut aus", murmelte er.

"Glück, würde ich sagen." Einar döste schon wieder weg.

"Großes Glück", stimmte Tarek zu und fuhr sanft die Narbe mit den Fingern nach.

Einar seufzte leise und drehte sich auf die Seite. "Machst du das nur bei Narben?"

Kopfschüttelnd ließ Tarek seine Hand über Einars Oberkörper wandern.

„Hast du was bestimmtes vor?“, fragte Einar weiter.

„Schwimmen“, murmelte Tarek.

„Jetzt? Echt?“ Einar sah ihn mit großen Augen an.

„Ja, echt“, lächelte Tarek zu ihm runter, dann stand er auf, um sich die Jeans aus- und die Badehose anzuziehen.

Einar erhob sich ebenfalls und trat direkt vor ihn. „Lass die Badehose weg“, hauchte er, küsste ihn kurz und zog seine Jeans aus.

„Weglassen?“

„Ja, weglassen.“ Grinsend drehte Einar sich um und ging vollkommen nackt ins Wasser.

Etwas irritiert sah Tarek ihm nach, ließ dann aber seine Badehose fallen und folgte ihm.

„Siehst du, gar nicht schlimm“, sagte Einar als sie beide nebeneinander im hüfthohen Wasser standen.

Tarek schüttelte nur lächelnd den Kopf und ließ sich ganz ins Wasser gleiten. Er schwamm ziemlich weit raus und kam wieder zurück zu Einar, der einfach nur ein bisschen im Wasser trieb.

„Willst du nicht schwimmen?“, wunderte Tarek sich.

„Nein, ich bin zu müde und will nichts riskieren“, gab Einar zu, umarmte den anderen dann.

„In Ordnung.“ Tareks Hände legten sich auf Einars Rücken, blieben aber nicht dort. Sie wanderten über die Hüfte zu seinem Hintern und seinen Oberschenkeln und wieder zurück und weiter zu den Schultern und in den Nacken. Die einzige Reaktion, die Einar zustande brachte, waren leise Seufzer, gefolgt von einem leidenschaftlichen Kuss. Noch während des Kusses hob Tarek ihn hoch und bewegte sich in Richtung Ufer.

Ein tiefer Blick in Tareks Augen als sie wieder auf der Decke waren, verriet Einar, dass er dieses Mal keinen Zweifel mehr spürte. Er zog ihn zu einem Kuss zu sich und seine Hände gingen auf Wanderschaft.
 

Einars Locken trockneten langsam auf Tareks Brust, auf der sein Kopf lag, und langsam realisierte Einar, was gerade geschehen war. Das erste Mal seit seiner Katastrophenbeziehung hatte er mit einem anderen Menschen geschlafen, und nicht, weil sie beide betrunken waren oder high oder durch irgendwelche anderen Mittel beeinflusst. Sie hatten es getan, weil sie es wollten. Und er wusste, welchen Preis Tarek dafür bezahlte, die blauen Flecken auf dem anderen Körper waren der Beweis dafür. Er war dennoch geblieben. Er lag jetzt unter ihm und schlief friedlich. Er lächelte.

Im Schlaf legte Tarek seine Arme um Einar und drückte ihn an sich. Die Sonne schien jetzt durch die Blätter direkt in sein Gesicht und kitzelte seine Nase. Ein leises Murren war zu hören und schließlich schlug Tarek die Augen wieder auf.

"Hey", wurde er von Einar angelächelt.

"Hey", antwortete er leise.

„Gut geschlafen?“

„Hab nicht geschlafen“, behauptete Tarek.

„Nein, hast du nicht“, grinste Einar, der sich nebenbei aufsetzte und von einem nachdenklichen Tarek dabei beobachtet wurde.

Schweigend setzte Tarek sich ebenfalls auf und nahm die Hand des anderen.

„Was hast du?“, fragte Einar leise.

„Ich... ich weiß nicht.“

„Fühlst du dich nicht gut? Tut dir irgendwas weh oder ist dir schlecht?“

„In erster Linie bin ich verwirrt. Hier so mit dir zu liegen, macht mich glücklich. Im nächsten Augenblick erinnere ich mich an meinen Vater und ich könnte wieder heulen. Er sagt, was wir tun ist falsch, aber wenn es falsch ist, warum fühlt es sich so richtig an? Wenn es falsch ist, warum will ich mehr?“

„Weil es nicht falsch ist. Mit 13 habe ich sehr lange gebraucht, das zu verstehen. Die anderen Jungs haben sich über große Brüste gefreut, oder generell über Brüste, und ich stand da und habe sie nicht verstanden. Natürlich wurde mir klar warum, als ich mir einen runter geholt habe und dabei an den gut aussehenden Bademeister im Freibad gedacht habe. Jedes Mal, den ganzen Sommer über. Ein paar Monate später wurde mein Verdacht bestätigt, als ich ein Mädchen geküsst habe und dabei nichts empfand. Am Montag darauf kam ein neuer an unsere Schule, ein Jahrgang höher, und alles was ich wollte war, den Kuss vom Wochenende streichen, wenn ich nur ihn dafür küssen könnte. Ich habe mich ein halbes Jahr lang geweigert, diese Gedanken zuzugeben, mir selbst gegenüber zuzugeben. Weder das Bild vom Bademeister noch der Kusswunsch durften wahr sein. Natürlich wusste ich, dass sie wahr waren, aber ich habe das vor mir selbst bestritten. Meine Mum hat natürlich mitbekommen, das etwas nicht stimmte. Und sie hat mich zur Rede gestellt. Sie ist toll, hat mir Bücher besorgt und dafür gesorgt, dass ich mich selbst akzeptieren kann. Ich bin sicher, du wirst auch an den Punkt kommen, in dem du nicht mehr an der Richtigkeit deiner Gefühle zweifelst. Und bis dahin bin ich für dich da.“

„Und wenn ich nicht schwul bin? Ich habe noch nie auch nur den Wunsch gehabt, mit einem Mann zu schlafen, oder ihn nur zu küssen, geschweige denn habe ich je gedacht, dass ich mich in einen verlieben kann... Bis du da warst.“

„Solche Dinge gibt es. Du verliebst dich und plötzlich spielt das Geschlecht gar keine Rolle mehr. Das ist aber nicht das Ende der Welt. Vielleicht sogar der Anfang von etwas sehr, sehr schönem.“ Einar lächelte ihn an und beugte sich zu ihm.

„Also heute ist schon mal ein sehr schöner Anfang“, gab Tarek zu und näherte sich Einar. „Und er wird besser“, fügte er an und sie küssten sich.

Erst als die Mücken sich zu ihnen verirrten und den Abend unerträglich zu machen drohten, fuhren sie wieder in Richtung Hotel.

Es wurde einer dieser Abende, die einen Sommer unvergesslich machen, obwohl nichts passiert. Sie saßen einfach nur auf der Terrasse des Hotels und redeten über alles und nichts. Da war die Rede von ersten Küssen, ersten Skiurlauben, ersten Flügen, oder auch besten Lehrern, besten Kuchen, besten Freunden. Das Thema Familie versuchten beide so gut es eben ging zu vermeiden. Tarek wusste, dass er sich dem stellen musste, aber er wollte ein paar Tage nicht ständig daran denken. Das hier war nicht nur eine Flucht aus der Stadt sondern eine Flucht vor dem Leben, jedenfalls auf Zeit.
 

Am nächsten Tag fuhren sie mit dem gemieteten Oldtimer durch die Gegend, einfach ohne Ziel drauf los. Während er fuhr und sich an den Kreuzungen spontan für eine Richtung entschied, wurde Einar von Tarek beobachtet.

„Wenn du mich weiter so anschaust, drehe ich noch durch“, murrte der Beobachtete schließlich.

„Wieso?“, fragte Tarek unschuldig.

„Bei der nächsten Gelegenheit starre ich dich mal ununterbrochen an, dann stellst du nicht mehr so dumme Fragen.“

„Aber du bist schön.“

Einar stockte und sah kurz zu Tarek. „Schön?“

„Wenn dir das lieber ist, könnte ich auch heiß sagen oder sexy oder süß oder hübsch oder unvergleichlich.“

Der jetzt knallrote Einar fuhr an einem Waldweg kurz an den Straßenrand und stellte den Motor ab. „Sag das nochmal“, forderte er.

„Du bist sexy“, erwiderte Tarek.

„Und du bist so ein Schleimer“, flüsterte Einar und küsste Tarek.

„Du scheinst Schleimer zu mögen“, grinste Tarek danach.

„Nur bestimmte.“ Einar grinste ihn noch kurz an, dann fuhr er weiter.

Sie hielten schließlich an einem einfachen Dorfgasthof und aßen unter der großen Eiche im Hof. Am Nachmittag stoppten sie öfter, um sich Dinge anzuschauen: kleine Kunsthandwerksläden, kleine Kirchen, kleine Dörfer. Da alles klein war, sahen sie an einem Nachmittag ziemlich viel, und beide waren an diesem Tag entspannter als sonst, entspannter noch als am Tag zuvor. Kein einziges Mal dachte Tarek an seinen Vater und Einar fühlte sich das erste Mal wirklich frei, was er nicht geschafft hatte, seit sein Ex sein wahres Gesicht gezeigt hatte.

Diesen Abend verbrachten sie im Pool des Hotels und spielten im Wasser wie Kinder. Ein älterer Herr betrat den Raum, sah die beiden und entschied spontan, dass er eher Lust auf einen Saunabesuch hatte. Irgendwann hatten sie sich allerdings ausgetobt und hingen am Rand des Pools.

„Was machen wir morgen?“, fragte Tarek.

„Wir verbarrikadieren uns im Zimmer, schalten die Telefone aus und ignorieren den Rest der Welt?“, schlug Einar vor.

„Warum sollten wir? Oder ist für morgen irgendwas angekündigt? Der Beginn des dritten Weltkrieges oder so?“

„Nicht ganz.“

Tarek sah ihn verwirrt an. „Was ist es?“

„Mein Geburtstag“, gab Einar leise zu.

„Cool!“, strahlte Tarek.

„Ich hasse Geburtstage“, murrte Einar.

„Warum?“

„Als ich klein war, machte meine Mum immer ein Riesending daraus. Und weil ich im Sommer Geburtstag habe, konnte und musste die Party natürlich genau an dem Tag veranstaltet werden. Die meisten meiner Freunde waren im Urlaub. Es war jedes Jahr wieder mehr als deprimierend, wenn nur drei statt neun Leute zu deiner Party auftauchen. Erst als ich dreizehn wurde, hatte ich meine Mutter so weit, dass ich gar keine Party wollte und auch nicht bekam. Ich wollte einfach nicht schon wieder enttäuscht werden. Seit ich genug Geld habe, haue ich deswegen in der Woche meines Geburtstages ab. Ein Jahr mit Freunden, dann mit meinem Ex, letztes Jahr allein. Und dieses Jahr bist du hier und ich bin glücklich.“

„Okay, das kann ich verstehen, vor allem das mit dem Glück.“

Einar lachte leise. „Können wir den Teil mit den Telefonen aber bitte trotzdem durchziehen?“

„Zu gerne. Sie werden nur für Fotos und Musik angemacht.“

„Der Flugmodus wurde für Geburtstage erfunden“, grinste Einar.

„Ganz genau“, stimmte Tarek zu. „Wollen wir dann raus hier?“

Einar nickte, sie verließen den Pool und gingen wieder auf ihr Zimmer. Das Angebot, gemeinsam zu duschen, lehnte Tarek ab und schlich stattdessen aus dem Zimmer und runter zur Rezeption. Als Einar fertig war, saß er längst wieder auf dem Bett und schaute fern.

„Wie wäre es, wenn wir noch einen Film sehen?“, schlug er vor.

„Okay“, meinte Einar nur.

Sie machten es sich auf dem Boden bequem und suchten sich einen Film in der Hoteldatenbank.
 

Pünktlich eine Minute vor Mitternacht klopfte es.

„Ich geh schon“, meinte Tarek schnell und sprang auf.

„Wer klopft denn bitte um diese Uhrzeit? Und da ich keinen Feueralarm höre, sind wir auch nicht in Gefahr. Oder ist der Fernseher zu laut?“ Einar sah weiter auf den Film.

„Wer weiß“, antwortete Tarek nur und öffnete der schweigenden Dame vom Service die Tür. Er hatte darum gebeten, dass nichts gesagt wurde, weil er die Überraschung nicht verderben wollte. Nachdem er das Bestellte entgegen genommen hatte und mit den Lippen ein Danke geformt hatte, schloss er die Tür wieder.

„Und?“, wollte Einar nur wissen, als er die Tür ins Schloss fallen ließ.

Tarek schaute nur auf seine Uhr und wartete die letzten Sekunden ab.

„Nun sag schon“, drängelte Einar und sah genau im richtigen Moment zu Tarek.

Der hielt eine Flasche Champagner in einer Hand, zwei Gläser in der anderen. „Happy Birthday!“, grinste er ihn an.

Einar sah ihn kurz fassungslos an, dann lächelte er. Natürlich hätte er darauf kommen müssen, dass niemand einen Geburtstag einfach so verstreichen lässt, wenn er ihn nicht selbst so hasst wie Einar seinen, aber diese kleine Last-Minute-Geste war dermaßen süß, dass er Tarek glatt verzieh.

„Schleimer“, grinste er und winkte ihn zu sich runter.

Das ließ Tarek sich nicht zweimal sagen und küsste das Geburtstagskind.

Später stand die leere Flasche auf dem Boden und die beiden Betrunkenen lagen eng aneinander gekuschelt im Bett.

„Morgen besorge ich dir eine Torte“, murmelte Tarek schon im Halbschlaf.

„Wag' es dir ja nicht“, antwortete Einar nicht lauter. Sein Gehirn schickte ihn mit einem sonderbaren Gedanken in den Schlaf: Vielleicht hasse ich meinen Geburtstag doch nicht.
 

Einar erwachte in einem leeren Bett in einem leeren Hotelzimmer. Erst dachte er, Tarek sei im Bad, doch das war ebenso leer. Kein Hinweis, wo Tarek war, weder Notiz noch Nachricht auf dem Handy. Da die Sachen des anderen noch da waren, konnte er wenigstens davon ausgehen, dass er wiederkommen würde. Nachdem er Tarek eine Nachricht geschickt hatte („Wenn du vor mir geflüchtet bist, hättest du mich wenigstens warnen können, dass ich das Gepäck allein zurück schleppen muss.“ Gefolgt von einem Herzemoji, wofür Einar sich hasste, sobald er auf Senden gedrückt hatte.), ging er erstmal duschen.

Als er wieder aus dem Bad kam, waren Tarek und eine Mitarbeiterin des Hotels gerade dabei, ein Frühstückspicknick auf dem Boden vorzubereiten, immer darauf bedacht, keinen Ton von sich zu geben. Einar lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete die beiden lächelnd.

„Sieht gut aus“, flüsterte Tarek als sie fertig waren. Die junge Frau nickte lächelnd.

„Irgendwie fehlt mir da der Champagner“, meinte Einar nur und die beiden erschraken.

Sobald er sich etwas gefangen hatte, strahlte Tarek ihn an. „Tut mir ja leid, aber den sollten wir erstmal nicht trinken. Heute Abend wieder.“

„Hast du was vor?“, hakte Einar nach.

„Ja, nicht gleich wieder dicht sein“, antwortete Tarek nur und bedankte sich bei der Dame vom Hotel, die sich verabschiedete.

„Okay, was soll das hier?“, wollte Einar wissen als sie weg war.

„Eine einzige romantische Geste. Der Rest des Tages wird so, wie du ihn haben willst. Und wenn du darauf bestehst, auch ohne Kuchen.“ Tarek ging zu ihm und küsste ihn kurz.

„Ich sollte dich dafür schlagen“, meinte Einar nur.

„Mach doch.“

„Stehst du drauf?“

„Find es raus.“

„Jetzt nicht. Ich hab Hunger.“ Einar setzte sich auf die Decke mitten im Raum.

Etwas später, der Kaffee ging gerade zur Neige, zog sich der Himmel zu und es fing an zu regnen, dann folgte Hagel. Obwohl sie schnell die Fenster schlossen, war genug Kälte in den Raum gekrochen, um Einar, der nur Shorts trug, frieren zu lassen. Er kuschelte sich Wärme suchend an Tarek und beugte sich zu dessen Ohr.

„Danke“, flüsterte er nur.

„Dann war es doch nicht zu kitschig?“

„Doch, aber ich mag es trotzdem. Manchmal ist ein bisschen Kitsch und Romantik in Ordnung.“

„Und was ist mit dem Kuchen?“

Einar lachte. „Wir können später gern Kuchen essen, wenn du magst, aber bitte lass es kein Geburtstagskuchen sein, sondern einfach nur Kuchen.“

„Weißt du, was an diesem Wetter gut ist?“, fragte Tarek.

„Was?“

„Wir können deinen Plan umsetzten und uns hier verbarrikadieren. Bei dem Wetter jagt man keinen Hund vor die Tür.“

„Perfekt“, lächelte Einar und beobachtete die Blitze, die über den Himmel zuckten.

Sie blieben eine ganze Weile auf dem Boden sitzen, bis er ihnen dann doch zu hart wurde. Das Housekeeping meldete sich irgendwann und brachte das Geschirr weg, während draußen die Nacht wieder Einzug zu halten schien.

„Ich beobachte gern Gewitter...“, gab Tarek zu.

„Echt? Ich habe es mir als Kind angewöhnt, dann besonders viele Lichter im Raum anzumachen, damit ich die Blitze nicht direkt mitbekomme.“

„Was ich sagen wollte, bevor du mich unterbrochen hast, war, dass ich gern Gewitter beobachte und man das hier sogar direkt aus der Badewanne tun kann,“ vollendete Tarek seinen Satz.

Einar sah ihn ernst an. „Das klingt, ehrlich gesagt, nach einem verdammt guten Plan.“

„Ich lass das Wasser ein“, verkündete Tarek und ging schon ins Bad.

„Vielleicht sollte ich meine Meinung zu Geburtstagen nochmal überdenken“, flüsterte Einar als er im warmen Wasser in Tareks Armen lag.

„Ach ja?“, hauchte Tarek nur und kraulte Einars Kopf weiter.

Genießend schloss Einar dir Augen und seufzte leise, als plötzlich das Licht ausging. Sie hatten nur ein kleines Licht am Spiegel an, aber man merkte die stärkere Dunkelheit sofort, sodass auch Einar die Augen wieder öffnete.

„Stromausfall?“, wunderte er sich.

„Wahrscheinlich das Gewitter, es ist direkt über uns.“

„Perfekt. Keine Telefone, keine Außenwelt“, meinte Einar und kuschelte sich noch mehr an Tarek.

„Nicht einschlafen, ja?“

„Doch.“

„Aber nicht hier, das wird nur irgendwann kalt“, gab Tarek zu bedenken, was Einar murren lies, aber sein Verstand stimmte Tarek zu.

Das Wasser wurde schließlich kalt und sie legten sich, in die Bademäntel gekleidet, ins Bett, wo sie den Rest des Tages mal mehr, mal weniger unschuldig verbrachten.

Beleuchten

„Der beste Geburtstag meines Lebens, ich sag's dir“, wiederholte Einar zum vierten Mal, was er gerade gesagt hatte.

Sie saßen beim Frühstück, berührten sich unterm Tisch kontinuierlich mit ihren Knien und diskutierten über den letzten Tag.

„Das kann nicht dein bester Geburtstag gewesen sein. Wir hatten nicht mal Kuchen dank des Stromausfalls...“

„Doch, mit meinem Ex war es immer gezwungen, weil er irgendwas tolles machen wollte. Meine Mum hatte aufgegeben und gab mir nur meine Geschenke und machte mein Lieblingsessen und letztes Jahr war einfach nur deprimierend. Und gestern... gestern war besonders. Wir haben nichts gemacht, und es war perfekt. Entspannt, ungezwungen, sexy.“ Das letzte Wort sprach Einar nur leise, dafür aber mit einem zweideutigen Grinsen aus.

„Okay, das letzte stimmt“, flüsterte Tarek. „Meinst du, wir können diesen Tag wiederholen?“

Einar sah ihn nachdenklich an. „Gute Frage. Wohl nur, wenn es ungeplant passiert. Und gerade im Urlaub hasse ich Planung. Du nimmst dir was vor und das Wetter verhindert es oder das Museum hat geschlossen oder was auch immer. Lass uns heute genauso angehen.“

„Gute Idee. Die einzige Frage, die wir beantworten müssen, ist wohl, ob wir hier nicht planen wollen oder woanders“, meinte Tarek.

„Hier. Mir ist nach Pool und Sauna und Massage und so Kram.“

Tarek nickte und die Sache war abgemacht.

Zwei Saunagänge und eine Massage später gingen sie einfach nur im Park spazieren. Die Temperaturen waren noch vom Gewitter geprägt und sie mussten Pullover tragen, damit ihnen nicht kalt wurde. Im linken Ohr hatte Tarek einen Kopfhörer, dessen Gegenpart Einar im rechten Ohr hatte, zwischen ihnen waren ihre Hände ineinander verwoben, das Handy mit der Musik war in Einars Hosentasche. Sie mussten nichts sagen. Sie mussten nicht einmal etwas sagen, um sich gleichzeitig dafür zu entscheiden, ins Restaurant zu gehen und zu Mittag zu essen. Sie sahen sich nur an, nickten und gingen zurück.

Den Nachmittag verbrachten sie wieder im Bett, diesmal allerdings mit den Büchern, die Einar mitgebracht hatte. Tarek hatte nur mal in eines reinlesen wollen und konnte es nicht mehr weglegen, was Einar natürlich zum Grinsen brachte.

Am Abend standen dann wieder Filme auf dem Programm, Tareks Auswahl, leicht, komisch, perfekt für kühle Sommerabende. Einar kuschelte sich direkt an Tarek und war eingeschlafen bevor der Abspann lief. Für Tarek war das kein Problem, er beobachtete ihn einfach beim Schlafen, spielte ein bisschen mit seinen Locken und war dankbar. Sein Vater hatte etwas von Gott geschrien, als er auf ihn einschlug, aber er konnte nicht glauben, dass ein Gott existierte. Wie sollte ein Gott erst den Menschen erschaffen so wie er war, mit allen Gefühlen und Fehlern und Zweifeln, wenn er ihn dann genau dafür bestrafte er selbst zu sein? Schon früh hatte dieser Gedanke ihn gestört, diese nicht-existente Logik. Schon früh hatte er sich daher von der Religion losgesagt, obwohl er den Glauben anderer respektierte. Jetzt, in diesem Moment, wollte er so gern jemandem einfach nur Danke sagen, dass er vergaß, nicht zu glauben.

„Danke“, flüsterte er und kuschelte sich an Einar.
 

Einar hatte beim Aufwachen ähnliche Gedanken, nur dass er eigentlich an die Existenz eines Gottes glaubte, er war nur der Meinung, diesen kümmerte es wenig, was auf der Erde geschah. Tareks Anblick aber, dieser zerzauste Kopf und das leichte Lächeln, ließen ihn glauben, es wäre eben kein Zufall, dass sie sich getroffen hatten. Und so flüsterte auch er leise „Danke“, während er sich stark davon abhalten musste, Tarek durch einen Kuss zu wecken.

Erst als dieser von selbst aufwachte, ungefähr eine Stunde nach Einar, sich vom anderen löste und sich streckte, sprang Einar aus dem Bett, um auf Toilette zu gehen.

„Sehe ich so schlimm aus beim Aufwachen?“, wunderte Tarek sich, als er wiederkam.

„Du siehst gut aus beim Aufwachen, eigentlich immer, ich... ich musste nur mal“, gab Einar peinlich berührt zu.

„Gut, dass du so dringend musstest“, grinste Tarek und stand auf.

„Warum?“

„Dann muss ich nicht so lange warten.“ Er küsste Einar auf die Wange und verschwand selbst im Bad.

Theatralischer als für ihn üblich, ließ Einar sich wieder aufs Bett fallen. Allerdings schlug er keine Sekunde später die Hände über seinem grinsenden Gesicht zusammen. Er war schon längst dabei, sich in Tarek zu verlieben und ihm blieb keine andere Wahl als glücklich zu sein. Und genau in diesem Moment meldete sich eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf: „Was, wenn er wie Er ist? Was, wenn er dich auch nur für sich haben will? Was, wenn er dich kontrollieren will? Wie kannst du ihm vertrauen, wo du ihn doch kaum kennst?“

Von einer Sekunde auf die andere war dieses „Verliebter Teenager“-Gefühl verschwunden und Panik stieg in Einar auf. Plötzlich konnte er kaum noch atmen und keinen klaren Gedanken mehr fassen. So fand ihn Tarek auch, kreidebleich, schwer atmend und zusammengerollt auf dem Bett.

„Was ist los?“, fragte er besorgt und war sofort bei Einar.

Einar sah ihn aber nur an und schwieg, die Angst war noch immer in seinen Augen zu sehen.

Seinem Instinkt folgend, zog Tarek ihn in seine Arme und strich ihm über den Rücken. Nach einer Weile hatte Einars Atmung sich auch wieder normalisiert und die Farbe kehrte zurück in sein Gesicht.

„Was war los?“, wollte Tarek wissen.

Einar zuckte nur ausweichend mit den Schultern.

„Was kann ich für dich tun?“

„Wasser bitte“, murmelte Einar und zog die Bettdecke um sich als Tarek aufstand und Wasser holte.

Gierig trank Einar das Glas mit einem Zug und seufzte dann.

„Hast... hast du was dagegen, wenn ich heute allein etwas mache?“, fragte er Tarek leise.

„Allein?“

Einar nickte nur und sah ihn unsicher an.

„Im Moment würde ich dich ungern allein lassen, aber wenn es das ist, was du brauchst, dann werde ich das tun“, meinte Tarek ernst.

„Bitte versteh mich nicht falsch, ich will mit dir zusammen sein, aber...“

„Aber gerade in diesem Moment geht es dir zu schnell und ein Tag allein ist deine Bremse.“

Einar sah ihn mit großen Augen an. „Ja. Es tut mir leid.“

„Du hast mich gerade ganz schön erschreckt, und wenn du bremsen musst, um das nicht mehr zu tun, dann bremse. Ich will nicht, dass du verleugnest, was du brauchst, nur weil ich da bin.“

„Danke“, flüsterte Einar und küsste ihn kurz.

„Wollen wir trotzdem noch zusammen frühstücken gehen?“, fragte Tarek nur.

Etwas überrascht sah Einar ihn an, dann lächelte er. „Ja, das können wir.“
 

Über seine Tasse hinweg sah Tarek Einar an. „Weißt du schon, was du vor hast?“

„Nicht so richtig. Ich glaube, ich setze mich einfach ins Auto und fahre los. Und du?“

„Wahrscheinlich lese ich das Buch von gestern weiter, besorge mir ein Rad oder gehe schwimmen. Mal sehen.“

Einar nickte und spielte weiter mit seinem Müsli. „Du hast wirklich kein Problem damit?“, fragte er leise.

Tarek atmete durch und lächelte Einar an. „Ich will, dass es dir gut geht. Punkt. Und aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es schädlich ist, immer aufeinander zu hocken.“

„Eigene Erfahrung?“

„Meine erste Freundin. Wir waren in der neunten Klasse und sie wollte ständig mit mir zusammen sein, wenn wir konnten. Irgendwann wollte ich mit meinen Freunden einen Abend verbringen, eine kleine Geburtstagsparty ohne Mädchen, weil das Geburtstagskind gerade sitzengelassen wurde. Jeder normale Mensch würde sagen 'Okay, geht klar, wir sehen uns Sonntag.' Meine Freundin stand am Samstagabend bei meinem Freund auf der Matte, und anstatt sich wenigstens zurückzuhalten, hing sie die den ganzen Abend an mir.“

„Wie dämlich.“

„Jap. Ich wollte ja mit ihr zusammen sein. Ich war 15, verdammt. Aber ich wusste auch, dass mein Freund diesen einen Abend brauchte und dass ein Abend nichts an meinen Gefühlen ändern würde. Sie hat's nicht geschnallt.“

„Wie lange ward ihr zusammen?“

„Knapp ein Jahr. Und der Abend war ungefähr in der Mitte.“

Einar tätschelte Tareks Kopf.

„Was soll das?“ Tarek schielte zu Einars Hand.

„Du bist so süß. Und diese Geschichte hat so ziemlich gar nichts mit uns zu tun“, lächelte Einar.

„Da irrst du, mein Freund. Was ich dir mit dieser Geschichte eigentlich sagen wollte, war, dass ich durchaus in der Lage bin, die Bedürfnisse meiner Freunde – ein Abend ohne Mädchen oder ein Tag ohne mich – durchaus wahrzunehmen und zu respektieren.“

„Na gut“, lächelte Einar. „Das lasse ich dir durchgehen.“

„Danke.“

„Und du willst wirklich hier bleiben?“

„Ja, mach dir um mich keine Gedanken. Ich würde auch hier bleiben wollen, wenn du nicht wegfahren würdest. Dann würde ich einfach das Buch nehmen und mir ein gemütliches Plätzchen am See suchen.“

Einar lächelte ihn dankbar an. „Du bist toll, weißt du das?“

„Ich sage es mir jeden Morgen vorm Spiegel.“

„Spinner“, lachte Einar und küsste Tarek kurz.

Sie gingen wieder auf ihr Zimmer und Einar packte zusammen, was er vielleicht gebrauchen könnte: einen Pullover, zwei Bücher, die Autoschlüssel. Schließlich trat er zu Tarek, der auf der Fensterbank saß.

„Bis heute Abend“, meinte Einar leise.

„Ich werde dich erwarten mit einer Flasche Rotwein...“

„Weiß.“

„... einer Flasche Weißwein und einem Lächeln. Wenn ich gut drauf bin, ist vielleicht auch ein Kuss dabei.“

„Danke“, flüsterte Einar und umarmte Tarek. Nach einem letzten Kuss, war er verschwunden.

Tarek sah ihm kurz nach, dann schnappte er sich das Buch, seine Jacke und lieh sich ein Rad aus. Er schaffte es bis in ein nahes Dorf, in dem er den ganzen restlichen Tag in einem Restaurant auf der Terrasse direkt am See saß, und las. In der von Touristen belagerten örtlichen Weinhandlung ergatterte er noch zwei Flaschen Weißwein bevor er wieder zum Hotel fuhr.

„Stell den Wein kalt, ich bin in einer Stunde wieder da.“ Diese Nachricht brachte ihn zum Lachen, denn natürlich war der Wein längst in der Minibar verstaut, und jetzt konnte er auch einen Snack bestellen, falls Einar nicht zu Abend gegessen hatte. Er selbst hatte zwar gegessen, aber wenn Einars Angabe stimmte, wäre er erst gegen 21 Uhr wieder da, da konnte man schon nochmal eine Kleinigkeit essen, vor allem im Urlaub.

Einar parkte pünktlich um neun den Wagen und ging zur ihrem Zimmer. Er war den ganzen Tag gefahren und das hatte seinen Verstand aufgeräumt. So wie Tarek reagiert hatte, war er gewiss nicht wie sein Ex, eine sehr gute Nachricht. Und er hatte Tarek vermisst, sehr sogar. Das „Verliebter Teenager“-Gefühl war wieder aufgekommen als er unter einer der alten Alleen entlangfuhr und unweigerlich auf den leeren Beifahrersitz sah. Genau konnte er Tarek sehen, wie der den Kopf mit geschlossenen Augen nach hinten legte und die Sonne Muster auf sein Gesicht zeichnete. In diesem Moment war ihm klar geworden, dass Tarek immer noch sein Freund war, trotz der Anziehungskraft zwischen ihnen. Ein Gefühl, das es bei seinem Ex nie gegeben hatte. Da war nur Besitz und Leidenschaft und Egoismus gewesen. Tarek war Freundschaft und Anziehungskraft und vielleicht irgendwann Liebe.

Als Einar ihr Zimmer betrat, saß Tarek in einem Sessel, vollkommen in das Buch vertieft. Auf dem Tisch standen ein Teller mit kleinen Sandwiches und zwei Weingläser. Leise legte Einar seine Tasche ab und setzte sich aufs Bett, von wo aus er Tarek eine Weile beobachtete. In ihm kämpften zwei Kräfte: Der Buchliebhaber, der sich über solch eine Wirkung von Büchern immer freute, und der Liebhaber, der gehofft hatte, bemerkt zu werden.

„Hallo“, sagte Tarek plötzlich und klappte das Buch zu.

„Hallo“, lächelte Einar ihn an.

„Sorry, ich wollte nur schnell das Kapitel zu Ende lesen“, erklärte Tarek und kam zu Einar, um ihn zu küssen.

„Zum Glück bin ich nachsichtig, was Bücher betrifft.“ Einar lehnte sich an Tarek und sog dessen Duft ein. „Hab dich vermisst“, flüsterte er.

„Hat dir der Tag gut getan?“

„Ja. Tut mir leid.“

Tarek sah ihn fragend an. „Was tut dir leid?“

„Dass ich dich allein gelassen habe.“

„Jetzt hör aber auf“, lächelte Tarek nachsichtig. „Du warst einen Tag allein unterwegs, weil du es brauchtest. Bei zwei Wochen ohne ein Wort wäre ich sauer, aber auch nur, weil ich mir Sorgen machen würde.“

„Und heute hast du dir keine gemacht?“

„Doch, natürlich. Ich habe mir vor allem heute morgen Sorgen um dich gemacht. Heute sollte dir helfen. Und ich habe mich abgelenkt.“ Tarek zeigte auf das Buch.

„Hast du den ganzen Tag hier im Zimmer gehockt?“

Ein Lachen entfuhr Tarek. „Nein, ich bin mit dem Rad ins Dorf gefahren, habe am See gegessen und gelesen und uns Wein organisiert.“

„Wein?“ Ein Grinsen schlich sich auf Einars Gesicht.

Verschwörerisch lächelnd nickte Tarek und holte eine Flasche Wein aus der Minibar. „Weiß, wie du ihn wolltest.“

„Perfekt.“

„Und weil ich nicht wusste, ob du was gegessen hast, habe ich uns die kommen lassen“, meinte Tarek und zeigte auf die Sandwiches.

„Sehr gut.“

„Hast du gegessen?“, fragte Tarek nach.

„Nicht viel“, gab Einar zu.

„Was ist nicht viel bei dir?“

Einar sah zur Seite. „Ein paar Tassen Kaffee?“, murmelte er leise.

„Du hast seit dem Frühstück nichts gegessen, stimmt's?“

„Aber getrunken.“

Ohne weitere Worte hielt Tarek ihm den Teller vor die Nase und Einar nahm sich etwas.

„Danke“, meinte er leise und biss zu.

„Hast du schon immer so wenig gegessen?“

„Ja, an manchen Tagen vergesse ich es einfach.“

Tarek ließ sich aufs Bett fallen und beobachtete Einar nur beim Essen, worauf Einar mit einem fragenden Blick über sein Sandwich hinweg reagierte.

„Ich mach mir nur Sorgen, wenn du nichts isst“, erklärte Tarek.

Einar nahm demonstrativ einen großen Bissen und lächelte.

Zufrieden nickte Tarek und öffnete endlich den Wein.

Sie vernichteten den Wein schließlich auf der Fensterbank sitzend und ohne viel zu sagen. Einar reichte es schon, mit dem Rücken an Tarek zu lehnen, damit es ihm gut ging. Es war perfekt. Für eine kurze Zeit war alles perfekt. Ein Traum, könnte man fast sagen, doch Einar war sich sicher, dass in Träumen, vor allem in perfekten Träumen, nicht plötzlich Mücken angriffen. Sie jagten die Biester durchs Zimmer und fielen schließlich lachend aufs Bett.

"Ich habe zu viel getrunken", stellte Tarek fest.

"Ich glaube, ich auch", meinte Einar und wieder lachten sie.

Sie küssten sich und zogen sich gegenseitig aus und ließen ihre Hände über den Körper des jeweils anderen wandern und schliefen unter diesen sanften Berührungen ein.
 

„Wir hätten früher herkommen sollen“, murmelte Einar. Sie saßen in dem Restaurant am See, in dem Tarek den vorherigen Tag verbracht hatte.

„Hätten wir, aber dann hätten wir andere Dinge nicht getan“, gab Tarek zu bedenken.

„Lass uns noch eine Woche hier bleiben.“

„Glaubst du, wir haben dafür genug Kohle?“

Einar verzog das Gesicht. „Ich wusste, die Sache hat einen Haken. Eine Woche ist fest geplant, alles andere ist Luxus.“

„Nimm es nicht so schwer. Wir haben noch nächste Woche bevor wir wieder zur Arbeit müssen. Die verbringen wir einfach genau so wie diese Woche: Keine Pläne, keine Verpflichtungen.“

„Meinst du, das bekommen wir so einfach hin?“, fragte Einar skeptisch. „Gerade du musst einiges klären.“

„Ich weiß. Aber ich will erstmal sehen, wie die Lage aussieht. Yasmin hat ebenfalls Urlaub und ich muss mit ihr reden, vielleicht auch mehr von meinen Sachen aus der Wohnung holen. Zum Glück ist mein Vater nicht da.“

„Brauchen wir eigentlich mehr Regale für deine Filmsammlung?“, wunderte Einar sich plötzlich.

Tarek sah ihn überrascht an. „Wahrscheinlich, aber meine Filme passen in ein Billy.“

„Ein bitte was?“

„Ein Billy-Regal. Du hast in solchen deine Bücher stehen.“

„Ach, so heißen die Teile? Meine Mum hat sie ausgesucht, ich musste nur aufbauen.“ Einars Augen wurden groß. „Verdammt, ich muss auch ihr neues Sofa aufbauen nächste Woche...“

„Stockholm?“

„Genau.“

„So schlimm ist das nicht, glaub mir“, lächelte Tarek.

„Das musst du sagen, gib es zu.“

„Nein, aber ich hatte auch noch nie ein Problem, wenn ich Möbel aufgebaut habe.“

„Ich habe mir einen Handwerker geangelt“, grinste Einar.

„Na ja, verlass dich lieber nicht auf mich, wenn Abflüsse repariert werden müssen oder so...“

Einar lachte und griff über den Tisch nach Tareks Hand. „Lass uns heute Nachmittag nochmal schwimmen gehen. Es ist wieder warm genug dafür.“

Sein Gegenüber nickte nur lächelnd, dann kam ihr Essen.

Sie verbrachten diesen Nachmittag wieder an einer einsamen Badestelle, den Abend wieder in ihrem Zimmer und waren glücklich, auch wenn die Realität, in die sie am nächsten Tag wieder fahren würden, schon Schatten auf ihre Gedanken warf.
 

Wie um den Urlaub zu verlängern und die Realität auszusperren, hörten sie auf der Rückfahrt die Musik der letzten Tage. Die Fahrt an sich dauerte länger als die Hinfahrt, da sie ständig im Stau standen. Mehr Zeit für die Musik und eine willkommene Verlängerung, fanden beide und suchten sich, als klar wurde, dass sie nicht vor Mitternacht ankommen würden, ein Zimmer in einem Hotel an der Autobahn. So komfortabel wie ihr Urlaubsdomizil war es nicht, aber für eine Nacht musste die Realität noch warten.

Bei ihrer Ankunft am nächsten Mittag, lag die Wohnung genauso vor ihnen, wie sie sie verlassen hatten. Einige Klamotten lagen vorm Schrank und einige Bücher lagen quer im Raum verstreut, das Bett war ungemacht und die Kaffeetassen standen in der Spüle. Sofort fühlte Tarek sich wie zu Hause. Er war nur ein paar Tage hier gewesen, doch diese kleine Wohnung fühlte sich einfach richtig an. Wahrscheinlich wäre seine eigene ähnlich, wenn seine Mutter ihn hätte früher ausziehen lassen. Eine der Wände wäre allerdings frei geblieben und gegenüber hätte er einen Projektor installiert.

„Was wollen wir heute noch machen?“, fragte Einar ihn.

„Wäsche waschen, Pizza bestellen und sonst nichts weiter“, schlug Tarek vor.

„Oder ans Telefon gehen“, fügte Einar an und ging zum klingelnden Telefon. Es war seine Mutter und er ging in die Küche.

Tarek warf sich in der Zwischenzeit aufs Bett und beobachtete, wie der leichte Wind die Blätter an den Bäumen vorm Haus bewegte. Die Blätter ließen das Licht ein bisschen tanzen und bei der sanften Bewegung und der gemütlichen Matratze döste Tarek einfach ein.

"Ist es in Ordn..." Einar stoppte mitten im Satz als er in den Raum kam und Tarek schlafen sah. Leise machte er kehrt und setzte Kaffee auf, dann las er am Küchentisch.

"Du hättest mich wecken können", verkündete Tarek keine halbe Stunde später von der Küchentür aus.

"Wollte nicht."

"Hast schon genug von mir, was?", grinste Tarek.

"Noch nicht, ich wecke nur ungern Schlafende, wenn es keinen triftigen Grund gibt."

"Kaffee ist ein triftiger Grund."

Einar lachte. "Der hat aber meine Stärke. Wirst du das überleben?"

"Heute bin ich mutig." Kaum hatte er das gesagt, saß Tarek ebenfalls am Küchentisch und hielt seine Tasse fest. "Wer war am Telefon?", fragte er.

"Meine Mutter. Sie würde uns gern heute zum Essen einladen."

Ein bisschen skeptisch sah Tarek ihn an. „Deine Mum weiß von mir?“

„Ja, so ein bisschen...“

„Was hast du ihr erzählt?“

„Nicht viel. Nur, dass ich jemanden kennengelernt habe. Sie hat sich gewundert, weshalb ich mich vor meiner Abreise nicht nochmal gemeldet habe und da habe ich halt erklärt, dass ich jemanden kennengelernt habe, der mich ein bisschen abgelenkt hat. Jetzt weiß sie, dass du Tarek heißt. Mehr nicht.“

„Weiß sie, dass ich hier wohne?“, hakte Tarek nach.

„Ich habe gesagt, dass du bei mir untergekommen bist nach Stress zu Hause.“

„Und was sagt sie dazu?“

„Nichts. Ich glaube, ihr gefällt die Idee nicht, dass ich dich erst so kurz kenne und du hier bist.“

Tarek raufte sich die Haare. „Kann ich verstehen.“

„Wir wissen beide, dass es gerade nicht anders geht“, meinte Einar sanft.

„Ja, aber... es wäre besser, wenn ich nicht raus gemusst hätte, wenn ich freiwillig hätte sagen können 'Ich will mit dir zusammen wohnen'.“

Sie sahen sich an und es war überdeutlich, dass Tarek nicht weinen wollte, dass er alles tat, um die Tränen zurückzuhalten, dennoch liefen sie. Einar stand einfach auf und umarmte Tarek von hinten, hielt ihn nur fest, ohne Worte.

Die Tränen versiegten schnell wieder, doch Einar ließ Tarek nicht los, und Tarek lehnte weiterhin an Einar.

„Zusammen“, flüsterte Tarek.

„Zusammen“, flüsterte Einar.

Durchleuchten

Etwas nervös sah Tarek immer wieder zur Tür des japanischen Restaurants, in dem sie auf Einars Mutter warteten.

„Das macht sie ständig...“, murrte hingegen Einar neben ihm.

„Was?“

„Zu spät kommen. Jedes Mal, verdammt.“ Frustriert ließ Einar seinen Kopf auf Tareks Schulter fallen. „Ich frag mich, wie sie das in ihrem Job macht.“

„Was macht sie denn beruflich?“, fragte Tarek neugierig.

„Sie ist Maklerin“, seufzte Einar und sah zur Tür, die sich gerade öffnete.

Herein kam eine kleine, dunkelblonde Frau, deren Gesichtszüge denen ihres Sohnes ähnelten, aber um einiges sanfter und weiblicher waren. Sie sah aus, als käme sie gerade von einem Geschäftstermin.

„Entschuldigt, Jungs. Ich hatte noch eine Besichtigung, die sich unnötig hingezogen hat. Musstet ihr sehr lange warten?“, begrüßte sie Einar und Tarek in einem Atemzug.

„Hallo Mama“, lächelte Einar nachsichtig und stand auf, um sie zu umarmen. Er war einen Kopf größer als sie und hielt sie für ein paar Sekunden ganz fest.

„Mein Junge“, lächelte sie ihn danach an und wand sich an Tarek, der ebenfalls aufgestanden war.

„Hallo, ich bin Tarek“, lächelte er und reichte ihr seine Hand, die sie schüttelte.

„Petra, hallo. Du hast also meinen Sohn davon abgehalten, sich zu melden“, stellte sie ernst fest, schaffte es allerdings nicht, diese Maskerade aufrecht zu halten und lächelte schnell wieder.

„Mama!“

„Ja, schon gut, ich bin ja nett.“

Einar sah skeptisch zu ihr, dann lächelte er auch wieder. „Es ist einiges passiert...“

„Ihr zwei seid zusammen und schon ist Tarek bei dir eingezogen.“ Sie sagte das ohne jegliche Wertung in Stimme oder Mimik, doch Einar wusste, dass ihr das so gar nicht gefiel.

„Ganz so war es nicht“, meinte Tarek.

„Ach nein?“

„Tarek und ich, wir haben uns getroffen, als ich dein doofes Sofa ausmessen sollte. Wir waren im Kino, und haben stundenlang in einer Bar geredet. Dinge, die man halt tut, wenn man dabei ist, sich anzufreunden. Allerdings hat Tareks Vater da etwas missverstanden...“

„Und was?“, hackte Einars Mutter nach.

„Ich...“, begann Tarek, doch Einar unterbrach ihn.

„Wir haben uns geküsst. Tarek war neugierig, wie es ist einen Mann zu küssen und wir haben uns geküsst. Kurz, aber leider lange genug.“

„Neugier?“, fragte sie und sah Tarek an.

„Neugier“, bestätige der nur.

„Und was hat dein Vater mit Neugier zu tun?“

Tarek seufzte. „Mit Neugier hat er wenig am Hut, aber er hat uns gesehen, im Park, wie wir uns geküsst haben. Und als ich abends nach Hause kam, hat er mich verprügelt. Er hält reichlich wenig von Homosexualität, wenn ich das anmerken darf.“

„Er konnte abhauen und ist zu mir gekommen.“

„Woher kannte er deine Adresse?“, fragte Petra streng.

„Ich habe ihn am Abend zuvor mit zu mir genommen. Seine Eltern sind streng, was Alkoholkonsum angeht, und da habe ich ihn mitgenommen. An einen Ort, an dem wir weiter reden konnten und er keinen Ärger bekommt.“ Einar wirkte auf Tarek plötzlich sehr angespannt, aber ihm fiel nichts ein, womit er die Situation hätte entschärfen können, also schwieg er.

„Du weißt, dass es gefährlich ist.“

„Ja, natürlich weiß ich das. Ich denke jeden Tag daran. Ich kann mich aber nicht mein ganzes Leben lang vor ihm verstecken. Ich will mein Leben leben. Wenn ich das nicht tue, hat er gewonnen. Er wollte mich am liebsten einsperren, und jetzt willst du es. Und ich verstehe, warum du das willst. Sehr gut sogar, aber er darf nicht gewinnen. Er darf nicht so viel Macht über mein Leben ausüben, dass ich keins mehr habe. Und wenn das bedeutet, auch mal leichtsinnig zu sein, Hals über Kopf Entscheidungen zu treffen, dann lass mich das tun. Lass mich scheitern, lass mich siegen. Lass mich siegen über die Angst, die er mir eingepflanzt hat.“

Sie sah ihren Sohn lange an, dann nickte sie schließlich. „Du hast Recht.“

„Ich weiß. Jedenfalls kann Tarek nicht mehr zurück.“

„Ach nein?“

Tarek sah sie an. „Nein. Er hat mir die übelsten Beleidigungen an den Kopf geworfen, aber auch, dass er keinen mehr Sohn hat. Und das während er auf mich eintrat. Ich fürchte, wenn wir uns wieder sehen, bringt einer den anderen um.“

Petra schüttelte den Kopf.

„Deswegen ist Tarek bei mir sicherer als sonst irgendwo. Und deswegen habe ich ihn mit in den Urlaub genommen. Damit wir beide rauskommen. Abschalten. Erholen. Durchatmen. Und na ja... in den paar Tagen ist es halt passiert, dass wir wirklich zusammen gekommen sind.“

„Und wie geht es weiter?“

Einar sah zu Tarek. „Wir holen Tareks restlichen Kram aus der Wohnung seiner Eltern und sehen weiter.“

„Ist es denn sicher, in diese Wohnung zurück zu gehen?“, fragte Petra.

„Meine Eltern fliegen am Dienstag morgen nach Tunesien und bleiben mindestens eine Woche, weil der Sohn meines Onkels heiratet. Sie sind also nicht da. Meine kleine Schwester hilft uns und ich habe ein Auto für den Transport. Alles kein Problem.“

Sie sah Tarek skeptisch an. „Deine kleine Schwester?“

„Ja, sie ist anders als meine Eltern. Moderner, wenn man das so ausdrücken will. Ich vertraue ihr.“

„Hast du sonst noch jemandem, dem du vertraust?“, wollte Petra wissen.

Tarek überlegte kurz. „Zwei, vielleicht drei Freunde, die nicht homophob sind, in meiner Familie gibt es nur Yasmin.“

Einar, der seine Lippen bei jedem Wort beobachtet hatte, senkte den Blick. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, was Tarek alles verloren hatte, weil sie zusammen waren. Weil er sich in Tareks Leben verlaufen hatte. Weil er existierte.

„Bist du denn schwul?“, fragte Einars Mutter direkt.

Verlegen wich Tarek ihrem Blick aus, während er unter dem Tisch nach Einars Hand griff. „Nein, aber das ändert nichts daran, dass ich in Einar verliebt bin. Um ehrlich zu sein, habe ich mir über das Label noch nie Gedanken gemacht. Ich wollte nie einen Mann küssen bevor ich Einar getroffen habe. Ich habe nie auch nur den Gedanken gehabt, dass ich mich in einen Mann verlieben könnte. Und dennoch war ich schon immer der Meinung, dass es vollkommen egal ist, welches Geschlecht der andere hat, solange man sich liebt.“

„Deine Eltern haben dir das aber nicht beigebracht“, stellte Petra trocken fest.

„Nein, aber die mussten immer arbeiten, so dass das Fernsehen und Zeitschriften mir das beigebracht haben. Und dann hatte ich Lehrer, die diese Meinung vertraten. In meiner Familie wird so was eigentlich gern tot geschwiegen. Selbst die normale Aufklärung über Sex haben bei mir die Schule und die Medien übernommen.“ Tareks Finger verschränkten sich derweil fest mit Einars, der ihn noch nicht wieder direkt ansehen konnte.

„Verstehe“, sagte sie nur.

„Können wir das Verhör bitte beenden?“, murrte Einar leise. Er fühlte sich sichtlich unwohl und drückte Tareks Hand fest.

„Eine Frage habe ich noch“, warf Petra ein. „Tarek, wie wird das funktionieren? Einar ist Christ, du Moslem...“

Tarek sah sie kalt an. „Sie denken also, ich bin Muslim? Was genau verleitet Sie zu dieser Annahme?“

„Tarek...“, flüsterte Einar leise.

Seine Mutter suchte nach Worten.

„Klar, meine Familie kommt aus Tunesien und ich heiße Tarek. Vorurteile lauern überall, nicht wahr? Zu Ihrer Information: Seit ich ungefähr dreizehn, vierzehn war, bin ich Atheist. Aus Überzeugung. Nur weil meine Eltern und meine Schwester Muslime sind, um mal nebenbei Vorurteile zu bestätigen, heißt das nicht, dass ich auch einer bin.“

„Es... es tut mir leid“, meinte Petra kleinlaut.

Einar ließ frustriert Tareks Hand los und sah von beiden weg. So hatte das nicht laufen sollen, ganz und gar nicht.

„Wollen wir dann bestellen?“, fragte seine Mutter nach einer Weile unangenehmen Schweigens.

„Mir ist der Appetit vergangen. Danke dafür.“ Einar sah beide finster an, sein Blick bleib auf seiner Mutter haften. „Und du weißt, wie gern ich Japanisch esse.“

„Jetzt sei doch nicht so“, meinte seine Mutter nur.

„Okay“, sagte Tarek zeitgleich. „Aber isst du wenigstens ein paar Bissen, wenn ich mir was bestelle?“

Einar sah ihn überrascht an.

„Nur ein paar, damit du überhaupt etwas isst und wir uns keine Sorgen um dich machen müssen“, bat er Einar mit einem leichten Lächeln.

Fasziniert beobachtete Petra, wie ihr Sohn langsam nickte. Dieser junge Mann hatte eine ganz andere Wirkung auf Einar als sie oder sein Ex. Bei beiden hätte Einar einfach noch geschmollt, doch bei Tarek kam die Sorge in seiner Stimme aus ganzem Herzen und das schien auch Einar zu spüren. Vielleicht sollte sie ihre Meinung noch einmal überdenken...

Tarek lächelte ihn an und flüsterte ein leises Danke in sein Ohr, dann küsste er dieses kurz.

„Aber bestell ja kein Ramen“, flüsterte Einar zurück. „Das kann man nicht teilen.“

„Ich habe bislang nur Sushi gegessen. Anderes japanisches Essen kenne ich noch nicht“, gab Tarek zu.

„Dann lass mich dir helfen“, lächelte Einar, schlug die Karte auf und fing an, Tarek die einzelnen Gerichte zu erklären.

Auf der anderen Seite des Tisches war Petra weiterhin sehr fasziniert und beobachtete die beiden aus den Augenwinkeln heraus während sie sich etwas aussuchte.

Am Ende hatten sie wenig geredet, aber Einar hatte Tareks halbe Portion gegessen und lehnte an ihm.

„Wir sollten gehen“, sagte Tarek leise.

„Warum?“, murmelte Einar.

„Weil du fast einschläfst, Liebling“, antwortete Petra lächelnd. Sie hatte sich das Verhalten der beiden genau angesehen und war zu dem Schluss gekommen, dass ihr Sohn fürs Erste sicher war. Diese Erkenntnis hatte auch ihre Einstellung zu Tarek selbst etwas geändert, den sie nicht mehr von Grund auf ablehnte. Aber sie würde ihn beobachten, soviel war sicher.

„Und was ist mit Dessert?“, wollte Einar wissen.

„Wir holen uns auf dem Weg Eis“, schlug Tarek vor. „Wie klingt das?“

„Sehr gut“, grinste Einar und schien wieder etwas wacher zu werden.

Petra winkte den Kellner herbei und bestellte die Rechnung. Als diese kam, lächelte Einar sie an.

„Danke, Mama“, sagte er sanft.

„Vielen Dank“, meinte auch Tarek.

Sie lächelte die beiden an. „Euer Eis müsst ihr aber selbst zahlen.“

Lachend stand Einar auf und umarmte sie. „Ich hab dich lieb“, flüsterte er ihr zu.

„Ich hab dich auch lieb“, flüsterte sie zurück. „Und jetzt haut ab, sonst bekommt ihr kein Eis mehr.“

Nach der Verabschiedung gingen Tarek und Einar zur letzten offenen Eisdiele in der Innenstadt und holten sich jeder drei Kugeln Eis.

„Schön, dass dein Appetit doch noch zurück gekommen ist“, meinte Tarek leise.

Einar nickte. „Sie will dich testen.“

„Dachte ich mir.“

„Sie hat Angst, dass du mir weh tust, dass es wieder so wird wie bei ihm.“

„Und das verstehe ich, aber...“

„Aber so was wie die Frage mit der Religion ist scheiße“, seufzte Einar.

„Ja.“

„Sie tut immer ziemlich weltoffen. Sie hatte auch nie ein Problem damit, dass ich schwul bin, aber ich fürchte, in anderer Hinsicht ist sie nicht so offen...“

Tarek sah ihn von der Seite an. „Und du?“

Einar stoppte plötzlich. „Was denkst du? Ich bin mit dir zusammen. Und einige von den One Night Stands in meiner wilden Phase waren bei weitem nicht so blass wie du.“

„Also...“

„Ich bin nicht meine Mutter, ich denke auch nicht wie sie. Es ist mir vollkommen egal, welche Hautfarbe, welche Religion oder welchen Pass jemand hat, solange er kein Arschloch ist. Und selbst dann wäre er hauptsächlich ein Arschloch.“

Tarek nickte. „Ja, dem kann ich zustimmen. Und falls du die Info brauchst, ich habe einen deutschen Pass. Noch etwas, was meinem Vater an meinem Leben nicht gefällt.“

„Ihm gefällt es nicht, dass du dich hast einbürgern lassen?“

„Nein. Aber scheiß drauf. Er hat damals von Tradition und Familie geredet. Ich habe ihn gefragt, warum ich Bürger eines Landes sein soll, das ich kaum kenne und in dem ich nicht lebe, aber ich in dem Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, nicht mitbestimmen darf. Das hat sich meiner Logik komplett entzogen, tut es immer noch.“

„Was hat er gesagt?“, wollte Einar wissen.

„Nichts. Er hat sich abgewandt und aufgehört zu diskutieren. Wahrscheinlich, weil er wusste, dass ich Recht habe. Es ist mir auch egal, was andere machen, ich mache es so.“

„Du trittst Vorurteile gerne mit Füßen, was?“, stellte Einar grinsend fest.

„Mit Vorliebe und viel Kraft“, grinste Tarek zurück. „Und jetzt lass uns endlich nach Hause gehen.“

Einar nickte, sie gingen weiter und Tarek nahm im Gehen Einars Hand. Ein bisschen überraschte das Einar, aber er ließ es gerne zu. Im Urlaub waren sie auch für alle sichtbar Hand in Hand gegangen, hatten sich geküsst, doch dort kannte sie keiner. Dort waren sie sicher vor Exfreunden und Vätern gewesen. Zurück in der Realität wollte Einar Tarek die Wahl überlassen, wo und wie er ihre Beziehung zeigen wollte, schließlich war diese Art von Beziehung für Tarek und alle in seiner Umgebung neu. Umso mehr freute er sich, dass Tarek offenbar die Wahl getroffen hatte, aus ihrer Beziehung kein Geheimnis zu machen. Nachdenklich wanderte sein Blick zu den verschlungenen Händen zwischen ihnen.

„Mir egal, wer es sieht. Wenn mich jemand mit dir an meiner Seite nicht akzeptieren kann, dann war ich ihm auch früher eigentlich egal“, meinte Tarek als er Einars Blick bemerkte.

„Bist du sicher?“, fragte Einar leise zurück.

„Ja, ganz sicher.“ Tarek lächelte ihn an.

Einar lächelte leicht zurück. Wieder musste er an alles denken, was Tarek verloren hatte oder verlieren würde, wegen ihm. Jedes Familienmitglied, jeden Freund, der sich von ihm abwendete, bereute Einar als hätte er sie persönlich aus Tareks Leben gejagt. Am liebsten hätte er sich auf der Stelle bei Tarek dafür entschuldigt, er wartete aber bis sie wieder in der Wohnung waren.

„Es tut mir leid“, murmelte er nur und Tarek sah ihn komplett verwirrt an.

„Was?“ Er hatte gerade die letzten beiden Flaschen Bier aus dem Kühlschrank geholt und hielt eine hoch. „Willst du doch nicht?“

„Doch, es ist etwas anderes“, gab Einar zu und bedeutete Tarek, sich ihm gegenüber aufs Bett zu setzen.

„Leg los“, forderte Tarek als er saß. In seiner Stimme und seinen Augen konnte Einar Anspannung erkennen. Eine Anspannung, deren Ursache Angst war.

„Es tut mir leid, was alles meinetwegen passiert ist. Du hast deine Eltern verloren, außer Yasmin wahrscheinlich deine ganze Familie. Dein Zuhause, einen Großteil deiner Freunde, dein Leben. Es tut mir leid.“

Tarek sah ihn verwundert an, dann nahm er seine Hand. „Du hast also vergessen, dass ich dich zuerst geküsst habe. Und ich wollte es tun, was auch immer die Konsequenzen wären. Ich wollte dich küssen und alles andere war egal. Ja, in dem Moment habe ich eher damit gerechnet, dass du mich verprügeln willst, aber es war allein meine Entscheidung.“

„Aber wenn ich nicht in dein Leben gestolpert wäre...“

Tarek lächelte ihn an. „Ja, du bist in mein Leben gestolpert und hast es in wenigen Tagen auf den Kopf gestellt, auf eine Art und Weise, die ich mir nie erträumt hätte. Aber ich bin hier. Ich hätte schon lange gehen können. Ich hätte zu anderen Freunden laufen können an dem Abend. Ich hätte die Stadt verlassen und irgendwo ein neues Leben anfangen können. Und doch bin ich hier. Was sagt dir das?“

„Du hast mir längst verziehen?“

„Ich habe dich nie verantwortlich gemacht. Ich bin froh, dass du in mein Leben gestolpert bist, war es schon vor dem Kuss. Also bitte, mach dir keine Vorwürfe.“

Zögerlich nickte Einar. Selbst wenn Tarek ihm nicht die Schuld gab, so würde es wohl noch eine Weile dauern, bis auch Einar selbst soweit war.

„Alles ist gut“, flüsterte Tarek und zog Einar in seine Arme. Er ahnte, dass Einar nicht so schnell zu überzeugen war, allerdings würde er sein bestes dafür tun. Damals hatte er Einar geküsst, weil er es wollte. Er hatte eher mit einer Ablehnung durch Einar gerechnet, als mit dem tatsächlichen Ergebnis, dennoch hatte er seiner Neugier stattgegeben und es getan. Bereute er es? Nein.

„Ist es das?“, fragte Einar leise neben Tareks Ohr.

„Auch wenn es nicht einfach ist, habe ich noch nie etwas weniger bereut als diesen Kuss.“

Einar fuhr erschrocken zurück und sah ihn an. „Hast du nicht?“

„Nein.“ Tarek lächelte und küsste Einar kurz. „Und jetzt lass uns endlich das Bier trinken und sinnlose Youtube-Videos anschauen.“

„Na gut“, gab Einar lächelnd nach und holte seinen Laptop vom Schreibtisch.
 

Nachdem sie erst gegen zwei aufgehört hatten, sinnlose Youtube-Videos zu schauen und ins Bett gegangen waren, klingelte Einars Wecker schon um Acht wieder.

„Was ist los?“, murrte Tarek und vergrub sein Gesicht im Kissen.

„Schlaf weiter. Ich habe einen Arzttermin“, erklärte Einar und stand auf. Tareks Antwort wurde komplett vom Kissen geschluckt.

Später spürte Tarek nicht, wie Einar sich nochmal zu ihm beugte und ihn auf die Wange küsste, oder wie er ihm leise „Bis später“ ins Ohr flüsterte. Ohne sich von irgendetwas beirren zu lassen, schlief Tarek weiter. Der Tag wurde wieder richtig heiß, ein Krankenwagen fuhr mit eingeschalteter Sirene am offenen Fenster vorbei, ein paar Kinder stritten sich laut auf dem Bürgersteig, eines fing an zu weinen. Tarek schlief.

Erst das leise Summen einer Fliege ließ ihn am frühen Nachmittag aufschrecken. Die Fliege war schnell wieder aus dem Fenster geflogen, allerdings wunderte Tarek sich nun, wo Einar war. An das kurze Gespräch von Morgen erinnerte er sich nicht, und am Vorabend hatte Einar vollkommen vergessen, seinen Termin zu erwähnen, so dass Tarek jetzt nur mit den Schultern zucken konnte und zuerst einmal Kaffee machte. Er kam zu dem Schluss, dass dieser Wohnung eindeutig eine Einrichtung zum Herstellen eines vernünftigen Espresso fehlte.

Eine Stunde, zwei Tassen Kaffee und eine Dusche später kam Einar wieder, in der Hand ein Beutel mit Obst und Gemüse, und mit deutlich weniger Haaren auf dem Kopf.

„Du warst beim Friseur?“, murmelte Tarek nach dem Begrüßungskuss.

„Ja“, lächelte Einar. „Was meinst du?“

Tarek fuhr mit der Hand über die jetzt kurzen Seiten und über den kurzen Hinterkopf zu den verbliebenen Locken oben. Sein Blick glitt von den Haaren über die Brille nach unten zu den Shorts und weiter zu dem Stoffbeutel, den Einar auf den Küchentisch gestellt hatte. „Ich bin mit einem Hipster zusammen“, stellte er trocken fest.

Einar lachte. „Ist das gut oder schlecht?“

„Du hast Glück, dass du ein sehr netter und intelligenter und nicht veganer Hipster bist“, meinte Tarek nur.

Zuckersüß lächelte Einar ihn an. „Zum Vollhipster fehlt mir eh noch der Bart, aber den steuerst du ja gerade bei.“

Tarek, der sich nur zwei Tage nicht rasiert hatte, lächelte. „Ist das gut oder schlecht?“

„Du hast Glück, dass du einen sehr schönen Bart hast und ich schönen Bärten nicht abgeneigt bin.“

„Ich muss mich nie wieder rasieren“, grinste Tarek.

„Schauen wir mal.“ Einar küsste lachend Tareks Kinn.

„Wo warst du eigentlich?“, fragte Tarek und holte das Obst aus dem Beutel.

„Beim Arzt, hab ich doch heute morgen gesagt“, antwortete Einar. „Tut mir leid, dass ich das gestern vergessen hatte. Und als ich meinen Wecker gestellt habe, hast du schon geschlafen.“

„Du hast heute morgen mit mir geredet?“, wunderte Tarek sich.

„Ja, aber du warst offenbar nicht wach“, lächelte Einar.

„Wach? Nee, war ich nicht. Und eigentlich wollte ich nur wissen, wo du das Grünzeug gekauft hast...“

„Im Bioladen an der Ecke. Die sind ganz gut da“, lächelte Einar.

„Bio... Doch Vollhipster.“

„Nur in Kombination mit deinem Bart.“

Ohne ein weiteres Wort hielt Tarek ihm eine der mitgebrachten Kirschen vor den Mund.

„Wir müssen noch einkaufen. Wirklich was zu essen haben wir ja nicht da“, sagte Einar kauend.

„Was brauchen wir?“, erwiderte Tarek und nahm voller Tatendrang den Magnetnotizblock vom Kühlschrank.
 

„Sie sind in der Luft. Melde dich. Y.“

Diese Nachricht zeigte Tarek Einar am nächsten Tag gegen Mittag, während sie einfach nur in der Hitze vor sich hin schmorten und Musik hörten.

„Was bedeutet das?“, fragte Einar träge.

„Ich kann meinen Kram holen.“ Tarek stand direkt auf.

„Du willst bei der Hitze hin?“

„Ja.“

Einar sah zu Tarek auf, dann auf die Hand, die der andere ihm hinhielt. Wortlos ließ er sich aufhelfen. Wortlos tippte Tarek eine Antwort an seine Schwester. Wortlos gingen sie los, mit zwei leeren Koffern und einigen Taschen. Wortlos fuhren sie durch die Stadt und standen dann vor dem Betonklotz, den Tarek bis vor Kurzem Zuhause nannte. Sie sahen sich nur kurz an und nickten bevor Tarek klingelte.

Yasmin wartete schon in der offenen Wohnungstür als der Fahrstuhl sich öffnete, und sofort fiel sie Tarek um den Hals. „Es tut mir leid, ich konnte nichts machen“, flüsterte sie ihm zu.

„Wie? Wo konntest du nichts machen?“, wunderte Tarek sich und sah sie ernst an.

Sie zögerte, konnte es letztendlich doch nicht sagen und zog ihn nur in die Wohnung, vor seine Zimmertür.

„Was ist passiert, Yasmin?“, fragte Tarek alarmiert.

„Sie es dir selbst an...“, flüsterte sie während Einar die Wohnungstür hinter sich zu zog.

Vorsichtig öffnete Tarek die Tür, auf der in kindgerechten Holzbuchstaben sein Name stand. Was er hinter der Tür fand, ließ ihn stoppen, und für einen Moment dachte er, sein Herz würde aufhören zu schlagen. Aber es schlug weiter, es wurde sogar wieder schneller. Und es schmerzte.

Einar sah fragend zwischen den beiden Geschwistern hin und her, da sich ihm das Ausmaß erst zeigte, als Tarek sich wieder bewegen konnte und er einen Schritt in Richtung des Berges machte, der einmal sein Leben gewesen war.

In der Mitte des Raumes lag Tareks komplette Filmsammlung, jede DVD, jede BluRay, die er besaß, jeder Soundtrack, jedes Poster, und alles war zerstört. Keine Disk war noch in einem Stück, die Poster glichen Puzzles.

Jede Zelle in Tareks Körper schrie so laut sie konnte, und doch wirkte er nach außen erschreckend ruhig. Einzig in seinen Augen konnten Einar und Yasmin den Schmerz erkennen, den er fühlte. Er sackte auf den Boden und kramte in dem Haufen Müll.

„Wann ist das passiert?“, fragte er leise.

„Er muss es gestern Abend gemacht haben. Ich war bei meinem Freund und bin erst wieder hier gewesen, als sie gerade aufgebrochen sind. Und als Mama mir schrieb, dass sie im Flieger sitzen und gleich abfliegen, habe ich dir geschrieben. Erst danach war ich wieder hier drinnen. Solange Papa hier war, durfte keiner dein Zimmer betreten. Ich habe gestern Vormittag aber mal kurz reingeschaut, da war noch alles in Ordnung.“ Yasmin kniete sich neben ihren Bruder und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Es ist okay“, flüsterte er nur und stand wieder auf. „Ich nehme einfach den Rest meiner Klamotten mit.“ Er holte Sachen aus dem Schrank und stopfte sie in einen Koffer. Wären die Winterpullover und Jacken nicht gewesen, hätte wirklich alles in einen Koffer gepasst, so waren am Ende zwei Koffer und eine kleine Tasche mit seinen Klamotten und Schuhen gefüllt, hinzu kamen noch einige Unterlagen, ein alter Teddy und ein Laptop.

„Hast du meine Fotoalben gesehen?“, fragte Tarek schließlich seine Schwester.

„Hab sie versteckt einem Tag nachdem er ausgerastet ist. Ich dachte, er würde die zuerst auf den Müll werfen.“ Sie verließ das Zimmer.

Einar hatte ihm die ganze Zeit schweigend zugesehen, da Tarek jede Hilfe abgelehnt hatte. Er hätte auch nicht gewusst, was er hätte tun oder sagen können, um es Tarek einfacher zu machen, um ihn zu trösten.

„Es ist okay“, flüsterte Tarek wieder als er Einars hilfloses Gesicht sah.

Ist es das wirklich, wollte Einar fragen, doch er konnte nicht. Er kannte die Antwort sowieso schon. Nein.

„Hier.“ Yasmin kam wieder und reichte Tarek einen Stapel Fotoalben. „Ich habe auch ein paar von unseren Kinderfotos aus dem Familienalbum geklaut und reingelegt. Nur du und ich sind da drauf.“

„Danke“, murmelte Tarek und packte die Alben in eine weitere Tasche, dann umarmte er Yasmin fest. „Danke für alles.“

Sie nickte nur und konnte ihn kaum ansehen. Sichtbar kämpfte sie mit den Tränen.

„Melde dich, Kleine, ja? Wir werden uns sehen. Du verlierst deinen Bruder nicht“, versicherte Tarek ihr und küsste sie auf die Stirn. „Ich liebe dich.“

Er nahm einen Koffer und wollte auch die beiden Taschen nehmen, aber Einar war schneller. Auch er verabschiedete sich von Yasmin, die ihnen noch die Tür aufhielt, immer noch gegen die Tränen kämpfend.

Nachdem sie das Gepäck in Tareks Kleinwagen verstaut hatten, drückte Tarek Einar nur den Schlüssel in die Hand. Einar verstand und fuhr.

Sie schleppten Tareks Sachen wieder schweigend nach oben und ließen sie erst einmal im Flur stehen. Auspacken konnte man später. Jetzt ging Tarek einfach ins Wohnzimmer, stellte sich auf die Matratze, die ihr Bett war, und sah mit leeren Augen aus dem Fenster.

„Kann ich irgendwas für dich tun?“, fragte Einar leise als er neben ihn trat.

Tarek schüttelte den Kopf.

„Es tut mir so leid“, flüsterte Einar und griff nach Tareks Hand.

Der Moment, in dem sich ihre Hände berührten, war der Moment, in dem bei Tarek die Schutzschilde versagten. Die Tränen liefen und seine Beine gaben nach. Heulend saß er auf dem Bett und Einar drückte ihn fest an sich. Er wusste, dass es nichts gab, worauf Tarek so stolz war wie auf seine Filmsammlung. So wie Einar ohne Bücher nicht überleben würde, könnte Tarek nie ohne Filme leben. Und er wusste auch, dass es gegen Tareks Schmerz keine Worte gab, und so war das einzige, was er geben konnte, Halt.

Glücksleuchten

Der Sonnenuntergang tauchte die ganze Stadt in warmes, oranges Licht. Die Luft flirrte nicht mehr über den Straßen und sie wurde für Mensch und Tier langsam wieder erträglich. Zwei Menschen war die Hitze aber schon seit einigen Stunden egal. Sie lagen auf einer Decke auf dem heißen Dach und taten sonst nicht viel. Tarek hatte hier hoch kommen wollen, nachdem seine Tränen getrocknet waren.

Einar drehte den Kopf zur Seite und sah direkt nach Westen. „Letztendlich sind wir dem Universum egal“, flüsterte er als die Sonne langsam hinter den Horizont schlich.

„Was?“, wunderte Tarek sich.

„Ein Buchtitel, der mir gerade in den Sinn kam“, erklärte Einar. „Und irgendwie stimmt es ja auch. Guck dir den Himmel an. Das da oben ist unendlich...“

„Bitte“, seufzte Tarek. „Werde nicht auch noch philosophisch. Heute vertrage ich so was leider nicht.“

„Aber sonst?“

„Vielleicht“, flüsterte Tarek und griff nach Einars Hand. „Lass mich heute einfach trauern, ja?“

„Natürlich“, erwiderte Einar leise. Seine Finger verschränkten sich automatisch mit Tareks.

Sie blieben so liegen, die Hände in einander verschlungen, die Blicke gen Himmel gerichtet, bis es fast dunkel war und Einars Magen anfing zu grummeln. Einar selbst ignorierte es, er wollte sich den Abend nicht von so banalen Dingen wie Essen kaputt machen lassen. Allerdings hatte Tarek den Magen des anderen genau verstanden und ein wenig stimmte sein Magen auch zu, so dass er Einar wortlos hochzog, die Decke nahm und sie wieder runter in die Wohnung gingen.

„Sandwiches?“, fragte Einar.

Tarek nickte nur, trat dann näher an seinen Freund und küsste ihn kurz.

„Ich mach uns welche.“ Mit einem Lächeln verschwand Einar in der Küche.

Tareks Gepäck, das noch in der Diele stand, zog den Blick seines Besitzers auf sich. Kurz bevor seine Hand die Tasche mit den Fotoalben erreichte, entschied er sich anders und griff nach einem Koffer, öffnete ihn und fing an, seine Schuhe im Flur an den Wänden aufzureihen. Es waren nicht viele Schuhe, aber da er auch Einars Schuhe aus ihrer Ecke holte und ordentlich aufreihte, waren bald überall Schuhe wo keine Türen waren.

„Vielleicht sollten wir über einen Schuhschrank nachdenken“, bemerkte Tarek trocken als Einar aus der Küche kam.

„Vielleicht sollten wir erstmal essen“, lächelte Einar.

„Vielleicht.“ Tarek trat an Einar heran, doch anstatt ihn zu küssen, womit Einar rechnete, griff Tarek nach seiner Hand und zog ihn in die Küche, wo die Sandwichs auf dem Tisch auf sie warteten.
 

„Sinnlose YouTube-Videos?“, fragte Einar, als sie etwas später den Abwasch machten.

„Sinnlose YouTube-Videos“, bestätigte Tarek und sah nicht von dem Teller hoch, den er gerade mit dem Schwamm malträtierte.

Einar beobachtete ihn dabei und bemerkte, wie müde Tarek aussah. Schon auf dem Dach und beim Essen war es ihm aufgefallen.

„Du willst nicht reden, was?“, fragte er vorsichtig.

„Da gibt es nichts zu reden. Er wusste, wie er mir am meisten weh tun kann und das hat er getan. Mit elf habe ich die erste DVD von meinem eigenen Geld gekauft. Sie lag auf dem Haufen ganz oben. Das war kein Zufall, Einar. Er ist ein berechnendes Arschloch, von dem ich bis vor kurzem geglaubt habe, dass es mich liebt.“

Einar schluckte seine Antwort und küsste Tarek nur kurz. „Lass uns hier schnell fertig werden“, flüsterte er ihm ins Ohr.

„Ist eh das letzte Teil“, antwortete Tarek und reichte Einar den Teller.

Keine fünf Minuten später saßen sie auf dem Bett und scrollten sich durch die Untiefen YouTubes.

„Was willst du sehen?“, fragte Einar leise.

„Ist mir gerade ziemlich egal.“ Mit leeren Augen sah Tarek auf den Bildschirm. In seinem Kopf war Leere, sein Herz bestand aus Schmerz. Die DVDs konnte man ersetzten , es waren keine wirklichen Raritäten dabei. Der Verrat seines Vaters war die eigentliche Schmerzursache. Sein Vater hatte die Vernichtung unschuldiger Plastikscheiben in ein Schwert verwandelt, das nun tief in Tareks Herz steckte. Ein Mann, der immer so stolz auf seinen Sohn, seinen Stammhalter, war, dass selbst das miese Abitur mit einer großen Party gefeiert wurde. Ein Mann, der keinen Hehl daraus machte, dass er Tarek mehr liebte als Yasmin. Ein Mann, der aufgrund eines Kusses keinen Sohn mehr hatte.

Kraftlos ließ Tarek sich zur Seite fallen und rollte sich zusammen. Er weinte nicht, starrte einfach nur vor sich hin, auch als Einar den Rechner zur Seite stellte und ihn in seine Arme zog. Tarek wusste, dass Einar da war, dass Yasmin auf seiner Seite stand. Er war nicht einsam, nicht allein, und doch war er gerade sehr verloren.
 

„Wie war das bei dir?“, fragte er nach einer ganzen Weile.

„Was meinst du?“, fragte Einar verwundert zurück.

Tarek löste sich von ihm und sah ihn an. Langsam fuhr er mit der Hand über Einars T-Shirt, genau da, wo er unter dem Stoff die Narbe wusste.

In den Augen des anderen blitzte Erkenntnis auf. „Es war merkwürdig. Einerseits war ich erleichtert, einfach nur erleichtert. Ich war ihn los, war frei. Und dann gab es da diese leise Stimme, die flüsterte 'Du liebst ihn doch'. Er hatte so oft gesagt, er könnte ohne mich nicht leben, dass es sich eingebrannt hatte. Manchmal hatte ich Zweifel. Konnte ich ihn wirklich allein lassen? Konnte ich ihn einfach so im Stich lassen? Und dann drehte ich mich auf den Rücken oder versuchte, mich anzulehnen, und die Wunde auf meinem Rücken schrie mich an.“

„Was schrie sie denn?“

„Meistens 'Dreh dich zurück, du Volltrottel!', aber auch 'Er ist an den Schmerzen Schuld! Wie kannst du so einen Scheiß denken?'“

„Schlaue Wunde“, murmelte Tarek.

„Ja, sie hat mich immer wieder daran erinnert, weswegen ich bei meiner Mutter auf dem Sofa auf dem Bauch lag und Eis in mich hinein stopfte. Es hat am Ende eine Weile gedauert, bis ich so weit war, ihn wirklich hinter mir zu lassen, nicht zuletzt, weil ich noch gegen ihn aussagen musste. Nach ein paar Wochen hatte meine Mum mich meinem neuen Chef vorgestellt. Sie hatte ihm seine Wohnung vermittelt und war der Meinung, dass ich mir einen neuen Job suchen sollte. Sie hat mir in den Hintern getreten, weil ich nur depri war und mich durch ihre Regale las.“

„Und was war falsch daran?“

„Ich hatte einfach nicht die Kraft, mich der Welt zu stellen. Ich war glücklich, hatte aber keinen Bock.“

„Und deine Mum hatte irgendwann keine Lust mehr darauf“, schlussfolgerte Tarek.

„Genau. Sie redete mir immer wieder ins Gewissen. Ich könne ja nicht ewig bei ihr wohnen. Also hat sie diese Wohnung gefunden und ich bin hier her gezogen, hatte einen neuen Job und keine Möbel. Es war gut so. Mein Chef weiß, was damals passiert ist, aber sonst weiß es keiner, nicht einmal seine Frau. Melanie habe ich es auch nie erzählt.“

„Du verdrängst es?“

„Nein, ich denke oft daran, und meine Mum fragt jetzt in einem Ton 'Wie geht es dir?', bei dem ich genau weiß, dass sie ihn meint. Und der Arzttermin gestern, bevor ich beim Friseur war... das war mein Therapeut. Am Anfang bin ich jede Woche hin, jetzt nur noch aller drei Wochen. Ich könnte zwar öfter gehen, aber es geht mir schon ganz gut, das sagen wir beide. Gestern habe ich ihm von dir erzählt.“

„Und er meinte, du müsstest sofort Schluss machen, falls ich mich ebenfalls als Psycho entpuppe?“

Einar lächelte Tarek an und legte eine Hand an dessen Wange. „Er hat gelächelt und gesagt: 'Klingt nach einem Supertypen. Wenn er nett zu dir ist, behalte ihn.'“

„Bin ich nett zu dir?“

„Du bist verdammt nett zu mir“, lächelte Einar und küsste Tarek, danach drückte er ihn fest an sich.

„Zusammen“, flüsterte Tarek ihm ins Ohr.

„Zusammen.“
 

Nach zwanzig gelöschten Entwürfen schickte Tarek endlich die Nachricht ab, über die er seit fast zwei Stunden am Küchentisch grübelte. Einar hatte er noch schlafen lassen als er aufwachte.

„Was würdet ihr sagen, wenn einer eurer Freunde einen Mann lieben würde?“

Er schickte diese Nachricht an alle seine Freunde. Ihre Antwort sollte das Schicksal ihrer Freundschaft besiegeln.

Nach ein paar Minuten kam die erste Antwort: „Die Tucke würde ich fertig machen.“

Tarek löschte den Absender aus seinem Handy und blockierte ihn in seinen sozialen Netzwerken. So ging er bei allen vor, die ähnlich antworteten.

Bei Antworten wie „Ist doch seine Sache“ blieb er vorsichtig, doch das waren leider nur wenige. Seltener waren nur eindeutig positive Nachrichten, genau zwei Stück.

„Sag das ja nicht deinen Eltern, die drehen durch. Wenn du reden willst, komm zu mir. Max“

„Dann soll er mir den erstmal vorstellen und ich sage dir, ob er gut genug für ihn ist. Leider bin ich noch in Spanien. Melde mich, wenn ich wieder da bin, dann kannst du ihn mir gern vorstellen. Jim“

Tarek grinste, als er Jims Nachricht las. So reagierte dieser auch, wenn jemand eine neue Freundin hatte. Er hatte ihn also richtig eingeschätzt.

Noch mehr freute ihn Max' Antwort. Genau auf ihn hatte er gehofft, genau auf so eine Aussage.

Max, Sohn einer Ghanaerin und eines Deutschen, der sie und ihr Kind kurz nach der Geburt hatte sitzen lassen, war und würde wohl immer einer der besten Menschen auf diesem Planeten bleiben. Als Kinder lebten sie in benachbarten Wohnungen und waren unzertrennlich. Erst als sie auf verschiedene Gymnasien gingen, lebten sie sich etwas auseinander. Und doch konnten beide jederzeit zum anderen gehen, sei es um Probleme zu besprechen oder um zusammen Nächte durch zu feiern. Mittlerweile hatte Max sein Studium abgeschlossen und machte sich für sein Referendariat bereit. Als er Tarek damals erzählt hatte, er wolle Grundschullehrer werden, hatte der ihn für verrückt erklärt, auch wenn er wusste, dass es die perfekte Entscheidung für Max war.

„Sie wissen es schon“, schrieb Tarek nun zurück.

„Fuck! Wie geht es dir? Wo bist du? Was kann ich für dich tun?“

„Du könntest dich mit uns treffen“, schlug Tarek vor.

„Ich habe Zeit. Sag mir nur wann und wo“, antwortete Max sofort.

„Lass uns baden fahren. Wir holen dich gegen eins ab.“

„Perfekt.“

„Kaffee?“ Einars verschlafene Stimme riss Tarek aus seinen Gedanken. Mit vollkommen chaotischen Haaren und dem Abdruck des Kissens im Gesicht stand Einar vor ihm und blinzelte ihn verschlafen an.

„Ist vor ein paar Minuten neuer fertig geworden“, berichtete Tarek und stand auf.

„Meine oder deine Stärke?“, murmelte der Halbschlafende.

„Deine.“ Grinsend gab Tarek ihm eine Tasse. „Guten Morgen.“

Einar trank einen Schluck, stellte die Tasse ab und lehnte sich an Tarek. „Morgen“, brummte er.

„Du kannst nicht wieder einschlafen“, lächelte Tarek.

„Warum nicht?“

„Weil wir etwas vorhaben.“

Einar sah ihn verwirrt an. Jedenfalls nahm Tarek an, dass er angesehen wurde und Einar ihm nicht nur sein verwirrtes Gesicht mit fast geschlossenen Augen entgegen streckte.

„Wir fahren raus an den Stausee zum Baden und wir nehmen Max mit“, erklärte Tarek.

Jetzt öffnete Einar seine Augen richtig. „Wer ist Max?“

„Einer meiner besten Freunde. Nimm Platz, ich mache uns Frühstück und erkläre dir alles“, schlug Tarek lächelnd vor und küsste Einar kurz.

Als Einar saß, erzählte Tarek ihm von den Nachrichten, von der einen, die er geschickt hatte, und von den Antworten, die er erhalten hatte. Er erzählte von den Freunden, die er gelöscht hatte, von denen, bei denen er vorsichtig war, von Jim, der alles akzeptierte, was seine Freunde nicht verletzte. Erst zum Schluss erzählte er von Max, dem Nachbarjungen, mit dem er an Regentagen im Treppenhaus gespielt hatte. Max, der ihm bei den Hausaufgaben geholfen hatte und dem er gezeigt hatte, wie man am besten auf Bäume kletterte. Er sprach von den langen Gesprächen über Mädchen, die sie auf den Treppen vor und im Haus geführt hatten. Er belebte die Zeiten wieder, in denen sie sich wochenlang kaum sahen, weil jeder andere, neue Freunde getroffen hatte, und doch waren sie immer auf einer Wellenlänge, egal, wie lange sie sich nicht sahen. Als sein Studium begann, zog Max in eine WG und sie sahen sich noch seltener, die Bindung aber blieb. Ein Anruf, eine SMS und kurz darauf stand der eine beim anderen vor der Tür, für Problemlösungen oder durchtanzte Nächte.

„Klingt gut, dein Max“, sagte Einar, zwischen zwei Löffeln seines Dreifach-Schoko-Superknusper-Müslis.

„Und dir läuft Milch übers Kinn“, stellte Tarek fest, beugte sich schnell rüber und leckte die Milch weg noch bevor Einars Hand sein Kinn erreicht hatte.

„Wann müssen wir los?“, wollte Einar wissen.

„Kurz vor eins. Er wohnt nicht weit von hier.“

Einar sah auf die Uhr über der Küchentür, die schon vor Monaten stehen geblieben war und deren Batterien er nie gewechselt hatte.

„Noch anderthalb Stunden.“ Auf seinem Handy konnte Tarek die Zeit eindeutig besser ablesen.

„Schnell fertig frühstücken und dann ausgiebig gemeinsam duschen?“, schlug Einar vor und Tarek nickte grinsend.
 

„Sieht er denn gut aus?“, fragte Einar neugierig als sie im Auto saßen. Die Aussicht auf einen Nachmittag am See und Tareks gute Laune hatten seine Stimmung gehoben. Die drei großen Tassen Kaffee, den ihn geweckt haben, waren ebenfalls positive Faktoren.

„Die Frauen, die ihm scharenweise nachlaufen, sind jedenfalls der Meinung“, antwortete Tarek.

Einar seufzte. „Die guten sind immer hetero.“

„Hey!“, protestierte Tarek und hielt in einer Einfahrt.

„Du bist doch auch hetero, dachte ich. Und ich bin deine Ausnahme.“

„Ich bin... schubladenresistent“, stellte Tarek fest während er auf seinem Handy tippte.

Erst strahlte Einar ihn an, dann lachte er. „Du bist toll.“

„Ich weiß.“ Sie grinsten sich an. Sie küssten sich. Sie erschraken fast zu Tode als plötzlich jemand an die Windschutzscheibe klopfte.

„Ich bringe ihn um“, fluchte Tarek, stieg aus und umarmte seinen Freund.

„Stellst du ihn mir vorher wenigstens vor?“, wollte Einar wissen, der ebenfalls ausstieg.

Die beiden anderen sahen ihn an, Tarek grinsend, Max neugierig.

„Geduld ist eine Tugend“, erwiderte Tarek.

„Und ich bin Einar“, stellte er sich vor und streckte Max seine Hand entgegen.

„Max, Hallo“, lächelte Max und schüttelte Einars Hand.

„Steigt ein.“

Sie kamen Tareks Aufforderung nach, wobei Einar zielgerichtet auf der Rückband Platz nahm, noch bevor es zu Diskussionen kommen konnte. Er saß hinter Max und beobachtete Tarek, wie der sich aufs Fahren konzentierte.

Auf Max' Frage hin erzählte Tarek ihre Geschichte, wie sie sie schon Einars Mutter erzählt hatten. Einen kleinen Unterschied machte er allerdings: Einar hatte seiner Mutter gesagt, sie hätten sich geküsst, nicht Tarek ihn. Diese kleine Änderung nahm Tarek jetzt zurück und Max erfuhr einen größeren Teil der Wahrheit als Einars Mutter.

Einar lehnte sich nur zurück und beobachtete Tarek lächelnd. Tarek redete und lachte und gestikulierte und sah kurz zu Max und Einar, der ihn sanft anlächelte.

„Guck nicht so dämlich verknallt da hinten“, forderte Tarek schließlich.

„Dann rede du nicht so dämlich verknallt hier vorne“, warf Max ein.

„Mach ich gar nicht“, protestierte Tarek.

„Tust du“, war Max' trockene Antwort.

„Ich mag ihn, können wir ihn behalten?“, meldete sich nun auch Einar vom Rücksitz.

„Was!?“ Tarek sah Einar erschrocken im Rückspiegel an.

Die anderen beiden ignorierten ihn, Max drehte sich lieber so gut es ging zu Einar um. „Das solltest du mit meiner Freundin klären, aber Jenny ist da ziemlich aufgeschlossen.“

„Gut zu wissen. Wir sollten uns dann demnächst zu Vertragsverhandlungen treffen.“

„Leute!“, kam es vom Fahrersitz.

„Was ist? Findest du es nicht gut, wenn ich mich mit Max verstehe?“, fragte Einar unschuldig.

Tarek seufzte. „Wir können ihn trotzdem nicht behalten. Er schnarcht.“

„Glaube ihm kein Wort“, sagte Max nur.

„Jetzt gehen wir erstmal baden“, verkündete Tarek und bog auf den Parkplatz am Stausee ein.

Da der See etwas weiter von der Stadt entfernt lag, war er unter der Woche nicht so überfüllt. Die städtischen Freibäder oder den Baggersee direkt am Stadtrand sollte man bei diesem Wetter allerdings unter allen Umständen meiden, weshalb Tarek gerne so weit raus fuhr.

Sie holten ihre Sachen aus dem Kofferraum und gingen zum Eingang des Strandbades. Ihre Handys und Geldbörsen verstauten sie in den Schließfächern am Eingang, darauf bestand Max, dem im letzten Sommer das Handy im Freibad gestohlen wurde.

Während Einar und Tarek nun Ausschau nach einen schönen Plätzchen hielten, ging Max hinter ihnen und beobachtete Einar. Er beobachtete ihn und versuchte herauszufinden, weshalb er das Gefühl hatte, ihn zu kennen.

Nachdem sie sich im Wasser abgekühlt hatten, warfen sie sich wieder auf die Decke und ließen sich unter einer dicken Schicht Sonnenmilch von der Sonne rösten.

„Einar, sag mal, kennst du zufällig einen Dom?“, fragte Max schließlich.

„Ja, kenne... kannte ich. Wieso?“

„Na ja, ich war mal vor Ewigkeiten auf einer Party, Doms 21. Geburtstag, und ich habe das Gefühl, dass du auch da warst“, erklärte Max.

„Woher kennst du Dom?“, wollte Einar wissen.

„Er war damals mein Mentor, wenn man das so nennen will, bei den Orientierungswochen an der Uni.“

„Grundschulpädagogik.“

„Genau“, bestätigte Max.

Einar sah Max noch einmal genau an, dann fiel der Groschen. „Klar kennen wir uns“, grinste er dann.

„Warst du der...?“

„Ja, war ich.“

„Wer war was?“, wunderte Tarek sich.

„Wir haben an dem Abend ziemlich viel miteinander geredet. Ich weiß nur nicht mehr, worüber“, meinte Max.

„Muss philosophisch gewesen sein. Ich war dicht und dann werde ich immer philosophisch“, sagte Einar.

„Und dann...“, grinste Max.

„Und dann...“, grinste Einar zurück.

„Und dann?“, fragte Tarek, nun vollkommen verwirrt.

„Wie soll ich das jetzt...“

„Also wir haben...“

„Raus mit der Sprache!“

„Wir haben uns geküsst“, gab Einar zu.

„Wild in der Ecke geknutscht, würde ich es nennen“, fügte Max an.

Dieses Geständnis brachte für Tarek nur eines: Absolute Verwirrung.

„Meinst du, wir haben ihn kaputt gemacht?“, wunderte Einar sich als Tarek nur verstört vor sich hin starrte.

„Ich hoffe nicht“, erwiderte Max. „Das will ich Yasmin nicht erklären müssen. Sie mag zierlich wirken, hat aber einen Schwarzen Gürtel im Karate.“

„Ihr... ihr... habt...“, flüsterte Tarek.

„Ja, besoffen, auf einer Party, vor meinem Ex. Ein paar Wochen später habe ich ihn getroffen und meine wilden Zeiten waren vorbei. Auch die Partyknutschereien.“

„Es ist sehr lange her“, lächelte Max.

„Aber du bist doch...“, meinte Tarek.

„Wenn ich getrunken habe, bin ich für alles offen, das weißt du“, lachte Max. „Weißt du nicht mehr, wie wir unser Abi gefeiert haben?“

„Stimmt, du bist am Ende nackt durch die Nachbarschaft gerannt“, meinte Tarek.

„Ich finde, ein bisschen Küssen ist da halb so schlimm“, sagte Max.

„Ja, aber es ist komisch, dass ihr beide...“

„Ein bisschen vielleicht, aber es ist ewig her. Und jetzt hab ich dich und Max hat...“

„Jenny. Genau.“ Max lächelte Tarek weiter an.

Tarek lehnte sich an Einar. „Ja, jetzt hast du mich.“

„Sag ich ja“, grinste Einar und küsste ihn kurz.

Max beobachtete die beiden lächelnd. Er kannte Tarek sein ganzes Leben lang, und doch hatte er ihn noch nie so erlebt. Klar, er war verliebt gewesen, aber noch nie so verliebt. Unwillkürlich lächelte er zufrieden.

„Grins nicht so“, forderte Tarek ihn aber direkt auf.

„Ich bin nur glücklich, dass es dir gut zu gehen scheint“, erklärte Max.

„Heute Vormittag habe ich viele Kontakte aus meinem Telefon gelöscht. Mein Vater hat meine komplette Filmsammlung geschrottet und ist seiner Meinung nach nicht mehr mein Vater. Aber ich habe dich nicht verloren. Jim scheint sich auch nicht abzuwenden. Ich habe Yasmin nicht verloren. Und sie scheint Einar zu mögen. Filme kann man ersetzen; Freunde, die mich nicht mit Einar wollen, will ich nicht. Viele hatte ich nur noch aus Gewohnheit. Und jetzt sitze ich hier, mit meinem besten Freund und meinem Freund in der Sonne und alles was fehlt ist Eis oder Bier.“ Tarek grinste die beiden an.

„Ich stehe nicht auf“, verkündete Einar direkt und legte sich wieder auf den Bauch.

„Vergiss es“, meinte auch Max als Tarek ihn ansah.

Tarek seufzte. „Dann gib mir bitte den Schlüssel fürs Schließfach“, bat er ihn und Max gab ihm den Schlüssel. „Wünsche?“

„Eis, groß.“

„Eis, groß.“

Sie beide sahen Tarek mit großen Augen an. „Bitte“, fügten sie wie aus einem Mund an.

Ein paar mal blinzelte Tarek noch, dann ging er zum Kiosk.

„Wir haben noch nicht, aber irgendwann werden wir ihn kaputt machen“, stellte Max fest und legte sich neben Einar.

„Einen muss es ja treffen“, murmelte Einar schläfrig.

Max brummte etwas zustimmendes.

Zehn Minuten später war Tarek wieder da und die beiden fast eingeschlafen.

„Eis, groß, zweimal“, sagte Tarek nur und schon saßen beide und sahen ihn erwartungsfroh an.

„Danke“, sagten wieder beide gleichzeitig als er ihnen das Eis reichte.

„Warum habe ich euch einander vorgestellt?“, wunderte Tarek sich und setzte sich mit seinem eigenen Eis wieder zu ihnen.

„Weil du uns beide magst?“, schlug Einar vor.

„Weil du Masochist bist?“, schlug Max vor.

„Wahrscheinlich beides“, murrte Tarek und fing an zu essen.

Die anderen lachten essend.
 

„Sag mal, seit wann kennst du Dom nicht mehr?“, wollte Max später von Einar wissen.

„Seit meinem Ex. Wie gesagt, kurz nach der Party, auf der wir... du weißt schon, habe ich ihn kennengelernt. In den ersten paar Monaten war noch alles in Ordnung, dann waren wir auf Doms Silvesterparty. Er fand, dass Dom und ich zu vertraut waren für Freunde, dabei kennen wir uns seit der sechsten Klasse. Er wollte nicht, dass ich Dom sehe, und ich war blind und verliebt genug, auf ihn zu hören. Danach hab ich Dom immer vertröstet, wenn er sich mit mir treffen wollte, und irgendwann habe ich gar nicht mehr geantwortet. Ich habe ihn fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel und ich bin alles andere als stolz darauf.“

„Jetzt verstehe ich einiges“, meinte Max und sah in zwei fragende Gesichter. „Im Frühjahr nach dieser Party, nach der Silvesterparty, jammerte Dom mir und anderen ganze Abende lang vor, dass sein bester Freund ihn ohne Angabe von Gründen nicht mehr mit ihm sprach.“

„Fuck.“ Einar raufte sich die Haare. „Ich habe versagt, was?“

„Du warst verliebt“, warf Tarek ein.

„Ich war ein Idiot.“

„Das auch“, meinte Tarek, zog Einar aber in seine Arme.

„Was macht Dom jetzt? Er müsste ja schon fertig sein mit dem Studium...“

Max lächelte ihn an. „Er lebt jetzt in Berlin und beginnt nach den Ferien an einer Grundschule als Lehrer.“

„Klingt gut“, lächelte Einar.

„Ja, es geht ihm gut.“ Max stand plötzlich auf. „Ich hol uns was zu trinken.“
 

Es dauerte eine ganze Weile bis Max wieder zu ihnen kam, sein Handy am Ohr.

„... ja, das ist doch klar... Was?... Willst du wirklich?... Okay, Sekunde...“ Er hielt Einar das Telefon hin. „Da will dich jemand sprechen.“

„Was?“ Einar sah ihn verwirrt an. „Wer?“

Doch Max lächelte nur und drückte ihm das Handy in die Hand.

„Hallo?“, fragte Einar vorsichtig.

„Einar?“, kam die leise Antwort.

„Ja?“

„Hier ist Dom.“

Einar sah erschrocken zu Max, dann zu Tarek.

„Hallo“, flüsterte er dann ins Telefon und stand langsam auf. „Es tut mir leid.“

„Ich weiß“, antwortete Dom.

„Es tut mir so unendlich leid.“ Einars Augen füllten sich mit Tränen und seine Stimmte drohte zu versagen.

„Hey, weine nicht“, bat Dom. „Max hat mir gesagt, dass dein Ex nicht wollte, dass wir uns sehen.“

„Ich war so ein Idiot, was?“ Langsam ging Einar etwas von den anderen weg.

„Ja, aber ich auch“, gestand Dom.

„Du?“

„Ich mochte den Typen vom ersten Moment an nicht, und ich habe dir nichts gesagt, habe dich ins Unglück rennen lassen.“

Einar schüttelte den Kopf. „Ich wäre auch mit Warnung gerannt.“

„Aber jetzt ist es vorbei?“

„Ja, vorbei. Endgültig vorbei.“

„Und du hast dir Max besten Freund geschnappt?“

„Tarek, ja. Und ich glaube, er ist besser als mein Ex“, lächelte Einar.

„Ich habe ihn ein paar Mal getroffen. Er ist auf jeden Fall besser, sehr viel besser. Hätte nur nicht gedacht...“

Einar lachte. „Er auch nicht.“

„Hör zu, ich muss auflegen. Lass dir von Max meine Nummer geben und melde dich, ja?“ Das Lächeln in Doms Stimme war nicht zu überhören.

„Ja. Ich hab dich vermisst.“

„Ich dich auch“, flüsterte Dom, dann war etwas im Hintergrund zu hören. „Bis bald.“ Er legte auf.

Einar ging lächelnd zu den anderen zurück. „Danke“, meinte er und reichte Max das Handy.

„Gerne doch“, lächelte Max.

„Geht es dir besser?“, fragte Tarek als Einar sich an ihn kuschelte.

„Auf jeden Fall“, murmelte Einar.

„Und trotzdem so kuschelwütig“, lachte Max. „Ich bring schnell das Handy zurück ins Schließfach.“

„Bringst du uns diesmal was zu trinken mit?“, fragte Tarek ihn mit großen Augen.

Max nickte lachend und ging.

„Du hast einen tollen Freund“, sagte Einar leise.

„Ja, den besten.“

„Behalten wir ihn also?“

„Na gut, aber er schläft bei sich“, gab Tarek nach.

Einar lachte und küsste ihn.
 

Nach einer weiteren Abkühlung im Wasser und einem weiteren Eis für jeden, fuhren sie schließlich wieder in die Stadt. Sie setzten Max wieder ab und suchten gerade einen Parkplatz, als Einars Handy klingelte.

„Dom“, murmelte er. Max hatte ihnen auf der Fahrt die Nummern des jeweils anderen gegeben.

„Steig aus und geh ran. Ich fahr noch schnell zu Rewe, solange die noch auf haben. Wir haben kaum noch Milch“, lächelte Tarek ihn an.

„Und keinen Wein“, fügte Einar grinsend an. „Bis gleich.“

Tarek fuhr allein weiter und holte im Supermarkt Wein, Milch und noch einiges anderes. Wieder in der Wohnung stellte er fest, dass Einar noch immer telefonierte, lachend auf dem Boden sitzend im Wohnzimmer. Er winkte ihm kurz durch die halb offene Tür und zog sich dann mit den Einkäufen in die Küche zurück.
 

„Was machst du?“, wollte Einar wissen, als er eine halbe Stunde später ebenfalls in die Küche kam.

„Abendessen“, antwortete Tarek und schnippelte weiter Tomaten.

„Und was gibt es?“

„Olivenbrot und Salat. Das beste für Sommernächte. Den Wein habe ich kurz ins Eisfach gelegt.“

„Wo ist das Brot? Ich schneide es schon mal“, bot Einar an.

„Das ist schon geschnitten und im Ofen.“

Für diese Aussage wurde er fragend von der Seite angesehen.

„Es gibt Olivenbrot, beträufelt mit Olivenöl und mit Parmesan leicht überbacken. Ich habe es gesehen und wusste, dass es das heute sein soll.“ Tarek lächelte ihn an. „Und ich habe dich Oliven essen sehen, also rede dich nicht raus.“

„Mach ich doch gar nicht“, flüsterte Einar direkt neben seinem Ohr.

„Gut“, hauchte Tarek, dessen Ohr gerade angeknabbert wurde. „Wir essen gleich.“

„Können wir nicht später essen?“

„Das Brot schmeckt warm am besten...“, flüsterte Tarek.

„Okay, dann essen wir erst.“ Einar küsste noch Tareks Nacken, dann holte er Teller, Besteck und Gläser.

„Würdest du bitte auch das Brot aus dem Ofen holen, wenn der Timer sich meldet?“, bat Tarek ihn, da er sich gerade um die Vinaigrette kümmerte.

„Klar“, lächelte Einar und schon klingelte der Timer.

Nachdem das Essen erfolgreich auf den Tellern verteilt war und der Wein wieder aus dem Gefrierfach befreit war, machten sie es sich auf dem Boden im Wohnzimmer gemütlich, auf einigen Bodenkissen, die Einar im Wandschrank im Flur aufbewahrte.

„Woher kennst du Dom eigentlich?“, fragte Tarek während des Essens.

„Aus der Schule. Er war immer in meiner Parallelklasse. Ich kannte ihn schon ein bisschen, wie man sich halt so kennt, wenn man nur Sport zusammen hat und ab und zu Fußball auf dem Schulhof spielt. Dann hat er sich als erster in unserer Schule geoutet in der Neunten. Bei mir wusste es nur meine Mutter, aber das wollte ich gern ändern. Ich bin also zu ihm gegangen, für Ratschläge, Beistand, Mut. Ich glaube, er war dankbar, dass ich nicht wie die anderen war. Die hatten ihn gemobbt, ihn plötzlich anders angesehen oder ihn komplett gemieden. Seine halbe Klasse hatte sich gegen ihn gewandt, die andere Hälfte waren die Mädchen. Er wollte einen Freund haben, einfach nur jemanden, mit dem er reden konnte. Und da war ich. Ängstlich, unsicher, neugierig. Wir wurden schnell Freunde und schnell kam das Gerücht auf, wir wären ein Paar. Wir waren es nie. Wir waren einfach beste Freunde und gingen bald gemeinsam aus um Jungs zu treffen. Es war super. Nach dem Abi fing ich meine Ausbildung an und er ging an die Uni. Die Partys wurden wilder, die Jungs zahlreicher. Dann kam er. Und es war alles vorbei.“

„Und jetzt hast du ihn wieder“, lächelte Tarek.

„Ja, habe ich“, grinste Einar und küsste Tarek. „Und ich habe dich.“

„Hast du.“ Tarek schob ihre Teller aus dem Weg und zog Einar zu sich. „Mit Haut und Haar.“

„Gut zu wissen.“ Wieder küsste Einar ihn und die Bewegung seiner Hände ließ keinen Zweifel mehr zu, dass er nicht mehr warten wollte bis nach dem Essen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, das habt ihr nun davon.
Bald geht's weiter. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  Sakiko_Seihikaru
2017-03-04T12:18:58+00:00 04.03.2017 13:18
Armer Einar! Die Ex-Beziehung musst echt hart gewesen sein, hoffentlich kann Tarek ihm da weiterhelfen *hihihi*, denn das zwischen den beiden mehr ist als NUR Freundschaft, das merkt man schon... und erwartet man auch irgendwie, sonst würde die Genre-Einteilung lügen XD
Mal sehen, was auf die beiden noch zukommen... und wann sie merken, was da wirklich zwischen ihnen läuft.
Antwort von:  NaokoSato
12.03.2017 22:05
Wie heißt es so schön? "Lass dich überraschen" XP
Von:  Sakiko_Seihikaru
2017-03-04T12:13:38+00:00 04.03.2017 13:13
Die beiden sind putzig und ich bin sehr gespannt darauf, die es weiter geht ^^
Es ist erstaunlich, was dein Hirn aus einem simplen Versprecher kreieren kann.
Weiter so!
Antwort von:  NaokoSato
12.03.2017 22:04
Danke ^^
Von:  das_Diddy
2017-02-26T22:27:19+00:00 26.02.2017 23:27
Ich bleibe gespannt. :D
Sehr faszinierend, dass sich ihre Beziehung zueinander trotz allem recht schnell entwickelt, aber das liegt wohl doch daran, dass da potentiell mehr sein könnte. ^^
Und yai! Jetzt hab ich schonmal ne bessere Vorstellung von Tarek.
Antwort von:  NaokoSato
26.02.2017 23:42
Wie kommst du nur darauf, dass da mehr sein könnte? Also echt.... ;)
Du darfst gern gespannt bleiben ;)
Von:  das_Diddy
2017-02-19T22:46:43+00:00 19.02.2017 23:46
Putzig. ^^
Zum einen vermisste ich orientierende Angaben zum Aussehen und Alter der Figuren. Einiges ist recht vage gehalten.
Doch andererseits lässt es mehr Freiraum zum selber denken.
Bin erstmal gespannt wie's weitergeht. ^^
Antwort von:  NaokoSato
19.02.2017 23:57
Danke ^^
Dass diese Angaben fehlen lag einfach daran, dass es sich noch nicht ergeben hat... Wenn es beim Schreiben nicht passt, dann passt es nicht.


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