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The Gates of Salem

Astron
von

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Ein Traum

Finsternis.

Dunkle. Kalte. Leere Finsternis.

Ein Licht, blutrot.

Ein Stein, blutrot.

Das pulsierende Licht und die grellen Risse lassen den Stein wie ein menschliches Herz aussehen.

Die Risse werden immer größer, vielzähliger.

Peng!

Der Stein bricht wie Glas auseinander. Befreit ein Mädchen mit rotblonden, nackenlangen Haaren. Nackt. Mit den Armen sein Gesicht vor den umherfliegenden Splittern schützend.

Sie sieht sich in dem düsteren, leeren Ort um. Sie hat Angst. Wie die Anderen.

„Maja.“

„Wer… wer ist da? Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir?“, fragt das ängstliche, im Nichts schwebende Mädchen. Sieht sich dabei mit seinen indigoblauen, angsterfüllten Augen zitternd um.

Woher kommen die Stimmen? Wer spricht mit ihr? Warum sieht sie niemanden?

„Mein Name spielt keine Rolle. Du wurdest auserwählt, die Balance zu wahren, denn die Harmonie des Universums ist wieder in Gefahr.“

Maja sieht abermals um sich und fragt:

„Balance wahren? Was... Was soll das heißen? Hallo? HALLO!“

Es herrscht wieder Stille.

Eiskalte, leblose Stille.

Überraschter als durch das genauso plötzliches Auftauchen wie Verstummen der Stimmen ist Maja darüber, dass sie nun festen Boden unter ihren Füßen spürt. Fest, aber spiegelglatt und kalt.

Die Prüfung kann beginnen.

Der Boden reflektiert ein unheimliches, flackerndes Licht, das Maja dazu zwingt, sich umzudrehen. Heißer Wind bläst ihr ins Gesicht. Sie rennt davon: Eine Feuerwand bewegt sich auf sie zu. Weitere Windstöße treiben die Flammen näher an sie heran.

Maja weiß nicht, wie sie sich sonst retten sollte und läuft weiter.

Sie darf keine Schwäche zeigen. Sie wird den Flammen nicht ewig davonlaufen können.

Nach einer Weile spürt sie auch, wie sie langsamer wird und droht, von den Flammen eingeholt zu werden. Da strauchelt sie. Die Flammen stehen bereit, sie zu überrollen. Doch sie streckt ihre Hände aus, und die Flammen erlöschen.

Sie hat die Bereitschaft gezeigt, zu kämpfen.

Die sich auflösenden Rauchwolken enthüllen eine breite, in den Himmel reichende Treppe aus purem Gold, Silber und Eisen. Erkennt, dass auf dem Geländer dichte Rosensträucher wachsen. Wegen den Dornen rührt sie nichts an. Dennoch entschlossen besteigt sie diese.

Sie beweist Vorsicht und Mut.

Die Stufen sind mit Rosenblüten in den verschiedensten Farben bedeckt. Unter ihnen findet Maja Farben, die bei Rosen unmöglich sind. Identifiziert, unterscheidet, vergleicht sie: Rot, weiß, rosa, violett. Schwarz, grün, blau, grau.

Weisheit.

Am Ende der Treppe angekommen, steht Maja plötzlich inmitten eines unendlichen Meeres.

Die zweite Prüfung kann beginnen.

Das Wasser unter ihren Füßen ist klar und leuchtet türkis. Und doch ist vom Meeresgrund nichts zu sehen. Die Tiefe, so unendlich wie die Reichweite der Treppe.

Nach einigen vorsichtigen Schritten rennt sie die Oberfläche entlang. Beschleunigt ihr Tempo, als sie Land sichtet.

Von seiner Schönheit betört, betritt Maja den dichten Palmenwald, den der Sandstrand von dem Meer trennt. Entdeckt Blumen, Sträucher, Farne. Und Vögel, kleine Säuger und Insekten, die durch das Unterholz wuseln oder auf den Bäumen sitzen. Das Zwitschern bunt gefiederter Vögel begleitet sie gemeinsam mit den um sie flatternden Schmetterlingen auf ihrem Weg.

Nach einer Weile findet sie sich hüfttief in einem kreisrunden, klaren See stehend wieder.

Die dritte, letzte Prüfung kann beginnen.

Eine Insel auf einer Insel, stellt Maja fest. Was sie nicht ahnt: Das ist der Mittelpunkt, der Nabel der Insel.

Auf dieser Zwerginsel wächst ein einzelner, saftig grüner Baum mit weißen Blüten. Trotz seiner Schönheit verströmt er den Geruch von Chlor in einem Schwimmbecken. Oder eher von dem, woran Maja im Moment nicht denken will. Beziehungsweise kann, ohne rot zu werden.

Eine Wild-Birne! Hier dürfte sie eigentlich nicht wachsen. Und doch steht der Baum da, auf dieser kleinen Insel auf der Insel.

Vorsichtig schwimmt Maja auf sie zu. Dabei wundert sie sich weniger darüber, dass sie nicht mehr über der Wasseroberfläche laufen kann, wie vorhin auf dem Meer.

Eher zieht es sie zu dem Medaillon, das an einem der Äste baumelt.

Die goldene Kette mit dem in Gold-, Silber- und Eisendrähten eingeschlossenen, roten Stein sieht kostbar aus.

Zu kostbar, als dass man sie einfach an dem Birnenbaum aufgehängt zurücklassen könnte.

Kaum kann sie wieder im Wasser stehen, geht Maja langsam auf den Baum zu. Bemerkt dabei, dass seine Rinde an manchen Stellen seltsam dunkel ist.

Wie verbrannt.

Sie weiß nicht warum, aber sie will sich das Medaillon holen.

Es ist ihr zum Greifen nahe, da dringt ein Echo an ihr Ohr:

„Maja, wach auf! Wir sind gleich da.“

Zur denkbar schlechten Zeit hat er sie aufgesucht.

Auch wenn die dritte Prüfung unbeendet bleibt: Er ist überzeugt, dass sie würdig ist.

Würdiger als irgendjemand sonst.

Der Anfang

Maja blinzelt. Die Sonne hindert sie daran, ihre Augen sofort zu öffnen. Aber sie merkt, dass sie noch im Auto sitzt.

Die Welt, die am Fenster vorbeizieht, ist ihr fremd.

Reflexartig schaut sie auf sich hinunter. Sie hat noch ihre Kleider an! Eine braune Jeans, ein rotes Kapuzenshirt mit dem Logo der Wisconsin Badgers, und graue Turnschuhe.

Neben ihr lenkt Tante Sharon, in einem hellblauen Sweatshirt, einer grauen Hose und flachen, weißen Schuhen. Ihre saphirblauen Augen auf den Straßenverkehr fixiert. Ihr welliges schwarzes Haar hat sie mit einem kornblumenblauen Haarreif gebändigt. Die mittellange, leicht hakenförmige Nase, die halbvollen Lippen und das spitze Kinn runden das Profil ihres herzförmigen Gesichts ab.

„Kleines, du hast ausgesehen, als hättest du schlecht geträumt“, spricht sie, während sie sich weiterhin auf den Verkehr konzentriert.

Sie hat Maja aus Sherwoods zu sich geholt, weil ihre Mutter endlich das Sorgerecht verloren hat.

Maja lugt in den Rückspiegel, worin sie ihre Cousine mit gekreuzten Beinen hinter sich sitzen sieht. Debbie bemerkt das und streckt aus Spaß die Zunge raus. Bringt sie für einen Moment zum Schmunzeln, bis sie sich wieder Sharon zuwendet.

„Nicht wirklich... Es war nur ein komischer Traum. Ich bin eine riesige Treppe hochgelaufen und war dann auf einer Karibikinsel. Und das da vorne ist wirklich Salem?“ Maja zeigt geradeaus, nachdem sie auf einem Schild „Sie betreten Salem – Gegründet 1626“ gelesen hat. Von Sherwoods nach Salem ist eine beachtlich weite Strecke zurückgelegt worden.

„Aber erst kommt dein Zimmer ran! Morgen wirst du schon mehr von unserer Stadt sehen.“

„Morgen ist ihr erster Schultag, Mom“, meldet sich Debbie.

„Dann übermorgen!“, korrigiert sich Tante Sharon.

Das Familienauto parkt vor dem Haus, in dem Sharon und Debbie wohnen: Ein von außen her kleines und bescheidenes Einfamilienhaus im englischen Baustil. Mit Backsteinwänden und aschgrauem Dach.

Tante Sharon und Debbie steigen aus. Maja bleibt sitzen.

„Mir gefiel Sherwoods besser!“, murmelt sie bitter. Tränen nehmen ihr die Sicht. Nicht weil sie Sherwoods vermisst.

Sie erinnert sich an die Sherwoods Middle School. Ihre alte Schule mit den kleinen Klassen. Wo jeder jeden kennt.

Für Maja war sie ein Albtraum: Dort war sie Mobbingopfer Nummer Eins. Obwohl sie im Tennis das talentierteste Mädchen der Sherwoods war. Doch wann immer sie Tennis spielte, dachten alle, sie würde sich für etwas Besonderes halten. Wo sie Folgendes ist:

Eine Missbildung!

Ein Alkikind!

Sozialleistungsprinzessin!

Und so eine aufmerksamkeitsgeile Schlampe!

Da öffnet Debbie ihre Autotür und lehnt sich gegen sie.

Maja sieht zu ihr auf: Ihre Haare sind blond gefärbt, fallen glatt ihre Schultern herab bis zur unteren Rippe. Die grasgrünen Augen, die sie schon immer bewundert hat, suchen ihre. Sie hat das Gesicht ihrer Mutter, Tante Sharon.

Während Maja nicht weiß, wem sie ähnelt.

Das runde, pausbackige Gesicht mit dem spitzen, eckigen Kinn. Die rotblonden, puffigen Haare. Die knollige Stupsnase. Die schläfrigen, matten indigoblauen Augen. Der breite Mund mit den anormal schmalen Lippen.

Sie ist der Inbegriff der Hässlichkeit!

„Du wirst es hier besser haben. Vergiss, was passiert ist!“, mahnt Debbie. „Nun komm, du musst dir ein Zimmer aussuchen.“

Maja zögert, steigt aber doch aus dem Wagen, stellt sich vor ihre Cousine und fragt:

„Hilfst du mir auch beim Einrichten?“

„Hab ich dir nie geholfen?“, lacht sie und schlägt auf ihre Schulter. „Dann komm!“

Da lacht auch Maja und rennt, nachdem sich jeder einen Umzugskarton geschnappt hat, mit Debbie ins Haus.
 

...
 

Golden scheint die Sonne durch das offene Fenster. Die Gardinen rascheln im sanften Wind. Im Radio singt Katy Perry:
 

California Gurls

We're undeniable

Fine, fresh, fierce

We got it on lock

West coast represent

Now put your hands up...
 

Im Takt wippt sie ihre dünnen, aber kräftigen Beine auf und ab. Liest bäuchlings die neuste Ausgabe der Seventeen. Ihre Augen überfliegen den Artikel über die neuste Mode für diesen Herbst.

Schade, dass der Sommer fast vorbei ist! Es grenzt an ein Wunder, dass es noch warm genug war für ein blaues Jeans-Kleid und Suede-High-Heels.

Ihre rechte Hand mit den dunkelblau lackierten Fingernägeln blättert eine Seite um. Mit der linken stützt sie ihr Kinn, die Finger zwirbeln an einer Haarsträhne. Ihre Augen überfliegen jeden einzelnen Text auf der neuen Seite.

Es ist ein ruhiger Nachmittag ohne Hausaufgaben. Zu ruhig und zu schön, um im Zimmer herumzuliegen statt sich zum vielleicht letzten Mal im Jahr auf dem Balkon zu sonnen. Die Sonnenblumenbettwäsche reicht mit etwas Fantasie auch.

„Buh!“

Ein leichter Schreck jagt durch ihren Körper. Doch erschrocken hat sie sich nicht. Das Schreckgespenst kennt sie dafür allzu gut.

„Rocío! Du sollst doch niemanden erschrecken!“

Im roten T-Shirt und Jeans hüpft die Kleine durch das Zimmer. Landet neben ihr auf das weiße Himmelbett aus Holz.

„Du hast bestimmt etwas über Jungs gelesen! Justin Bieber?“, foppt Rocío und schnappt ihr die Seventeen weg.

Sie schmunzelt nur und streicht ihrer kleinen Schwester über die schwarzen, lockigen Haare.

Nein, ihr kann man nicht böse sein.

„Leona! Rocío! Essen ist fertig!“, hallt Mamas Stimme durchs Haus. Der Geruch von gebratenem Gemüse und Fleisch erfüllt die Luft.

Mit einem Satz springt Rocío vom Bett und flitzt durch die Tür. Die Seventeen landet etwas unsanft auf den weißen Teppichboden.

Leona steigt langsam aus ihrem Bett, schaltet das Radio aus und begibt sich zur Treppe.

„Niemand macht eine bessere Fajita, Gladys!“, lobt Dad. Er scheint gerade von der Arbeit gekommen zu sein. Jedenfalls trägt er noch seinen dunkelblauen Anzug mit der roten Krawatte.

Sein jungenhaftes Lächeln und seine strahlenden, kastanienbraunen Augen verjüngen ihn so sehr, dass er fast nicht mehr wie ein Vater, sondern eher wie ein großer Bruder aussieht. Ein großer Bruder mit schwarzem, krausem Haar, dessen Wurzeln allmählich ins Altersgrau übergehen. Seine dunkelbraune Haut spannt sich in leichten Falten über sein eckiges Gesicht.

Doch weder Leona noch Rocío haben dieselbe Hautfarbe wie der Vater. Rocíos Haut ist dunkel-oliv, wie Mamas. Leonas allerdings ist heller. Eher derselbe Farbton wie eine der Tortillas auf dem großen Teller.

„Wie war heute die Schule, Leo?“ fragt Dad, als sie sich neben Rocío Platz nimmt.

„Wie jeden Montag“, antwortet sie nüchtern. „Die einen waren noch vom Wochenende voll, die anderen hatten aus anderen Gründen schlechte Laune. Nach der Schule gingen dann alle lachend nach Hause.“ Dabei denkt Leona an Yvonne Morgensen, die sie immer wieder eisig anstarrt, sobald sie auch nur in ihre Sichtweite gerät.

Yvonne, die sogenannte Königin der Bowditch High.

Wozu braucht eine Schule eine Königin? Kopfschütteln.

„Dasselbe sehe ich bei meinen Fox-25-Kollegen. Alle kommen murrend zur Arbeit und verlassen diese in bester Laune“, berichtet Mama, die die Teller mit der Fajita füllt.

„Meine Kollegen bei der Bank sind da nicht anders. Die freuten sich auch auf Dienstag“, schmunzelt Dad, der ihr die ersten zwei Teller abnimmt. Seinen und Rocíos.

Danach folgt ihn Mama zum Esstisch. In jeder Hand einen Teller. Für sie und für „Leonita“ a.k.a. „Leo“. Das große Schätzchen.
 

...
 

Der Wind weht sanft durch das Geäst der Bäume, das sich langsam ihrer Blätter entledigt. Rote, Gelbe, Braune fallen auf das Gras, die gepflasterten, geteerten Wege.

Die Nachmittagssonne taucht den Park in ein goldenes, wärmendes Licht. Noch nie war irgendeiner der letzten Tage des Sommers so herrlich.

Im Schatten einer der großen Bäume im Salem Common sitzt Emily mit ihrer besten Freundin auf der selbstgemachten Patchwork-Decke mit schwarzen, rosa, lila und grünen Flicken.

„Hätte nicht gedacht, dass das erste Jahr auf der High School so lustig anfängt“, beginnt Lilith, die ihr Sandwich aufgegessen hat.

„Auch weil Yvonne die Königin der Schule ist?“, fragt Emily grinsend. Denkt an die ersten zwei Wochen, die nun hinter ihnen liegen.

Lilith lacht. So heftig, das ihre silbernen, kreuzförmigen Ohrringe fein klimpern.

„Stimmt! DIE bildet sich echt was ein“, pustet sie hervor. Da steht sie auf, zupft ihr schwarzes, knielanges Spitzenkleid zurecht und nimmt eine übertrieben tussihafte Pose an.

„Ihr Frischlinge steht an unterster Stufe! Versucht nicht, euch gegen mich aufzulehnen! Ihr seid meine Diener und Verehrer, oder mein Mittagessen! Es gibt ungeschriebene Regeln, an die ihr euch eher halten solltet!“, äfft sie die „Königin“ nach.

Bei Emily fließen die Tränen vom so vielen Lachen.

„Was für eine Zicke. Glaubt die olle Hexe ernsthaft, uns Neuntklässler herumkommandieren zu wollen? Letztes Jahr war sie selber eine“, stellt Lilith sicher. Nachdem sie es ausgesprochen hat, nimmt Lilith einen starren Gesichtsausdruck an.

Emily steht auf, um nach dem Rechten zu schauen. Spürt ihre hellbraunen Haare und ihr cremefarbenes Kleid mit dem Blumenmuster im Wind flattern. Ihre großen, dunkelgrünen Augen treffen die kleineren Violetten.

„Lil? Hast du ein Gespenst gesehen?“, fragt Emily sorgenvoll.

„Bei einem Geist wärt ihr beide längst tot, Mooskopf!“, tönt es hinter ihr.

Langsam dreht sie sich um. Sie hat sofort erkennt, wer genau ihnen Gesellschaft leistet. Wenn man vom Teufel spricht!

„Ach, was für eine Überraschung! Welch eine Ehre, Eure Majestät!“, flötet Emily.

Yvonne Morgensen, die „Königin“ der Nathaniel Bowditch High School, reagiert darauf mit einem wütenden Schnauben. Ihre geschlitzten, stahlgrauen Augen glühen durch ihren rotbraunen Pony wie eine Gewitterwolkenwand, aus der Blitze zucken. Doch Emily hüpft auf Yvonne zu und umarmt sie herzlich. Seufzt auf und spricht mit zuckersüßer Kinderstimme zu ihr:

„Hi, Yvy-Schatz! Welch glücklicher Zufall! Wir wollten uns gerade über Jungs unterhalten. Aber wir sind in dem Who's Who der Schule nicht eingeweiht. Daher bräuchten wir unbedingt deinen Expertenrat.“

Yvonne schiebt sie von sich, verschränkt ihre Arme.

„Hat SIE nicht über mich hergezogen?“, gibt sie beleidigt von sich und starrt zu Lilith rüber.

„Ich habe ihr demonstriert, wie du auf einen Jungen aus unserer Klasse reagieren könntest.“
 

Yvonne lacht laut. Wie kann der Grufti so etwas behaupten? Als würde sie sich mit unreifem Kleingemüse abgeben.

„So ein Quatsch! Jeder weiß, dass ich mit Rick zusammen bin!“, erklärt sie den komischen Mädchen, die noch wie Mittelschülerinnen aussehen. Die werden noch vieles lernen müssen.

„Rick Astaire!“, mault Mooskopf. „Von den hast du schon letztes Jahr erzählt. Geht er jetzt nicht in die Zwölfte? Bist du dann immer noch mit ihn zusammen, wenn er auf dem College ist?“

„Du stellst blöde Fragen! Er ist mein Freund! Und wird es natürlich nach seinem Abschluss bleiben. Ich habe ja zwei Jahre später selber meinen Abschluss in der Tasche.“

„Oho! Toller Plan! Und du überlegst schon, was du werden willst? Warte, lass mich raten! Model? Schauspielerin? Journalistin für die Regenbogenpresse?“

Yvonne seufzt. Was streitet sie sich mit dem Pummel, mit dem sie sich schon früher herumschlagen musste? Egal, ob im Kindergarten, in der Grundschule oder in der Abraham Lincoln Middle School. Dabei bestanden ihre Eltern darauf, sich nur mit den Kindern „gut betuchter“ Bürger, Mitglieder der High Society von Salem abzugeben.

Was Yvonne auch ohne Befehl tut: Ist sie doch selbst die Tochter reicher Geschäftsleute, die für Fiat Chrysler durch die halbe Welt cruisen.

Und ist es nicht toll, von allen bewundert zu werden? Beliebt zu sein? Darin ist sie, Yvonne Morgensen, verdammt gut. Nicht umsonst bekleidet sie das Amt der „Königin der Bowditch High“.

Ihre Vorgängerin kennt sie nicht. Als Yvonne auf die High School kam, war diese bereits aus der Schule raus. Die ehemalige Königin soll aus Kalifornien zu Verwandten nach Salem geschickt worden sein, weil sie Sex mit einem Teeniestar hatte. Nach dem Abschluss hat niemand mehr etwas von ihr gehört oder sie jemals wieder gesehen. Sie ist vielleicht nach Kalifornien zurückgekehrt. Höchstwahrscheinlich zu ihrem Teeniestar.

„Yvonne?“ Grufti hat sich vor ihr gestellt, als sie noch in Gedanken war.

„Ja, Lilith?“, gibt Yvonne von sich.

„Ähm... Wir haben gehört, die Neue...“

„Ach, ja! Die Russin, Gerda. Ist in ihrem Land ein Superstar. Sie und ihren Bruder sehe ich gerade am Park vorbeilaufen.“
 

...
 

„Findest du diese Yvonne nett?“, fragt Kai, als sie an einem der Stadtparks vorbeigehen.

„Was?“ Gerda erwacht langsam. Zusammen mit ihrem Zwillingsbruder läuft sie gemächlichen Schrittes die Straßen der neuen, amerikanischen Heimatstadt entlang. Und immer lullen sie die schönen Häuser und Parkanlagen geistig ein.

Nach zwei Wochen haben sie sich den Weg von der Schule nach Hause eingeprägt, den sie dieses Mal zu Fuß bewältigen. Und doch scheint es immer wieder, als gäbe es stets Neues zu entdecken.

„Unsere Klassenkameradin, die alle Königin nennen. Findest du sie nett?“, wiederholt Kai. Seine Hände stecken in seinen Hosentaschen. Dies verstärken seine nach hinten geneigte Haltung und seinen schlürfenden Gang.

„Sie ist ganz in Ordnung. Sie mag mich... Sie mag uns!“, antwortet Gerda sanft.

Kai runzelt seine Stirn. Das macht er immer, wenn er nicht ihrer Meinung ist.

„Sie mag uns beide nur, weil du ein Ex-Superstar bist. Und zu nicht jedem ist sie nett. Hast du in der großen Pause gesehen, wie sie diese Gang auf Gideon gehetzt hat, bloß weil der neben ihr niesen musste?“

Gerda zwirbelt an ihren hellblonden Haaren und grübelt. Erinnert sich an die drei finsteren Typen, die als Yvonnes Bodyguards fungieren. Diese Drei, die auch ohne Befehl Mitschüler drangsalieren.

Ihr kahlköpfiger, muskelbepackter Anführer mit dem Fuchsgesicht. Der bleiche, magere Metal-Fan mit dem langen Pferdeschwanz. Und der blonde, engelhafte Junge mit der Baseballkappe.

„Aber“, erwidert Gerda hoffnungsvoll. „Ist sie nicht mit diesen zwei Mädchen zusammen? Die eine hieß doch Mandy, oder?“

Kai nickt. Seine blaugrünen Augen treffen ihre.

„Ja, aber auf mich wirken die genauso sympathisch wie Yvonne. Die Beiden sind ihre Schoßhündchen, die sich ein halbes Hirn teilen.“

„Sei nicht so gemein!“, schilt Gerda. „Das sind ihre besten Freundinnen! Da macht es doch nichts, dass sie oft bei ihr sind.“ Darauf dreht sie ihren Kopf zur anderen Seite. Seufzt:

„Ich habe sie enttäuscht, weil ich nicht in ihre Tanzgruppe wollte. Das ist keine, wie ich sie kenne. Aber jetzt überlege mir, doch...“

„Mach es nicht! Willst du etwa eine Tussi werden wie die?“, fällt Kai ihr ins Wort. „Du bist schon Sängerin, Musikerin, Balletttänzerin und Turnerin! Wozu willst du Cheerleaderin werden? Du weißt, dass du anderen nicht zu gefallen brauchst. Du wirst auch so gemocht. Aber nicht von allen auf der Welt. Und du kannst diese nicht dazu zwingen, dich zu mögen. Wichtig ist, wie du selbst bist, und was dir gut tut.“

Diese Worte versetzen Gerda einen Stich ins Herz. Wie recht er doch hat! Auch wenn ihn Mama diesen Floh ins Ohr gesetzt haben mag. Und sie versteht, dass es auch Menschen gibt, die sie solala finden oder gar hassen. Zu Letzteren gehört sie: Gerda Michailowa Saratow, preisgekrönte Sängerin, Solistin, Primaballerina und Turnweltmeisterin.

Die in jedem Schulfach nur Einsen schreibt.

Die jeden attraktiven Jungen, jede beste Freundin bekam.

Doch egal was sie tat, sie war nie mit sich zufrieden.

Oft hatte sie das Gefühl, von allen gehasst und ausgenutzt zu werden. Und manchmal wurde sie das auch tatsächlich. Meistens allerdings nicht. Ihre Unsicherheit säte ihr nur diesen Verdacht in ihren Verstand, in ihren Herzen. In manchen Zeiten hätten ihre Unzufriedenheit, Unsicherheit und Misstrauen sie sogar umgebracht. Wenn sie das mal nicht selbst versucht hat.

Ihre Unzufriedenheit mit sich, ihre eigene Unsicherheit und ihr Misstrauen ist sie nicht losgeworden. Sie ist nur besser darin geworden, sie zu verstecken, zu unterdrücken. Weggesperrt im Dunkeln ihrer Seele, ihres Herzens.

Endlich haben sie und Kai ihr Zuhause erreicht. Forrester Street heißt die Straße, in der ihre Familie seit Anfang August wohnt. Das helle, dreistöckige Holzhaus mit den rotbraunen Fensterläden hat die Nummer 45 und liegt an einer Abzweigung. Das sorgfältig gepflegte Grundstück ist durch einen hellbraunen Lattenzaun abgegrenzt.

Kai öffnet das Tor und tritt auf den grau gepflasterten Weg. Als Gerda das Tor hinter sich zumacht, wartet Kai bereits auf eine der beiden kleinen, umzäunten und überdachten Veranda, zu der die helle Holztreppe führt und sie von der Haustür trennt. Diese eine Veranda ist durch einen Erker von der anderen getrennt.

Schnellen Schrittes tippelt Gerda die Treppe hoch, wo schon jemand von innen die Tür aufmacht.

„Großmama!“, ruft Gerda aus.

„Hallo, Oma!“, grüßt auch ihr Bruder.

Großmama lässt die beiden eintreten. Mit einem Lächeln fragt sie:

„Wie war heute die Schule, meine Schätzchen?“

„Ganz okay. Ein bisschen chaotisch, aber ganz okay“, antwortet Kai knapp beim Schuhe-Ausziehen. Gerda nickt zustimmend.
 

...
 

Trotz der reichen Verzierungen und den schönen Galerien üben die weiten, leeren Flure eine einschüchternde Macht aus.

Der Graf durchschreitet sie unberührt. Er kennt die Flure wie seine Manteltasche. Denn seit einiger Zeit durchquert er sie jeden Tag. Es vergeht kein Tag mehr, an dem er nicht in den Königspalast vorgeladen wird.

Er hatte sie lange genug im Auge behalten. Es war auch nicht schwer, sie ausfindig zu machen. Ein kinderloses Paar, nicht verheiratet trotz gemeinsamem Nachnamen, ihm nicht unbekannt, zogen sie wie ein eigenes Kind auf. Vierzehn Jahre lang.

Für den jungen Prinzen eine Ewigkeit. Er war erst zwei Jahre alt, als es passierte. Als die Geschwister voneinander getrennt wurden.

Der Grund ist allgemein bekannt, bei dem noblen Patriarchen, dem devoten Mönch, dem ungebildeten Bauern. Dem Prinzen ist dies purer Aberglaube, üble Nachrede.

Und doch ist es nicht die Sehnsucht nach einem Wiedersehen, das Aufräumen mit dem Irrglauben, weshalb er ihn, seinen engsten Berater und Oheim, ausgeschickt hat, sie in der fremden, entfernten Welt aufzuspüren. Dem einzigen bewohnten Planeten dieses Sonnensystems.

In dem Land, das tausende Drehpunkte der Welten, dem Irdischen und Übernatürlichen beherbergt. Und dort gibt es viele, von denen die Menschen keine Ahnung haben. Die Meisten dort glauben nicht an Magie, an die fremden Welten. Stattdessen gibt es für sie immer eine logische, greifbare, auf Wissenschaft basierende Erklärung.

Aber er traf in den Jahren der Suche Menschen an, die hinter den Geheimnissen der Magie kommen, die fremden Welten finden wollen. Für diese sind „Außerirdische“ eine von der Regierung verschwiegene Realität.

Der Mensch ist ein faszinierendes Geschöpf. Die Welt, in der sie leben, ein wundersamer Ort. Und dort fand er sie, in der Stadt, in der die Hüter aufeinander treffen und auserwählt werden.

Er muss die Prinzessin in ihre wahre Welt zurückholen, bevor sie sie finden. Denn sonst wären all die Anstrengung umsonst. Dann würden die Pläne des Prinzen auf ewig nicht umsetzbar bleiben.

Die Wachen verneigen sich. Gewähren ihn Einlass in den Hauptsaal. Der Graf tritt in die weite, leere Halle. Seine Schritte hallen in tausenden Echos wider, wie das Sonnenlicht durch die tausend Fenstergläser scheint.

„Gibt es Neues, Graf Kastor?“, hallt ihn die klare, feste Stimme des Prinzen entgegen. Über dem gold-grünen Thron hängen die Porträts seiner Vorgänger an der Bernsteinwand.

Solange er nicht volljährig ist, hat er keine uneingeschränkte Herrschaftsgewalt. Noch zwei Jahre wird der Königstitel vakant bleiben. Insgesamt sechzehn Jahre wird das Reich Astron keinen Herrscher haben. In den Geschichtsbüchern ist dies schon eine schwerere Kost als die kürzeste Amtszeit eines Regenten von Astron. (König Pasquaise III. herrschte nur zwei Minuten.)

Kastor verneigt sich, den Hut gegen die Brust gedrückt. Dann richtet er sich wieder auf, den Hut immer noch in seiner Hand. Aus ihn holt er ein Bild hervor. Das Antlitz der Prinzessin.

„Prinz Seraphin. Die Suche ist erfolgreich abgeschlossen worden“, spricht er voller Ehrfurcht. Er reicht ihm die Fotografie.

Prinz Seraphin greift nach ihr. Seine violetten Augen funkeln, als er sie begutachtet.

„Wo ist sie? Wo ist meine Schwester Lysbette?“, fragt er, seinen Blick hebend.

Kastor holt Luft, bevor er antwortet:

„Am Hauptdrehkreuz zwischen der Erde und unserer Welt.“

„Dem Treffpunkt der Hüter. Ihnen wird die Gefährlichkeit meiner Schwester vertraut sein. Aber diese alten Knacker wissen nicht einmal, dass Lysbette in ihrer Nähe ist“, spottet der Prinz.

„Achten Sie auf Ihre Wortwahl!“, mahnt Kastor. „Und die neue Generation steht schon in den Startlöchern!“

Prinz Seraphin lacht.

„Haben Sie vor Kindern Angst? Die bis dahin keine Ahnung von der Existenz der Magie und von Astron haben?“

„Deshalb, mein Prinz, will ich um die Erlaubnis bitten, schnellstmöglich zuzuschlagen. Auf das die neuen Hüter keine Chance haben, sich zwischen Ihnen und Ihrer Schwester zu drängen.“

Prinz Seraphin lächelt, als er verkündet:

„Diese Erlaubnis wird Ihnen sofort erteilt! Unter einer Bedingung!“

Kastor horcht auf.

„Schnappen Sie sie vor ihren Augen! Erteilen Sie den Hütern meine Botschaft, dass ich ihnen überlegen bin. Auf das sie nichts unternehmen, sich mir entgegen zu stellen!“

„Und was, wenn ich scheitere?“, fragt Kastor vorsichtig, aber nicht angsterfüllt.

„Dann schlagen Sie in dem Moment zu, wo die Hüter am Weitesten von meiner Schwester entfernt sind.“

Die Begegnung

Für Maja hat der erste Schultag an der Nathaniel Bowditch High School angefangen. Wäre sie schon in der Schule.

Sie ist spät aufgewacht. (Deborah ist daran gescheitert, sie zu wecken, und allein vorgegangen. Erst Tante Sharon konnte Maja aus den Federn jagen.)

Nun jagt sie mit teils riskanten Aktionen durch die Straßen, die zur Bowditch High führen.

Als sie endlich ankommt, sind alle Schüler, einschließlich Deborah, schon in den Klassenräumen. Und auch der Direktor und die Schulsekretäre scheinen über alle Berge zu sein.

„Toll! Wohin jetzt?“, fragt sich Maja außer Atem, ihren Wecker verfluchend. Dann schreit sie in ihrer Verzweiflung auf:

„Was soll ich denn tun, um Mrs. Peabody zu finden?!“

„Hoffen, dass sie dich hier findet, Miriam Hillary Krentz“, schlägt ihr eine Mitschülerin, vielleicht aus den oberen Klassenstufen, vor. Diese scheint auch zu spät zu sein, und hat doch die Ruhe weg.

„Ich bin auch erst seit zwei Wochen hier und heiße Leona Coleman-Castillo.“

Maja kann in dem Moment nur staunen, woher Leona ihren echten Namen wusste, obwohl sich die beiden zum ersten Mal sehen. Andererseits scheint sich auch Leona selbst darüber zu wundern.

,,Freut mich... Aber nenne mich bitte nur Maja... Fagan“, bringt sie schließlich nüchtern hervor und fragt eilig nach dem Weg zum Klassenzimmer.

,,Mrs. Peabodys Klasse? Ich glaube im Raum 44. Einfach die Treppe hoch zum 2. Stock und dann rechts“, so die Antwort.

Maja nickt und huscht die Treppe hoch.
 

„Heute, als Einleitung unseres Unterrichts, machen wir mündliche Kontrolle“, verkündet Jerôme O‘Malley.

Yvonne reißt ihre Augen auf. Meldet sich schnell.

„Entschuldigen Sie! Sie haben gestern noch schriftliche Kurzkontrolle gesagt!“

„Einem Quebecer darf man niemals trauen, Fräulein Yvonne. Und Sie nehme ich gerne ran!“

Yvonne knirscht mit ihren Zähnen. Dafür hat sie sich nicht gemeldet!

„Und ich dachte, dass nur Mathelehrer so sein können“, lächelt ihr der Russe Kay Saratow entgegen. Zwischen ihnen sitzt seine Zwillingsschwester, Gerda Saratow.

In Groll versunken murmelt Yvonne vor sich hin:

„Vielleicht sollte ich meinen Zauber einsetzen…“

„Was für einen Zauber?“, fragt Gerda.

Fast schreiend schlägt sich Yvonne ihre Hände vor dem Mund.

„Nein! Ich…“, stottert sie panisch.

Die ganze Klasse dreht sich zu Yvonne. Die Blicke jedes Einzelnen sprechen Bände: Noch nie hat man die Leiterin des Cheerleaderteams und Königin der Schule stottern gehört. Ganz zu Schweigen sie panisch gesehen. Wie peinlich!

Auch O‘Malley schaut mit schelmischem Lächeln in ihre Richtung.

,,Also war das doch eine ernste Meldung, Fräulein Morgensen. Warten Sie, ich suche noch das Thema heraus!“

„A… Aber… ich…“, stammelt sie erschrocken. Doch dann sieht sie ihren dunkelblonden Lehrer mit sanften Augen an.

Halten Sie lieber Ihr Wort und lassen meiner Klasse schriftliche Kurzkontrolle schreiben. Ich habe mich nämlich zu heute nur darauf vorbereitet.

„Teile bitte die Arbeitsblätter für die Kurzkontrolle aus. Sie beißen nicht!“

In Yvonne macht sich Freude breit. Sofort hüpft sie von ihrer Bank, schnappt sich die Blätter und teilt sie aus. Während sie jedem ihrer Mitschüler ein Arbeitsblatt gibt, sieht sie, wie Gerda sie überrascht anstarrt.
 

...
 

Nach dem Unterricht ist Yvonnes Euphorie verflogen. Nicht, weil sie ein schlechtes Gefühl wegen der Kurzkontrolle hat. Sie hat ja auch gelernt, und sie ist perfekt!

„Das ist dein Geheimnis, Yvonne?“, fragt Gerda vorsichtig. Sieht sie dabei mit ihren feuchten, wasserblauen Augen an. Will sie gleich heulen, oder was?

Ihr sie ähnelnder Bruder Kay hat sich zu ihr gesellt. Sie hat ihn sicher „davon“ erzählt.

„Das soll niemand wissen!“, knurrt Yvonne. Egal, ob vor ihr eine Neue aus dem Ausland oder ihr ebenso süßer Zwilling steht. Niemand hat das Recht, Yvonne Morgensen „darauf“ anzusprechen, geschweige „davon“ zu wissen.

Die Russin mit dem herzförmigen Gesicht bleibt ruhig. Ihr Lippen (dünne Ober-, dicke Unterlippe) lächeln immer noch, als ihr Bruder meint:

„Aber es ist unglaublich, was du kannst.“

„Und wisst ihr auch, was sie gemacht hat? Sie hat Mr. O'Malley mit ihrer Ausstrahlung manipuliert. Sie hat es also wieder geschafft!“, mischt sich Mooskopf vorlaut ein.

Wie immer scheint sie aus einer anderen Zeit zu stammen: Mooskopf trägt ein langärmliges tannengrünes Kleid, braune Schnürschuhe und ein silbernes Herzchen-Medaillion. Ihre braunen Locken mit den moosgrünen Spitzen sind mit einer weißen Schleife verziert.

„Das geht dir nichts an, Mooskopf! Kümmere dich lieber um einen neuen Kleidungsstil!“, fährt Yvonne die Rotznase an, die „Tussi...“ hervorkichert.

„Guck mal, Yvy! Da kommt Leona!“, meint diese dann schadenfroh.

Yvonne dreht sich um. Jetzt ist ihre Laune wirklich am Arsch.

„Ach, ja! Eine der vielen Neuen seit dem Schulbeginn.“ Die da ist noch hübscher als ich!

„Stimmt! Eine ganz Neue geht in meine Klasse. Sie heißt Maja Fagott, oder so… Und da kommt sie schon!“
 

Maja geht an Bonnie und Clyde Parker vorbei, dem mit Abstand fiesesten Zwillingspaar der Welt.

Emily fragt sich, ob Maja ihre Namen kennt, und sich selbst denkt, welche Eltern ihre Kinder nach einem kriminellen Liebespaar benennen.

„Hey, Neue! Wie war die erste Schulstunde?“, grinst Bonnie. In ihrer Gehässigkeit funkeln ihre dunkelgrünen Augen wie Unglück bringende Diamanten.

Clyde fährt mit seiner Hand durch sein dunkelbraunes Haar und stellt sich Maja in den Weg.

„Na? Wie geht’s, Miriam?“

„Ich heiße nur Maja“, gibt diese aufdringlich zurück.

„Entschuldigt, Prinzessin Hillary!“, fleht Clyde heuchlerisch, und lacht mit seiner Schwester laut los. Ihr Gelächter mischt sich mit dem von Orlando Mills und seinen beiden Kumpels Lester Crimson und Keith Summana.
 

Was auch immer gerade passiert ist, Yvonne hätte mitgelacht. Doch sie ist im Moment damit beschäftigt, Leona kaltblütig und eifersüchtig anzustarren.

Ihre perfekte, ockerfarbene Haut, ihre breiten Hüften, ihre dunkelbraunen, glatten Haare und ihre ebenfalls dunkelbraunen, mandelförmigen Augen sind ein krasser Kontrast zu Yvonnes heller, rosiger Haut, ihrem Topmodelbody, ihren rotbraunen glatten Haaren mit dem glatt getrimmten Pony und ihren stahlgrauen, geschlitzten Augen.

Etwas abfällig betrachtet sie auch Leonas Outfit: Ein ärmelloses, oranges Oberteil, ein blauer Bleistiftrock und braune Stiefel mit Absätzen. Dazu eine dunkelbraune Tasche, goldene Creolen und goldene Armreife. Ihre Fingernägel sind in demselben Blau wie ihr Rock lackiert. Mit einer Hand hält sie eine braune Jacke aus rauem Leder.

In Yvonnes Augen ist Leonas Kleidungsstil wirr: Sie selbst trägt ein altrosa Minikleid mit einem zweilagigen Rock und Dreiviertel-Ärmeln. Passend hat sie hochhackige Schühchen, Strumpfhosen und Federohrringe in derselben Farbe. Unter ihrem Arm hält Yvonne eine hellrosa Schultasche und ihre beige Jacke.

„Die Parker-Zwillinge“, seufzt Mooskopf plötzlich. „Direktor Fishers Lieblinge, warum auch immer. Ignoriere sie und Orlandos Gang einfach. Das ist das Einzige, was man mit denen da tun kann. Und mit Königin Yvonne solltest du besser auch nicht verkehren.“

Yvonne schnaubt sie an. Doch als sie das rotblonde Mädchen auf sich zukommen sieht, fängt sie sich irgendwie.

„Oberste Regel: Keine kleinen Mädchen drangsalieren!“, schnauzt sie zu Ihresgleichen.

Sofort verstummt die Gruppe am anderen Ende. Die Königin des Schulflures hat gesprochen! Gut!

„Du hattest soeben die Ehre, einige aus der High Society kennenzulernen. Wenn wir einen neuen Mitschüler sehen, können wir uns halt nicht beherrschen.“

Die Neue ist alles andere als klein, wie Yvonne feststellt, als diese vor ihr stehen bleibt. Überragt sie sogar um gut zehn Zentimeter. Und soll in die neunte Klasse gehen?

„Du gehörst zu denen, nicht wahr?“, fragt die Neue verächtlich.

Yvonne erwidert erschrocken:

„Na, klar! Jeder kennt mich, Yvonne Morgensen. Und normalerweise bin ich die Erste, die die Neuen begutachtet. Nicht wahr?“ Die angesprochenen Zwillinge, Orlando und seine Kumpels nicken stumm. Dann verschwinden sie alle langsam im Rückwärtsgang. Gut.

Yvonnes Augen haften sich wieder an die Riesin mit den rotblonden Haaren, die ganz und gar knabenhaft gekleidet ist. Der rote Hoodie mit dem aufgedruckten, weißen „W“, die hellbraune Jeans und die grauen, leicht abgenutzten Nike-Turnschuhe machen die Cheerleaderin kirre. Und doch übt ihre Trägerin eine gewisse Faszination auf sie aus.

„Ich hoffe, dass ihr heute zu uns kommt. Ihr seid herzlichst eingeladen“, mischt sich Gerda ein. Dabei hält sie mit ihrer linken Hand Yvonnes und mit ihrer rechten Leonas.

„Ich auch?“, fragt die Rotblonde.

„Aber klar!“

Die Bestimmung

Zu Hause sitzen Kay, Gerda und die vier Mädchen um den bescheiden gedeckten Küchentisch. Das weiße Spitzentischdeckchen hebt sich kaum vom lackierten Birkenholz ab.

Seit man hier beisammen sitzt, herrscht großes Schweigen. Doch dann beginnt Yvonne:

„Was ist so besonders, dass wir hier jetzt zusammensitzen? Ich meine, in letzter Zeit geschehen mir seltsame, unerklärliche Dinge. Gedankenkontrolle, mysteriöse Träume, Hexerei. Dabei glaube ich nicht daran!“

„Wenn es dafür keine wissenschaftliche Erklärung gibt, du aber nicht an Magie glaubst, wie sollten wir es dann nennen?“, fragt er sarkastisch.

Warum sagte sie 'unerklärlich'? Sie muss doch an Magie glauben!

„Klimawandel?“, versucht Emily scherzend.

„Oder ein Zeichen dafür, dass alle unsere Erwartungen bestätigt sind.“

Großmama betritt langsamen Schrittes die Küche. Ihre grau-blonden Haare sind hochgesteckt, sodass ihr leicht faltiges Gesicht und ihre hellblauen Augen frei sind. Wie gestern hat sie die rote Strickjacke und den langen, roten Rock an. Sie hält eine goldene Kette in ihrer rechten Hand, das mit einem großen roten, mit Gold, Silber und Eisen verzierten Stein besetzt ist.

Maja fällt fast vom Stuhl. Sie scheint erstaunt und, oder entsetzt.

,,Die Halskette aus meinen Träumen! Woher haben Sie es?“

Er, Leona, Emily, Gerda und Yvonne gaffen sie verwirrt an.

Großmutter jedoch antwortet ruhig und mit einem sanften Lächeln:

„Dies ist das Amulett der Engel. Und ihr seid ihre neuen Hüter.“

„Wie, Hüter von was?“, stammelt Gerda. Alle sind verwirrt.

„Ich werde euch eine Geschichte erzählen, die viel älter ist als die Zeit selbst.“
 

In dieser Zeit existierte ein sagenhaftes Königreich, das prächtiger war als der Garten Eden. Dieser Kosmos war ein einziges Reich, das von der Natur beherrscht wurde und in der alle Wesen friedlich zusammenlebten.

Doch dann wurde das Böse entdeckt und kam über diese Welt. Es brach ein Kampf aus zwischen den Guten, angeführt von den Erzengeln, und den Abtrünnigen unter Luzifer. Bei seinem Sturz fiel Luzifer ein roter Edelstein aus seiner Krone.
 

Großmutter legt das Amulett auf den Tisch. Es fällt ihn schwer zu glauben, dass das der Stein ist, mit dem angeblich der Heilige Gral bearbeitet wurde.
 

Obwohl die Guten diese Schlacht gewannen, war das Königreich so zerstört, dass es untergehen musste. An ihrer Stelle erschufen das Chaos und die Erzengel mithilfe des Steins, das sich den Guten zuwandte, das Universum, in das wir jetzt leben. Jedoch war das Böse nicht mehr auslöschbar. Seitdem werden Hüter auserwählt, mit der Aufgabe, das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse aufrecht zu erhalten.
 

„Und nun seid ihr die neuen Figuren eines nicht zu beendenden Spiels, das vor Milliarden Jahren begonnen wurde. Die neue Bedrohung geht von einem kleinen, unscheinbaren Planeten eines anderen Sonnensystems aus. Dieser Planet ist Astron. Und ihr junger Herrscher droht unserer Welt mit Krieg, wenn seine Schwester nicht zurückkehrt. Eure Aufgabe ist es, die Prinzessin ausfindig zu machen und den drohenden Konflikt zu lösen. Du, aufrichtige Emily, erhältst die festigende Kraft der Erde.“

Mit einem Sonnenblumenkern, das ihr von einem Brötchen auf dem Tisch gefallen ist, probiert Emily aus, ob es wirklich durch ihren Willen zu einer Blume gedeihen kann. Um sicherzustellen, ob sie nun wirklich magische Kräfte hat. Aus dem Kern wird tatsächlich eine Sonnenblume.

„Nicht übel“, murmelt sie, ohne sich beeindruckt zu zeigen.

„In dir, leidenschaftliche Leona, ruht die Macht des Feuers.“

Leona zuckt schaudernd bei diesem Satz.

„Ich sehe, du hast Angst vor dem Feuer. Doch halte deine Hand über diese Kerze und stelle sie dir als eine Brennende vor“, rät Großmutter.

Aus Leonas zitternder Hand schießt ein kleiner Feuerstrahl raus, der nicht nur die Kerze, sondern auch die Banane in der danebenstehenden Schale anzündet. Furchtsam hält Leona ihre Hand über die brennende Frucht, und das Feuer erlischt.

„Meine kleine Gerda, du bist nun das Wasser. Ruhig, aber stark.“

Angeregt formt Gerda aus dem Wasser lustige Zootiere und haucht ihnen Leben ein. Nun spielen die Wassertierchen miteinander und tollen auf dem großen Küchentisch herum oder klettern in die Gläser hinein, um wieder Wasser zu werden.

„Kay, dir steht eine besondere Rolle als Hüter des Wetters zu. Es ist kein klassisches, aber eigenständiges Element, zu dessen Kontrolle ein vorsichtiger, feinfühliger Mensch fähig ist.“

Etwas unschlüssig sieht Kay zu seiner Großmutter auf. Er hat durchaus eine Vorstellung davon, zu was er als „Hüter des Wetters“ in der Lage sein könnte. Doch er traut sich nicht wirklich, eine Kostprobe von seinen eigenen Kräften zu bieten.

„Und Yvonne, dir gebe ich die Freiheit der Luft.“

Kay spürt, dass Yvonne kein Wort von dem glaubt, was seine Großmutter erzählt. Und außerdem: Was, glaubt sie, soll man mit den Kräften der Luft überhaupt anfangen?

Sie pustet in Emilys Haar. Dabei fliegt doch tatsächlich die weiße Schleife davon.

„Hoppla.“ Das ist alles, was sie als Reaktion von sich gibt.

„Und was ist mit mir?“, fragt Maja, die sich anscheinend ausgeschlossen fühlt.

„Dir, Miriam Hillary Fagan, schenke ich das Amulett und damit die unendliche Macht über allem und jedem, was magisch ist.“

Das Amulett der Engel blinkt auf, schwebt zu seiner neuen Besitzerin und mustert sie einen Moment lang. Und ehe man sich versieht, hängt es schon um ihren Hals.
 

...
 

Am nächsten Tag ist Maja noch immer verwirrt.

Ja, sie und ihre „Kollegen“ haben nun magische Kräfte. Doch keiner hat eine Ahnung, was man damit überhaupt anfangen soll. Und da ist noch dieser unglaubliche Auftrag.

Nach der Schule haben sich Maja, Yvonne, Leona, Emily, Kay und Gerda in einer alten Hausruine im Wald versammelt, um sich darüber zu beraten.

„Ich habe es noch nicht verstanden“, sagt Leona.

„Brauchst du auch nicht!“, fackelt Yvonne. „Ich bin sonst nicht so gemein. Aber eure Oma tickt nicht richtig. Glaubt die ernsthaft, uns mit einem Schmuckstück, billigen Zaubertricks und einem Ammenmärchen verblüffen zu können? Magie gibt es für mich nach wie vor nicht!“

Gerda blickt traurig zur Seite. Kay stiert Yvonne wütend an.

„Nun! Und die Sonnenblume aus dem Kern? Die Tiere aus Wasser? Der brennende Apfel? Und diese Kette, die zu Maja schwebte?“, zählt Kay auf.

Yvonne schnaubt und erwidert Kays wütenden Blick mit einem giftigen.

„Genau! Du müsstest jetzt daran glauben!“, beteuert Gerda, die durch ihren Bruder Mut gefasst hat.

„Tut sie doch!“, mischt sich Emily ein. „Sie hat nur Angst davor, es zuzugeben. Es könnte sie jemand für verrückt halten. Oder, Yvonne? Eigentlich wolltest du schon immer magische Kräfte haben, die du schon vorhin hattest. Hast mit deinem Wunsch und deiner Ausstrahlung oft angegeben. Und jetzt: Da hast du deine magischen Kräfte…“

„Halt den Klappe, Mooskopf! Ich gehe jetzt nach Hause und vergesse diesen ganzen Scheiß“, fällt Yvonne Emily böse ins Wort und verschwindet.

Maja bleibt nichts anderes übrig, als Yvonne hinterher zu sehen. Sie kann sie wirklich nicht verstehen: Yvonne war selbst dabei gewesen. Hat gesehen, wie die Anderen ihre Kräfte ausprobiert haben. Gesehen, wie das Amulett Maja akzeptiert hat.

„Das wird sie sich schon anders überlegen“, sagt Emily selbstsicher.

„Woher willst du das wissen?“, fragt Leona.

„Ich bin mit ihr groß geworden. Und ist es nicht der Traum aller Mädchen, magisch zu sein? Unser ist in Erfüllung gegangen!“

Da muss Leona Emily rügen:

„Nein, du übertreibst! Ich fühle mich im Moment nicht magisch. Du etwa, Maja?“

„Ich… bin noch durcheinander“, gibt Maja verwirrt zu und verlässt die Ruine.

Draußen bleibt sie stehen und schaut zu ihr rüber. Leona, Gerda, Kay und schließlich Emily folgen Maja ins Freie. Da ertönt ein vertrauter Ruf:

„Mädels!“

„Lilith!“, ruft Emily überrascht aus.

Maja erkennt Lilith Connery wieder, Emilys beste Freundin.

Außer Atem streicht sich Lilith ihre langen rabenschwarzen Haare aus ihrem mondbleichen Gesicht mit den schwarzen Lippen und den schwarz umrandeten Augen.

„Habt ihr schon gehört? Morgen Abend findet eine Riesenparty zum bevorstehenden achtzigjährigen Jubiläum unserer Schule statt. Das heißt Spaß für alle! “

„Ja, Spaß für uns!“, lacht Emily, nachdem sie Lilith umarmt hat.

„Wow! Woher hast du denn diese schicke Kette? Die sieht aus wie ein menschliches Herz in einem Käfig“, fragt Lilith und zeigt auf das Amulett, das durch das Sonnenlicht schillert und blitzt.

„Ein Geburtstagsgeschenk von meiner Tante. Das war ein heruntergesetztes Einzelstück“, lügt Maja.

„Deine Tante hatte richtig großes Glück gehabt, solch eine Kette billig zu bekommen.“

Eine Familiengeschichte

„Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Lehrerschaft!“

Am Donnerstagmittag bittet der Direktor Joseph Fisher den Schülern um Aufmerksamkeit. Es bildet sich eine Traube um den 60 Jahre alten, kräftigen Afroamerikaner, der in seinem grauen Sakko und seiner grauen Knickerbocker stattlich gekleidet ist.

„Wie ihr alle wisst, findet heute Abend das Vorjubiläum statt. Ich möchte im Voraus einen Dank an die Sponsoren aussprechen, die uns bei der Organisation behilflich waren. Zum Beispiel dem Nähclub der Abraham Lincoln Middle School, der speziell für diesen Anlass Tischdecken genäht hat.“

Direktor Fisher unterbricht sich und nimmt einem Lehrer ein Blatt Papier ab, das er nun der Schülerschaft zeigt. Darauf zu sehen sind Reihen von Passfoto-großen, durch Gabelungen miteinander verbundene Kästchen.

„Aber das Highlight sind diese heute morgen hinzu gekommenen Stammbaum-Arbeitsblätter vom Buchladen 8 Book Mile in Danvers. Die füllt ihr innerhalb der nächsten Stunden mit euren Eltern aus und schreibt dazu einen Aufsatz über eure Familiengeschichte. Diese werden dann alle im Rahmen des Sozialkunde-Projektes über Ahnenforschung in der Turnhalle ausgestellt.“

Rasch werden die Arbeitsblätter unter die mit gemischten Gefühlen murmelnden Schüler ausgeteilt.

„Dafür ist die Unterrichtszeit jetzt zu Ende.“

Auch Maja und ihre Kollegen bekommen einige Blätter in die Hand gedrückt.

„Das wird spaßig“, gluckst Gerda, als sie gerade ein Arbeitsblatt entgegennimmt. „Herrje! Aber ich weiß nicht, wie unsere ganze Verwandtschaft auf dieses eine Blatt passen soll.“

„Wir müssen auch nur unsere Eltern und Großeltern nehmen. Dann haben wir auch weniger zu schreiben“, rät ihr Kay.

„Aber einer unsere Urgroßväter war ein berühmter General, ein Großonkel Parteichef und Generalsekretär. Vergessen?“

„Berühmte Verwandte... Wenn auch ich welche hätte...“, murmelt Emily schwärmerisch.

„Ich weiß nicht so recht, ob ich berühmte Vorfahren habe. Aber mein Onkel ist ein berühmter Musiker“, spricht Maja schüchtern aus.

„Was? Dein Onkel ist Musiker? Sag mir seinen Namen, vielleicht kenne ich ihn“, springt Yvonne aufgeregt vor Maja hin und her. Vorhin stand die noch bei ihren High Society-Freunden.

„Jeremy Fagan. Hier dürfte er nicht so bekannt sein, aber in New York City, wo er seit zwei Jahren wohnt“, antwortet Deborah, die sich zu ihr gesellt hat.

„Okay… dann kenne ich ihn doch nicht.“

„Ich glaube, wir sollten jetzt alle nach Hause gehen. Uns bleibt nicht mehr so viel Zeit“, fügt sich Leona ein.

„Ruhig, Süße! Die Feier fängt ja erst um sieben an.“
 

Das wird ein Kinderspiel!, denkt sich Lilith, während sie nach Hause läuft.

Ihre Familie wohnt in der angeblich düsteren und unheimlichen Abour Avenue.

In dieser Straße sei fast das ganze Jahr über Spätherbst, sagt man sich hinter vorgehaltener Hand. Kahle Bäume und ein großer, alter Friedhof prägen das schaurige Bild der sogenannten Lauballee.

Dabei ist es schon September. In der Abour Avenue sieht es nicht ganz anders aus wie in ganz Salem: Die Bäume beginnen, ihre Blätter abzuwerfen.

Tatsache ist jedoch: Einige Bäume sind schon ganz alt oder ganz tot.

Viele der gegenüber vom Friedhof stehenden Häuser sind unbewohnt. Man erzählt sich, dass es hier von Geistern nur so wimmelt und die Menschen dort im Einklang mit dem Jenseits leben. Doch weder Lilith noch ihre Eltern oder die Anwohner haben etwas groß Außergewöhnliches oder Übersinnliches erlebt.

Am Anfang der Abour Avenue, auf der Friedhofsseite, steht ein großes weißes Haus. Lilith hat es schon immer bewundert: Dreistöckig, mit einem riesigen parkähnlichen Grundstück, einem Garten voller Blumen, Obstbäume und Kräuter, und einer riesigen Garage. Dies alles gehört der Familie des Bürgermeisters, Mather Hawthorn. Seine Kinder gehen, so weit Lilith weiß, in die 10. Klasse.

Doch außer der Klasse selbst und einigen Lehrern hat eigentlich sonst niemand die Zwillinge zu Gesicht bekommen. Wenn überhaupt. Häufiger werden die Beiden zu Hause unterrichtet. Oder gehen auf ein Internat.

Von ihren Gothicfreunden, von denen einige in die Zehnte gehen, weiß Lilith nur einiges über die Hawthorn-Zwillinge: Die beiden seien gleich groß, dürr und hätten starrende, fast weiße Augen und rotorange Haare. Auch die Namen der Beiden hatte Lilith durch Cris in Erfahrung gebracht. Diese hat sie jedoch wieder vergessen. Einzig „Vicky“ (sic!) ist ihr hängen geblieben.

Einige Häuser weiter, auf der gegenüberliegenden Seite, befindet sich eine eher schäbige Hütte. Einstöckig, in die Breite gezogen, mit Moos und Efeu überwachsen und an vielen Stellen nicht bewohnbar. Auch das Grundstück sieht sprich- und wortwörtlich aus wie Kraut und Rüben.

Das ist das Haus einer alten Frau, die von den Einwohnern „die alte Aggy“ genannt wird.

Wie immer sitzt die alte Aggy auf ihrem Schaukelstuhl unter dem moosbedeckten Dach ihrer morschen Veranda. Und wie immer hat sie das vergilbte, zerschlissene und an vielen Stellen mit bunten Flicken ausgebesserte lange Kleid an. Um ihrer Hüfte, ihren Schultern und in ihren weißgrauen, struppigen Haaren hat sie sich bunte Seiden- und Stofftücher gebunden.

Aus ihrem faltigen, wind- und wettergegerbten Gesicht über der langen, gebogenen Nase schauen zwei hellbraune, fast rosa Augen geradewegs zu Lilith. Ihre faltigen, knorrigen Hände ruhen auf dem großen Ast, der ihr als Gehstock dient.

Lilith bleibt kurz stehen. Erwidert den Blick der alten Frau, die sie nur zu gut kennt. Wenn auch nur aus der Ferne. In ihren Augen ist die alte Aggy die archetypische Hexe schlechthin. Nur ohne Katze.

Da erinnert sich Lilith an die kurzfristige Hausaufgabe für heute Abend. Rasch setzt sie ihren Nachhauseweg fort. Gefolgt von dem Blick der alten Aggy.

Auf ihrem Bett mit den Kuscheltieren und der rosa Barbie-Bettwäsche grübelt sie nun vor sich hin. Dabei hatte sie sich diese Hausaufgabe viel einfacher vorgestellt. Sie weiß nicht, womit sie anfangen soll: Mit dem Stammbaum oder mit dem Aufsatz?

Sie steht auf, nimmt das Arbeitsblatt mit sich und begibt sich zum Flur. Dort zieht sie an einer Schnur, die von der Decke hinunter hängt. Dadurch öffnet sich die Luke zum Dachboden.

Langsam besteigt Lilith die Stufen zum staubigen, muffigen Dachgeschoss. Gründlich durchstöbert sie die dort gelagerten Kartons, Truhen, Schränke. Doch sie findet keine alten Familiendokumente oder andere Besitztümer eines Vorfahren. Alles dort Gelagerte ist noch sehr neu.

So geht Lilith zu ihren gerade eingetroffenen Eltern, die auf dem Arbeitsblatt zumindest die Bilder einiger Familienmitglieder einkleben sollen.

Währenddessen erzählt Lilith:

,,In Geschichte beschäftigen wir uns gerade mit Ahnenforschung. Und Mr. Stratfort sagte, dass es sehr wichtig sei, seine eigenen Wurzeln zu kennen. Deshalb will ich mehr über uns wissen.“

Ihre Eltern sind nach kurzer Zeit fertig.

„Wir haben uns große Mühe gegeben“, kommt die überzeugend anmutende Antwort ihrer Mutter, die ihr den Stammbaum wiedergibt. Die Frau mit den wasserstoffblonden Haaren und den kornblumenblauen Augen lächelt dabei ein wenig.

Doch das Ergebnis ist enttäuschend: Die einzigen Bilder, die darauf sind, sind die von Mutter, Vater und sie.

„Das kann nicht alles sein!“, empört sich Lilith. „Wo sind meine Tanten, Onkeln, Großeltern? Warum habe ich niemanden von denen kennengelernt?“

Die Eltern sehen sie bedauernd an.

„Wir sind eine weit verstreute Familie“, äußert sich ihr Vater. Kratzt verlegen seinen Kopf mit den ergrauenden, kastanienbraunen Haaren.

„Unsere Verwandten leben viel zu weit weg von hier, als dass sie uns besuchen könnten.“

„Und vor zwanzig Jahren hat Großtante Barbara bei einem Brand alle Familiendokumente verloren“, fügt die Mutter hinzu.

„Und alle anderen haben auch ihr Auto und Telefon verloren, ohne sie danach zu ersetzen. Ich glaube euch kein einziges Wort. Wisst ihr, manchmal fühle ich mich bei euch für nichts wert auf dieser Welt“, sagt Lilith und geht enttäuscht auf ihr Zimmer zurück.

Für nichts wert auf dieser Welt.

Lilith setzt sich an ihren weißen Schreibtisch. Fängt an zu schreiben. Über ihre Familie, von der sie nichts weiß. Noch nie und niemals.

Für nichts wert auf dieser Welt.

Lilith malte sich schon immer aus, wie es wäre, wenn sie andere Eltern hätte. Eine andere, richtige Familie. Die ihr nichts zu verheimlichen hat. Die ihr wirklich das Gefühl geben, eine von ihnen zu sein. Die ehrlich zu ihr ist.

Für nichts wert auf dieser Welt.

Was sie jetzt über ihre Familie geschrieben hat, ist ausgedacht und zusammen gelogen. Sie liest sich ihren Aufsatz durch, als hätte ihn jemand Anderes geschrieben:
 

„Die Familie Connery ist in den Vereinigten Staaten von Amerika weit verbreitet und dementsprechend weit verstreut. In Salem, Massachusetts lebt eine dreiköpfige Familie mit diesem Namen, bestehend aus:

Albert Connery, Buchhalter der Massachusetts Credits.

Theresa Connery, Geburtsname unbestimmt. Sekretärin der Witch Heights Grundschule.

Und Lilith Connery, der einzigen Tochter.

Seit mehreren Generationen lebt die Familie in Salem, Massachusetts. Da jedoch sowohl Albert als auch Theresa Connery in Heimen und Pflegefamilien aufwuchsen, ist über jegliche weitere Verwandtschaft nichts bekannt.“
 

Lilith wirft den Aufsatz mitsamt Stammbaum in ihre lila Umhängetasche. Wenigstens sind es mehr als fünf Sätze geworden. Knapp eine halbe Seite.

Der Fremde

Alle Schüler stehen mit ihren Eltern vor ihren eigenen Aufsätzen und Stammbäumen. Diese lassen sie von Freunden, anderen Schülern, Eltern und Gästen ausgiebig bewundern.

Es herrscht eine sehr ausgelassene Stimmung.

Wer hier nicht die Stammbäume Wildfremder angafft, der glotzt die Schülerprojekte aus den anderen Fächern an. Modellvulkane, Stillleben, Gedichte. Selbst für die Grottigsten gibt es Lob.

Es herrscht eine sehr ausgelassene Stimmung.

Und wer auch dies nicht tut, der knabbert ein paar Chips, Käsespieße, Cupcakes. Oder lässt sich mit alkoholfreiem Früchtepunsch volllaufen.

Es herrscht eine sehr ausgelassene Stimmung.

Nur bei Lilith nicht.

Sie steht neben ihren Eltern und schielt schmollend zu dem halbleeren Stammbaum und dem kurz geratenen Aufsatz rüber.

„Ich finde, unser Stammbaum sieht schön aus. Weniger ist doch mehr“, verschlimmert Mom die schon versaute Situation.

„Ja“, nimmt Lilith zu Kenntnis. „Schön, dass er nicht randvoll mit irgendwelchen Familienmitgliedern ist, von denen ich nichts wissen darf.“

Schnell verlässt sie die Halle. Das Gelache der Gäste und die vorherigen Sticheleien einiger Mitschüler gehen und gingen ihr so auf dem Keks.

Es ist frisch draußen. Irgendwie war es doch eine gute Idee gewesen, sich die dicke dunkelbraune Filzjacke überzuziehen statt die schwarze aus Leder, mit der sie heute in die Schule ging. Wobei die Filzjacke so gar nicht zu dem an den Seiten ausgeschnittenen schwarzen Rock, der schwarzen Strumpfhose mit den weißen Kreuzen und den klobigen schwarzen Stiefeln passt.

Doch das ist ihr geringstes Problem.

Ich wünschte, sie wären nicht meine Eltern. Vielleicht sind sie das auch nicht..., denkt sie sich. Dann bleibt sie stehen.

Überrascht sieht sie in einiger Entfernung einen fremden Mann mit Narben im Gesicht und langen, grauen Haaren. Unbeweglich lehnt er sich an dem hohen Maschendrahtzaun des Sportplatzes. Er trägt einen langen hellen Mantel und einen Hut wie die Detektive in den alten Krimifilmen.

Sie weiß nicht woher, aber dieser Mann kommt ihr auf unheimliche Weise bekannt vor. Und geradewegs auf sie zu.

Dicht vor ihr bleibt er stehen und spricht mit rauer, ruhiger Stimme:

„Was für ein fröhliches Fest ihr hier veranstaltet. Aber du siehst traurig aus. Hast du dich mit jemanden gestritten?“

Lilith hat eigentlich kein Problem, mit wildfremden Menschen zu reden.

Doch auch wenn der Mann etwas Vertrauenswürdiges an sich zu haben scheint, dieses Gefühl beunruhigt sie.

„Meine Eltern verschweigen mir vieles, was dem Rest meiner Familie angeht. Sie reden so gut wie nie über unsere Verwandten. Sie machen daraus so ein Geheimnis, dass ich manchmal denke, dass sie nicht meine Eltern sind und ich wirklich keine Familie habe“, rückt sie schließlich mit der Sprache raus.

„Das sind sie auch nicht, Prinzessin. Sie haben Sie all die Jahre über Ihre Identität und Herkunft belogen“, erklärt ihr der Mann.

Lilith ist jetzt ganz verwirrt.

„Wovon sprechen Sie überhaupt? Warum nennen Sie mich Prinzessin? Woher wollen Sie wissen, dass...“

„Ich bin gekommen, um Sie zurück nach Hause, Ihrer Welt zu holen. In Astron werden Sie von Ihrem Bruder und Ihrem Volk vermisst. Sie sind ihre Prinzessin“, antwortet er und reicht ihr seine knorrige Hand entgegen.

„Hä!? Wohin?! Was meinen Sie denn mit nach Hause? Ich habe einen Bruder? Ich bin eine echte Prinzessin? Wer zur Hölle sind Sie überhaupt?“, fragt Lilith atemlos, mit dem Gefühl, den Verstand zu verlieren.

„Kastor! Was machst du hier?“

Der überraschende Schrei ihrer Mutter hat für ihn geantwortet.

Nun ruft auch Emily mit aufrüttelnder Stimme nach ihr:

„Lilith! Alles okay?“

„Frechheit! Ihr Gören solltet euch vor Prinzessin Lysbette niederknien“, erregt sich der verrückte Mann.

„Und wir sollten die Prinzessin beschützen. Danke, dass Sie sie für uns gefunden haben, Mister“, dringt Maja in das Geschehen ein.

Die Nächste mit einer verrückten Prinzessinnen-Story!

„Ein Pech, dass ihr eure Kräfte noch nicht kontrollieren könnt! Ich hätte euch so gern das Handwerk gelegt.“ Mit diesen Worten verschwindet dieser „Kastor“ in eine Nebelschwade.

Verdattert schaut ihn Lilith hinterher. Dann dreht sie sich hastig um, brabbelt:

„Wer war das? Habt ihr verstanden, was der da gesagt hat? Und was Maja gesagt hat? Ich will nach Hause!“ Und zwar Dalli! Ihr wird sonst alles viel zu viel.

„Keine Panik! Ich begleite dich!“, tröstet Emily. Dafür liebt sie ihre aller-allerbeste Freundin. Sie weiß immer, wie man sie beruhigt, wann immer sie zu hyperventilieren droht.

Da führt Emily sie zum Schultor. Bleibt noch kurz stehen, um ihren Eltern zuzurufen:

„Sagen Sie meiner Mutter, dass ich und Lilith nach Hause gehen!“
 

...
 

„Meine Eltern kannten den Mann. Kanntet ihr ihn auch?“, fragt Lilith auf dem Heimweg durch die leeren Straßen.

Emily sieht es ihr an, dass ihr jetzt tausend unbeantwortbare Fragen durch den Kopf schwirren.

Immerhin waren das die ersten Worte, die Lilith während des Weges überhaupt ausgesprochen hatte.

„Nein, warum?“, widerspricht Emily zaghaft. Wie doof sie sich nun fühlt, weil sie eine Frage mit einer Frage zu beantworten versucht hat.

„Weil… Maja was von Beschützen sagte.“

„Ja, vor kauzigen Männern mit Narben und grauen Haaren“, lacht sie.

Wie gern sie selbat wüsste, wer dieser komische Mann war, der ihre Freundin anquatschte. Wohl nicht dieser ausgebrochene Exhibitionist, von dem sie vor einigen Tagen in der Zeitung gelesen hatte. Aber der hieß nicht Kastor. Und dieser Kastor sah auch nicht aus wie auf dem Fahndungsfoto.

„Richtig…“, kichert Lilith gekünstelt. „Ich war nur auf meine Eltern sauer, weil sie außer den Bildern von uns dreien keine anderen aufgeklebt hatten. Nie haben sie mir etwas von unseren Verwandten erzählt. Sie machen immer ein Geheimnis daraus. Ich musste sogar in dem Aufsatz schreiben, dass Mom und Dad im Heim oder bei Pflegeeltern aufwuchsen!“

Emily sieht sie betroffen an. Fragt:

„Aber warum hast das in deinem Aufsatz reingeschrieben? Haben deine Eltern es gelesen?“

„Nein... Ich musste etwas schreiben! Aber auf deinem Stammbaum fehlten das Foto deines Vaters und die seiner Verwandten. Ich wette, du hast nichts über ihn in deinem Aufsatz hingeschrieben. Weißt du wirklich überhaupt nichts über ihn? Und deine Mutter? Hast du jemals nach deinem Vater gefragt?“

Emily schluckt, und grübelt. Sie hat so oft nach ihrem Vater gefragt. Und nie eine Antwort erhalten. Oft wich Mama solchen Fragen aus. Eine Zeit lang, als Emily in den Kindergarten ging, wurde Mama sogar wütend.

Was nun? Sie will ihre beste Freundin nicht anlügen.

„Ich habe allen Anschein nach keinen Vater. Er ist wahrscheinlich vor meiner Geburt abgehauen. Meine Mutter hat mir nie etwas von ihn erzählt, geschweige denn ihn mir beschrieben. Und es gibt auch nichts von ihn“, murmelt sie schließlich.

„Dann kennst du auch die Familie deines Vaters nicht. So wie ich den Rest meiner Familie nicht kenne“, stellt Lilith fest.

„Richtig. Ich denke, sie hätten sich auch nicht sonderlich für mich interessiert. Vielleicht wissen sie nicht einmal, das es mich gibt.“

„Kann sein.“ Lilith schaut nachdenklich und betrübt um sich. „Als ich mir den Mann ansah, habe ich wirklich geglaubt, dass ich ihn schon mal gesehen habe. Ich weiß nicht, warum ich dieses Gefühl hatte. Aber es war echt so, als würde ich ihn kennen.“

Emily sieht sie bedauernd an.

„Das kann passieren. Durchaus…“, bringt sie nachdenklich hervor.

„Und willst du noch was wissen?“, setzt Lilith fort. „Er könnte in seiner Jugend so ausgesehen haben wie du.“

Emily bleibt mitten in ihrer Bewegung stehen. Schaut sie fremd an.

„Echt! Ich kann aus Gesichtern älterer Menschen ihr früheres Aussehen ablesen. Seine Haare hatten den selben Braunton mit den grünen Spitzen wie du gehabt. Du bist überrascht, oder? Es gibt Geheimnisse, die man nicht mal der besten Freundin anvertraut.“

Endlich erreichen sie Liliths Haus.

In dieser sternenklaren Nacht wirkt die Abour Avenue komischerweise weniger gruselig, als sie bei Tag ist.

„Vergessen wir das einfach. Tschüss!“, verabschiedet sich Emily und tritt den Weg zurück zur Schule an.

„Bis Morgen…“, erwidert Lilith hinter ihrem Rücken. Darauf folgt das Geräusch der sich schließenden Haustür.
 

Er hat es nicht geschafft, die Prinzessin vor den Augen der Hüter nach Astron zu entführen. Aber er hat noch Plan B.

Für alles hat er einen Plan B. Doch mit diesem wird er einen großen Coup landen. Die unreifen Hüter bloßstellen. Und den Auftrag erfüllen. Ohne dass jemand Verdacht schöpft.

Lange genug hat er darauf gewartet, dass die Kleine verschwindet. Nun tritt er aus dem Dunkel des Friedhofs. Das Tor öffnet sich durch seinen Willen. Und mit diesem schließt er es wieder. Ohne dass jemand Verdacht schöpft.

Die Straße ist leer. Alles Leben ist dem Dunkel der Nacht gewichen in die Sicherheit der hell beleuchteten Zimmer.

Nach der Straße betritt er das Grundstück. Ohne dass jemand Verdacht schöpft.

Die Stufen knarzen unter seinen Sohlen, aber das bereitet ihn keine Sorgen. Vor der Tür dreht er sich ein letztes Mal um. Alles ruhig, tot.

Zurück zur Tür. Er berührt den Knopf, die auf der Erde als Klingel dient. Drückt. Das feine Schellen hallt durch das Haus. Niemand, außer die Prinzessin und er, hört es.

Schritte nähern sich von innen der Tür. Ohne dass jemand Verdacht schöpft.

Der Hinterhalt

„Hat irgendjemand Lilith gesehen?“, fragt Emily.

„Nö“, gibt Yvonne Schultern zuckend, begleitet vom Kopfschütteln ihrer High-Society-Clique, von sich.

„Ist sie nicht bei den anderen Gruftis am Ende des Gangs?“

Emily schüttelt nervös ihren Kopf.

„Die wissen selbst nicht, wo sie ist. Nicht einmal Cris! Sie hat mich selbst gefragt...“

„Sofort sammeln! Der Fisher will wieder eine Rede halten“, ruft ihnen plötzlich eine Kopftuch tragende Mitschülerin zu.

Alle Schüler versammeln sich scharenweise im Pausenhof um den Direktor Fisher, der vor dem Schultor steht. Doch er will weder eine Dankesrede für gestern noch eine seiner humorvollen Freitagspreisungen halten, für letztere er bekannt ist.

Sein Gesichtsausdruck und die Polizisten hinter ihn schließen beides aus.

„Liebe Schülerinnen und Schüler. Ich habe soeben eine schreckliche Nachricht erhalten: Eure Mitschülerin, Lilith Connery, gilt seit heute Morgen als vermisst!“

Diese Worte hallen in Emilys Kopf wider. Versetzen ihr einen Stich ins Herz. Empört drängelt sie sich durch die Menge, um sich dann vor dem Direktor zu stellen.

„Warum gilt sie denn als vermisst? Ich habe sie doch gestern nach Hause begleitet! Sie ist dort angekommen!“

„Ihre Eltern fanden nur ihr leeres Zimmer vor. Man ist sich sicher, dass sie weggelaufen ist. Die Polizei ist nun auf der Suche nach ihr. Man hofft, dass sie noch irgendwo in der Stadt ist.“

Sein Blick wandert über die Schülerschaft.

„Wie dem auch sei… Wenn ihr irgendein Problem habt, sprecht mit jemanden darüber oder zieht euch in euer Zimmer zurück. Weglaufen ist keine Lösung für Probleme, sondern vergrößert sie im Extremfall. Außerdem müsst ihr alle nun im Hoffen auf Liliths Rückkehr zusammenhalten. Nicht nur, weil noch nie zuvor ein Schüler unsere Bowditch High als vermisst gemeldet wurde. Auch müsst ihr Liliths Freunde, die eure Mitschüler sind, Trost spenden in der unerträglich langen Zeit der Ungewissheit.“

Alle schauen sich gegenseitig an.

Clyde glotzt müde um sich, als würde ihn Liliths Verschwinden nicht interessieren.

Bonnie macht den Eindruck, als wäre sie felsenfest davon überzeugt, dass Lilith jeden Moment wieder auftauchen würde.

Orlando lächelt nicht mehr, wie er es noch am Anfang der Rede tat. Er lugte hin und wieder zu Emily rüber. Jetzt aber dreht er sich um und verschwindet mit Lester und Keith in die Menge.

Cris und die anderen Gothics tauschen sich rege über die möglichen Gründe für Liliths Verschwinden aus.

„Warum sollte sie weggelaufen sein? Das würde sie doch niemals tun!“, klagt Emily.

,,Hat sie sich etwa mit ihren Eltern gestritten?”, fragt Gerda unsicher, die anscheinend den weit hinter ihr stehenden Gothics zuhört.

,,Könnte sein...”

Doch da hat Leona einen Verdacht:

,,Sie könnte von diesem narbigen Mann von gestern entführt worden sein!”

,,Lilith ist vierzehn, nicht vier! Die wird bestimmt keinem fremden, schmierigen Mann gefolgt sein”, widerspricht Yvonne.

,,Das können wir im Park besprechen”, rät Maja.

,,Jawohl!”, antwortet Kay mit militärischer Disziplin. Gerda nickt.

,,Ich glaube nicht, dass ich mit kann”, murmelt Leona bedauernd. ,,Meine Eltern gehen heute Abend aus, und ich muss auf Rocío aufpassen.”

„Okay! Emily?”, fragt Maja.

„Ich… Auch nicht. Ich habe auch zu tun.” Darauf dreht sich Emily um und verschwindet ins Schulgebäude. Sie will nicht, dass die anderen ihre Tränen sehen.
 

Yvonne sieht Gerda, Kay und Maja bedauernd an. Sie sind zu dritt, aber für sie ist das zu wenig.

„Ich habe eigentlich auch zu tun. Aber ich kann euch nicht allein lassen.“

„Du kommst mit?“, fragt Maja hoffnungsvoll. Ihre Indigoaugen leuchten.

Yvonne nickt und meint:

„Ihr Drei habt keinen Ältesten! Da Leona abgesagt hat, muss ich euch behüten. Besonders dich, du riesiges Nesthäckchen!“

Zu ihrer Überraschung (und Verlegenheit) umarmt Maja sie.

„He! Ich lasse nur Rick an mich ran“, weist Yvonne sie mit glühenden Wangen zurück.

Sofort lässt Maja sie los, sodass Yvonne zur High Society zurückkehren kann.

„Du gibst dich mit diesem Kleingemüse ab?“, wird sie von ihrer besten Freundin begrüßt.

Mandy hat geschmeidig gekämmtes, schwarzes Haar, das ihr längliches Gesicht umrahmt, und braun-grüne Augen. Sie trägt einen gelben Top, weiße Armstulpen, eine weiße, enge Jeans und weiß-gelbe Sneakers.

„Maja ist nicht klein! Ich gebe ihr nur ein Gefühl von Willkommen-Sein. Mehr nicht!“

„So so... Willkommen-Sein“, mischt sich nun Rick Astaire, Yvonnes Gatte, ins Gespräch ein. „An diskreter Zurückhaltung denkst du aber anscheinend nicht.“

„Dass die Neue mich umarmt hat, ist ihr Problem. Ich hab sie nicht danach gefragt!“, rechtfertigt sich Yvonne, die ihren Kopf an Ricks Brust schmiegt. „Oder bist du etwa eifersüchtig auf ein kleines, unwichtiges, niederes Mädchen, das sich wie ein Junge anzieht?“

„Nicht nieder! Ihre Tante ist Managerin bei den American Banks. Hab ich von Deborah!“

Yvonne schlingt ihre Arme um ihren muskulösen Freund mir den blonden, zurückgekämmten Haaren und den braunen Augen. Hält ihn an sich fest.

„Du wirst doch nicht eifersüchtig, Baby?“, lacht er.

„Ich bin nur vorsichtig. Denn Deborah ist kein hässliches Mädchen.“

„Leona ist viel hübscher!“, rutscht es aus Mandy heraus. „Und ihr Vater arbeitet auch bei den American Banks.“

Yvonne wirft ihr einen giftigen Blick zu.

„Erwähne nie den Namen dieser Tusse, deren Nähe ich tolerieren muss“, faucht sie bitter.

„Du kennst doch Mandy! Sie nimmt keinen Blatt vorm Mund.“

Eine sonnengebräunte, blauäugige Blondine mit hellbraunem Outdoor-Kleid aus Wolle und braunen Fellstiefeln mischt sich in das Gespräch. Chelsea Roberts. Ihre zweite beste Freundin.

„Chelsea! Wo zur Hölle warst du denn?“, fragt Yvonne aufgekratzt.

„Weiter hinten! Hab mit Clyde und Bonnie gesprochen.“

Beide genannten sind Chelsea gefolgt und stehen nun hinter ihr.

„Die Lilith ist abgehauen, um uns zu erschrecken. Darauf geh ich jede Wette ein!“, posaunt Bonnie hinaus. Ihr Zwillingsbruder nickt mit schiefem Grinsen.

„Wie könnt ihr euch da so sicher sein?“, fragt Yvonne misstrauisch.

Clyde lächelt triumphierend:

„Gruftis halt! Lümmeln auf dem nächsten Friedhof rum, verehren Satan, kiffen. Die machen solch krumme Sachen.“

Mit einer Geste fordert Yvonne ihn und Bonnie zum Schweigen auf. „Tut das, was der Direktor gesagt hat: Abwarten!“

„Ich mach dann mal Tee.“
 

...
 

Wie abgemacht versammeln sich Maja, Yvonne, Kay und Gerda nach der Schule im Park. Und irgendwie ist Maja erleichtert, dass Yvonne ihr Versprechen gehalten hat. Dass sie jetzt hier ist. Dass sie jetzt ihre Bestimmung akzeptiert. Oder zumindest hinnimmt.

Währendsie über Lilith diskutieren, trifft Maja fast der Schlag: Wie aus dem Nichts läuft die Vermisste auf sie zu.

Yvonne und die Zwillinge keuchen ebenfalls auf.

,,Lilith!”, stottert Yvonne. ,,Wo warst du? In der Schule und zu Hause wirst du vermisst! Was fällt dir ein, uns alle zu erschrecken?”

Lilith sieht sie verwirrt an. Antwortet überrascht:

,,Echt? Aber ich bin heute Morgen nur vor meinen Eltern aufgewacht und wollte zur Schule gehen. Dann bekam ich eine SMS, dass Emily krank sei. Da war sie mir wichtiger. Aber dann wurde ich von einem süßen Jungen aufgehalten, mit dem ich den ganzen Tag herumhing. Er hat mich für heute Abend in die alte Fabrik am südlichen Stadtrand eingeladen. Ich wollte fragen, ob ihr mit mir kommen würdet. Damit ich mich sicherer fühle.”

,,Wenn das so ist”, meint Kay beruhigt. ,,Wir werden da sein!”

Yvonne starrt sie entgeistert an.

„Am südlichen Stadtrand? Ist das nicht die alte Reifenfabrik neben dem Tagebau?“

Lilith hackt sich mit einem Arm in Majas und mit dem anderen in Yvonnes ein.

,,Gut, dann gehen wir!”
 

Die Dämmerung bricht über Salem hinein, als Maja, Yvonne, Kay und Gerda mit Lilith die etwas abgelegene Fabrik erreichen. Wo Uni-Studenten, Junkies und Goths heimlich Partys feiern. Durch einen aufgeschnittenen Maschendrahtzaun betritt man das finstere, überwucherte Betongelände mit der riesigen Backsteinruine und den rostigen, mit Graffiti beschmierten Lagerhallen.

Maja lässt den Strahl ihrer Taschenlampe in eine der Wellblechhallen fallen. Entdeckt alte Reifen, Müll, Flaschen, Stofffetzen, Kondome, Kleintierkadaver. Die Innenwände mit Graffiti übermalt.

Am Hauptgebäude liest Maja auf einem rostigen, verwitterten Schild: EAST RUBBER COMPANY.

„Mach deine Taschenlampe aus!“, flüstert Lilith ihr zu. „Ich will meinen Freund überraschen! Wartet hier!“

Maja tut, worum Lilith sie bat. Durch den Spalt der rostigen Blechtüren verschwindet diese in die Dunkelheit. Wegen den schwarzen Haaren und Klamotten scheint sie mit ihr zu verschmelzen.

Maja und ihre drei Begleiter warten.

Und warten.

Und warten.

,,Ist sich Lilith hundertprozentig sicher, dass ihr neuer Freund sie tatsächlich hierher eingeladen hat?”, fragt Gerda mulmig. Selbst in ihrem dicken blaugrünen Pullover und ihrer Fellweste zittert sie. Ob ihr kalt ist oder sie Angst hat, kann Maja nicht mit Sicherheit bestimmen.

,,Du sagst es!”, stimmt Yvonne zu. ,,Lilith hat uns den ganzen Tag verarscht. Gleich kommt sie wieder raus und lacht uns aus! Lasst uns abhauen!”

Doch Maja lässt sich davon nicht beirren. Zu lange hat Lilith auf sich warten lassen. Sie schaltet ihre Taschenlampe an und betritt die leere Fabrikhalle.

Dort drin steht sie. Und ihr süßer Junge. Der ältere Mann von der gestrigen Feier. Er hält eine Fackel in der Hand, die mehr Licht erzeugt als die Taschenlampe.

Das rosige Tor fällt krachend zu.

„Maja!“, hört sie Gerda und Yvonne draußen schreien.

„Wir haben dich erwartet, Hüterin des Amuletts!”, begrüßt sie der Mann. ,,Die Distanzen, die uns voneinander fernhielten, werden schon bald nicht mehr existieren. Deine Welt wird dann uns gehören. Wir werden alle vereint sein. Aber erst, wenn wir euch vernichtet haben. Ihr steht uns nur im Weg! Ihr seid der Macht des Amuletts der Engel nicht gerecht!”

In ihrer Unsicherheit sieht sie das Amulett unter ihrem Hoodie, an ihrer Brust aufleuchten. Wie in Trance schießt sie einen gelben Lichtstrahl auf die Beiden, die verschreckt ausweichen.

Ermutigt durch ihre eigene Reaktion startet Maja einen neuen Angriff, der sich auf das geschlossene Hallentor richtet. Der Schwung, mit dem das Tor aufgeht, zeugt von der erfolgreichen Attacke.

„Na bitte! Ich hab gesagt, ich bekomm die Rostlatte auf!“, hallt Kays Stimme selbstsicher in der Halle wider.

„Kay? Maja hat sie aufgekriegt“, fällt Gerda ihren Bruder zaghaft ins Wort, als Maja wieder eine funkelnde Lichtkugel in ihrer Hand formt.

Lilith und ihr Begleiter staunen nicht schlecht. Doch wirklich beeindruckt sind sie allerdings nicht.

„Ihr haltet euch jetzt für was ganz Besonderes! Aber eure Kräfte sind nutzlos gegen uns!”, faucht Lilith neiderfüllt.

Da schlägt der Mann mit seiner Faust in die Luft. Risse werden sichtbar, dann zerbricht das Nichts wie Glas.

Splitter schweben nun um ein großes, funkelndes Loch. Es sieht aus wie die Momentaufnahme einer Funken sprühenden Wunderkerze. Oder wie eine sogenannte „Anomalie“ in Primeval, die Maja oft im Fernsehen sah.

Lilith setzt einen Fuß in die Anomalie. Das Tor zu einer anderen Dimension.

„Komm, Kastor! Es würde dir sicher keinen Spaß machen, sie sofort zu töten! Die Mädchen sehen null danach aus, als würden sie sich richtig wehren können!“, ruft sie den Mann noch hinterher, bevor sie durch das Tor verschwindet.

Kastor wirft seine Fackel auf die alten Benzinkanister. Dann folgt er Lilith. Hinter ihn löst sich die Anomalie wieder auf.

Das Feuer frisst sich von den Kanistern aus durch das Gebäude. Kay und Gerda haben da ihre Mühe, die Flammen zu löschen. Denn das Benzin stärkt das Feuer allzu sehr. Dazu gibt es weit und breit kein Wasser. Und bis auf ein paar kleine Regenwölkchen kann Kay nichts Nützliches hinauf beschwören. Das einzig Gute: Nichts explodiert.

Plötzlich ertönen in der Ferne Sirenen.

„Die Feuerwehr! Sie darf uns nicht finden!”, ruft Gerda Yvonne und Maja zu.

„Wenn sie uns erwischen, kriegen wir gigantisch Ärger!“, stimmt Kay ihr zu.

Maja nimmt das Amulett fest in ihre Hand.

„Bitte, liebes Amulett, kannst du uns vier unsichtbar machen?“

„Schade! Ich konnte meine Kräfte gar nicht erst ausprobieren”, flötet Yvonne enttäuscht.

Darauf macht sich ein Taubheitsgefühl in Maja breit. Sie sieht Gerda, Kay und Yvonne sich auflösen. Blickt auf ihre eigenen Hände. Sehen tut Maja jedoch den Betonboden.

Plötzlich aber tauchen ihre Hände wieder auf, nur durchsichtig. Auch Gerda, Kay und Yvonne sehen auf einmal wie Geister aus.

„W... Wa... WAS!“, hört Maja Yvonne mit weit aufgerissenen Augen kreischen.

Da betreten die ersten Feuerwehrmänner das brennende Gebäude.

Da nimmt Maja mit ihrer rechten Hand Gerda und mit der linken Yvonne an sich. Zusammen flüchten sie, von den Feuerwehrleuten nicht beachtet, zur nächsten Straße.

Dort hebt das Amulett ihre Unsichtbarkeit wieder auf. Nun sind Maja, Yvonne, Kay und Gerda nicht mehr durchsichtig.

,,Puhh…“, seufzt Gerda. „Und was jetzt?”

,,Nichts”, antwortet Maja mit gebrochener Stimme. ,,Lasst uns nach Hause gehen. Heute ist einfach zu vieles passiert.”

Wo ist Lilith?

,,Die ganze Fabrik ging in Flammen auf! Maja hat uns dann unsichtbar gemacht! Und so sind wir aus dem brennenden Gebäude gerannt. Das war echt der Wahnsinn!”

Mit Spannung berichtet Kay Leona und Emily vom gestrigen Ereignis, das sie selbst nicht miterlebt hatten. Beide hören gespannt zu.

Die Mädchen wissen genauso gut wie Kay: Dieser Samstag wird kein normaler sein.

So wie jeder Tag nicht mehr normal sein wird, seitdem sie magische Kräfte besitzen.

,,Und das Unglaubliche war, dass Lilith nicht von zu Hause weggelaufen ist, sondern sich von diesem Alien hat abholen lassen”, setzt Kay fort.

,,Das darf doch nicht wahr sein!”, jammert Emily auf.

,,Aber warum hat euch Lilith eine Falle gestellt? Und was hat dieser Außerirdische mit ihr vor?”, fragt Leona.

„Der Alien sah nicht so aus, als wüsste er, was ein UFO ist. Daher wird er wohl nicht auf der Suche nach einem Versuchskaninchen für irgendwelche widerlichen Experimente gewesen sein“, stellt Yvonne sicher. ,,Vielleicht werden wir schlauer, wenn wir ihr einen Besuch abstatten!”

„Das ist mal eine gute Idee!“, lobt Kay.

,,Aber wir wissen nicht, wo wir Lilith finden sollten. Die Polizei hat noch nichts herausgefunden”, widerspricht Leona.

Yvonne rollt mit ihren Augen.

„Sie ist einem Alien gefolgt! Das hat Kay doch gesagt! Da werden die nichts rauskriegen.“

„Kennt ihr die Serie Primeval? Lilith und dieser Mann sind durch eine Art Anomalie verschwunden. Sie haben es Tor genannt”, überlegt Maja. Dann holt sie das Amulett der Engel aus ihrem grauen Pullover hervor.

Kay kennt Primeval. Das ist die Serie, in der ein Team Dinosaurier in der Moderne aufspüren, auffangen und in ihre Zeit zurückschicken.

„Liebes Amulett. Ich weiß nicht so recht, ob du uns da helfen kannst. Aber verrate uns bitte, wo Lilith ist oder wo wir sie finden können.“

Da sprüht das Amulett Funken. Maja und den Anderen werden von Lichtbändern umschlängelt. Kay spürt die pure Magie, die von dem Amulett ausgeht.

„Was... Was geht...“, zittert Yvonne und klammert sich an Leonas Arm. Die goldenen und silbernen Lichtbänder formieren sich zu Schriftzeichen, Straßenzügen und Landesgrenzen.

,,Seht mal!”, fordert Gerda ihre Freundinnen verblüfft auf.

„Wow! Magie ist ja schneller und besser ist als das Internet“, gluckst Emily.

,,Astron... Das ist jedenfalls nicht die Erde. Wo aber genau ist Lilith?“ Leona berührt die Karte, die sich gleich darauf in einen Stadtplan verwandelt. Sie tritt einen Schritt zurück.

Dafür geht Gerda einen Schritt vor. Liest aus der Karte heraus:

„Da steht, diese Stadt heißt Marsaille. Im Zentrum sehe ich einen Palast, das nun Liliths neues Zuhause sein könnte.“

,,Worauf warten wir noch? Nichts wie hin!”, bricht Emily in Ungeduld aus.

,,Wir müssen unseren Familien aber erst Bescheid geben, dass wir heute Abend nicht mehr so schnell wieder zu Hause sein werden. Aber dass wir da auf Reisen in einer fremden Galaxie, einem fremden Sonnensystem oder Universum sind, werden sie uns wohl kaum abnehmen. Also müssen wir uns etwas einfallen lassen”, hält Kay sie in Zaum.

,,Also, jeder geht nach Hause, sagt seinen Eltern, dass wir bei einer anderen Freundin sind und kommt heute Abend zurück in den Wald”, schlägt Gerda vor.

Kay ist überrascht davon, dass seine Schwester so einen Satz mit solcher Bestimmtheit aussprechen kann. Wo sie doch sonst immer verschlossen ist.

„Das ist eine guter Idee, Gerda! So machen wir das!“, lobt er sie.

„In Ordnung!“, meint Maja.

„Verstanden!“, fügt sich Leona ein.

„Roger!“, salutiert Emily.

„Brauch ich nicht! Meine Eltern sind sowieso noch in Detroit“, prahlt Yvonne mit einer abweisenden Handbewegung. „Apropos... Wenn wir schon magische Kräfte haben, müssten wir uns öfters treffen. Dort, wo uns niemand sieht, natürlich.“

„Zu einem Training?“, fragt Leona.

„Klaro! Dieser Typ meinte, wir könnten unsere Kräfte nicht kontrollieren. Ich hab selbst keine Ahnung, ob er ein böser Zauberer oder so was in der Art ist. Aber er hat irgendwie auch magische Kräfte.“

„Sagt die, die nicht an Magie glaubt“, flötet Emily hinter Yvonnes Rücken. Diese dreht sich scharf um.

„Stell dich darauf ein, dass wir uns beim Training eventuell gegenseitig angreifen.“
 

...
 

Lysbette steht auf einem Balkon des barocken Schlosses von Marsaille und sieht sich von dort aus den großen, weiten Marktplatz der Stadt an. Die Menschen inmitten des dort herrschenden regen Treibens. Und sie winken ihrer Prinzessin zu. Lysbette winkt zurück.

Diese Welt ist ein Traum! Auch das weite, fliederne Kleid will ihr nicht echt erscheinen.

Hinter ihr, im Halbschatten, erscheint ihr älterer Bruder.

„Wie gefällt es dir hier?”, fragt er.

„Klasse! Von einer schöneren Welt wie diese habe ich niemals zu Träumen gewagt. Ich habe sehr viele Fragen an dich. Wann werde ich den Rest meiner Familie kennen lernen? Und wo sind unsere Eltern? Meine leiblichen Eltern?”

,,Unsere Eltern werden schon bald wiederkehren. Zu deiner Rückkehr gebe ich ein Fest. Dort wirst du einige Verwandte begegnen können.”

,,Klasse, dann kann ich dort vielleicht Walzer mit ihnen tanzen. Und dass mir das Buffet reichhaltig ist.”

,,Ja, alles zu deinem Wohle”, lacht der blonde Kronprinz in dem hellblauen Mantel und der passenden Hose.

„Prinz Seraphin?“

Kastor betritt den Saal. Wegen der Uniform sieht er nicht nach einem Grafen, der er eigentlich ist, aus. Im hellen Licht erkennt Lysbette eine feine Narbe, die sich in Querlage auf seiner linken Wange abzeichnet. Die anderen rundlichen scheinen Pockennarben zu sein.

„Der Marquis von Vincencia ist eingetroffen. Er möchte mit Euch sprechen“, spricht er nach einer Verneigung.

„Ich werde gleich da sein. Lysbette, möchtest du mitkommen?“

Lysbette lächelt.

„Ja! Ich möchte alles und jeden auf dieser Welt kennen lernen!“



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