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Addicted

Fegefeuer
von

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Prolog

„Mama?“

Ein kleiner Junge mit braunem Haar und großen, ängstlichen Augen, kauert auf dem Teppich einer Wohnung. Er ist dünn, das junge Gesicht fahl und kränklich.

Seine Mutter läuft aufgeregt durch das Appartment und ihre Nervosität färbt auf ihn ab. Er spürt, dass etwas nicht stimmt, dass etwas passieren wird.

Sie antwortet ihm nicht, stattdessen wirft sie ihm seine Schuhe und eine Jacke hin.

„Zieh dich an“, weist sie ihn an, während sie sich ebenfalls ihre Jacke überzieht.

„Wohin gehen wir?“, fragt der Junge, als er seine Arme durch die Ärmel schiebt und anschließend versucht, mit seinen kleinen Fingern die Schnürsenkel zu schließen. Nachdem die Mutter ihre Handtasche von der Garderobe genommen hat, geht sie auf den Kleinen zu und hilft ihm seine Turnschuhe zu schließen.

Dann nimmt sie ihn auf den Arm. Überglücklich über die Nähe seiner Mutter, schmiegt sich der Junge gegen ihre Schulter und ihren Hals. Er lächelt, während er die Augen schließt. Er kann ihre Wärme spüren, diese Trost und Geborgenheit spendende Wärmer einer Mutter. Er zieht ihren süßen Duft tief in seine Lungen. Solange sie bei ihm ist, kann ihm nichts geschehen.

Noch immer weiß er nicht, wo die Reise hingeht, doch sie steigen in die Straßenbahn ein.

Er darf auf ihrem Schoß sitzen und sie streichelt ihm über den Kopf, küsst ihn auf sein Haar, welches in kleinen Löckchen absteht. Ihre Nervosität hat sich wieder gelegt, er kann ihr Herz ruhig und regelmäßig schlagen hören.

Vielleicht hat sie einfach einen Termin vergessen und muss sich beeilen.

„Wohin gehen wir denn?“, fragt er noch einmal. Diesmal erhält er eine Antwort.

„In die Stadt, mein Schatz. Mama muss etwas erledigen.“

„Ach so.“

Er ist zufrieden. Seine Angst klärt sich auf und weicht der Freude einen Tag mit seiner Mutter verbringen zu können. Sie hat nicht viel Zeit für ihn, weil sie arbeiten muss. Leider muss sie nachts arbeiten, deswegen ist sie tagsüber oft erschöpft und möchte lieber schlafen als mit ihm spielen. Er hat keinen Vater, deswegen ist er oft alleine zu Hause, doch das ist er gewohnt und er hat gelernt, sich alleine zu beschäftigen.

Doch heute ist sie nur für ihn da und er strahlt sie mit seinem Lächeln an. Sie erwidert seine Freude nut matt, küsst ihn lieber noch einmal auf den Schopf.

Die Straßenbahn hält an und sie hebt ihn mit sich hoch, als sie aufsteht. Sie steigen aus und sind in der Innenstadt.

Als sie ihn herunter lässt, greift er nach ihrer Hand. Er weiß nicht, wie viel Uhr es ist, doch es ist noch hell und die Stadt ist voller Menschen. Für ihn besteht die Welt nur noch aus Beinen und Schuhen, die an ihm vorbei huschen und ihn gelegentlich anrempeln.

Ängstlich drängt er sich dicht an seine Mutter, die ihn nun mitten durch die Menschenmenge lotst. Der Junge kennt das Ziel nicht und er erkennt auch keinen Weg. In der Stadt sind sie nicht oft, deswegen kennt er sich hier auch nicht aus.

Die vielen Menschen machen ihm Angst und er hat Probleme mit seiner Mutter schritt zu halten.

„Mama“, ruft er, damit sie anhält und auf ihn wartet. Doch sie scheint ihn nicht zu hören.

Plötzlich öffnen sich ihre Finger und seine Hand rutscht aus ihrer. Sie bleibt nicht stehen. Er will ihr hinterher laufen, doch die vielen großen Menschen drängen sich dazwischen. Ihre dunklen Haare verschwinden zwischen den vorbeihuschenden Körpern und er kann sie nicht mehr sehen.

Panik steigt in ihm auf. Wieso hält sie nicht an?

„Mama!“, ruft er und versucht in die Richtung zu laufen, in die sie gegangen ist, „Mama!“

Die Augen des Jungen füllen sich mit Tränen und sein Herz schlägt schnell und schmerzhaft. Er hat solche Angst.

Angst verlassen zu werden. Angst, seine Mutter nicht wieder zu finden. Sie ist alles für ihn, sie ist sein Leben, sein Zentrum. Sie ist für ihn das schönste Wesen auf dieser Welt und er wünscht sich nichts sehnlicher, als ihre Liebe. Die Mutter ist Gott in den Augen eines Kindes.

„Mama!“ Sie antwortet nicht. Er kann sie nicht sehen. Orientierungslos irrt er umher, während heiße Tränen sein Gesicht hinab laufen. Er schluchzt und sein Hals zieht sich schmerzhaft zusammen.

Als er in die Gesichter der Menschen schaut, die um ihn herum laufen, erkennt er niemanden. Und niemand beachtet ihn.

„Lass mich in ruhe“, zischt ein Mann, als er versucht ihn am Hosenbein zu ziehen. Er wird weggestoßen und fällt auf den kalten Boden. Seine Hände schürfen sich auf und beginnen zu Er hat keine Kraft mehr, sich aufzurichten. Er bleibt auf dem Boden knien und beginnt bitterlich zu weinen.

„Mama“, ist alles, was er über seine Lippen bekommt. Wo ist sie, wann kommt sie zurück? Er fühlt sich hilflos und alleine. Doch in ihm lebt die Hoffnung, dass sie zurückkommt. Für den Jungen ist es unvorstellbar, dass seine Mutter einfach weg gehen könnte.

Endlos lange sitzt er dort, weint und ruft nach ihr. Es wird dunkel, kälter aber die Straßen leerer. Inzwischen bleiben sogar Menschen stehen und betrachten ihn sorgenvoll, doch niemand kommt zu ihm hin oder spricht ihn an.

Schließlich hat er keine Tränen mehr übrig, schluchzt nur noch trocken. Sie kommt nicht zurück.

Sein kleines Herz zerbricht.
 

„Hey, Kleiner.“

Eine Stimme reißt ihn aus seiner Hysterie. Der kleine Junge blinzelt und blickt in das Gesicht eines Mannes, der sich zu ihm herunter kniet. Der Mann hat graue Augen, die ihn freundlich und mitfühlend ansehen. Um sie herum sind kleine Fältchen, genau, wie um seinen Mund, welcher zu einem leichten Lächeln verzogen ist. Er hat dunkle Haare, die zurückgekämmt sind und er trägt eine warme Jacke.

Der Junge beäugt den Fremden schüchtern, doch da dieser so offen und nett aussieht, verliert er schnell seine Angst.

„Meine Mama ist weg“, erklärt er mit tonloser Stimme.

„Wie sieht sie denn aus? Soll ich dich hochheben und du siehst dich nach ihr um?“

Der Kleine nickt und neue Hoffnung keimt in ihm auf. Jetzt wird er seine Mutter finden. Er wird hochgehoben und kann von hier aus über die Köpfe der Menschen blicken, doch seine Mutter ist nicht mehr hier.

Der Mann geht mit ihm auf dem Platz umher, spricht ein paar Menschen an und fragt sie, ob sie eine Mutter gesehen haben, die ihren Sohn sucht. Niemand kann ihnen helfen.

Er setzt den Jungen wieder ab und kniet sich erneut zu ihm.

„Du kannst mit zu mir kommen, bis deine Mutter dich findet. Was hältst du davon?“

Der Kleine blickt den Fremden hilflos an, dann nickt er, denn er weiß nicht, wo er ist. Er weiß nichteinmal seine Adresse. Doch der unbekannte Mann ist freundlich und gewinnt sein Vertrauen.

Der Junge wird wieder auf den Arm gehoben und der Fremde nimmt ihn mit. Er klammert sich fest an den Mann und vergräbt sein tränenübersätes Gesicht an seiner Jacke und wird tröstend gestreichelt.

„Alles wird gut, mein Kleiner“, sagt der Mann noch, ehe der Junge völlig erschöpft einschläft.

Kapitel 1

„Es ist nicht so, wie du denkst!“ Es war nie so, wie man dachte.

Sie sah ihm an, wie sehr ihn dieses Thema nervte, doch ihr ging es da nicht anders. Sie unterhielten sich über kaum etwas anderes als Janine. Kate musterte ihren Mann einen Augenblick lang. Dieser stritt mal wieder ab, etwas mit diesem Mädchen, welches wohl erst vor Kurzem die Pubertät hinter sich gelassen hatte, gehabt zu haben.

„Was soll ich denn denken? Du triffst dich ständig mit ihr, schenkst ihr unzählige Freikarten für deine Konzerte und lässt dich bei jeder Gelegenheit von ihr anhimmeln. Merkst du nicht, dass dieses Mädchen richtig besessen von dir ist, oder“, ihr Tonfall wurde provozierend, „gefällt dir gerade das? Dass dich dieses Kind so vergöttert?“

Der große und äußerst kräftige Mann vor ihr richtete sich ruckartig vom Esstisch auf und stieß dabei sein Wasserglas nach vorne um. Gemäß der Chaostheorie verteilte sich der Inhalt über den gesamten Tisch. Jason war nicht der Typ, der schnell ausrastete, aber wenn er es tat, war man lieber ganz weit weg.

Der Ehemann der 27 jährigen Kate war ein ehemaliger Soldat und drei Jahre älter als sie. Heute versuchte er sein Geld damit zu verdienen in einer Rockband zu spielen, die ihre Auftritte in verschiedenen kleinen oder semi-bekannten Clubs hatte. Damit verbunden waren natürlich auch die weiblichen Fans, welche Kate seit jeher ein Dorn im Auge waren. Weil ihre finanzielle Lage alles andere als gut war, steuerte Kate durch ihren Job als Sekretärin einer großen Firma, etwas zur Miete bei. Genau genommen bezahlte sie sogar fast die komplette Miete.

„Von meiner Frau kann ich jedenfalls nicht behaupten, dass sie mich anhimmelt“, knurrte Jason.

„Vielleicht würde sie das ja, wenn nicht alles, was ihr Mann im Kopf hat, seine Musik wäre. Du bist nie hier und wenn, dann bist du so müde und kaputt, dass ich mehr Spaß mit einem Stuhl haben könnte als mit dir“, Kate wurde nun auch wütend und stemmte ihrerseits die Hände auf den Tisch um sich bedrohlich vorne über zu lehnen, „während du deinen Spaß mit deinem zwölfjährigem Flittchen hast“.

Nun hatte sie den Bogen überspannt.

Jason ergriff den Tisch und sein gesamter Körper spannte sich an.

Kate fuhr zusammen, als das Möbelstück umgedreht und krachend auf den Boden geworfen wurde.

Sie machte ein paar Schritte zurück. Er hatte noch nie die Hand gegen sie erhoben, aber er war auch noch nie so wütend gewesen. Kate konnte sehen, wie er den Kiefer zusammenpresste und so die Sehnen an seinem Hals hervortraten.

„Raus.“

Sie trat noch einen weiteren Schritt zurück, als ihr Mann näher kam.

„Raus hier oder ich vergesse mich“, zischte er.

Kate zögerte einen Moment und spürte, wie ihr Herz gegen ihre Brust schlug und ihr Hals sich zuschnürte. Dann drehte sie sich um und rannte aus der kleinen Wohnung heraus.
 

Es war einer der weniger guten Wohnblocks, wenn auch nicht die letzte Absteige. Zumindest war es das Beste, was sie aus ihrer momentanen finanziellen Lage machen konnten. Sie hatten ein Schlafzimmer zur Straße hin, in dem man nachts zählen konnte, wie viele Autos vorbei rauschten oder in dem man den Gesprächen oder den Schäferstündchen der Nachbarn lauschen konnte. Wenn man nicht gerade versuchte trotz des Geräuschpegels zu schlafen, konnte man sich im ruhigeren, winzigen Wohnzimmer auf der viel zu großen Couch, ausstrecken. Jason nörgelte seit Jahren darüber, dass sie endlich den alten Röhrenfernseher abschaffen sollten, damit er seine Leidenschaft für Filme besser ausleben konnte. Aber solange der alte Kasten noch lief, gab es wichtigere Dinge, für die sie ihr weniges Geld ausgeben konnten. Zum Beispiel für eine neue Spülmaschine, denn Kate hatte es so langsam satt, dass sie immer einen Schraubenzieher brauchte, um das blöde Ding aufzukriegen. Außerdem glaubte sie so allmählich, dass sie einfach das dreckige Geschirr fraß, ein paar Mal darauf herum kaute und genauso schmutzig wieder ausspuckte, wie es hereingekommen war. Alles in allem war die Küche eigentlich viel zu klein und bot kaum Platz zum Kochen.

Deswegen stand der Esstisch auch im Wohnzimmer, jedenfalls, sofern man das so nennen konnte, denn die Küchenzeile war ohnehin nur durch eine bauchhohe Theke von dem Wohnraum getrennt.

Doch trotz aller Bescheidenheit hatte sich Kate bisher immer sehr wohl gefühlt. In letzter Zeit allerdings kam ihr der enge Raum eher wie ein Käfig vor, der sie mit ihrer Einsamkeit konfrontierte. Denn selbst, wenn die kleine Wohnung Jason und sie quasi dazu drängte, dicht beieinander zu sein, fühlte sich diese erzwungene Nähe falsch und unecht an. Sie erweckte in ihr eher klaustrophobische Gefühle, vor denen sie nur zu gerne flüchten würde.
 

Ihr erster Weg führte sie zu ihren Eltern, welche nicht weitab ihrer Wohnung lebten. Ein mittelständiges Ehepaar, das trotz der einen oder anderen Streitigkeit immer zusammenhielt. Nicht immer förderlich, wenn man alleine gegen eine Zwei-Mann-Eltern-Armee ankämpfen musste. Sie waren ohnehin nie Fans von Jason gewesen, da sie ihn für einen Taugenichts hielten. Mit Musik konnte man kein Geld verdienen. Brotlose Kunst.

Monika nahm sie gleich in den Arm, als sie ihr die Tür öffnete. Als Mutter hatte sie einen sechsten Sinn dafür, wann es dem Kind schlecht ging. Auch, wenn sie manchmal unheimlich nervig sein konnte, war Kate froh sie jetzt zu sehen. Sie und ihre dunklen Locken und diese furchtbar kitschigen Goldohrringe, die sie immer trug.

„Was ist denn passiert?“, fragte sie, während sie ihre Tochter durch den Flur ins Wohnzimmer führte, in dem ihr Vater wie immer in seinem Sessel saß und ein Buch las, während der Fernseher lief.

„Ach wir haben uns gestritten“, erklärte Kate und setzte sich auf das Sofa, zog die Wolldecke von der Lehne zu sich und breitete sie über sich aus. Wie oft hatte sie, als sie jung war, mit ihren Eltern hier gelegen und fern gesehen?

„Schon wieder?“, Monika schüttelte den Kopf, „worum ging es denn diesmal? Wie immer um Geld?“ Sie hatte die Augenbrauen besorgt zusammengezogen, sodass sich tiefe Furchen auf ihrer Stirn bildeten. Kate fand, dass sie alt geworden war. Bisher war es ihr nie aufgefallen, doch jetzt stellte sie fest, dass die Zeichen der Zeit immer deutlicher in ihrem Gesicht zu erkennen waren. Im Leben würde sie ihr das nicht sagen, aber es zeigte einfach die Vergänglichkeit des Seins und es machte ihr Sorgen.

„Über alles einfach, das Geld und wie es im Moment läuft. Er ist richtig wütend geworden. Ich glaube, so haben wir uns noch nie gestritten“, erklärte sie und ihre Mutter sah sie sorgenvoll an. „Meine arme Kleine. Es tut mir wirklich leid, dass du im Moment solche Probleme hast. Am besten ist es, wenn du dich erst mal etwas ausruhst und ihr eure Gemüter abkühlt. Soll ich dir was bringen? Ich kann Tee machen und wir haben noch etwas von dem Braten von heute Mittag.“

Bei dem Stichwort spitzte auch Bernd, ihr Vater, die Ohren. Normal zog er es vor, sich aus diesen Dingen heraus zu halten. Er saß einfach da, zog ein mürrisches Gesicht und gab selten seine Meinung Preis. Doch wenn es ums Essen ging, war er einfach wie jeder Mann. „Ist auch noch was für mich übrig?“, fragte er und Monika lehnte sich zu ihm, um ihn den Bauch zu tätscheln. „So, wie du aussiehst, hast du noch drei Braten intus!“, meckerte sie doch Kate wusste, dass ihre nörgelige Art ihm gegenüber ebenfalls nur Sorge war. Er war eben nicht mehr der Jüngste und tat nichts dafür seine Cholesterinwerte niedrig zu halten.

„Danke, aber ich mag im Moment nichts, Mama“, lehnte Kate ab und blickte kurz zwischen den beiden hin und her. Sie waren nicht perfekt. Sie stritten ständig über alles Mögliche. Oder eher Monika stritt und Bernd ließ es über sich ergehen, aber irgendwie sah man einfach, dass sie zusammengehörten. Sie lebten schon so lange miteinander und hatten sich vollkommen aufeinander eingespielt, akzeptierten sich genau so, wie sie waren. Mit all ihren vielen Ecken und Kanten. Würde das bei ihr und Jason auch irgendwann so sein? Sie gerieten aneinander und irgendwie endete alles immer in einem Desaster. Früher waren sie unzertrennlich gewesen und Kate hatte gedacht, dass er es war: der Mann fürs Leben. Doch die Zeit und die Umstände hatten sie so sehr verändert, als wären sie nun zwei andere Personen. Wenn sie in die Zukunft sah, dann konnte sie sich nicht vorstellen, dass es sein würde wie bei Monika und Bernd, die sich stritten und zwei Minuten später doch wieder die Hände hielten. Wenn sie in die Zukunft sah, dann saß sie irgendwann alleine zu Hause mit einem Kind, einem Job und dem Haushalt. Jason hatte Affären, vielleicht war er sogar Alkoholiker geworden. Wenn sie in die Zukunft sah, war da keine Liebe mehr. Es war nur noch eine gezwungene Gemeinschaft, die auf einem ungewollten Kind und finanzieller Not gegründet war. Was für eine bittere Vorstellung.

Kate schüttelte den Kopf, um diese Gedanken los zu werden.

„Guck mal, erinnerst du dich noch daran?“, ihre Mutter hockte inzwischen bei einem Schrank und kramte darin herum, dann zog sie ein altes Fotoalbum hervor und grinste erfreut. „Ich habe es letztens wiedergefunden, als ich den Speicher aufgeräumt habe.“ Sie setzte sich neben ihre Tochter und schlug das Album auf. Darin waren Aufnahmen von ihr und Rose, ihrer besten Freundin, als sie noch in den Kindergarten und zur Grundschule gingen. Was für Zahnlücken sie hatten! Und diese Klamotten, schrecklich.

„Ich dachte, dass es dich vielleicht auf etwas andere Gedanken bringt. Du warst so ein glückliches Kind“, sagte Monika.

Kate musste unwillkürlich lächeln, als sie die Beschriftungen eines der Bilder sah, auf welchem sie sich gerade eine Höhle aus Decken und Regenschirmen gebaut hatten.

Katharina und Rosemarie, 09.08.92

Sie erinnerte sich, als sei es gestern, als sie dort saßen und über ihre Namen diskutierten. Wie fast jedes Kind, fanden sie ihre Namen so richtig „doof“, weil sie nach ihren Urgroßmüttern und Tanten benannt waren und beschlossen sich einfach ab sofort anders zu nennen. So wurde Katharina zu Kate und Rosemarie zu Rose. Bis heute hatte es Bestand und eigentlich waren ihre richtigen Namen nur noch auf ihren Personalausweisen und den öffentlichen Papieren zu finden. Es hatte zwar lange gedauert ihre Eltern umzuerziehen, doch letztendlich hatte es funktioniert. Und wenn es seitdem hieß „Katharina!“, dann wusste sie ganz genau, dass sie etwas angestellt hatte.

Kate blätterte durch die Seiten und betrachtete all die eingefangenen Erinnerungen. Was für eine unbeschwerte Zeit das gewesen war. Als Kind hatte man so viel zu entdecken, zu lernen und zu erleben, so viele Abenteuer zu bestehen. Alles war Spaß, das Leben ein einziges riesen großes Spiel und das schlimmste, was es damals gegeben hatte, war, wenn man mal kurz aufhören musste zu spielen. Etwa beim Schlafen oder Duschen.

„Kann ich heute hier bleiben, Mama?“, fragte sie schließlich, als sie das Fotoalbum zuschlug. Irgendwie stand ihr nicht der Sinn danach, heute noch nach Hause zurückzugehen. Ihre Mutter nickte.

„Natürlich kannst du das.“

Ein Glück, dass es noch immer dieses zu Hause hier gab. Wie ein Nest, in das man sich zurückziehen konnte, wenn es einem nicht gut ging. Allerdings vermochte dieser Ort nicht über den Schmerz und die Sorgen hinweg zu trösten, die in ihrem Kopf kreisten. Ihre Mutter versuchte mit ihr zu reden, doch Kate fühlte sich nicht nach belanglosen Plaudereien. Sie fühlte sich auch eigentlich nicht nach dem Film, der vorne auf dem Fernseher lief und sie fühlte sich nicht danach gleich einsam in ihrem alten Kinderbett zu liegen.

Vielleicht würde ein wenig frische Luft ihr gut tun und ihre Gedanken frei machen. Kate schob die Wolldecke von sich und stand auf.

„Ich glaube, ich geh noch mal raus, etwas spazieren. Wartet nicht auf mich und geht einfach schlafen, wenn ihr müde seid. Ich nehm deinen Schlüssel mit, Mama.“

Ihre Mutter nickte abermals und Bernd sah kurz von seinem Buch hoch.

„Aber pass auf dich auf und bleib auf den Hauptstraßen. Du weißt, wie gefährlich es ist“, mahnte er. Kate hob abwehrend die Hände an und versuchte beruhigend zu lächeln „Keine Sorge, ich bin in dieser Stadt groß geworden“, sagte sie und verließ schließlich die Wohnung wieder. Der kühle Wind tat gut, es war tatsächlich so, als würde er den Kopf frei blasen. Zumindest klärte er ihre Gedanken ein wenig und nach einigen Schritten, fühlte sie sich imstande, über den Streit zu sprechen. Allerdings waren ihre Eltern nicht die besten Ansprechpartner dafür. Sie würden Jason nur verurteilen und nicht versuchen zu helfen.
 

Sie entschloss sich dazu, Rose anzurufen. Rose war eine dieser Personen, die hinter einem bissigen Hund immer den armen, kleinen Welpen sahen, den man alleine gelassen oder misshandelt hatte. Um ehrlich zu sein, hielt Kate sie für den besten Menschen, den dieser Erdball je hervorgebracht hatte. Sie war so zerbrechlich und sanft, dass sie immer den Drang hatte, sie vor allem zu schützen, weil jeder Windhauch zu viel sein konnte.

„Meyer“, meldete sich ihre Freundin am Telefon. Allein ihre sanfte, süße Stimme machte sie zu dem liebenswürdigsten Menschen, den sie kannte.

„Hey Rose, hier ist Kate. Kann ich vorbei kommen? Ich habe mich mit Jason gestritten und brauche jemanden zum Reden.“

Sie hörte ein Seufzen am anderen Ende der Leitung. Es klang überlegend und ein wenig verzweifelt. Normalerweise konnte sie sich immer auf ihre Freundin verlassen, sie war immer für sie da.

„Tut mir leid, Kate. Du weißt, ich höre dir gerne zu, aber heute ist der Hochzeitstag von mir und Chris und er hat sich extra freigenommen.“ Kate konnte sich vorstellen, wie schwer es ihr fallen musste, ihrer besten Freundin in dieser Situation abzusagen und sie hatte das Gefühl Rose in eine unangenehme Situation gebracht zu haben. Irgendetwas stimmte nicht und sie wusste, dass es das Ganze noch schlimmer machen würde, wenn sie Rose jetzt das Gefühl gab, enttäuscht zu sein.

„Kein Problem, Liebes. Es ist schon okay. Genießt euern Abend, ich komme zurecht. Mach dir keine Sorgen. Wir reden einfach ein anderes Mal“, Kate lächelte beim Sprechen, damit es möglichst unbeschwert klang.

Als sie aufgelegt hatte, starrte sie noch eine Weile auf ihr Handy. Beim Durchgehen der Kontakte musste sie feststellen, dass keiner ihrer Bekannten ihr noch nahe genug stand, um ihm die Situation anzuvertrauen. Jason und ihr Job hatten all ihre Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, dass bis auf flüchtige oder kollegiale Beziehungen kein Platz mehr in ihrem Leben war.
 

Es war eine recht kühle Frühlingsnacht und die Straßen von Frankfurt waren noch immer hell erleuchtet. Sie lebte in dieser Stadt schon seit ihrer Geburt und dennoch fand sie immer wieder Ecken und Gassen, die sie nicht kannte. Heimlich hegte sie die Theorie, dass nachts einfach neue Häuser und Wände aus dem Boden wuchsen und einen Irrgarten schafften, in dem sich sogar Einheimische verirrten. Kate zog sich ihren Cardigan enger um die Schultern um sich vor dem kühlen Wind zu schützen, welcher um die Ecken der Hochhäuser pfiff. Eine zerknüllte Coladose fand den Weg zu ihren Füßen und wurde immer wieder nach vorne gekickt.

Seit wann war es eigentlich so?

Als sie und Jason sich kennengelernt hatten, war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie hatten sich früh verlobt und schnell geheiratet. Sie hatte ihn und seine Band immer unterstützt, auch obwohl sie den Lebensstandard, den sie hatten, als er noch ein Soldat war, nicht mehr aufrechterhalten konnten. Es war ihr immer egal gewesen, ob sie ihre Kleidung im Discounter kauften oder bei der Edelboutique. Doch irgendwann nahm die Arbeit mit seiner Band immer mehr Zeit in Anspruch. Und nach einer Weile war er von den vielen Auftritten und den langen Nächten im Tonstudio so ausgebrannt, dass er nicht einmal mehr Lust auf Zärtlichkeiten oder Nähe hatte.

Es zerrte an ihren Nerven. Sie war frustriert, weil er nie da war und er war frustriert, weil sie frustriert war. Irgendwie waren sie in einen Teufelskreis aus Streit geraten, in dem jeder dem anderen etwas vorwarf und man kaum mehr wusste, wo der Ursprung lag. Kate hatte das Gefühl, dass ihre Ehe langsam in ihren Händen zerbröckelte wie alte Erde, die ihre fruchtbarsten Tage längst hinter sich hatte.

Und das machte ihr Angst. Der ständige Streit, das Unwohlsein, welches sie in seiner Nähe verspürte, und sein abwesendes Desinteresse an ihr und ihrem Leben.

Kate biss sich auf die Unterlippe und versuchte den Schmerz in ihrem Herzen mit Physischem zu ersetzen. Allerdings reichte das lachhafte Maß an Brennen, dass ihre Zähne auf ihrem Mund hinterließen, nicht ansatzweise aus um diesen Effekt zu erzielen.

Es war verrückt, aber so langsam glaubte sie, die Leute zu verstehen, die irgendwann nicht mehr konnten, die aufgaben und den Alkohol, Drogen, andere Fluchtmöglichkeiten oder gar den Tod suchten. Wenn man zusah, wie das Leben und die große Liebe zerbröckelten, wie der Putz an den eigenen Wänden, zerfressen von der Last der Zeit und der fehlenden Pflege, obwohl man sich so bemüht hatte, alles zu retten und dennoch den Verfall nicht stoppen konnte. Wenn man glaubte, den Point of no Return überschritten zu haben.

Wo war verdammt nochmal die Hand, die einen festhielt, wenn sich der Boden unter den Füßen öffnete und einen zu verschlingen drohte?

„Ey, Vorsicht! Das ist `n Attentat!“, Kate suchte den Ursprung der empörten Männerstimme und entdeckte einen Mann, der vielleicht Mitte dreißig war. Offenbar hatte sie in einem Anflug von Frust die Coladose so fest getreten, dass sie gegen ihn geflogen war, als er gerade aus einer Seitenstraße herauskam.

„Entschuldigung“, murmelte sie nicht sonderlich reumütig, während sie den Blick auch sogleich wieder von ihm abwandte.

„Das ist alles?“, der Mann, den sie offenbar mit der Dose getroffen hatte, stellte sich ihr in den Weg und versperrte diesen somit.

„Diese Entschuldigung klang für mich nicht ehrlich und war keinesfalls befriedigend.“

Sein gespielt erschütterter Tonfall und das leicht schräge Lächeln der seitlich gepiercten Lippen brachten sie dazu, ebenfalls einen Mundwinkel zu heben.

Der Mann vor ihr war groß, schlank und hatte aschbraune Haare, die ihm etwas wild in die Stirn fielen. Sein Gesicht war wohlproportioniert und er hatte hohe, recht eingefallene Wangen, welche es sehr markant wirken ließen. Grüne Augen funkelten sie neckisch an. Sie waren freundlich, dennoch fand Kate, dass er vom Leben gezeichnet aussah. Zudem hatte er eine geheimnisvolle Ausstrahlung, die ihn interessant und irgendwie attraktiv machte.

„Josh“, stellte er sich vor und sie sah, wie er ihr seinen sehnigen Arm entgegen streckte, um ihre Hand zu schütteln. Zögerlich ergriff sie diese. Seine Hände waren kalt und er roch nach verflogenem Rauch.

„Kate.“

„Also Kate, weder ich noch die arme Coladose können etwas für deinen Frust. Aber wir können dir helfen ihn los zu werden.“

Er zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner tief sitzenden Hosentasche und bot ihr eine an. Kate schüttelte den Kopf.

Trotzdem zündete er sich eine an.

„Ich bin zwar kein Psychologe, aber ich kann sehen, wenn es einer Frau schlecht geht. Und als Gentleman kann ich das natürlich nicht zulassen“, murmelte er mit der Zigarette im Mundwinkel, die er mit den Händen abschirmte, während er mit dem Feuerzeug kämpfte.

Sie beobachtete interessiert den Schalk in seinen Augen. Anstatt sich abzuwenden und Angst vor einem Fremden aus einer dunklen Gasse zu haben, spürte sie, wie sie sich entspannte. Irgendetwas hatte er an sich, das ihr vermittelte: Vertrau mir. Und Kate wollte das nur zu gerne. Sie wollte ihm vertrauen, weil er im Moment genau die richtige Ablenkung war. Natürlich war ihr klar, dass es naiv und selbstmörderisch war, einem Typen zu vertrauen, der aus einer zwielichtigen Nebenstraße kam. Wenigstens schien er alleine zu sein.

„Wie wäre es, wenn wir uns einen gemütlicheren Ort zum Plaudern suchen?“, schlug er vor und zog Kate bereits in eine Richtung. Sie zögerte und Josh blickte sie verwirrt und ein wenig erwartungsvoll an, als wäre überhaupt nichts dabei, dass sie mit einem Wildfremden mitgehen sollte.

„Man soll nicht mit fremden Männern mitgehen“, murmelte Kate den Satz, der jede Mutter erleichtert hätte. Josh lachte kurz auf und der ehrliche Ton in seiner Stimme ließ sie etwas schmunzeln. Er kniff die Augen leicht zusammen, als er an seiner Zigarette zog und den Rauch seitlich durch die Lippen wieder entweichen ließ. Kate fand, dass er der Inbegriff von Coolness war, wie er so lässig da stand, eine Hand in der Tasche der Jeans, die so tief saß, dass man sich wunderte, wie sie überhaupt noch auf den Hüften hielt. Dazu dann die Piercings und die ungebändigte Frisur, von der man glauben konnte, dass er genau so heute Morgen aus dem Bett gekrochen war. Kate hasste Zigaretten. Es stank, war giftig und schmeckte scheiße; bei Josh allerdings rundete die Kippe im Mundwinkel die Optik erst richtig ab. Er war die Art Mann, die wegen ihrer absolut unperfekten Art einen unwiderstehlichen Charme versprühten.

„Ich hab süße Kaninchen zu Hause, möchtest du sie sehen?“, sagte er grinsend, schüttelte dann aber den Kopf. „Keine Sorge, ich wollte dir jetzt keine Angst einjagen oder dich mit zu mir nach Hause schleppen. Ich dachte eher an einen Club hier in der Nähe. Da könnten wir uns hinsetzen, etwas zusammen trinken und uns kennenlernen.“

Auf Kates weiterhin misstrauischen Blick wurde sein Grinsen etwas verschmitzter.

„Du bist süß, wenn du die Stirn so kraus ziehst und schaust, als wüsstest du noch nicht, ob mir gleich Fangzähne und Klauen wachsen. Nein, mal ehrlich. Ist doch egal, ob wir uns in einem Café getroffen hätten oder ob ich dich eben auf der Straße nach einem Date frage, oder? Die Coladose des Schicksals hat es so gewollt!“, behauptete er, wobei er auf das rote, zerknüllte Metall am Boden verwies. Kate lächelte etwas, versuchte es aber gleich wieder zu unterdrücken und sie schüttelte den Kopf.

„Wirklich nett aber nein, danke. Ich muss jetzt wieder nach Hause.“ Wenn er ihr wirklich nichts anhaben wollte, würde er jetzt einfach gehen. Er würde sich umdrehen und weggehen und wenn er sie gut fand, würde er ihr noch seine Nummer aufschreiben. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Josh blickte sie mit der offensichtlichen Hoffnung, dass sie sich noch anders entscheiden würde, einmal eindringlich an, doch dann drehte sie sich selbst um. Sie schloss kurz die Augen, atmete durch und ging los, lauschend, was hinter ihr geschah. Doch sie hörte ihn nicht auf sich zu rennen oder etwa ein Rascheln von einem Messer oder einer Pistole, die gezogen wurde. Als sie einige Meter gegangen war, konnte sie nur vernehmen, wie sich seine Schritte auch entfernten. Nun konnte Kate nicht anders als ihren Widerstand aufzugeben. Sie drehte sich um und sah, wie er fortging.

„Josh!“, rief sie und der Mann drehte sich um. Er hatte sie ziehen lassen, sie zu nichts gezwungen.

„Nimm mich mit!“

Sie ging auf ihn zu und er grinste breit, während er mit beiden Zeigefingern auf sie zeigte.

„Ich hab‘s gewusst!“, sagte er und legte einen Arm um ihre Schulter, als sie bei ihm angekommen war.
 

Es war ein heruntergekommener Laden in einer ebenso heruntergekommenen Gegend. Die pinken Neonröhren am Leuchtschild außen flackerten und setzten immer wieder für einige Sekunden aus, ehe sie den Schriftzug Purgatory wieder zu erkennen gaben. Der Putz des Gebäudes war der Witterung schon lange zum Opfer gefallen und abgeplatzt, sodass an einigen Stellen das Mauerwerk sichtbar wurde. Es war genau einer dieser Orte, an denen Kate noch nie gewesen war - oder, die einfach nicht in ihrer Erinnerung haften geblieben waren. Es war eben nicht die Art von Club, in der sie für gewöhnlich ihre Partynächte verbrachte.

Josh führte sie in das Innere der Location und schien sich dabei nicht an den beiden Türstehern zu stören, die in etwa die Statur ihres Mannes hatten, und sie schienen sich auch nicht an ihm zu stören. Offenbar war er hier Stammgast. Oder die Security war nur Dekoration.

Innen war es laut, heiß und die Luft so dick, dass man sie fast schneiden konnte. Eine lange Bar erstreckte sich an einer Seite des großen, in Schwarz- und Röttönen eingerichteten Raumes. Leicht, sehr leicht bekleidete Frauen räkelten sich an den Hockern. Einige standen auf dem Tresen und tanzten, andere beglückten die meist männlichen Besucher an privaten Tischen und wieder andere schwangen ihre trainierten Körper in Käfigen umher. Kurzum: es war eine Tabledance Bar und zwar eine der Sorte, in denen es hieß: Nur gucken, nicht anfassen, es sei denn, du hast genügend Geld dabei.
 

Josh zog Kate zu einem freien Tisch und sie setzte sich. Dann ging er zur Bar. Neben ihr saß eine Dame auf dem Schoß eines Herrn, der gerade dabei war ihr die Zunge in den Hals zu schieben. Das schien ihr allerdings zu gefallen, denn er ließ dabei einen dicken Geldschein in den Bund ihres knappen Höschens wandern.

Kate sah sich ein bisschen schüchtern um. So viel nacktes Fleisch auf einmal wirkte auf sie verstörend und sie war froh als Josh mit einem Bier und einem Energy Drink zu ihr zurück kehrte.

„So meine Kleine“, sagte er, als er ihr den Muntermacher zuschob und selbst wie ein Schluck Wasser in der Kurve auf dem Ledersofa zusammensank.

„Dann erzähl dem guten Josh doch mal, was dein hübsches Köpfchen so bedrückt.“

Kate wusste nicht, ob es gut war mit einem Fremden über ihre Eheprobleme zu reden, aber wen hatte sie schon sonst, dem sie es anvertrauen konnte? Niemandem. Zumindest im Moment. Und der strubbelige Mann vor ihr wirkte wirklich interessiert und hilfsbereit.

Josh hatte offenbar die Gabe einem das Gefühl zu vermitteln, dass man sich schon ewig kannte und alles miteinander teilen konnte, ein Freund zu sein, der schon immer da war, ohne ihn jemals zuvor gesehen zu haben. Ob er vielleicht die Hand war, die sie daran hinderte zu fallen?

„Es geht um meinen Mann“, begann Kate und konnte sehen, wie er die Lippen schürzte.

„Natürlich. Wenn es einer Frau schlecht geht, steckt immer ein Typ dahinter. Männer kennen eben ein Problem für jede Lösung.“ Sie ging auf seinen, wenn auch wahren, Kommentar nicht weiter ein, sondern begann sogleich, ihm ihr Herz auszuschütten.

„Wir hatten die perfekte Beziehung, weißt du? Voller Liebe und Leidenschaft. Als wir uns gesehen haben, war uns sofort klar, dass wir nicht mehr weiter suchen mussten. Wir hatten unser Ziel gefunden. Er ist groß, stark, männlich, alles, was eine Frau will. Damals war er noch ein Soldat.“

Josh pfiff anerkennend durch die Zähne.

„Allerdings fasste er irgendwann den Entschluss sein Hobby zum Beruf zu machen und begann mit seiner Band professionell Musik zu machen. Ein schlechter Plattenvertrag und Auftritte, für die es sich fast nicht lohnte, das Equipment aufzubauen. Sie haben ein paar Fans und das Geld reicht gerade so aus, dass wir uns die Miete teilen können. Deswegen beschwere mich aber auch gar nicht. Geld hat bei uns nie eine Rolle gespielt.

Das eigentliche Problem ist, dass er einfach nicht mehr da ist, verstehst du? Als Frau eines Soldaten bin ich es gewohnt, viel alleine zu sein. Aber wenn er von seinen Einsätzen wiederkam, war er voll und ganz bei mir, mit seinem Herzen und seiner Seele. Es mag merkwürdig klingen doch jetzt habe ich das Gefühl allein zu sein, selbst, wenn er neben mir sitzt. Weil er nicht bei mir ist, sondern irgendwo in irgendwelchen Liedtexten oder im Nirwana, weil er vollkommen übermüdet und überarbeitet ist. Es ist einfach nichts mehr von ihm für mich übrig.“

Kate sah, wie Josh sich etwas zu ihr neigte, und spürte dann seine Hand, wie sie ihre umfasste. Sie war sanft und beistehend und wurde sofort von ihrer umklammert.

„Ich vermisse ihn, ich sehne mich so nach ihm. Nach seiner Wärme und seiner Aufmerksamkeit. Es kommt mir so vor, als wären wir uns fremd geworden und als hätte er kein Interesse mehr an mir. Alles ist wichtiger als ich. Sogar diese Janine. Sie ist ein Fan von ihm. Er trifft sich öfters mit ihr zum Plaudern“, Kates Stimme wurde erst wütend, brach dann aber verletzt. , „wie gerne würde ich mit ihm reden oder seine Hand halten ohne, dass ich das Gefühl haben muss, dass es eine Last für ihn ist. Ich platze vor Eifersucht, Josh. Dieses pubertäre Mädchen schnappt mir meinen Mann weg und er fährt mich noch dafür an, dass ich versuche uns zu retten. Alle meine Bemühungen unsere Beziehung wieder in Gang zu bringen, enden in einem Streit. So langsam habe ich das Gefühl, dass es keinen Zweck mehr hat, dass ich nicht mehr kann. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann wir zuletzt miteinander geschlafen haben. Ich bin eine Frau, ich habe Bedürfnisse!“ Josh nickte verständnisvoll und lächelte sein schiefes Lächeln.

„Die befriedigt werden müssen.“

„Ja! Du verstehst mich.“ Kate stieß die Luft aus, als würde sie den Ärger, die Frustration und die Angst aus sich heraus schnaufen können. Jason war ein ignoranter Idiot. Aber Josh war nett, charmant, witzig, verständnisvoll, alles, was sie in dem Moment brauchte. Und dazu hatte er noch dieses gewisse Etwas, das ihn verdammt attraktiv machte.

„Komm, setz dich mal zu mir“, Josh klopfte sich auf die Oberschenkel und Kate wusste nicht, wo ihre Hemmungen hin waren, aber sie rutschte zu ihm herüber und landete auf seinem Schoß. Vielleicht war es einfach nur ihr Wunsch nach Nähe und Wärme, auch wenn sie von einem anderen als ihrem Ehemann kamen. Zu lange war sie jetzt schon alleine und es war schön, den Körper eines anderen zu spüren. Für einen kurzen Moment wurde ihr schwindelig und sie fragte sich, ob sie das Koffein in dem Energy Drink nicht mehr vertrug. Josh legte eine Hand um ihre Hüfte. Mit der anderen strich er ihr eine der langen, schwarzen Strähnen zurück, die ihr in das Gesicht fielen. Es war ihr gutes Recht. Sie hatte jahrelang darauf gewartet, dass Jason sie einmal auf ihren Schoß zog oder ihre Wange streichelte, doch wenn er es nicht wollte: Josh tat es offenbar.

„Deine Situation ist echt beschissen“, begann er dann, „und ich glaube das Beste, was du machen kannst, ist erst mal abschalten und neue Kraft tanken“, sprach er weise. Er lehnte seinen Kopf nach vorne und berührte mit seiner Nasenspitze und den Lippen ihren Hals.

„Es bringt nichts, wenn du an der Beziehung zerbrichst. Und so eine schöne Frau wie du hat es eigentlich gar nicht nötig auf die Nähe eines Einzelnen zu warten.“

Er blickte sie wieder an und kaute überlegend auf seinem Piercing herum.

„Man soll Probleme zwar eigentlich lösen, aber in deinem Fall ist es dringend nötig, dass du für den Moment zumindest, einfach mal vergisst.“

Dieses Wort klang traumhaft. Vergessen. Was würde sie dafür geben, dass all ihre Sorgen einfach fort waren?

„Ich hab hier etwas, das dir dabei helfen kann.“ Zwischen den Fingern hielt er nun eine kleine, weiße Pille.

Drogen! Er wollte ihr Drogen geben.

Kate weitete die Augen.
 

Sie hielt nichts von Rauschmitteln. Selbst Alkohol nutzte sie nur zum Feiern, aber niemals dazu sich abzuschießen. Kate hatte Angst vor dem Verlust der Kontrolle und Angst in etwas hinein zu geraten, aus dem sie nicht mehr herauskam. Wie oft hatte sie über die Junkies am Straßenrand die Nase gerümpft und sich gefragt, wie tief man eigentlich sinken konnte.

Zu ihrem eigenen Entsetzen aber war diese kleine, weiße Tablette so verführerisch wie ein nackter, verschwitzter Jason Statham direkt in ihrem Bett.

„Keine Sorge, es ist ganz harmlos. Du wirst dich nur etwas entspannen. Es ist nicht verboten mal abzuschalten und keiner kann es dir übelnehmen. Das kleine Zuckerstück hier wird dafür sorgen, dass es dir gut geht. Willst du nicht ein paar Stunden Frieden haben?“

„Doch“, gab sie zu, betrachtete die Pille aber immer noch mit Argwohn. Dann bemerkte sie Josh’s Lächeln. Er fasste an ihr Kinn und drehte ihren Kopf so, dass sie ihn ansehen musste. Was für schöne, grüne Augen er hatte. Besonders mochte sie die kleinen Fältchen, die sich nun um sie bildeten. Aber das Lächeln war nicht mehr so unschuldig wie eben noch. Es hatte nun etwas Anzügliches. Sie spürte, wie er mit dem Daumen über ihre Unterlippe fuhr, und sah, wie sein Blick ihr Gesicht musterte. Dann wanderte seine Hand an ihren Hinterkopf und er zog sie näher an sich heran. Sein Atem war warm und roch, wie alles an ihm, nach Rauch. Kate konnte spüren, wie ihr Herz schneller schlug und Angst in ihr aufstieg, doch sie war wie gebannt von ihm, und dem Wunsch endlich zu vergessen.

„Wie wäre es, wenn du die Pille von meiner Zunge lutschst?“, hauchte er ihr leise entgegen. Dann öffnete er seinen Mund und legte sich die Pille auf die ebenfalls gepiercte Zunge. Kate konnte nicht fassen was sie tat, als sie sich nach vorne lehnte und seine warme Zunge mit ihren Lippen umschloss.

Einen Moment lang ließ er sie wirklich an seiner Zunge lutschen und zwang sie so die Pille herunter zu schlucken. Dann küsste er sie mit der Leidenschaft und Hingabe, die sie bei ihrem Mann vermisste. Ein Kuss, bei dem sie gar keinen Einfluss mehr darauf hatte, dass sich ihr Körper gegen seinen drückte.

Dieser Kuss war in mehrfacher Hinsicht eine neue Erfahrung für sie. Zum einen die Gefahr, die sie jetzt einging, als sie die kleine, schon leicht angeraute Tablette ihren Hals hinunter gleiten ließ, und zum anderen, diese beinahe perverse Intensität, mit der er sie küsste.

Sie hatte noch nie einen Mann mit Zungenpiercing geküsst. Zu ihrer Freude hatte dieser sogar zwei direkt hintereinander.

Auch sein spiralförmiges Piercing links an seiner Unterlippe war interessant zu spüren und zu schmecken.

Sie wollte mehr von den zwei Stäben in seiner Zunge ertasten und ließ sich so nur allzu gern am Hinterkopf fest gegen ihn drücken.

Kate stellte fest, dass sie richtigen Spaß daran hatte das Metall in seinem Mund zu erforschen und drückte sich mit zusammengekniffenen Augen immer fester gegen ihn.

Es war aufregend. Sie kannte diesen Mann nicht einmal eine halbe Stunde und jetzt saß sie schon auf ihm und presste ihren Unterleib beinahe verlangend gegen seinen Schoß, lutschte Drogen von seiner Zunge, wie er es so nett formuliert hatte, und dachte keinen Moment lang an ihren Mann, der sie im Zorn weggeschickt hatte.

Josh’s zweite Hand wanderte nun über ihre Taille herab zu ihrem Po. Diesen schob er erst ein Stück von sich weg, um ihn dann etwas fester wieder an sich heranzuziehen. So bewirkte er, dass sie sich nicht einfach nur an ihn presste, sondern sich förmlich an ihm rieb.

Es gefiel ihr, wie er auf ihr verlangendes Verhalten einging und ihr so zeigte, dass er das ebenso wollte.

Der Kuss, so rauchig er auch eigentlich war, hätte noch Stunden so weiter gehen können. Er löste ihn aber leider mit, im Vergleich zu vorher, zwei sanften, kleinen Küsschen.

Ihr Blick fiel, als sie ihre Augen wieder öffnete, als Erstes auf seine noch leicht feucht glänzenden Lippen. Diese öffneten sich einen Spalt, da er mit seiner Zunge das etwas verdrehte Lippenpiercing wieder gerade rückte.

„Jetzt heißt es nur noch zurücklehnen und genießen, Kate“, hauchte er mit seinem schiefen Lächeln, „amüsier dich.“

Er gab ihr den Anstoß wieder von seinem Schoß zu klettern und nickte bedeutsam zu der Tanzfläche.
 

Schweißtropfen glitten seitlich ihre Stirn hinab, ihre langen, dunklen Haare klebten an ihrer nassen Haut.

Die Damen um sie herum trugen wenig, aber wenn, dann aufreizende Stoffe wie Samt, Spitze und Lack. Dagegen sahen ihre schwarze Jogginghose und ihr weißes, eng anliegendes Top eher bieder aus. Zumindest konnte man das glauben, aber der Schweiß, der sich im Rausch des Tanzens auf ihrer Haut gebildet hatte, ließ das Top langsam durchsichtig werden und ihren schwarzen BH durchschimmern. Ihre eigentlich schon relativ ausgeleierte Jogginghose war weit unter ihre Hüftknochen gerutscht und offenbarte ihren schwarzen, dazu passenden Slip.

Sie hatte ein Aufkichern unterdrücken müssen als zwei Finger eines Mannes über ihren Bauch glitten und einen Geldschein unter ihren Stoff schob.

Lächelnd warf sie ihm einen Handkuss zu und gab sogleich wieder dem vibrierenden Bass hin.

Kate fühlte sich wie in Trance und ihre Gedanken waren durchweg positiv. Ihr Blick fiel oft auf Josh, welcher viel die Tische wechselte, um bei anderen Männern mit ihren Frauen zu sitzen. Selbst, wenn er sich gerade unterhielt, hatte er immer einen Moment Zeit zu ihr zu blicken. Auch, wenn alle anderen männlichen Besucher dieses Etablissements ihre lüsternen Blicke über sie gleiten ließen, so freute sie sich doch am meisten über Josh’s. Seine wurden oft mit einem schelmischen Lächeln oder einem zugeworfenen Kuss begleitet.

Normal wäre ihr diese ganze Aufmerksamkeit unangenehm und peinlich gewesen, doch dank der weißen Tablette, die sie von Josh bekommen hatte, gefiel es ihr. Es gefiel ihr, dass sie diese Männer auf Touren brachte.

Selbst wenn ab und an ein Mann seine Hände nicht bei sich behalten konnte und sie einen Klaps auf ihren Hintern spürte, gefolgt von einem anerkennenden Nicken über ihre gute Show, freute sie sich.

Man würde sie nicht wiedererkennen, wenn man sie hier so sah. Sie erkannte sich ja selbst nicht wieder. So anzüglich die Blicke ihrer Bewunderer waren, von denen einige gar nicht mal schlecht aussahen, so anzüglich waren auch ihre Gedanken.

Ab und an erwischte sie sich sogar dabei, wie sie daran dachte, mit Josh in den Raum mit der Aufschrift Privat zu gehen, in dem ihr Retter ab und an verschwand.

Das „Zuckerstück“ hatte gehalten, was Josh ihr versprochen hatte und seit ihrem Kuss war ihr kein Gedanke mehr an Jason in den Sinn gekommen. Keine Sorgen mehr, keine Ängste mehr. Nur sie und diese Musik, der Bass und die nahezu ungeteilte Aufmerksamkeit ihres neuen Freundes.

Der Abend war lang, aufregend und auf mehrere Arten sehr heiß gewesen, als gen Ende der Nacht der Club leerer und die Beats hart und stumpfsinnig geworden waren. Letzteres schien ihrem Retter an diesem Abend wohl sehr zu gefallen, denn er saß ziemlich eingesunken und in offenbar völliger Entspannung auf einem der Ledersofas und blies rauchige Kringel in die Luft denen er fasziniert hinterher sah.

Es war tief in der Nacht - oder eher früh am Morgen als ihr Körper ihr schweißnass und zittrig signalisierte, dass ihre Grenzen erreicht waren - oder eher seit einigen Stunden bereits überschritten waren. Kate taumelte auf Josh zu, welcher sich offenbar in anderen Sphären befand, und neigte sich zu ihm herab, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Sie lächelte ihn dankbar an und er hielt sie kurz am Handgelenk fest.

„Du bist meine kleine Blume, Kate. Du bist so ... so ...“, er formte mit den Händen irgendwelche merkwürdigen Dinge in der Luft, die vermutlich nur er verstehen konnte. Dann sah er sie verzweifelt aus seinen Hundeaugen an und lächelte benebelt.

Sie lächelte ebenfalls.

„Gute Nacht, Josh.“

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  BellaChiBara
2017-10-11T15:10:00+00:00 11.10.2017 17:10
Ich muss sagen, das ist jetzt deine zweite Story die ich lese und wow. Zum einen, da ich selbst in Frankfurt wohne und es spannent, interewssant und witzig finde, mal etwas zu lesen, dass aus der direkten Umgebung kommt, zum anderen schreibst du wirklich toll.
Gern weiter so, würde gern wissen, wie es mit den Charaktären weiter gehen soll und wie sich alles weiter entwickelt.

Liebe Grüße
Bella
Von:  Stevy
2017-06-08T07:54:17+00:00 08.06.2017 09:54
Heftig, deine Ff ist unheimlich gut, erschreckend ehrlich und wirklich mitreißend. Ich hoffe das du weiter schreibst. Und ich hoffe das deine Story noch viele andere lesen, hier kann man schön sehen wie schnell man im Sumpf aus Drogen und Depressionen versinken kann.
Lob an dich für so eine gute ff


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