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Die Motus

Magister Magicae 5
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hm, ich hab mich etwas schwergetan mit den Sprachwechseln. Aktuell spielt die Geschichte noch in Russland. Victor ist ja auch Russe und redet halt Russisch. Um das dem Leser in Erinnerung zu halten, streue ich auch immer mal wieder gern russische Brocken mit ein. Jetzt springen die hier zwischen Russisch und Englisch hin und her, (wobei die Story selber auch noch in Deutsch geschrieben ist). Das wollte ich ebenfalls gern mit andeuten, aber ich fand, es hat den Lesefluss und meinen Schreibstil immens gestört, darum habe ich es dann auf ein Minimum reduziert und bin schnellstmöglich wieder ins Deutsche gewechselt. Ich hoffe, ihr könnt trotzdem folgen. :D Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ach, ich mach mal noch ein bisschen weiter. Mir ist gerade so danach. ^_^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Guess what, ihr Lieben, ich bügel euch jetzt noch ein Kapitel drüber, für heute. ^_^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, Kameraden, jetzt kommen wir langsam da hin, wo wir hin wollen. ^_^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Victor zieht Urnue mehr und mehr an sich. Strategie oder Zufall? :D Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und weiter geht´s, Kameraden. ^_^
Urnue, der kleine Moralführer, ist dezent etwas angezinkt. Komplett anzeigen

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Alltag

Victor klingelte und verschränkte dann die Hände hinter dem Gesäß, als er wartete. Es dauerte auch gar nicht lange, bis ihm jemand die Tür öffnete. Ein älterer Herr mit rosigen Wangen und hellen, wachen Augen erschien darin. Er sah trotz seines Alters wie das blühende Leben aus. Ein Beweis dafür, daß er sich erst jüngst an den Ängsten von Menschen gelabt und gütlich getan hatte. Der Mann war ein Nachtmahr und lebte, soviel Victor in Erfahrung gebracht hatte, mit seiner Familie hier. Nachtmahre waren eigentlich Einzelgänger. Sie schlossen sich selten zu Familien oder anderen Gruppierungen zusammen. Einzig und allein vorübergehend, um Nachwuchs zu fabrizieren. War die Brut aus dem Gröbsten raus, gingen sie alle miteinander wieder getrennte Wege.

„Hallo? Wie kann ich Ihnen helfen?“, wollte der Mann freundlich wissen.

„Sie sind der, der 'Würger' genannt wird?“, verlangte Victor, ohne sich vorzustellen, kühl zu wissen. Nur zur Sicherheit. Er erkannte den Kerl ja bereits von dem Foto wieder, das er von seinem Auftraggeber bekommen hatte.

„Ja.“, bestätigte der Mann etwas verwirrt. Er glaubte nicht, den Jungen mit den schulterlangen, schwarzen Haaren schonmal gesehen zu haben, und hatte auch spontan keine Idee, mit welchem Anliegen der hergekommen sein könnte.

Victor zog die Pistole hinter seinem Rücken hervor, legte den Nachtmahr mit einem präzisen Kopfschuss um und trat in die Wohnung ein. Im Flur kam ihm ein großer, kläffender Schäferhund entgegen, den erschoss Victor auch. Seine Waffe hatte einen Schalldämpfer. Er musste sich um die anderen Mieter dieses Hauses so schnell keine Sorgen machen. Er ging weiter ins Wohnzimmer, fand dort die Frau des Nachtmahrs und verpasste auch ihr ohne viel Federlesen einen Kopfschuss, ehe sie verstand was geschah. Eine Tür ging auf und ein kleiner Junge kam mit großen, fragenden Augen aus seinem Kinderzimmer, um zu sehen, was los war. Victor erschoss ihn. Seine Schritte führten ihn in das Kinderzimmer hinein, wo er auch die Schwester des Jungen noch aufspürte und gleichfalls ermordete. Emotionslos. Ohne langes Gefackel. Ein Akt von kaum 30 Sekunden und vier Genii und ein Hund waren Geschichte. Victor hatte von jedem einzelnen den Namen gewusst, das Alter, den Lebenslauf, alles, bevor er ihn kalt gemacht hatte. Dumm gelaufen, daß diese Wesen ausgerechnet Nachtmahre hatten sein müssen. Zu gefährlich für die Menschen. Deshalb wurden sie beseitigt. Victor lud als erstes die Waffe neu durch, für den Fall, daß er sie schnell wieder brauchte, und ließ sie dann unter seiner Jeansjacke verschwinden.

Als nächstes trat er an das Bücherregal und schaute nach einem bestimmten Buch, das er seinem Boss mitzubringen hatte. Es sollte sich im Besitz dieser Nachtmahr-Familie befinden. Er wurde auch erstaunlich schnell fündig. Dafür, daß das Ding so wertvoll und gefährlich sein sollte, waren keine großen Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. Wahrscheinlich hatten die Nachtmahre gar nicht gewusst, was für ein Buch das war. Wahrscheinlich hatten sie diese uralte Sprache nichtmal lesen können, in der das Buch verfasst war. Der Würger hatte es mal als Andenken aus einer aufgegebenen, aufgebrochenen, verwüsteten Wohnung mitgehen lassen, weil der Einband so schön antik und zerfleddert und die fransigen, ungeschnittenen Seiten so schön vergilbt und handgeschrieben ausgesehen hatten.

Schulterzuckend steckte Victor das kleine, dünne Büchlein mit dem biegsamen Leineneinband ein, schob im Flur die Leiche des alten Herrn aus dem Weg, die die Wohnungstür blockierte, zog die Tür im Gehen wieder hinter sich zu, und spazierte ohne Hast von dannen. Er sah auf die Armbanduhr. Gut, er lag tadellos im Zeitplan. Er hatte damit gerechnet, die Wohnung der Familie umfassender auf den Kopf stellen zu müssen, um das Buch zu finden.

Sklavenhandel

Draußen im Flur lehnte ein hagerer Bursche mit Schlappmütze an der Wand und rauchte. Pawlow, seine Nachhut. Der Kerl hielt für ihn Augen und Ohren offen und warnte ihn rechtzeitig, falls jemand kam, der das hier nicht sehen sollte. Es war schließlich unangenehm, bei so einem Mordauftrag zufällige Zeugen im Nacken zu haben. Victor ging kommentarlos an seinem Aufpasser vorbei und verschwand im Treppenhaus. Der Kerl schaute erstaunt auf seine Kippe, die er gerade erst angezündet hatte. Dieses Ding diente ihm tatsächlich als Zeitmesser. Victor war viel zu schnell wieder da. Pawlow hechtete ihm nach. „eh, u was jest kniga?“ [Hast du das Buch?]

„da.“, brummte Victor nur und marschierte ungebremst weiter.

„Okay. Dann jetzt direkt zurück zum Hauptquartier, oder?“

„Ich hab noch was zu erledigen.“

„Aber du sagtest, wir wären 14 Uhr wieder in ...“

„Mein Kontaktmann bei der Polizei hat mir gerade einen Code 4–1–K gemeldet.“, schnitt Victor ihm harsch das Wort ab und zog dabei kurz vielsagend das Handy aus der Jackentasche, um ihm klar zu machen, auf welchem Weg dieser ominöse Kontaktmann ihn kontaktiert haben könnte, ohne daß er das mitbekam.

„Du hast einen Kontaktmann bei der Polizei?“, machte der Bursche verdutzt.

„Ich bin der verdammte Vize-Chef! Du würdest staunen, wohin ich überall dreckige Kontakte habe.“

„Und was ist ein Code 4–1–K?“

„Du stellst zuviele Fragen.“, stöhnte Victor. „Für so kleine Wichser wie dich wäre es klüger, nicht zuviel zu wissen. Wer zuviel weiß, kann schnell mal verschwinden und nie wieder gesehen werden, hast du mich verstanden?“

Pawlow wurde bleich. „J-Ja, Boss. Ich verstehe.“

Victor machte kurz eine groteske Mischung aus zufriedenem Nicken und genervtem Kopfschütteln und ging voraus.

„Aber was ist denn ein Code 4–1–K?“, hakte er schüchtern nach, als er sich bemühte, hinterher zu kommen. „Ich meine, sollten wir nicht den Boss ...!? ... Okay, okay, ich bin ja schon still.“, murmelte er mit eingezogenem Kopf, als Victors böser Blick ihn beinahe pfählte. Er hatte durchaus Angst vor Victor. Der kleingeratene, zierliche Junge sah zwar süß und harmlos aus, aber er gebrauchte seine Waffe ohne Fragen zu stellen. Auch gegen die eigenen Leute, das wäre nicht das erste Mal. Und sicher hatte er es nicht grundlos innerhalb kürzester Zeit zum Vize-Boss der Motus gebracht.
 

Victor hielt den Wagen mit einem Ruck an und musterte durch die Windschutzscheibe aufmerksam das Gebäude vor sich. Er fuhr einen unauffälligen, schwarzen Toyota ohne jeden Schnickschnack, wie ihn hier gefühlt jeder fünfte hatte. Er wollte ja nicht immer und überall sofort bemerkt werden.

„Was tun wir hier?“, wollte Pawlow wissen, der auf dem Beifahrersitz hockte und sich ebenfalls interessiert das leere, abgelegene Industriegelände mit dem aufgebrochenen Absperrzaun und der baufälligen Lagerhalle dahinter ansah.

„Geschäfte.“, kommentierte Victor knapp und stieg aus. Er stiefelte um den Kofferraum herum und holte eine Sporttasche heraus, in der er noch etwas zurecht fummelte, bevor Pawlow sich ebenfalls hinausbequemt hatte. Ganz automatisch folgte sein Strohmann ihm. Nicht mehr und nicht weniger als das war er nämlich. Sein Strohmann. Und nicht etwa der Rückenfreihalter auf Missionen. Dazu wäre dieser Dilletant sowieso nicht zu gebrauchen. Victor ließ das Auto offen, nur den Zündschlüssel nahm er mit. Dann schulterte er die schwere Tasche und marschierte los. Das augenscheinlich leerstehende Lagerhaus war nicht abgesperrt. Weder Schloss noch Türsteher hielten Victor auf, als er das Gebäude betrat. Er nahm es mit einem Kopfschütteln zur Kenntnis und ging weiter. Seine Männer waren leichtsinnig und sich ihrer Sache viel zu sicher. Hier konnte ja jeder fröhlich reinspazieren, ob Freund oder Feind. Selbst wenn es nur ein paar Kinder waren, die hier draußen einen ungestörten Abenteuerspielplatz suchten, hätte das reichlich blöd ausgesehen.

Victor war auf den Anblick gefasst gewesen, aber trotzdem hielt er in der Tür kurz inne. Hier standen zahllose Käfige herum, in denen alle möglichen Kreaturen eingesperrt waren. Genii. Die wenigsten davon machten sich noch die Mühe, ein menschliches Aussehen aufrecht zu erhalten. Sie konnten das auch gar nicht mehr. Sie trugen alle ein Bannsiegel, das ihnen eine unerlaubte Verwandlung unmöglich machte. Die Motus hatte eine schwarze Liste, auf denen Wesen standen, die getötet wurden, weil sie zu gefährlich für Menschen und unkontrollierbar waren. Und es gab eine blaue Liste, mit Genii, die zwar auch nichts Gutes mit den Menschen im Sinn hatten, aber so schwach waren, daß man sie noch mittels Bannzaubern unterdrücken und zur Arbeit zwingen konnte. So wie diese hier. Es mussten dutzende sein. Alle hatten diesen leeren, gebrochenen Blick, mit dem sie teilnahmslos vor sich hinstarrten. Kaum einer hatte aufgesehen, als Victor die Tür aufgezogen hatte und eingetreten war.

„Ist das ein Sklavenmarkt?“, wollte Pawlow wissen, der ihm auf dem Fuß folgte.

„Ja. Da hinten ist das Büro. Der stellvertretende Kluster-Chef aus Polen ist da und nimmt die Sklaven in Empfang. Ich bin sicher, die sitzen gerade über den Papieren. Hier, nimm die Tasche und geh schonmal voraus. Ich komm gleich nach.“, trug Victor ihm auf und ließ das schwere Gepäckstück von seiner Schulter rutschen, um es ihm hinzuhalten. „Und gib mir dein Handy. Ich muss telefonieren. Mein Akku ist alle.“

„Wegen dem Code 4–1–K?“

„Genau.“

Bereitwillig tauschte Pawlow sein Handy gegen die Tasche ein und schleppte diese von dannen. Keine weiteren Fragen. Er war viel zu nervös, einem so hohen Tier wie dem stellvertretenden Kluster-Chef aus Polen zu begegnen. Er wusste, daß das Verbrecher-Kartell Motus Außenstellen in anderen Ländern betrieb. Aber er wusste nicht, in wie vielen Ländern, oder wo genau, geschweige denn, daß er Namen oder Gesichter von dort gekannt hätte. Dafür war er selber ein viel zu kleines Licht. Er durfte sich nichtmal an den Jagden beteiligen, wenn sie einen Genius aufspürten, der auf der schwarzen oder blauen Liste stand. Er hatte nur Kurierfahrten zu machen und abgesehen davon die Klappe zu halten. Sowas wie heute, wo er den Vize-Boss auf eine Mission in eine Nachtmahr-Höhle begleiten und ihn absichern durfte, war schon eine regelrechte Ehre.

Victor schaute dem Kerl mit dem Schlapphut noch eine Weile nach und trat dann wieder hinaus ins Freie. Er sah auf die Uhr und zählte die Sekunden. Wie lange konnte es wohl noch dauern? Sein Zeitgefühl sagte ihm, daß er Pawlow viel zu viel Vorsprung gelassen hatte. Nun ja, wohl besser als zu wenig. Ein mörderischer Rumms ließ ihn den Kopf einziehen. Das Gebäude ächzte in allen Fugen. Er drehte sich um und sah aus dem Wellblechdach eine Feuersäule gen Himmel steigen. Dort, wo das Büro gewesen war. Ein leichtes Schmunzeln. Wouw, das Ding hatte ja ordentlich gekracht. Zufrieden wählte er mit Pawlows Handy die Nummer der Feuerwehr und meldete ein in Brand stehendes Lagerhaus, während er sich auf den Rückweg zu seinem Auto machte. Er überließ es den Staatlichen, die gefangenen Genii zu befreien. Seine Arbeit hier war getan. Er verzichtete darauf, zu überprüfen, ob der Vize aus Polen überhaupt da gewesen war. Seine Quellen waren zuverlässig. Wenn die sagten, der sei da, dann war der auch da. Victor verzichtete auch darauf, sicher zu gehen, daß er den Vize wirklich erwischt hatte. Diesen Rumms hatte definitiv niemand im direkten Umkreis überlebt. Und selbst wenn doch, dieser Sklaventransport hier war so oder so geplatzt. Pawlows Telefon ließ er achtlos zu Boden fallen, nachdem er fertig telefoniert hatte, stieg in seinen Wagen und verschwand von der Bildfläche.

England

Victor ging nur mit einem knappen, russischen „Da?“ ans Handy, als er an diesem Abend angerufen wurde. Er war gerade aus der Dusche gekommen und es war direkt Zufall, daß er den Anruf noch rechtzeitig mitbekommen hatte. Mit der freien Hand rubbelte er ein Handtuch durch seine schulterlangen, nassen Haare und machte sich auf den Weg zum Sofa, wo er sich erschöpft niederplumpsen ließ.

„Sdrasdwutje, Victor.“, scholl ihm eine allzu bekannte, dunkle Stimme entgegen.

„Ruppert. Schön, von dir zu hören.“, gab Victor schlagartig gutgelaunt zurück.

„Ist die Leitung sicher?“

„Ja, ich denke doch.“

„Deine schöne Stadt hat es bis zu uns in die Nachrichten geschafft. Die sagen, in Moskau wäre ein Lagerhaus mit etlichen gefangenen Genii geräumt worden.“

„Elende Pressefreiheit!“, schmunzelte der Russe zynisch. Aber er staunte dennoch nicht schlecht, daß die sogar in England davon berichteten. Ruppert Edelig war der Finanz-Chef der Motus. Er war Bankenbesitzer und über seine Bank wurden die meisten dreckigen Geldgeschäfte abgewickelt, die die Motus so veranstaltete.

„Warst du das? War das unser Lagerhaus, in dem Polka den nächsten Sklaventransport übernehmen sollte?“

„Who is Polka?“, wollte jemand aus dem Hintergrund wissen. Auf Englisch, was Victor wieder daran erinnerte, daß er tatsächlich gerade mit jemandem aus Großbritannien sprach. Rupperts Russisch war so gut, daß man das gern mal vergaß. Der war wohl beim Telefonieren nicht alleine. Victor konnte die angenehme, mitteltönige Männerstimme, die sich da eingemischt hatte, gerade keiner Person zuordnen. Aber die Auswahl war denkbar gering. Ruppert war ein magisch begabter Mensch und hatte dadurch zwangsläufig immer seinen Genius Intimus an der Seite. Jeder magisch begabte Mensch hatte einen Genius Intimus, der von Geburt an zu ihm gehörte und an ihn gebunden war. Es konnte sich also fast nur um diesen handeln.

„The Vice from Poland.“, antwortete Ruppert dem Unbekannten.

„Why is he named Polka?“

„Mein Gott, er heißt eben Polka!“, stöhnte Ruppert genervt. „Wickelst du alle deine dreckigen, linken Aktionen unter deinem bürgerlichen Namen ab?“

„Sein Name war Polski, du Nase. Und im Gegensatz zu dir wickel ich gar keine linken Geschäfte ab!“

„Zieh jetzt Leine und lass mich in Ruhe telefonieren!“, schmollte Ruppert und brachte Victor damit zum Lachen. „Tut mir leid. Mein vorlauter Genius Intimus immer.“, wandte sich der Finanz-Chef endlich wieder Victor zu und bestätigte damit auch gleich dessen Verdacht.

„Aber Recht hat er. Der Typ hieß wirklich Polski.“, fand Victor und warf sein Handtuch über die Armlehne neben sich.

„Lebt er noch?“

„Davon gehe ich nicht aus.“, meinte Victor leichthin.

Ruppert atmete hörbar durch. „Du gehst wirklich zu weit. Sei vorsichtig, hörst du?“

„Bin ich. Ich hab ja nichts getan.“

„Das glaub ich dir auf´s Wort. Die Feuerwehr hat ein Handy dort gefunden.“

„Ja. Aber nicht meins, wie du siehst. Sonst könntest du jetzt nicht mit mir plaudern.“

„Kamen denn noch keine blöden Rückfragen aus Polen?“, wollte Ruppert besorgt wissen. Ihm war gar nicht wohl bei der Sache.

„Doch, natürlich. Der Boss hat den Polen glaubhaft gemacht, daß unser Sklavenmarkt von der Polizei hopp genommen wurde und der polnische Vize im Feuergefecht mit denen umgekommen wäre. Er hat die Geschichte gut verkauft.“

„Weiß der Boss, daß du es warst?“

„Keine Ahnung. Vielleicht vermutet er es. Er hat ja immer sofort mich im Verdacht, wenn was nicht glatt läuft. Aber beweisen kann er es mir nicht. Ich war auf Mission, habe ein paar Nachtmahre erledigt und ein Zaubereibuch für ihn einkassiert. Er hat keine Anhaltspunkte, daß ich dort gewesen bin. Alles deutet auf Pawlow hin. Sein Handy und seine Leiche sind dort, obwohl er nichts da zu suchen hatte.“

Ruppert stöhnte wieder unglücklich. „Du pokerst zu hoch, Victor. Pass bitte auf dich auf, hörst du? Irgendwann wirst du es nicht mehr schaffen, es wie einen Unfall oder eine ungünstige Verstrickung aussehen zu lassen, wenn du dem Boss ins Handwerk pfuschst. Und lass mich bloß aus dem Spiel, wenn irgendwas ist!“

„Keine Sorge. Du dort drüben von England aus kannst ja am wenigsten dafür. Wenn ich als Vize-Boss bei dir anfrage, welche Sklavenhandel gerade anstehen, kannst du mir doch die Auskunft nicht verweigern. Was ich mit dieser Auskunft dann mache, ist nicht mehr dein Problem. Aber trotzdem danke nochmal für den Tipp, daß Polski heute in Moskau war.“

Ruppert brummte etwas unwilliges, unverständliches in sich hinein. „Gut, bei dir in Russland ist es sicher schon spät in der Nacht. Ich lass dich jetzt wieder in Ruhe. Ich hoffe, du kannst nachts noch ruhig schlafen.“

„Sei ganz unbesorgt.“, grinste der russische Vize-Boss ins Handy. „Wir hören uns wieder. Bis nächstes Mal dann.“

„Gute Nacht.“, maulte Ruppert Edelig, als sei das 'wir hören uns wieder' eine Drohung gewesen, und legte auf. Man hörte seinem Tonfall an, daß er Victors Treiben alles andere als toll fand und da ungern mit reingezogen werden wollte.

Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov pappte sein Telefon neben sich auf das Sofa und schaltete den Laptop an. Er sollte besser mal in den Mediatheken der großen Fernsehsender die aufgezeichneten Nachrichten schauen, um zu sehen, wieviel wirklich an die Öffentlichkeit gedrungen war. Im Büro der Lagerhalle würde nicht mehr viel Beweismaterial sicherzustellen sein. Dort war durch die Explosion und den darauffolgenden Brand alles restlos vernichtet, inclusive der Identitäten der Leichname, wenn er Glück hatte. Aber was hieß Glück? Es war ja nicht sein Ziel, die Machenschaften der Motus zu vertuschen. Jetzt nicht mehr. Dieser Sprengsatz heute war der Auftakt gewesen. Die offizielle Kriegserklärung. Ab heute Nacht wurde es richtig interessant!

Gegenüber auf dem Couchtisch stand bereits seine gepackte Tasche mit allen wichtigen Dokumenten, Kleidung, Proviant, mit allem was man für eine schnelle Flucht und ein Verschwinden von der Bildfläche brauchte. Wenn es zum Treffen kam, würde er hier innerhalb von Sekunden weg sein und auf Nimmerwiedersehen verschwunden bleiben. Es war alles bestens vorbereitet. Es hatte begonnen.

Zentrale

Victor wollte gerade die Gestalt einer Fliege annehmen und ungesehen am Türsteher vorbeisummen. Nicht, daß er einen Grund dazu gehabt hätte. Er liebte es einfach nur, den Türsteher dann und wann ein bisschen zu ärgern. Der rühmte sich immer, daß keiner ohne seine ausdrückliche Erlaubnis an ihm vorbei in das Bürogebäude kam. Victor liebte das dumme Gesicht, wenn er aus dem Gebäude herauskam und dem Türsteher noch einen schönen Tag wünschte, dieser sich aber gar nicht daran erinnern konnte, ihn überhaupt reingelassen zu haben. Ein „Eh, Akomowarov, warte mal!“ hinderte ihn jedoch an seinem Schabernack, bevor er diesen in die Tat umsetzen konnte. Victor sah sich um, wer da nach ihm gerufen hatte.

Einer der örtlichen Unterbosse der Motus schloss zu ihm auf. Victor erinnerte sich, daß der Schutzgelder von ein paar Ovinniks kassierte, damit die Motus sie in Ruhe ließ. Ovinniks waren kleine, böse, russische Haus- und Hofgeister, die Scheunen abbrannten, wenn sie sauer waren. Sie standen auf der blauen Liste der Motus und wurden eigentlich von der Motus versklavt, wenn man ihrer habhaft wurde. Victor hatte dieser Schutzgeld-Aktion schon länger mal einen Riegel vorschieben wollen, denn der Kerl behielt die Kohle natürlich für sich. Die Motus sah keinen Rubel davon. Aber Victor hatte in letzter Zeit zuviel anderes zu tun gehabt. Nun, jetzt hatte es auch keine Priorität mehr.

„Hey, ich muss nächste Woche nach Irland.“

„Okay!? Und?“, meinte Victor nur verständnislos.

„Ich brauch dafür einen falschen Pass und eine nicht registrierte Waffe.“

Victor nickte. „Das mit dem Pass werde ich dem Boss ausrichten. Den bekommst du. Eine neue Waffe nicht. Deine kann nicht zurückverfolgt werden. Du brauchst keine neue.“

„Die kann ich aber nicht mitnehmen. Die kriege ich nicht durch die Metalldetektoren und Gepäckkontrollen am Flughafen.“

„Wozu brauchst du überhaupt ne Waffe? Ist ja nicht so, als ob wir in Irland keine Leute hätten, denen wir Aufträge geben könnten, die eine Waffe erfordern!“

„Glaubst du, ich führe Verhandlungen mit einem bis an die Zähne bewaffneten Waffenhändler und hab selber keine Knarre einstecken? Bin ich lebensmüde?“

Victor seufzte. „Schön. Ich kümmer mich darum, daß du in Irland von einem Kontaktmann eine neue zugespielt bekommst.“

„Alles klar.“ Der Mann drehte sich um und wollte sich wieder verkrümeln.

„He!“, machte Victor streng und hielt ihn an der Schulter fest.

„Was denn noch?“

„Wie wär´s mal mit einem 'danke' oder einem 'auf Wiedersehen'?“

Der Kerl musterte ihn empört von oben bis unten. „Bist du empfindlich, oder was!?“

„Ich bin hier der verdammte Vize-Chef der gesamten Motus! Ich bin dein Vorgesetzter! Und ich verlange, daß ich auch so behandelt werde!“, zischte Victor wütend und verfluchte innerlich sein viel zu harmloses Erscheinungsbild.

„Wahrscheinlich nicht mehr lange, du Genius!“, bekam er die höhnische Antwort. „Wie einer wie du überhaupt zum Vize-Chef aufsteigen konnte, ist mir sowieso ein Rätsel. Du bist ja nichtmal ein Mensch.“

Victor nahm langsam die Form eines riesigen, schwarzen Wolfes an – als Gestaltwandler konnte er das – und fletschte seine monströsen Reißzähne. Ein kehliges Knurren entrang sich ihm, das dem Außendienstler das Gesicht einschlafen ließ. Wenn er in seiner menschlichen Gestalt nicht ernstgenommen wurde, dann musste er eben eine bestialische annehmen. Ja, die Motus-Typen hielten nicht viel auf Genii, das wusste er. Aber sich vor solchen Genii schützen zu wollen, die Menschen angriffen und töteten, und perse alle Genii auf der Welt zu verachten, war schon ein gewaltiger Unterschied, der Victor entschieden gegen den Strich ging. Gut, gleich ganze Genius-Spezies artenweise auszulöschen, ohne konkreten Anlass, wie die Motus es tat, war auch nicht besser, aber in der Begründung immerhin noch nachvollziehbarer.

Der Typ hechtete schreiend in die Männertoilette, der große Wolf hinterher. Er schloss sich panisch in einer Klokabine ein. Der auf diese Weise ausgesperrte Wolf begann draußen wie in Rage zu toben, sich knurrend gegen die Holztür zu werfen, mit den riesigen, krallenbewährten Tatzen daran zu schaben und mit der langen Schnauze darunter hindurch zu schnappen. Sicher hätte er die gesamte Kabinenkonstruktion kurz und klein geschlagen, wenn nicht gleich darauf der Türsteher dazugekommen wäre und dem Ganzen mit einem „Victor, jetzt lass doch den kleinen Pisser in Ruhe!“ Einhalt geboten hätte.

Victor ließ knurrend von der Tür ab, wechselte in seine menschliche Gestalt zurück und atmete erstmal tief durch. Dann drosch er mit der Faust gegen die Klotür. „Mach auf!“

„Nein!“, wimmerte es von drinnen total verstört.

„Aufmachen, hab ich gesagt! Sonst schwöre ich bei Gott, daß ich eine Gestalt annehme, die unter der Tür durchpasst, und zu dir rein komme!“

Zögerlich wurde das Schloss der Kabine wieder herumgeriegelt. Victor stieß sie wütend auf, bevor sie die freiwillige Chance dazu bekam. „Wenn du mich das nächste Mal so blöde schräg ansiehst, weil ich ein Genius bin, hast du ausgestunken, daß das klar ist! Du bist nichtmal magisch begabt, du Heuchler! Du bist hier in der Motus gleich gar nichts wert! Ich erwarte von jetzt an immer einen ehrfürchtigen 'guten Tag' und 'guten Weg', wenn du mir vor die Nase gerätst, und ein unterwürfiges 'Dank für die Güte' für jede noch so kleine Gefälligkeit, die ich dir zugestehe! Haben wir uns verstanden!?“

Der Mann, der inzwischen zitternd auf den zugeklappten Klodeckel gesunken war, nickte nur verängstigt, ohne ein Wort heraus zu bekommen.

Victor betitelte ihn noch mit einem bösen Schimpfwort und schickte sich dann zufrieden an, zu gehen.

„Victor, war das jetzt wirklich nötig?“, wollte der Türsteher tadelnd wissen, der sich ihm kopfschüttelnd anschloss.

„Ja. ... Ach ja, kassier von ihm die Schutzgelder ein, die er seit 4 Monaten an der Motus vorbeigeschmuggelt hat!“, trug er dem Türsteher auf, so laut, daß auch der Mann in der Klokabine es noch hörte. Dann machte er sich endlich auf den Weg zu seinem eigentlichen Ziel. Dem Büro des Chefs.
 

„Ya vernulsya ...“ [Ich bin wieder da ...] Im Büro stolperte Victor beinahe über eine Leiche in ihrer eigenen Blutlache, als er herein platzte. Irgendein unbedeutender Laufbursche. Ein Kobold. Ein feiger, schleimiger Arschkriecher, der sich erhoffte, indem er der Motus half, kein Opfer derselben zu werden. Victor kannte ihn nur flüchtig.

„Gut. Hast du gestern die Mission erfüllt?“, wollte der Boss stoisch wissen, ohne von dem Glas aufzusehen, das er gerade mit Wein voll goss.

„Ja. ... Was ist denn mit dem passiert?“

„Ich hab ihn umgelegt.“

„Ich seh´s schon. Hat er´s denn verdient?“

„Er hat mir erzählt, daß wir an die Polizei verpfiffen wurden.“

„Aha?“, machte Victor erstaunt. „Überbringer schlechter Nachrichten sind dir nicht willkommen, was?“ Er stieg achtlos über die Leiche hinweg und kam ohne Eile zum Schreibtisch herüber. Ein Motusanhänger mehr oder weniger, was soll´s. Konnte ja nur gut sein.

„Nichtsnutziger Haufen unfähiger Vasallen! Wie ich sie hasse, alle miteinander! Statt den Bullen mit dem Briefumschlag abzufangen, kam er lieber direkt zu mir gekrochen, um zu petzen. Inzwischen liegt der Umschlag in irgendeiner Polizeistation!“

„Konnte er dir wenigstens noch erzählen, wer´s war, bevor du ihn gemeuchelt hast?“

Das Gesicht des Chefs verdunkelte sich wütend. Er knallte die Weinflasche auf den Tisch und sah ihm endlich direkt in die Augen. Er beantwortete das nicht. Stattdessen wandte er sich seinem Laptop auf dem Schreibtisch zu. „Ich habe eine Telefonkonferenz einberufen. Wir wollen unsere Außenstellen ja nicht in Unkenntnis lassen. Wir warten nur noch auf dich. Du als Vize-Chef solltest da nicht fehlen.“, brummte er. Das war spürbar nicht das, was er Victor eigentlich hatte mitteilen wollen.

Victor nickte nur ungerührt. Er war völlig ruhig und gelassen. Ihm schienen diese Neuigkeiten keine Bauchschmerzen zu bereiten. Wie beiläufig zeigte er das alte Magie-Buch hoch, das er der Nachtmahr-Familie entwendet hatte, und legte es dann auf den Schreibtisch. Als wolle er mit der erfüllten Mission seine Treue bekräftigen. Dann kam er mit um den Laptop herum, damit die Webcam ihn erfasste und damit auch er die anderen sehen konnte.

Der Boss war noch mit dem Anwählen aller wichtigen Funktionäre beschäftigt. Auf dem Bildschirm waren noch 5 der 8 Monitore schwarz. Ruppert Edelig war schon aus England zugeschalten. Das war ihr Finanz-Chef. Sah aus, als würde er noch im Morgenmantel stecken. Victor überlegte, wie spät es in England wohl gerade war. Ruppert hob kurz grüßend die Hand, als er Victor im Kamerawinkel auftauchen sah, der Russe gab nur ein knappes Nicken zurück. Und aus Barcelona war Ramon Djego zugeschalten, der Verantwortliche für die Waffengeschäfte und Kluster-Chef der spanischen Zweigstelle. Im dritten Bildschirm sah Victor sich selbst hinter dem Boss Vladislav stehen. Der vierte Monitor blitzte auf. Dietmar Unger aus Düsseldorf, einer der Haupt-Sklavenhändler und Leiter der deutschen Zweigstelle, der erstmal seine Katze vom Schreibtisch scheuchte, welche mitten durch das Sichtfeld trampelte. Neben der Moskauer Zentrale hatte die Motus noch Außenstellen in nicht weniger als 7 Ländern Mitteleuropas und dem Nahen Osten. Der Boss hatte in jeder davon einen eigenen Geschäftsführer eingesetzt. Er hatte alles gerne in Abteilungen. Keiner kannte die gesamte Organisation. Reine Vorsicht, falls einer dieser Kluster auffliegen sollte.

„Eh, u menya vopros.“ [Ich habe eine Frage.], meldete Ramon Djego, der die Zeit wohl gern für ein persönliches Anliegen nutzen wollte, bevor alle anderen zusammengetrommelt waren. Sein Russisch war trotz seines spanischen Akzentes tadellos zu verstehen. „Hier treiben sich ein paar Muchachos herum, die Genii abschlachten und behaupten, sie würden zur Motus gehören. Weißt du davon mehr als ich, Amigo?“

Der Boss schüttelte abgelenkt den Kopf, während er die letzte Nummer fertigwählte. Inzwischen waren noch zwei weitere Gesprächspartner in die Videokonferenz gekommen, in unterschiedlichen Stadien des Halbschlaf- und Wachzustandes. Keiner von denen war es gewohnt, früh aufstehen zu müssen, um etwa einer ehrlichen Arbeit nachzugehen. Bei denen liefen lediglich viele illegale Sachen spät in der Nacht ab. „Nein. Hab nichts gehört. Machen sie dir Ärger?“, gab er zurück.

Ramon Djego reagierte seinerseits mit einem Kopfschütteln. „Nein. Ich dachte nur, du solltest davon wissen. Sie verfolgen hier ein paar Chupacabra.“

„Klär mich auf.“, bat der Boss interessiert.

„El Chupacabra sind Ziegensauger, die wohl hauptsächlich hier in Spanien auftauchen. Diese Genii fallen über Ziegen und Schafe her. Menschen lassen sie normalerweise in Ruhe. Ich denke, da haben ein paar Bauern ihre Viehherden eingebüßt und wollen sich jetzt unter unserem Deckmantel ihre berechtigte Rache verschaffen.“

Der Boss überlegte kurz. Chupacabra standen nicht auf der 'schwarzen Liste'. Warum auch, wenn sie für Menschen keine direkte Gefahr waren? Kein Fall für die Motus oder jemanden, der sich als Motus ausgab. „Ignorier sie.“, beschloss er dann. „Wir haben gerade ganz andere Sorgen.“

Verrat

Inzwischen hatten sich alle 8 Videokonferenz-Bildschirme auf dem Laptop gefüllt. „Sdrasdwutje, towarischtschi.“, begrüßte der Boss die versammelte Führungsetage. In aller Selbstverständlichkeit auf Russisch. Alle, die mit der Motus zu tun hatten, konnten gezwungenermaßen Russisch. Das war die Einheitssprache, die für den Kontakt mit der Zentrale unumgänglich war. Sie alle waren mächtige Magier, und wie alle magisch begabten Menschen hatten sie einen Genius Intimus an ihrer Seite. Einen Schutzgeist in Fabelwesengestalt, der seinen menschlichen Schützling vor Gefahren der astralen Ebene beschützte und seine Magie unterstützte. Natürlich waren nur wenige Menschen magisch begabt und hatten deshalb einen Schutzgeist. Entsprechend waren auch die wenigsten Genii als Genii Imtimi an einen Menschen gebunden. Es gab wesentlich mehr freie als gebundene Genii.

Und dann gab es da noch Wesen, denen es im Traum nicht einfallen würde, einem Menschen zu helfen. Genii, denen es in die Wiege gelegt war, Menschen zu töten. Each Uisge, schottische Wasserpferde, waren solche Viecher. Sie zerrten Menschen unter Wasser und fraßen sie dann auf. Als Vladislav die Each Uisge auf die 'schwarze Liste' gesetzt hatte, hatte er selber noch nie in seinem Leben ein Each Uisge oder ein Kelpie zu Gesicht bekommen. Aber das brauchte er auch nicht. Er brauchte keinen persönlichen Anlass, um diese Genii zu jagen. Er war der Meinung, es gäbe keine unschuldigen Each Uisge. Es gäbe nur Each Uisge, die beim Fressen von Menschen bloß noch nicht erwischt worden wären. Vladislav hatte es zu seinem Lebensziel erklärt, solchen mörderischen Kreaturen den Kampf anzusagen, hatte Gleichgesinnte um sich geschart und ein Verbrecherkartell gegründet, das inzwischen internationale Ausmaße angenommen hatte. Sie waren alle da, vor ihm auf dem Bildschirm. Sieben Kluster-Chefs in sieben weiteren Ländern neben Russland. Jeder einzelne von ihnen ausgestattet mit einer funktionierenden Befehlsstruktur. Mit einer Riege eigener Unterbosse, etlichen dilettantischen Auftragskillern und Bannmagiern, vollen Waffenkammern, Millionen in den jeweiligen Landeswährungen und gefährlichen Beziehungen in höchste Kreise. Ja, diese seit Jahren gut geführte und stetig wachsende Organisation war inzwischen ein richtig großer Fisch. Das waren schon lange keine belanglosen, örtlichen Straßenschläger mehr. Und mit denen wollte Victor es alleine aufnehmen. Was hatte er sich dabei bloß gedacht, überlegte er einen Moment lang innerlich seufzend und stopfte die Hände in die Taschen seiner Jeans. Mit dem Hintern lehnte er sich rücklings gegen den Fenstersims, um es etwas bequemer zu haben, solange er hinter Vladislav im Kamerawinkel stehen und der Konferenz folgen musste.

„Heute Morgen hat ein Briefumschlag unbekannten Inhalts eine Polizeistation hier in Moskau erreicht.“, begann der Boss. Seine blonden Haare stachelten heute ein wenig ungebändigt in alle Richtungen weg. Normalerweise achtete er mehr auf sein Aussehen. Im Gegensatz zu sonst trug er heute auch erstaunlich legere Kleidung. Ein ärmelloses, meergrünes Oberteil, das seinen rechten, komplett zutätowierten Arm geradezu betonte, und eine kurze Freizeithose. Normalerweise trug er einen Anzug. Sah ganz so aus, als wäre er heute in ziemlicher Eile hier aufgetaucht, also musste es was verdammt großes sein, was ihm gerade Sorgen machte. „Soweit ich weiß, hat der Polizei-Chef daraufhin eine große Konferenz einberufen, in die die Botschafter der Länder England, Spanien, Deutschland, Irland, Irak, Italien und Polen einbezogen wurden. Eben jener Länder, in denen die Motus aktiv ist. Welch netter Zufall. Victor, klär die Herren bitte mal über die Zusammenhänge auf!“, bat der Boss kühl und schaute über die Schulter nach hinten zu seinem Vize.

Victor zog ein ratloses Gesicht. „Wieso unterstellst du, daß ich das kann?“

„Victor! Hör auf, mich für blöd zu verkaufen! Du bist das gewesen! Du hast dem Bullen einen Briefumschlag gegeben! Was war in dem Umschlag drin?“

Das ging ja schnell, dachte Victor frustriert. Er hätte der Polizei gern mehr Vorsprung verschafft. Wie hatte Vladislav so schnell davon erfahren können? Von dem Kobold, der da drüben neben der Tür in seinem eigenen Blut schwamm, klar. Aber woher wusste der Kobold es? Victor war sich sicher, daß er bei seinem Treffen mit dem Polizisten nicht beobachtet worden war. Nun, abstreiten brachte wohl nichts. „In dem Umschlag war Geld. Damit er uns in Ruhe lässt.“, log er also äußerst überzeugend.

„Oh ja, das glaube ich dir auf´s Wort! Das wäre das erste Mal, daß du was sinnvolles für die Motus getan hättest! Ich trau dir nicht über den Weg, du Verräter!“

„Beweise mir mal das Gegenteil.“, verlangte Victor ungerührt.

„Muss ich nicht! Du pfuschst mir schon lange genug ins Handwerk. Ich kenne dich inzwischen gut genug! Und nur die Tatsache, daß ich keinen brauchbaren Ersatz für dich habe, hat mich bisher davon abgehalten, dich als Vize-Chef abzusägen. Ich habe sonst niemanden mit deinen Fähigkeiten! Das, und die Tatsache, daß ich dich gern im Auge behalten wollte! Ich bin von Idioten umgeben!“

Auf dem Laptopbildschirm wurde empörtes Gezeter seitens der beleidigten und verratenen Geschäftsführer laut. Außer von Ruppert, der ein steinernes Pokerface zu wahren versuchte.

Victor stemmte sich vom Fenstersims weg und kam auf die andere Seite herüber, um nach der Maus des Laptops zu greifen. „Du überschätzt meine Risikobereitschaft. Glaubst du denn, ich würde mich selber ans Messer liefern, indem ich uns an die Polizei verkaufe? Wenn die Motus auffliegt, bin ich mit dran. Mir liegt was an meinem Leben!“

Der Boss schrie wütend auf und warf ihm einen Angriffszauber entgegen, der Victor rücklings gegen die Wand krachen ließ. Ihm blieb die Luft weg. Verdammt, das war unvermutet gekommen. Den hatte er nicht mehr abwehren können. Er sackte haltlos in sich zusammen. Ihm wurde gerade noch klar, daß er hier von einem Bann getroffen worden war. Er bekam partu keine Luft mehr in seine Lunge hinein und sein Herz fühlte sich an, als würde es verkrampfen. Er hatte aber keine Chance mehr, darauf zu reagieren und irgendwas gegen den Bann zu tun. Er bekam noch mit, wie der Boss sich wieder der Videokonferenz zuwandte. „Meine Herren, ich muss davon ausgehen, daß wir flächendeckend aufgeflogen sind. Sämtliche Zweigstellen, ausnahmslos. Leitet die nötigen Schritte ein. Löst die Konten auf, leert die Waffenlager, stationiert die Sklavenmärkte um, informiert eure Leute vor Ort ...“ sagte der Boss, dann schwanden Victor bereits die Sinne und alles um ihn herum wurde schwarz.

„Weg mit ihm!“, trug der Boss seinem Genius Intimus auf, der wie immer in der Ecke saß, sich mit einer Messerklinge die Fingernägel sauberpuhlte und kein Wort sagte.

Der Genius Intimus hatte sich schon sehr lange abgewöhnt, irgendwas zu sagen. Ihm waren die Absichten und Machenschaften seines Schützlings bewusst und er hütete sich, auch nur einen Kommentar dazu abzugeben, aus Angst, selbst umgelegt zu werden oder auf dem Sklavenmarkt zu enden. Also nickte er nur, steckte sein Messer weg und kam zu Victor hinüber, um ihm die Waffe abzunehmen und ihn dann aus dem Büro zu schaffen. Später würde er sich wohl auch noch um den etwas zu redseligen Kobold kümmern müssen. Er hasste es, Blutflecken wegwischen zu müssen wie eine billige Putzfrau.

Bannsiegel

Sie beobachteten, wie sich der gefesselte Gefangene auf dem Boden herumwarf und dabei schrie. Einfach nur aggressiv, unartikuliert brüllte. „Halt´s Maul!“, zischte einer der Schläger und trat Victor deftig mit dem Stiefel ins Gesicht. Daraufhin erstarb das Gezeter und Gezappel für den Moment. Aber das würde nicht lange vorhalten, wie sie inzwischen wussten. Sie hatten diesem so schmächtig aussehenden Kerlchen zwar die Hände auf den Rücken gefesselt, und die Füße, aber er zerrte so brachial daran und wand sich wie ein Besessener, daß sie tatsächlich Bedenken hatten, ob die Fesseln hielten.

„Das geht jetzt schon seit Stunden so.“, maulte der andere Schläger zwischen genervt und völlig ratlos. Langsam hatte er den widerspenstigen Kerl satt.

Der erste nickte. „Wir müssen ihm ne stärkere Bannmarke verpassen. Es reicht offenbar nicht, daß wir eine Verwandlung in seine wahre Gestalt unterbinden.“

„Der muss ein verdammt mächtiger Genius sein. Der Bannzauber, den wir ihm drübergebügelt haben, IST schon ziemlich stark. Ich finde es derwegen erstaunlich, daß er sich immer noch so dagegen auflehnen kann. Das wird sich bald legen. Er hat bloß noch zu viel Kraft übrig. Aber die wird nicht ewig reichen. Irgendwann gibt er schon auf, keine Sorge.“ Er ging vor dem Gefangenen in die Hocke und zerrte seinen Kopf an den Haaren hoch, um ihm in die Augen sehen zu können. Sein Blick wurde schon zusehens leerer. Gut. Dann würde der lästige Widerstand auch bald aufhören. „He. Wie ist dein Name?“, verlangte er harsch zu wissen.

Keine Reaktion. Der gefesselte Junge schniefte nur durch seine laufende Nase. Aber es kam kein Blut. Vermutlich war die Nase also nicht gebrochen.

„Wie. Ist. Dein. Name?“

Wieder keine Antwort.

Der Sklavenhändler rammte ihm die Faust in den Magen. „Verstehst du Russisch?“

Victor schnappte kurz erstickend nach Luft, dann gab er ein leises, resignierendes 'ja' von sich. Er war es nicht gewöhnt, so einstecken zu müssen. Und die Händler machten auch nicht den Eindruck, dieser Behandlung sehr bald müde zu werden.

„Ich befehle dir, mir deinen wahren Namen zu sagen!“

„N-Nikolai.“, murmelte er geschlagen und wandte den Blick ab. Die Bannmarke auf seinem Rücken wirkte. Er konnte den Befehl nicht verweigern.

„Und weiter? Den kompletten, wenn ich bitten darf!“

„Nikolai ... Grigorijewitsch ... Medwedew.“

„Sieh an.“, kommentierte der Händler, lies Victors Haare endlich wieder los und stand kopfschüttelnd auf.

Victor sah verstohlen zu ihm hoch. Der Name sagte dem Kerl scheinbar nichts. Das war auch gut so. Er hoffte, das würde so bleiben. Der Deckname 'Victor Akomowarov' hätte ihm sicher was gesagt. Und das hätte böse für Victor geendet. Das der Kerl nun seinen wahren Namen kannte, war zwar auch nicht schön, aber immer noch ungefährlicher. Zum Glück hatten er und der Boss auch ihre Gesichter nie groß rumgezeigt. Nur die höchste Führungsebene wusste, wie Vladislav und Victor aussahen, das Fußvolk musste das nicht wissen. Jeder, der ihn wiedererkannte oder der Polizei beschreiben konnte, war eine Gefahr. Kraftlos ließ er das Gesicht wieder auf den Boden sinken und versuchte, die Übelkeit von dem miesen Magenhieb wegzuatmen.

„Was sollen wir mit dem Kerl anstellen? Der taugt doch nicht zur Arbeit.“, befand sein Kollege mit missmutig verschränkten Armen.

„Hast du eine Ahnung, was er ist?“

„Nein. Du?“

Der erste schüttelte den Kopf und sah wieder nachdenklich auf Victor herunter. Und stieß ihn erneut mit dem Fuß an. „He. Was für eine Fähigkeit hast du?“

„Flüche und Verwünschungen.“, gab Victor leise zurück. Mehr nicht. Der Händler hatte schließlich nur nach einer Fähigkeit gefragt. Nicht nach allen.

Der andere Mann stöhnte abwertend. „Ich sag ja, der ist zu nichts nütze.“

„Nikolai, ich erlaube und befehle dir, dich zu verwandeln.“

Victor überlegte schnell, welche der Gestalten, die er auf die Schnelle fehlerfrei umsetzen konnte, für die beiden wohl am unbrauchbarsten wäre, entschied sich für die Gestalt eines Fauns und kam dem Befehl nach. Seine wahre Gestalt würde er denen bestimmt nicht zeigen, wenn es zu vermeiden ging. Sie hatten ihm ja nur aufgetragen, sich zu verwandeln. Sie hatten nicht gesagt, in was. Gott lob, die zwei Plinsen sollten echt mal lernen, Befehle präziser zu formulieren.

„Seltsam. Hast du schonmal nen Faun gesehen, der Flüche beherrscht? Ich dachte immer, Faune sind gutartig.“, warf sein Kollege wieder neunmalklug in die Runde.

„Ja. Normalerweise ist die Motus auch nicht hinter Faunen her. Wer weiß, wem der Towarisch hier auf den Schlips getreten ist, mit seinen Flüchen. Der Typ, der ihn hergebracht hat, hat uns sicher nicht grundlos aufgetragen, ihn so weit wie möglich von hier wegzubringen. Naja, mir egal. Ich lass mir was einfallen. Irgendwo werde ich den schon los. In einer Woche geht ein Transport nach Sibirien, raus auf´s Land. Ich glaube, das ist weit genug. ... Komm, lass uns was essen gehen, ich hab Hunger.“, entschied der erste und wandte sich ab, um zu gehen.

„Verkauf ihn als Musiker. Faune sollen talentiert auf der Panflöte sein.“, schlug sein Kollege vor, der sich anschloss.

„Was glaubst du, wer sich nen Musiker illegal vom Sklavenmarkt kauft?“, erwiderte der erste. Ihre Gespräche wurden langsam leiser, während sie sich entfernten.

Victor musste in seiner Faun-Gestalt bleiben, da ihm die Rückverwandlung nicht explizit erlaubt worden war. Aber das war im Moment sein geringstes Problem. Leider hatte die Verwandlung nicht dazu geführt, daß er seinen Fesseln entkommen wäre. Er hatte immer noch auf den Rücken gebundene Hände und zusammengeschnürte Fußgelenke. Der blanke Steinboden, auf dem er lag, war hart, kalt und unangenehm, aber trotzdem blieb er liegen. Er hatte vorhin, als man ihm das Bannsiegel verpasst hatte, zuviel Prügel kassiert, um sich jetzt aus eigener Kraft aufsetzen zu können. Seine Gegenwehr war vergeblich geblieben. Vladislavs Angriffszauber hatte ihn noch zu sehr aus dem Rennen genommen, als daß er auf die schnelle, kompromisslose Behandlung der Sklavenhändler adäquat hätte reagieren können. Er hatte auf ganzer Linie verspielt, so einfach war das. Er dachte an die gepackte Tasche zu Hause auf seinem Couchtisch. Er hätte nicht geglaubt, daß die ganze Sache derart schnell auffliegen und hochkochen würde, daß er es nicht mal mehr bis nach Hause schaffen würde. Er war in Vladislavs Nähe geblieben und weiter seinen Pflichten als Vize-Chef nachgekommen, um keinen Verdacht zu erregen. Er hatte erst verschwinden wollen, wenn Vladislav mitbekommen hatte, daß die Polizei ihn am Arsch hatte. Victor hatte allerdings auch nicht erwartet, daß das keine 3 Stunden dauern würde. Zu dem sorgfältig durchdachten Plan, abzuhauen und unterzutauchen, war es gar nicht mehr gekommen.

Victor spürte, wie die Macht des Bannsiegels auf seinem Rücken weiter zunahm. Dieses Siegel war wie eine Würgeschlange, die sich immer fester um einen schloss und einen langsam und systematisch erstickte, indem sie jeden Millimeter Raum einnahm, den man ihr leichtsinnig zugestand, und diesen dann nicht wieder hergab. Er konnte sich gerade noch fragen, wieso er überhaupt noch am Leben war, dann hatte er auch schon das längst erwartete und befürchtete Gefühl, ein Sack würde sich über seine Gedanken stülpen und seinen freien Willen dämpfen. Aber er hatte inzwischen auch nicht mehr die Kraft, sich dagegen zu wehren. Erschöpft musste er es zulassen.

Adelina

Die junge Frau mit den dunkelbraunen Haaren blieb kurz stehen, um ihren Einkaufskorb zurecht zu rücken, der ihr, obwohl er nur halbvoll war, unangenehm in die Seite drückte. Sie musste das schwere Ding kurz absetzen. Und sie wollte ihre Jacke fester zuziehen, weil es kalt war. Hier in den ländlichen Gegenden von Sibirien war es immer schweinekalt. Der Winter war die Jahreszeit, die gut dreiviertel des Jahres dominierte. Dabei blieb ihr Blick an einem Gitterwagen hängen, der wohl am Wegesrand liegengeblieben war. Der Besitzer versuchte gerade einen platten Reifen zu wechseln. Adelina kannte diese Käfige auf Rädern. Das war ein Sklaventransport. Das waren eindeutig Häscher der Motus. Nur die Motus betrieb Sklavenmärkte. Illegal, verstand sich. Wer es nicht wusste, konnte diese Dinger nicht von Polizeiwagen unterscheiden. Aber Adelina wusste es. Sie war das, was die Menschen eine 'Baba' nannten. Zwar keine Baba Jaga, was die mit Abstand bekannteste Sorte der Babas war, aber dennoch war sie eine Baba. Übersetzt hieß das soviel wie 'altes Weib', darum bevorzugte Adelina eigentlich andere Bezeichnungen für ihre Spezies. Aber wie auch immer, sie und ihresgleichen standen auf der 'schwarzen Liste' der Motus. Die Motus hatte schon ihren Mann, einen Chlop, auf dem Gewissen. Chlops waren die männlichen Vertreter ihrer Art. Chlops und Babas hatten zwar von natur aus schon ein menschliches Erscheinungsbild, wenn auch kein sehr schmeichelhaftes, aber dennoch war es ihnen möglich, eine etwas wohlgefälligere Tarngestalt anzunehmen, um nicht mehr wie alte Kräuterhexen auszusehen. Seit sie ihren Mann durch die Motus verloren hatte und sich deshalb bestens mit diesen Verbrechern auskannte, hatte sie keinen Tag mehr verbracht, ohne ihre Tarngestalt einer jungen Frau mit dunkelbraunen Haaren aufrecht zu erhalten. Es kursierten aktuell wilde Gerüchte, daß die Motus aufgeflogen war. Der stellvertretende Boss von diesem Haufen hatte das gesamte Kartell an die Staatlichen verraten. Es herrschte gerade Kampf und Chaos. Die Polizei hob Tag für Tag neue Nester dieser Organisation aus und überall rollten Köpfe. Landesweit, nein sogar international, hieß es. Adelina fand das gut.

Obwohl alles in ihr danach schrie, ihren Korb zu schnappen und schleunigst das Weite zu suchen, schaute sie sich den Mann im Gitterwagen genauer an. Seiner Körperhaltung sah man an, daß auch er erbärmlichst fror. Er trug eine dreckige, schwarze Jeans, ein zerwetztes, schwarzes T-Shirt, hatte verwilderte, schwarze Haare, den typischen, leeren Blick, den alle Sklaven hatten, und eindeutig blutig geschlagene Stellen im Gesicht und auf den Armen. Gut behandelt worden war der nicht. Dabei gingen die Sklavenhändler sonst nicht unnötig grob mit ihrer Ware um. Um so weniger Geld brachten die Sklaven ihnen schließlich ein. Aber trotz des geschwollenen Gesichts kam er ihr irgendwie bekannt vor. Wenn sie nur wüsste, woher.

„He, du da!“, blaffte jemand von der Seite.

Adelinas Herz setzte einen Schlag lang aus. Sie war entdeckt worden. Hatte der Motus-Häscher sie trotz ihrer Tarngestalt als das erkannt, was sie war? War sie jetzt selbst dran? Mit schreckgeweiteten Augen drehte sie sich um.

„Interessierst du dich für den?“, wollte ein zweiter wissen, der unvermittelt dazugekommen war. Der Genius Intimus des Sklavenhändlers, welcher inzwischen mit dem Wechsel seines Reifens zum Ende kam. Der Genius war gerade hinter dem Wagen hervorgekommen und hatte Adelina so gebannt in den Käfig starrend bemerkt.

Adelina bemühte sich, ihre Atmung wieder in den Griff zu kriegen, sich möglichst unverdächtig zu benehmen und wandte den Blick wieder auf den Gefangenen. „Schon möglich, ja.“, blöffte sie. Himmel, hatte sie überhaupt genug Geld für einen Sklaven, selbst wenn sie gewillt gewesen wäre, diesen armen Teufel aus Mitleid freizukaufen? Seit ihr Mann fort war und sie allein über die Runden kommen musste, sah es bei ihr immer ziemlich knapp aus. „Was genau ist er denn?“

Der Sklavenhändler gesellte sich, das Radkreuz noch in der Hand, dazu und schaute ebenfalls nachdenklich in den Käfig. „Mh, er ist ein Gestaltwandler, er wechselt immer mal zwischen Greif, Wolf und Faun. Kannst dir aussuchen, was davon seine wahre Gestalt ist. Ich kann´s dir nicht sagen.“

Sie nickte verstehend vor sich hin, ohne den Blick von dem schwarzhaarigen Kerlchen zu lassen, und überlegte. „Spricht er wenigstens Russisch?“

„Keine Ahnung. Ich hab ihn noch nicht sprechen hören. Befehle auf Russisch scheint er jedenfalls zu verstehen.“

Adelina sah ihn vielsagend an. Was war das denn bitte für ein Verkäufer?

„Ich hab ihn selber noch nicht lange, weißt du?“, verteidigte sich der Sklavenhändler. Er schien ziemlich genervt von seiner Ware.

„Was willst du denn für ihn haben, in diesem Zustand, in dem er ist?“

Der Händler brummte. „Mh, gib mir 12'000 Rubel* für den Mann, damit ich ihn los bin.“ [* = ca. 200 Euro, in Russland fast ein Monatseinkommen]

Adelina zog ein unschlüssiges Gesicht. Das war für einen Sklaven echt ein Spottpreis, aber für ihre knappe Haushaltskasse dennoch eine katastrophale Summe.

„Ist dir das etwa immer noch zu teuer?“, grummelte der Händler missgestimmt.

„Nein-nein, schon okay. Das ist ein guter Preis. Ich hab nur gerade nicht so viel bei mir. Ich komme zwar gerade vom Markt und habe gut verkauft, aber ich habe nur 10'000 Rubel eingenommen. Den Rest müsste ich erst holen ...“

„Pfeif drauf. Dann gib mir die 10'000 und nimm ihn mit.“

Adelina verengte skeptisch die Augen. Machten die Jungs gerade Ausverkauf und versuchten alles so schnell wie möglich abzustoßen, bevor die Polizei es fand? „Hat es einen Grund, daß du ihn so dringend loswerden willst?“

„Nein. Aber guck ihn dir doch mal an! Den will doch keiner. Selbst wenn er nicht so runtergekommen wäre, taugt der schmächtige laufende Meter nicht zur körperlichen Arbeit. Der hat keinen Mumm in den Knochen. Auf dem Sklavenmarkt wollten sie ihn nicht. Wenn du ihn jetzt nicht nimmst, werd ich ihn nie mehr los.“

Sie konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. „Also sind wir im Geschäft.“, stellte sie fest, in dem vollen Bewusstsein, daß sie hier gerade illegal eine Verbrecherorganisation unterstützte. Eben jene, die ihren Mann auf dem Gewissen hatte. Sie ahnte schon, daß man den armen Tropf wohl umlegen würde, wenn sich nicht bald jemand fand, der ihn endlich kaufte. Oh man, auf was ließ sie sich hier gerade ein?

„Gut, dann komm her.“, trug der Sklavenhändler ihr auf und ging voraus, um den Gitterwagen aufzuschließen. Als er in den Käfig griff und den jungen Mann grob an einem Arm heraus zerrte, begann der unter Protestgeheule zu strampeln und sich zu wehren, auch wenn es etwas halbherzig und kraftlos wirkte. Sicher lag ein Bann auf ihm, der ihn gefügig machte. Alle Sklaven wurden mit mehr oder weniger starken Bannmarken unter Kontrolle gehalten, damit sie sich nicht gar zu sehr auflehnten. „Halt still, du Plage, wenn dir dein Leben lieb ist!“, zischte der Händler sauer und rang den Sklaven radikal zu Boden, wo er ihn bäuchlings fixierte und unter sich fest hielt. Er drehte dem Jungen auch noch einen Arm auf den Rücken, damit das Gezappel endlich aufhörte. Sein Genius Intimus kam hinzu und half ihm dabei.

Adelina sah sich erschrocken nach anderen Passanten um. Sie hatte nicht gedacht, daß die Sklavenhändler der Motus ihre grausamen Geschäfte mitten auf offener Straße vor Zeugen machten. Nun, sie waren gerade alleine. In dieser kleinen Nebenstraße war außer ihnen keiner. Aber trotzdem bestand das Risiko, daß jederzeit jemand hier auftauchte. Verließen die sich etwa so sehr darauf, daß ihre Gitterwagen den Polizeitransportern zum Verwechseln ähnlich sahen und dadurch keinen Verdacht auf Gesetzeswidrigkeiten erregten?

Der Sklavenhändler hatte derweile das T-Shirt seines Gefangenen nach oben gezogen, um den Rücken freizulegen. Zwischen seinen Schulterblättern kam wie erwartet eine Bannmarke zum Vorschein. Dieser Gehorsamszwang-Zauber, der dort verankert worden war, verhinderte eine unerlaubte Verwandlung, Flucht, Auflehnung gegen den Herrn und größer angelegte Befehlsverweigerungen. Der Händler, der offensichtlich ein Bannmagier war, machte sich an der Bannmarke zu schaffen und veränderte Teile davon. Das komplexe, verworrene Schlangenlinien-Muster auf dem Rücken des Jungen verschob sich teilweise. Es schien schmerzhaft zu sein, denn der Gefangene jaulte mehrfach leise auf und wand sind. „Komm her!“, trug er Adelina dann auf, als er fertig war. „Leg deine Hand hier drauf.“

„Wozu?“, wollte die junge Frau mit den dunkelbraunen Haaren nervös wissen und kam zögerlich näher. Sie hatte irgendwie Angst, ihre Hand auf die bannmarken-gezeichnete Haut des Jungen zu drücken.

„Ich hab die Marke so verändert, daß er dir gehorcht. Ist ja jetzt dein Sklave.“

Nickend und vorsichtig, beinahe beruhigend, legte sie also ihre Hand auf seinen Rücken. Sie kam nicht umhin, zu bemerken, daß auch sein Rumpf ziemlich malträtiert und grün und blau geschlagen aussah. Der Gefangene gab erneut einen gepressten Laut von sich, als hätte man ihm heißes Metall auf den Körper gedrückt, und lehnte sich schmerzlich gegen den rüden Haltegriff auf. Wenn auch erfolglos. Die Bannmarke glühte kurz in einem dumpfen Rot auf, dann nahm sie wieder ihre alte, tätowierungsartige Erscheinung an. Damit war´s dann wohl besiegelt. Adelina hatte beinahe ein schlechtes Gewissen, auch wenn sie schon sehr konkrete Vorstellungen davon hatte, wie sie künftig mit ihrem 'Sklaven' umspringen würde. „Wie spreche ich ihn denn an?“, wollte sie wissen.

„Nikolai Grigorijewitsch Medwedew ist sein Name.“

Adelina nickte und wiederholte den Namen ein paar Mal in Gedanken, um ihn sich zu merken. An sich kein schwerer Name. Unbeholfen hielt sie dem Händler ihren Geldbeutel hin. Da drin war alles, was sie besaß. Jetzt war sie pleite und bettelarm. Aber sie war sich sicher, daß es sich noch lohnen würde. Sie fragte nicht nach irgendwelchen Papieren oder Registrierungen oder anderen Identifikationsnachweisen. Sie war sich ziemlich sicher, daß ihr neuer Hausdiener keine mehr besaß. Und sie bekam vom Händler auch keine ausgehändigt.

Der Motus-Ganove nahm das Geld dankend an, wünschte noch einen schönen Tag und sah dann zu, daß er ohne Eile seiner Wege ging. Sein Auto war ja repariert. Abgesehen davon hielten er und sein Genius sich nicht mehr lange mit Verabschiedungen oder Erklärungen auf. Er war nur froh, den nutzlosen Hämpfling los zu sein.

Adelina sah ihm nach. Sie blieb allein mit dem Jungen zurück, der sich langsam wieder in eine sitzende Haltung hochkämpfte.

„Nikolai?“, meinte sie ruhig. Sofort ruckte sein Blick zu ihr hoch. Nun gut, zumindest da hatte der Händler sie nicht angelogen. Der Name, den er ihr genannt hatte, stimmte. Kannte man den wahren Namen eines Genius, konnte man ihn mittels Magie unter Kontrolle halten – zum Beispiel mit diesen elenden Bannmarken – oder ihn sogar komplett ausschalten. Wäre das nicht sein echter Name gewesen, hätte er nicht so reagiert. „Komm, lass uns gehen.“, schlug sie freundlich vor und hielt ihm einladend eine Hand hin, um ihm hoch zu helfen.

Code-Name

„priwjet, ich bin wieder da.“, stöhnte Adelina gestresst, als sie endlich zur Tür herein kam, ihren Korb absetzte und sich aus dem Anorak zu befreien begann.

„Du bist spät. Ich war schon in Sorge.“, gab er mit einer halben Verbeugung zurück und nahm ihr die Jacke sofort dienstbeflissen ab.

Adelina ließ ihn machen. Er war jetzt seit einer Woche hier und sie hatte langsam eingesehen, daß sie ihn nicht davon abbringen würde, ständig wie ein Knecht um sie herum zu springen und sie von allen Seiten zu bedienen. „Ja, auf der Hauptstraße war echt die Hölle los. Der Sklavenhändler, von dem ich dich gekauft habe, ist tot. Der hat offenbar eine Rotkappe nicht mehr unter Kontrolle gehabt und wurde von ihr erschlagen. Samt seinem Genius Intimus. Überall Polizei-Aufgebot. Ich bin mir nur nicht ganz sicher, ob die wirklich hinter der entflohenen Rotkappe oder doch eher hinter dem Sklavenhändler her waren. Der Begriff 'Motus' fiel mehrfach. Ich glaube, der Polizei war klar, daß die es gerade mit einem toten Verbrecher zu tun haben.“

Er nickte nur emotionslos, als berühre das Thema ihn nicht im Mindesten. Obwohl er selbst Opfer dieses Sklavenhändlers gewesen war. Von seiner Verbindung zur Motus ganz zu schweigen, von der sie gar nichts ahnte. Wortlos hängte er Adelinas Jacke an den provisorischen Haken hinter der Tür. In dieser kleinen 5x6-Meter-Bretterbude war so ziemlich alles improvisiert. Sie besaß so gut wie nichts. Und was sie besaß, wirkte durchweg sehr selbstgebastelt.

„Sag mal, ist 'Nikolai Grigorijewitsch Medwedew' wirklich dein echter Name?“

„Ja.“, gab der Junge mit den langen, schwarzen Haaren unterwürfig zurück. Der Bannzauber wirkte. Er benahm sich immer wie ein ergebener Diener, selbst wenn er nur belanglos mit Adelina plauderte ohne irgendwelche Befehle erhalten zu haben. Allein schon diese nervige Tatsache, daß er ständig den Blick andächtig gesenkt hielt. Das machte sie bisweilen echt wahnsinnig. Sie wollte ihm gern in die Augen sehen, wenn sie sich mit ihm unterhielt.

„Ich komme gerade von der Meldebehörde. Ich hab mich da spaßeshalber mal nach dir erkundigt, um zu sehen, ob wir dir vielleicht wieder einen gültigen Identifikationsnachweis beschaffen können. Dich gibt es dort gar nicht.“

Nun sah er doch mal auf. Einer dieser seltenen Momente, wo doch ein Fünkchen Selbstbewusstsein bei ihm durchschlug. „Wurde ich tot gemeldet?“

Adelina schüttelte den Kopf. „Nein. Sie haben dich in der Meldekartei überhaupt nicht gefunden. Ich habe alle Schreibweisen durchprobieren lassen, die mir irgendwie eingefallen sind. Es ist, als hätte es dich nie gegeben.“

Er nickte, als wäre das nichts Neues. „Die Motus hat Verbindungen zum Meldewesen. Sie lassen gern mal Personen löschen oder mit falschen Daten überschreiben, nach denen keiner mehr suchen soll. Viele, die in die Sklaverei geschickt wurden, wirst du in der Meldekartei und im Geburtenregister nicht mehr finden.“

In Adelinas Blick blitzte es kurz verräterisch auf. Seine Antwort gab ihr zu denken. Er wusste ziemlich gut Bescheid, für einen, der nichts damit zu schaffen hatte. Aber sie beließ es vorerst dabei. „Dann wird es schwierig, dir wieder einen Registrier-Armreif zu beschaffen.“, meinte sie nur.

„Ich weiß. Das ist ja auch nicht gewollt.“, gab er zurück. Keine Frage, warum sie ihm überhaupt einen besorgen wollte. Sklaven stellten keine dummen Fragen.

„Was ist, wenn ich mit dir mal ins Ausland will?“

Er zuckte ungerührt mit den Schultern und kam vom Kleiderhaken langsam wieder zu ihr herüber. „Die, die sich illegal Sklaven halten, wissen, woran sie sind. Die nehmen keine Sklaven mit ins Ausland.“

„Okay!?“, fand Adelina ratlos und überlegte sichtlich, was ihr das sagen sollte. Dann hakte sie das Thema vorläufig ab und wandte sich dem Herd zu. Da drauf standen zwei Töpfe und köchelten vor sich hin. „Du kochst?“, wollte sie wissen.

„Ich hielt es für angebracht, etwas vorbereitet zu haben, bis du zurück bist. Um dir ein wenig Arbeit abzunehmen.“, erklärte er sich. Und da war er wieder: der unterwürfig gesenkte Blick. Schon war er wieder im Dienermodus.

„Das ist ja lieb von dir, danke.“, merkte Adelina an, um dieses Sklavendenken nicht auch noch zu unterstützen. „Was gibt es denn heute?“ Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, noch irgendwas kochbares im Haus zu haben. Seit gestern Abend waren sie doch eigentlich bei Wasser und trockenem Brot gewesen, so wie Nikolai es vorher schon vom Sklavenhändler nicht anders gewohnt gewesen war, wenn man seinen Erzählungen glaubte. Er hatte auch Geschirr gespült, entging dem Mädchen nicht. Oh, und die halb herunterhängende Tür ihres Kleiderschrankes hatte er ebenfalls repariert. Er versuchte spürbar, sich nützlich zu machen. Vielleicht konnte er ihr ja künftig dabei helfen, Tongefäße zu töpfern, die sie auf dem Markt verkaufen konnte, überlegte sie. Das war immerhin ihre einzige Einnahmequelle.

Statt zu antworten, was im Kopftopf war, folgte Nikolais Blick ihr wortlos zur Sitzecke. Als sie sich an den kleinen Tisch setzte, an dem kaum zwei Personen Platz hatten, fiel ihr Augenmerk auch endlich auf dessen Platte. Waren das etwa Scheine? Dort lag Geld offen herum. Und nicht ganz wenig, wie sie sofort sah. Sie wusste, daß es nicht ihr eigenes war. Mit gemischten Gefühlen griff Adelina nach dem Geld und legte es dann wieder zurück, nachdem sie es gezählt hatte. „Woher hast du das?“, wollte sie von ihrem Hausdiener wissen. Woher sollte es kommen, wenn nicht von ihm?

„Frag nicht.“

„Doch, ich frage dich!“

„Es ist nicht gestohlen, wenn du das glaubst.“, wich er aus.

Adelina war ein wenig erstaunt, daß der Bannzauber, der ihn unterdrückt hielt, es ihm erlaubte, Antworten zu verweigern. Oder ohne ausdrückliche Zustimmung das Haus zu verlassen. Sie hatte ihm zwar nicht wortwörtlich verboten, hinauszugehen, aber direkt erlaubt hatte sie es ihm auch nicht. Wohl würde er die Auskunft nicht mehr verweigern können, wenn sie es etwas ausdrücklicher als Befehl formulierte.

„Ich habe Haustürgeschäfte gemacht. Wir haben nichts mehr zu essen. Du hast dein letztes Geld für mich ausgegeben und bist bettelarm. Du hast nichts mehr, seit du mich gekauft hast. Du kannst es brauchen.“, tat er leichthin ab. Und sah schon wieder ruhelos aus dem Fenster. Das kannte Adelina inzwischen von ihm, nach der taggenau einen Woche, die er nun schon hier weilte. Er war die meiste Zeit irgendwie nervös.

„Ich will nicht, daß du draußen rumläufst, ohne daß ich davon weiß, hörst du?“

Ein abgelenktes Nicken, mehr nicht.

„Meine Güte, Nikolai, jetzt setz dich doch endlich mal hin. Du machst einen ja hibbelig, wenn du ständig so rumstehst oder rumläufst.“

Keine Reaktion. Er schaute weiter aus einigen Metern Sicherheitsabstand zum Fenster hinaus und fummelte dabei nervös an seinem T-Shirt-Kragen herum. Auch das tat er übrigens ziemlich oft.

„Victor!“, blaffte sie ihn an.

Mit schreckgeweiteten Augen fuhr er herum und starrte sie an. Schnappte fast nach Luft, als wäre hinter ihm ein Silvesterknaller explodiert. Hatte er richtig gehört?

Adelina nickte mit verstehendem Blick, als sie endlich seine Aufmerksamkeit hatte. „Du bist es also wirklich.“, stellte sie zufrieden fest. Sie hatte es schon eine ganze Weile geahnt. „Ja, ich weiß, warum du ständig so unruhig rumwanderst. Warum du dauernd besorgt aus dem Fenster schaust. Warum du nachts nicht schlafen kannst. Du bist dieser Victor Dragomir – noch irgendwas – Akomowarov. Der, der die Motus hat auffliegen lassen.“ Das war der Deckname, unter dem jeder, der Ahnung von der Motus hatte, ihn kannte. Seinen wahren Namen 'Nikolai Grigorijewitsch' wusste niemand, ebenso wenig wie kaum jemand wusste, wie er und der Boss aussahen. Nur die ranghöchsten Geschäftsführer hatten die Gesichter der beiden je in einer Videokonferenz oder gar persönlich zu sehen bekommen. Deshalb waren der Sklavenhändler und sein Genius auch nicht stutzig geworden. Einen Nikolai Grigorijewitsch Medwedew kannte keiner. Hätte man ihnen erzählt, daß sie da gerade Akomowarov in ihrer Gewalt hatten, hätte die ganze Situation bestimmt anders ausgesehen. „Sie suchen dich, und das weißt du. Du erwartest ständig, daß sie dich finden.“, fuhr sie fort.

Er wich verängstigt rückwärts vor ihr zurück, bis ihn ein Schrank unsanft stoppte. Sein Atem ging schwerer. Er machte akut einen sehr panischen Eindruck. Wie jemand, der ums nackte Überleben fürchtete.

Adelina setzte ein beruhigendes Lächeln auf, um ihn nicht noch weiter in Angst und Schrecken zu versetzen. „Keine Sorge. Ich hasse diese Verbrecher, und ich bin dir dankbar dafür, daß du ihnen endlich ein Ende gemacht hast. Ich will dir helfen. Ich bin auf deiner Seite.“

„Woher kennst du mich?“, wollte er argwöhnisch wissen.

„Du warst damals dabei, als sie meinen Mann geschnappt haben. Deine Leute haben dich mit 'Akomowarov' angesprochen. Ich hab dich bloß nicht gleich wiedererkannt, so wie der Sklavenhändler dich zugerichtet hat.“ Sie streckte ihm einladend eine Hand hin, damit er sich zu ihr an den Tisch setzte. „Komm her. Erzähl mir, was passiert ist. Wer genau ist hinter dir her?“

Entfesselung

„... Ich hatte Glück, daß sein Genius Intimus mich nur 'beseitigt' hat, indem er mich dem Sklavenhändler vor die Füße geworfen hat, statt mich direkt umzubringen. Der Chef der Motus hatte mit seinem Befehl, mich los zu werden, sicher anderes im Sinn. Und bestimmt wird es auch nicht lange dauern, bis er merkt, daß ich noch lebe.“, schloss Victor seine Erzählungen.

Adelina seufzte schwer. Der Gedanke, daß die Motus-Häscher ihr ebenfalls an die Gurgel gingen, wenn sie Victor hier fanden, kam ihr durchaus. Sie gehörte selbst zu einer Spezies, die auf der Schwarzen Liste der Motus stand. „Ich würde dich wahnsinnig gern befreien. Aber ich werde dich wohl schwerlich zu einem Bannmagier schleppen können, und ihn bitten können, deine Bannmarke wieder zu lösen, damit du frei bist. Mit den blöden Fragen, die dabei aufkommen, werden wir nicht umgehen können. Kann man so eine Bannmarke auch mechanisch zerstören? Ohne Magie? Indem man das Muster unterbricht, oder sowas in der Art? Ich meine, wenn das Muster durch eine Verletzung beschädigt werden würde ... durch einen Messerschnitt beispielsweise ...“

„Kommt auf das Muster an. Es gibt ein paar, bei denen das möglich ist.“

„Hast du Ahnung davon?“

„Ja. Ich bin selbst Bannmagier.“

Adelina lächelte begeistert und wuselte los, um ihren Schrank zu durchwühlen. Sie holte nach einigem Suchen eine alte Sofortbild-Kamera hervor. „Zeig es mir mal.“

Einverstanden drehte Victor ihr seinen Rücken zu und zog seinen Pullover hoch.

„Die Bildrohlinge da drin sind uralt, ich hoffe sie funktionieren noch.“ Sie machte ein Foto von seinem Rücken und wartete, bis es fertig entwickelt war. Das dauerte immer 1 – 2 Minuten. Das Muster war erstaunlich gut zu erkennen. Leider sehr klein, natürlich. Aber man konnte jede Linie deutlich unterscheiden. „Hier.“, meinte sie, nachdem sie es eine ganze Weile ergebnislos studiert hatte, und hielt es ihm hin. Sie selber hatte ja keinen Schimmer davon. Für sie waren das böhmische Dörfer. Hätte auch ein Mandala von einem Künstler sein können.

Victor musterte das Foto nachdenklich. Im Gegensatz zu ihr konnte er in den Linien lesen wie ein Geograph in einer Landkarte. „Hm. Das wird aufwändig. Aber nicht unmöglich. Das ist eines dieser Siegel, die man per Hand brechen kann.“, urteilte er mit einer Emotionslosigkeit, die ihm selber Sorgen machte. Die Chance auf Freiheit, eine Komplizin die ihm zur Flucht verhelfen wollte, das hätte ihn eigentlich in helle Aufregung und Euphorie versetzen müssen. Aber er empfand recht wenig dabei. Ob das auch an diesem verfluchten Bannsiegel lag, das er auf dem Rücken hatte? „Wieviele Fotos hast du noch in der Kamera?“

„Nicht mehr viele. Zwei oder drei, vielleicht.“

„Das Muster wird sich verändern. Wenn du eine Linie mit einem Messerschnitt unterbrichst, wird sich ein Umweg oder eine Überbrückung aufbauen, um den Fortbestand des Zaubers zu gewährleisten. Du musst mir zeigen, wie die Bannmarke danach aussieht, damit ich dir die nächste Stelle zeigen kann, die unterbrochen werden muss.“

„Ist das so kompliziert? Ich hatte gehofft, einmal grob mit dem Messer quer drüber würde reichen. Ich hatte eigentlich nicht vor, dich recht viel und lange zu quälen.“

„Nein, das bringt keine Punkte. Wenn du nicht die richtigen Linien an der richtigen Stelle erwischst, bauen sich sofort Überbrückungen auf.“
 

Adelina schaute im Kerzenlicht nochmal prüfend auf das Blatt Papier, auf dem Victor die Bannmarke in Übergröße abgezeichnet und die Bruchstellen markiert hatte. Elektrisches Licht hatte sich hier draußen, weit abseits der Zivilisation, noch nicht durchgesetzt. Ein paar der Familien hier hatten lediglich Benzinmotoren als Stromgeneratoren, aber so reich war Adelina nicht. Dann holte sie Luft und legte los. Setzte die Klinge auf seinem Rücken an. Aber sie zuckte erschrocken zurück, als sie mit dem Messer nur ganz leicht seine Haut anritzte und er sofort einen lauten, gequälten Aufschrei ausstieß.

Victor rang ein paar Sekunden um Atem, bis er sich wieder eingekriegt hatte, und verbarg das Gesicht in der Armbeuge. Er lag ja sowieso gerade vornübergebeugt auf der Tischplatte, damit Adelina gut an ihn herankam. „Woar! Alter! Aua!“, jammerte er dann theatralisch.

„Ist alles okay?“, wollte die junge Frau schockiert wissen. „So heftig wehtun wollte ich dir ja eigentlich nicht.“

„Nein, schon in Ordnung. Eine magische Bannmarke per Hand zu lösen, tut wirklich so weh. Das ist mehr als eine oberflächliche Hautverletzung. Da sind noch ganz andere Gewalten im Spiel. Darauf hätte ich gefasst sein sollen. Mein Fehler.“, gestand er und versuchte sich wieder zu entspannen. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Das kann ja heiter werden ...“, murmelte sie und versuchte sich zum Weitermachen zu zwingen, trotz der offensichtlichen Folter, die sie ihm damit zufügte. Sie redete sich ein, daß es ja nur zehn Schnitte waren. Auf jeder Seite des symmetrisch aufgebauten Musters fünf. Danach würde sie ohnehin ein neues Foto machen und ihm zeigen müssen, wie sich die Bannmarke inzwischen verändert hatte. Das schafften sie schon. Sie setzte den nächsten, kurzen Schnitt in das Muster – diesmal nahm er es etwas gefasster hin – und beobachtete irritiert, wie ein paar der blauen Linien auf seinem Rücken zu verrutschen begannen. Wie ein Tattoo, das lebte und sich bewegte. Echt gruselig. Sie wartete, bis das Bannsiegel wieder zur Ruhe gekommen war und nahm dann Maß für den nächsten Schnitt. Victor wand sich dermaßen qualvoll unter der Tortur, daß sie nach dem sechsten Schnitt aufgab. Er war kaum noch in der Lage, so still zu halten, daß sie überhaupt präzise genug an ihm hätte herumpfuschen können, selbst wenn sie gewollt hätte. „Okay, das reicht für heute. Du hast genug.“, entschied Adelina, pappte ein Taschentuch auf seine zerschnittene Bannmarke und klebte es mit Pflaster fest, damit der notdürftige Wundverband nicht wieder abfiel. Victor brach förmlich auf der Tischplatte zusammen, sofern man das so nennen konnte. Aber das schlagartige Entweichen sämtlicher Körperspannung hatte schon arg was von Zusammenbrechen. Nur ein leichtes Zittern blieb nach der krampfhaften Anspannung nun zurück.
 

Adelina zog ihn sanft von der Tischplatte hoch. „Komm, es ist schon spät, lass uns schlafen gehen.“, schlug sie vor und führte ihn an der Hand hinüber zum Bett. In ihrer kleinen, undichten Bretterhütte hatte sie nur das eine Bett und musste es sich jetzt zwangsläufig mit Victor teilen, wenn sie ihn nicht auf dem blanken Boden schlafen lassen wollte. Und das wollte sie nicht, auch wenn es verflucht eng war. Sie drückte ihn rücklings auf die Matratze und kletterte auf ihn. Mit einem überlegenen Lächeln beugte sie sich herunter und hauchte einen Kuss auf seine Halsseite, während sie mit rechts sein Handgelenk festhielt, um etwaige Gegenwehr zu unterbinden, und mit der linken verführerisch über seine Brust und seinen Bauch abwärts strich. Dann sah sie ihm aufmerksam ins Gesicht. Er wand sich zwar ein wenig unbehaglich, wehrte sich aber nicht. Er konnte es nicht. Nur ihrem Blick hielt er nicht mehr stand. Das war so ein interessantes Gefühl. Dieser Genius hier war mächtig. Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov war ihr ein Begriff, schon vorher. Er besaß gewaltige Fähigkeiten. Er war nicht grundlos zur rechten Hand des Motus-Bosses geworden. Es hatte durchaus seinen Reiz, jemand so Mächtigen kontrollieren zu können. Aber sie verwarf den Gedanken mit einem Lächeln wieder. „Tut mir leid. Du wirst gerade mit einem starken Gehorsamszwang gefügig gemacht, das habe ich nicht bedacht. Ich will dir nicht zu nahe treten.“ Sie pustete mittels eines magischen Luftstoßes die Kerzen auf dem Tisch aus, legte sich neben ihm nieder und kuschelte sich an. Nicht ohne aberwitzig eine Hand unter seinen Pullover zu schieben und seine nackte Haut zu befingern. „Merkst du schon eine Veränderung? Lässt der Bann nach?“

„Ein wenig. Ich spüre Kräfte durchsickern, die ich nicht haben sollte, wenn der Bann richtig wirken würde. Aber frei bin ich noch lange nicht.“

„Das kriegen wir noch hin. Schlaf gut. ... Dragomir.“
 

Victor zog etwas widerwillig die Haustür auf, als es ein paar Tage später klopfte. Er hatte schon durch das Fenster gesehen, wer da gekommen war. „Hey, altes Mütterchen, was führt dich denn wieder hier her?“

„Ich will immer noch wissen, wo mein Sohn ist!“, brachte sie es gleich auf den Punkt, ohne umschweifende Begrüßung.

„Ach Großmutter, ich hab dir doch gesagt, daß ich dir nicht helfen kann.“, seufzte er.

„Ich habe mehr Geld dabei.“, meinte sie enthusiastisch. Sie war eine Bekannte von Adelina und hatte irgendwie spitz gekriegt, daß Victor ein bisschen was über die Motus wusste. Die Motus hatte ihren Sohn als Sklaven weggeschleppt – in diesem Gebiet hier waren die Verbrecher sehr fleißig gewesen – und sie hatte gehofft, Victor könnte ihr sagen, ob ihr Sohn noch lebte und wo er war. Mit ihr hatte er das besagte Haustürgeschäft gemacht, über das er Adelina neulich nichts näheres erzählen wollte. Geld gegen Informationen. Allerdings hatte er da auch noch nicht geahnt, daß Adelina über seine Motus-Vergangenheit bereits bestens im Bilde war. „Wenn ich dir mehr Geld gebe, kannst du es mir dann sagen?“, bat sie hoffnungsvoll.

„Bitte, behalt dein Geld. Darum geht es nicht. Ich weiß wirklich nicht mehr als das, was ich dir schon gesagt habe. Die Motus hat Ovinniks wie euch in der Regel nach Polen gebracht. Dort wird auch dein Sohn sein. Mehr weiß ich wirklich nicht. Der Sklavenhandel lag nicht in meinem Aufgabenbereich.“

„Aber du kennst doch bestimmt jemanden, der es weiß!“, bohrte die alte Frau weiter und hielt ihm, wie schon letztes Mal, das Foto ihres vermissten Kindes vor wie einen Durchsuchungsbefehl, um seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen.

„Wenn dir dein Leben und deine Freiheit was wert sind, dann läufst du besser keinem von denen vor die Nase.“, entgegnete Victor mild und um Vernunft bittend. „Die Polizei ist gerade dabei, die Motus systematisch auszuheben. Gib ihnen noch etwas Zeit, sicher finden sie deinen Sohn sowieso bald, okay?“, versuchte er sie zu beruhigen.

Das alte Mütterchen zog ein trauriges Gesicht, gab sich aber geschlagen. „Nagut. Aber bitte denk nochmal darüber nach. Wenn dir noch irgendwas einfällt, dann sag es mir, ja? Versprich mir das!“

„Natürlich, versprochen.“, lächelte Victor versöhnlich.

Sie nickte und trabte dann mit einer knappen Verabschiedung und hängendem Kopf davon. Sie bot einen wirklich mitleiderregenden Anblick.

Victor schloss die Tür wieder und verfolgte vom Fenster aus, ob sie auch wirklich verschwand. Letztes Mal hatte sie sich noch fast eine halbe Stunde lang voller Verzweiflung vor Adelinas Haus herumgetrieben. Seine Augen weiteten sich entsetzt, als er einen Blick die Straße hinunter warf und draußen die beiden Schläger sah, die gerade Haus für Haus absuchten. Er erkannte sie auf der Stelle. Handlanger der Motus. Einer spähte gerade durch ein Fenster ins gegenüber liegende Haus hinein und schirmte links und rechts mit seinen Händen die Augen ab, um etwas zu erkennen. Erfolglos. Dann kamen sie herüber. Victor sah sich hektisch in der Hütte um. Eingeschossig. Nur ein Raum. Nur eine Tür nach draußen. Wo sollte er hin? Die würden ihn sofort finden, wenn sie auch nur durch´s Fenster sahen. Gedankenschnell hechtete er zur Tür und presste sich mit dem Rücken dagegen. Der einzige tote Winkel zu den beiden Fenstern links und rechts, sofern man Glück hatte und den Bauch einzog. Da bemerkte er auch schon den Schatten, als der erste der beiden Schläger sein Gesicht gegen die Fensterscheibe drückte. Blind angelte Victor nach dem Riegel neben seiner Hüfte und schob ihn vor, um die Tür zu verbarrikadieren. Keine Sekunde zu früh. In diesem Moment rüttelte der andere Motus-Schläger bereits prüfend an der Tür.

„Hier ist er nicht.“, hörte er die raue Stimme durch die Brettertür hindurch.

„Nein, da ist keiner drin.“

„Scheiße.“

Die beiden zogen hörbar weiter zum nächsten Haus.

Victor sackte beim erleichterten Durchatmen beinahe in sich zusammen. Das war knapp gewesen. Ein paar Augenblicke herrschte Ruhe. Dann ließ ihm ein erneutes Rucken an der Tür beinahe das Herz stillstehen. Dem vergeblichen Rütteln folgte ein Klopfen. „Hey, ich bin´s, mach mir auf.“

Victor erkannte Adelinas Stimme und öffnete ihr, noch immer hyperventilierend.

„Gott, bin ich froh, daß du okay bist. Die beiden Kerle suchen dich. Ich hab sie schon drüben von der anderen Straßenseite aus gesehen.“, begrüßte sie ihn und fiel ihm dabei fast um den Hals.

„Ja, ich weiß.“

„Die laufen mit einem Foto von dir durch die Gegend und fragen die Passanten, ob sie dich irgendwo gesehen haben.“

„Dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie mich hier finden.“, bemerkte Victor nüchtern.

Adelina ließ an beiden Fenstern die schweren Vorhänge herunter. „Lass mich die Arbeit an deiner Bannmarke beenden, bevor sie zurückkommen.“, entschied sie, zündete ein paar Kerzen an, um wieder etwas zu sehen, und griff nach dem Messer und der abgezeichneten Vorlage des Bannsiegels mit den markierten Unterbrechungen. Es war bereits die dritte, nach erfolgten Änderungen neu abgezeichnete Skizze.

„Adelina, warum tust du das?“

„Was?“

„Mich befreien! Du bist des Todes, wenn die falschen Leute davon erfahren!“

„Ich weiß. Zieh den Pullover hoch, Dragomir.“, unterband sie weitere Diskussionen.

„Und warum nennst du mich neuerdings immer 'Dragomir'?“, hakte er nach, während er ihrer Aufforderung nachkam.

„Weil ich dein Freund bin. Ich will dich nicht 'Victor' nennen, so wie all deine Feinde es tun. Bitte pass auf dich, hörst du? Sieh zu, daß sie dich nicht wieder einfangen. Lass dich niemals unterkriegen, versprich mir das!“, bat sie und setzte den ersten Schnitt, um eine der Linien der Bannmarke zu unterbrechen.

Victor war zu beschäftigt damit, einen Schmerzschrei zu unterdrücken, um zu antworten.

Verfolgung

Es klopfte harsch an der laveden Brettertür. Dann rüttelte jemand von außen daran, aber sie war versperrt. Ein vernehmliches Fluchen. Adelina ignorierte es. Sie wusste, wer das war, und gedachte nicht zu öffnen. Es klopfte wieder, noch herrischer diesmal.

„Aua ...“, jappste Victor. Die Schnitte taten schon lange nicht mehr so weh wie am Anfang, als das Siegel noch mit voller Kraft gewirkt hatte, aber trotzdem wurde das scharfe Ziehen auf seinem Rücken langsam wieder unerträglich.

„Warte, nur noch eins, wir sind gleich fertig.“, kündigte Adelina stoisch an und tupfte mit einem Zellophan die blutigen Striemen auf seinem Rücken ab.

„Aufmachen! Wir wissen, daß ihr da drin seid!“, brüllte es von draußen. Wieder der Versuch, die Tür aus den Angeln zu reißen.

Adelina ignorierte es auch weiterhin. „Halt still.“, trug sie Victor lediglich auf. Obwohl sie unmittelbar vor dem Finale stand und unverkennbar unter Druck arbeitete, ließ sie sich nicht aus der Ruhe bringen. Wieder setzte sie das Messer auf dem vermaledeiten Bannsiegel an und unterbrach die letzte Linie, die er ihr auf der Skizze vorgezeichnet hatte. „Oh!?“, machte sie dann plötzlich.

„Was ist?“, wollte Victor matt wissen und schielte über die Schulter zu ihr nach hinten. Er hatte plötzlich das Gefühl, noch nie bei klarerem Verstand gewesen zu sein als jetzt. Irgendwas hatte ihn spürbar losgelassen und freigegeben.

„Das Siegel verblasst ... jetzt ist es ganz weg.“

„Super, dann ist der Zauber gebrochen.“

Die Schläger der Motus traten die Tür in diesem Moment ein. Holzsplitter regneten in die kleine Hütte hinein. Sowohl Victor als auch Adelina fuhren hektisch zu ihnen herum. Sie saßen in der Falle. Die Hütte hatte nur die eine Tür. „Akomowarov.“, meinte einer. Es klang wie eine Feststellung. „Du lebst ja wirklich noch. Ich hab den Boss für bescheuert gehalten, als er uns losgeschickt hat.“

„Aber nicht mehr lange. Wir machen dich kalt. Du wirst dir wünschen, du wärst nicht mit deinem dreckigen Leben davongekommen, Verräter.“, fügte der andere, sein Genius Intimus, mordlüstern an und kam hereingestapft.

„Ich habe euch nicht hereingebeten! Raus aus meinem Haus!“, zeterte Adelina und ließ ihre menschliche Tarngestalt fallen. Ihre braunen Haare wurden grau und verworren wie Unkraut. Ihre hübsche Nase wurde zu einem unbeschreiblichen Zinken. Ihre schlanke Statur zerfloss zu einer untersetzten, fetten Kugel, buckelig verkrümmt und mehr breit als hoch. „Hexenhaus, auf die Beine!“, befahl sie. Der Boden begann zu schwanken und zu ächzen und durch die immer noch offenstehende Tür sah man, wie der Rest des Dorfes nach unten wegsackte, als hätte sich die gesamte Hütte in die Lüfte erhoben.

„Bei allen guten Geistern!“, krächzte Victor schockiert und versuchte sich irgendwo festzuhalten. „Eure lebenden Hütten auf Hühnerbeinen, wie es die Legenden erzählen, gibt es wirklich?“

„Shit, die Alte ist eine Baba!“, keuchte der Motus-Schläger überfordert.

Das Haus begann schwankend herumzulaufen. Dabei fielen drei der brennenden Kerzen um. Die Tischdecke fing sofort Feuer. In der engen Hütte herrschte heilloses Chaos, teils aufgrund der vielen Leute auf zu wenig Raum, teils aufgrund des sofort dichter werdenden Rauchs. Victor hustete, als ihn der Qualm des brennenden Tisches im Hals kratzte. Das Feuer griff sofort auf andere Holzmöbel der kleinen Hütte über. Wenn nur wenigstens der Boden aufgehört hätte, zu schwanken wie ein Schiff bei Wellengang. Aber die Hütte auf Hühnerbeinen rannte – jetzt wo das Feuer sie erfasst hatte – erst recht hektisch und planlos in der Gegend herum. „Adelina, raus hier!“, brachte er irgendwie hervor, aber die war in eine wilde Prügelei mit dem Genius Intimus des Motus-Schlägers verwickelt und dachte gar nicht daran. Sie versuchte immer wieder mit dem Messer auf den ungebetenen Gast einzustechen, mit dem sie zuvor an Victors Bannsiegel gearbeitet hatte. Victor stürzte sich zur Tür hinaus, die sich gut drei Meter über dem Boden befand, und nahm noch im Fall die Gestalt eines Greifen an, um sich mithilfe der Flügel abfangen zu können. So wie er das Hexenhaus verlassen hatte, krachte dieses aufgescheucht und orientierungslos in ein weiteres Haus des Dorfes und verschwand mit selbigem in einer gewaltigen Explosion. Das musste eines der Häuser gewesen sein, die einen Benzinmotor als Stromgenerator hatten. Da war eine ganze Menge Benzin in die Luft geflogen, das roch man meterweit. Die Druckwelle der Explosion fegte Victor ein gutes Stück weit davon. Er hatte arge Probleme, sich bei dem ungewollten Überschlag noch irgendwie in der Luft zu halten und nicht abzustürzen. Schockiert um Atem ringend ließ er sich auf einem wahllosen Häuserdach nieder und schaute aus der Ferne das Spektakel an. Das Feuer schien augenblicklich auf die halbe Siedlung überzugreifen. Hier waren ja auch fast nur knochentrockene Holzhütten und etliche, strohgefüllte Scheunen. Kein Wunder. Fassungslos starrte er in die Flammen. Die Motus-Häscher hatten das ganz sicher nicht überlebt. Adelina allerdings auch nicht. Leute rannten schreiend herum und riefen nach Wasser und Eimern. Als unten auf der Straße jemand „Eh, da ist ein Greif, der kam aus der Hexenhütte!“ brüllte, zu Victor hinaufzeigte und damit die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte, entschied er, schnellstens zu verschwinden. Er hob ab und flog los. Einfach nur blind in irgendeine Richtung, ohne Sinn oder Ziel. Nur weg von hier, immer noch völlig verwirrt und überrannt von den Ereignissen. Es war alles so schnell gegangen. Victor sah sich das Inferno noch einmal aus der Ferne aus der Luft an. Und überlegte, als er endlich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, wo er hin sollte. Die Motus hatte gute Aufspürer. Die fanden einen, wenn sie wirklich wollten. Er würde nirgends sicher sein. Zumindest nicht sehr lange. Die Trauer um Adelina musste warten. Entschlossen zog er am Himmel einen Halbkreis und nahm einen gezielten Kurs. Er hatte einen weiten Weg vor sich. Aber zuerst musste er was zum anziehen finden. Er hatte sich bei der Verwandlung in einen Greifen sämtliche Klamotten zerrissen. Die waren nicht magiedurchwirkt gewesen und hatten die Verwandlung nicht mitgemacht. Solange dieses Problem nicht geklärt war, konnte er wohl kaum in seine menschliche Gestalt zurückkehren. Nebenbei wurde ihm bewusst, daß er sich nichtmal mehr bei Adelina für das Brechen des Bannsiegels und seine Befreiung hatte bedanken können.
 

Victor war noch keine halbe Stunde geflogen, als er schon wieder landen musste. Sein zerschnittener Rücken tat bei jedem Flügelschlag barbarisch weh. Nur weil er eine andere Gestalt angenommen hatte, waren seine Wunden nicht gleich verheilt und vergessen. Er hatte genug Tortur für einen Tag. Und es wurde ohnehin langsam dämmrig. Die Sonne war schon untergegangen. Bald würde er gar nicht mehr sehen, wohin er überhaupt flog. Erschöpft und mürbe von den Schmerzen ging er in der Nähe eines Rübenfeldes zu Boden. Die Bauern ließen nicht selten ihre Gerätschaften auf den Feldern, um sie nicht jeden abend heim und jeden früh wieder hinausschleppen zu müssen. Vielleicht hatte ja irgendein Bauer auch eine Jacke oder ähnliches hier vergessen, die er sich rotzdreist einverleiben könnte. Leider wurde er enttäuscht. Es war immerhin schon Winteranbruch, der Boden fror zunehmend ein und die Felder waren abgeernted und lagen brach. Nichtmal Ackerkraut wuchs hier, in dem man sich ein vor Blicken geschütztes Nachtlager hätte herrichten können. Hier hatte sich augenscheinlich schon länger kein Bauer mehr sehen lassen.

Mit einem unschlüssigen Seufzen wandte sich der Greif der Vogelscheuche zu, die mitten auf dem Feld ihren unermüdlichen, tagtäglichen Dienst tat. Sollte er wirklich? Die Vogelscheuche hatte zwar einen Kapuzenmantel und eine Hose, aber beides war hoffnungslos verdreckt, zerschlissen und so verwittert, daß man nicht mal mehr die Originalfarbe des Stoffs erkannte. Wer weiß, wieviele Jahre diese Klamotten schon hier draußen Wetter und Jahreszeiten ausgesetzt gewesen waren. Er würde darin aussehen wie der letzte Bettler. Aber, so gesehen, eigentlich war er das ja auch. Was sollte es. Besser als nichts. Er konnte nicht in seiner Greifengestalt bleiben, die war zu groß und zu auffällig. Er musste wieder als Mensch rumlaufen, wie alle anderen auch, wenn er eine Chance haben wollte, den Jägern der Motus zu entgehen.

Nachdem Victor sich zurückverwandelt und sich die muffigen, löchrigen Lumpen der Vogelscheuche übergeworfen hatte, schaute er sich um. Inzwischen war es fast dunkel. Die schwarze Sillhouette des umliegenden Waldes hob sich kaum noch vom nachtblauen Himmel ab. In den Baumwipfeln klebte ein großer, fast voller Mond wie ein leuchtendes Auge, der Victors Blick sofort gefangen nahm und ihn in einen regelrechten Bann schlug. Fasziniert starrte er den Mond an und genoss die beruhigende Wirkung. Die Erinnerung an Adelina, die Angst vor seinen Verfolgern, der Plan was als nächstes zu tun war, alles verblasste einen Moment lang ...
 

Als Victor endlich wieder zu sich kam, musste es schon Stunden später sein. Er stand immer noch weithin sichtbar mitten auf dem Feld und der Mond war bereits über den halben Himmel gewandert. Eben gerade verschwand er hinter einer dicken Gewitterwolke und entzog sich damit Victors Blick, was auch der Grund dafür war, daß Victor endlich aus seiner Starre wieder aufwachte. „Oh, man.“, stöhnte er und griff sich an den Kopf. Er hatte total schwere Beine und einen steifen Nacken vom stundenlangen, reglosen Herumstehen. „Ich muss endlich irgendwas gegen meine Mondsucht tun. Die wird mich noch Kopf und Kragen kosten.“, murrte er leise zu sich selbst. In den endlosen Stunden, die er hier de facto ohnmächtig herumgestanden hatte und an die er keinerlei Erinnerung mehr hatte, hätte ihm sonstwas zustoßen können. Er hätte nichtmal mitbekommen, wenn er von ein paar Häschern der Motus gefunden und gefangen worden wäre. Das war echt eine üble Schwäche, die er da hatte.

Wie zur Strafe klatschte ihm auch schon der erste Regentropfen mitten auf den Kopf. Der Wind zerrte an seiner 'neuen' Kleidung. Das versprach eine stürmische Nacht zu werden. Er sollte sich schnellstens irgendwo einen Unterschlupf suchen, dachte er. Und obwohl alles in ihm vor Erschöpfung danach schrie, sich endlich zu setzen, spazierte er steifbeinig Richtung des kleinen Dorfes los, in dem wohl die Bauern lebten, denen diese Felder hier draußen gehörten. Er sollte sich auch dringend eine Mütze voll Schlaf gönnen und etwas gegen seinen knurrenden Magen tun, wenn seine Flucht weiterhin erfolgreich sein sollte. Schlimm genug, daß er fast die ganze Nacht auf dem Feld rumgestanden und den Mond angestarrt hatte, statt sich zu erholen. Allerdings wusste er jetzt schon, daß er sowieso nicht würde schlafen können. Er war viel zu paranoid, jeden Moment gefunden zu werden. Die Motus war definitiv hinter ihm her. Das die wussten, daß er noch lebte, und bereits die ganze Gegend nach ihm durchkämmten, wusste er ja schon seit dem Überfall auf Adelinas Haus. Es würde ihn auch sehr wundern, wenn die kein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hätten. Und die Bauern hier draußen in der sibirischen Pampa waren alle bettelarm, keiner von denen würde zögern, ihn gegen ein Kopfgeld zu verraten. Nicht mal vor denen war Victor also sicher.

Ruppert

Endlich kam das Meer in Sicht. Victor ließ sich mit ausgebreiteten Flügeln zu Boden gleiten, landete an einem Waldrand, nahm wieder seine menschliche Gestalt an und zog die Hose und den Kapuzenmantel an, die er in seinen Klauen getragen hatte. Sein Rücken brachte ihn gerade wieder um, er brauchte eine Pause. Über das Meer würde er es heute nicht mehr schaffen. Da draußen konnte er ja nicht einfach irgendwo zwischenlanden. Wenn ihm dort draußen die Kraft ausging und er ins Wasser fiel, würde er erbarmungslos absaufen. Er wollte es nicht drauf anlegen, unter Echtbedingungen zu testen, ob seine gestaltwandlerischen Fähigkeiten so weit reichten, sich funktionstüchtige Kiemen wachsen zu lassen. Es ärgerte ihn sowieso, daß seine Reise so lange dauerte. Diese Strecke, die er unter normalen Umständen in einigen Stunden bewältigt hätte, kostete ihn jetzt schon gute 3 Tage. Die Tatsache, daß er besiedelte Gebiete möglichst umging, war dabei nichtmal der ausschlaggebende Punkt. Alles nur, weil seine Verletzungen ihn zu häufigen und langen Pausen zwangen und er deshalb nicht recht vorwärts kam. Und er hatte das Gefühl, daß er immer langsamer wurde. Der Hunger und der Schlafentzug taten da sicher ihren Teil dazu. Manchmal wollte er sich einfach nur in einen Zug setzen und sich ganz entspannt durch die Gegend kutschieren lassen, aber dazu fehlte ihm leider Geld. Durch Deutschland zu kommen, war echt ein kraftraubender Spießrutenlauf gewesen. Die Motus war in Deutschland immer noch sehr aktiv, daran hatte bislang wohl auch das Eingreifen der Polizei nichts geändert. Dietmar Unger, der Kluster-Chef aus Düsseldorf, hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um Victor zu kriegen, und zweimal wäre es ihm auch fast gelungen. Nun, immerhin war Victor jetzt schon bis Calais in Frankreich vorgedrungen. Von hier aus würde er den gleichen Weg über den Ärmelkanal nehmen, den auch die Fähre nahm. Hinüber nach Dover. Das war eine gesicherte Route, da würde ihm nicht viel passieren. Aber wie gesagt, heute nicht mehr. Er war fix und fertig. Wenn er nur wenigstens gewusst hätte, ob sich die anstrengende Reise auch lohnen würde. Genau genommen hatte er keine Ahnung, was ihm am Ziel seiner Expedition blühte. Konnte auch fürchterlich schiefgehen, aber er hatte aktuell keine anderen Optionen.
 

Victor spazierte an diesem Abend ein wenig durch die Randbezirke von Calais. Er war sich ziemlich sicher, daß es hier keine Handlanger der Motus gab, also riskierte er das einfach mal. Komme was wolle, er musste auch ohne Geld was zu essen finden. Oder Geld, mit dem er sich was zu essen kaufen konnte. Vielleicht bot sich ihm auf seinem Stadtbummel ja eine nette Gelegenheit, während er im Sonnenuntergang durch die Straßen der Hafenstadt flannierte.

Ein „Oh, regarde, c´est le Akomowarov?“, das er nur am Rande der Wahrnehmung mitbekam, ließ ihn aufhorchen.

„Oui, c´est lui!“, gab ein anderer zurück.

Auch ohne viel Französisch können zu müssen, war Victor aus dem Gespräch sofort klar, daß er von denen erkannt worden war. Erschrocken drehte er sich um, gewahrte die beiden Männer in Uniform und sah auch schon ein mit Gewichten beschwertes Fangnetz auf sich zufliegen. Regelrecht reflexartig zwang Victor sich in die Gestalt einer Fliege. Die einzige Form, die er auf die Schnelle halbwegs brauchbar hinbekam, und die klein genug war, um durch die Maschen des Netzes zu passen. Allerdings wurde er bei seiner Verwandlung erstmal von einem Berg Klamotten begraben, die natürlich die Verwandlung wie immer nicht mitmachten und als menschengroße, leere Hüllen über ihm zusammenstürzten. Während er sich aus den Stoffbahnen zu wühlen versuchte, hörte er draußen das wütende „Oú est il?“ [Wo ist er?]. Victor kämpfte sich endlich frei, summte ungesehen davon und brachte sich unter einem Dachsims in Sicherheit, um alles weitere aus sicherer Entfernung zu beobachten.

„Il est parti! Il est parti!“ [Er ist weg!], maulte einer der beiden, zog das Fangnetz weg und begann die zurückgelassene Kleidung zu durchwühlen.

„Merde!“, fluchte der andere und half ihm dabei.

Victor als Fliege unter seinem Dachsims schüttelte innerlich den Kopf. Nicht zu glauben. Als wäre die Motus noch nicht schlimm genug, war jetzt auch noch die Polizei hinter ihm her. Klar, er war selbst ein international vielfach gesuchter Verbrecher und Mörder. Aber musste das jetzt sein? Er hatte doch gerade wirklich andere Probleme. Er brauchte dringend unauffälligere Klamotten, entschied Victor. Wenn er weiter wie eine lebende Vogelscheuche rumlief, musste er ja zwangsläufig Aufmerksamkeit erregen. Der Plan, irgendwo was essbares aufzutreiben, geriet wieder in den Hintergrund. Er würde Calais umgehend wieder verlassen.

Nachdem die Streifenpolizisten zu dem Schluss gekommen waren, daß Akomowarov ihnen entwicht war, und keine Lust mehr hatten, lautstark herumzufluchen, kickten sie die Kleidung wieder auf die Straße und zogen ihrer Wege. Wenigstens etwas. Dann musste Victor sich nicht schon wieder um neue Anziehsachen bemühen, bevor er sich in seine menschliche Form zurückverwandeln konnte. Eine Fliege wollte er nämlich nicht länger bleiben als unumgänglich. Hier gab es entschieden zu viele Vögel, die ihn für Futter halten könnten.
 

Der Bankenbesitzer würdigte den Monitor nur eines kurzen Blickes, da er keine großen Erkenntnisse lieferte. Die Überwachungskamera zeigte ihm zwar, wer zu so später Stunde gerade draußen stand und klingelte. Eine mit Kapuze vermummte Person. Unkenntlich. Mürrisch betätigte Ruppert Edelig die Wechselsprechanlage. „Ja? Mit wem habe ich die Ehre?“

Der Fremde hob das Gesicht in Richtung der Kamera. „Ruppert, ich bin´s. Erkennst du mich?“

Ruppert wurde sofort speiübel. „Ja.“, keuchte er atemlos. Die Stimme mit dem unverkennbar russischen Akzent kannte er. Und wie er sie kannte! Und das Gesicht ebenso. Akomowarov. „Du bist hier in England!?“

„Ja, gerade angekommen.“

Ruppert atmete tief durch und öffnete die Tür. Sicher ging er ein Risiko ein, wenn er Akomowarov reinließ. Er konnte mit allen möglichen Absichten hier aufgetaucht sein, guten wie schlechten. Aber Ruppert vertraute einfach darauf, daß er und Akomowarov immer noch Freunde waren, auch wenn der Kerl alle nennenswerten Motus-Funktionäre an die russische Polizei verraten hatte. „Victor, dich nochmal lebend wieder zu sehen, hätte ich nicht erwartet, nach allem, was passiert ist.“, grüßte er seinen unerwarteten Gast, als der endlich eingetreten und die Tür wieder zu war. Diese wankelmütige Sicherheit, die diese geschlossene Tür versprach, war beruhigend. „Da draußen herrscht Chaos, über die gesamte eurasische Landmasse, von Russland bis nach Spanien, ist dir das eigentlich klar?“

„Durchaus. So wie es sein sollte.“, fand Victor mit einem selbstgefälligen Schmunzeln, das auch aus seiner Stimme hörbar herausstach.

„Hast wirklich du die Motus verraten? Bist du das gewesen?“

Victor nickte. Zwar nicht direkt stolz, aber zumindest zufrieden. Dabei entledigte er sich nebenbei seines Kapuzenmantels. Inzwischen hatte er noch ein Hemd in seinen Besitz gebracht, daß ihm zwar viel zu groß war, ihn aber zumindest nicht mehr oben ohne herumlaufen ließ.

„Dann stimmen die Gerüchte also, die man sich da draußen erzählt. Es ist jetzt über einen Monat her. Über einen Monat, in dem ich nicht das geringste von dir gehört habe. Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, daß du noch lebst, nach dieser Videokonferenz, in der Vladislav dich vor aller Augen ausgebootet hat.“, bekräftigte Ruppert nochmals. „Alles, was Beine hat, muss inzwischen hinter dir her sein. Sowohl die Polizei als auch die, die von der Motus noch übrig sind. Wo warst du die ganze Zeit?“

„Einem guten Genius, der den Befehl, mich loszuwerden, wohlwollend ausgelegt hat, habe ich es zu verdanken, daß ich nur in die Sklaverei gegangen bin, statt in den Tod. Ich hatte Glück, für´s Erste. Aber es ist nicht lange unbemerkt geblieben, daß ich noch lebe. Die suchen mich bereits.“

Ruppert verschränkte brummend die Arme. „Ich ahne, was du von mir willst ...“

„Ich muss für ne Weile untertauchen, Ruppert. Du bist der einzige, dem ich noch vertrauen kann.“

„Ist dir klar, daß ich selber die Bullen im Nacken habe, seit die Motus aufgeflogen ist? Ich warte Tag für Tag darauf, daß sie mich holen kommen!“

Victor lächelte vielsagend. „Werden sie nicht. Ich hab dafür gesorgt, daß sie dich in Ruhe lassen, keine Angst.“

„Wa-!?“

„Hey, noch Besuch, so spät in der Nacht?“, mischte sich eine Stimme aus dem Hintergrund ein. Ein Mann mit schwarzen, zerwuschelten Haaren und schwarzem, ärmellosen Oberteil kam in den Flur getappt. Lustlos, als hätte er schon geschlafen und wäre geweckt worden. Rupperts Genius Intimus.

Ruppert stöhnte unwillig auf. Die Störung mitten in so einem heiklen Thema kam ihm gar nicht gelegen.

Victor dagegen setzte ein begeistertes Lächeln auf. „Hallo. Du musst Urnue sein! Ist mir eine Ehre, dich mal persönlich kennenlernen zu dürfen.“

Urnues Gesicht verdunkelte sich. „Mir nicht.“, entgegnete er kühl und wischte ihm damit das nette Lächeln wieder von der Backe. „Du bist doch dieses Arschloch Akomowarov, oder!?“

„Ich sehe, du kennst mich bereits.“

„Ja. Die wichtigsten von euch Verbrechern, mit denen mein Schützling verkehrt, sind mir geläufig. Ihr seid Genii-Mörder und schlimmeres.“

„Urnue, halt deinen vorlauten Rand, sonst setzt´s was!“, gebot Ruppert und funkelte ihn finster an.

„Lass nur. Irgendwie hat er ja Recht.“, meinte Victor schulterzuckend.

„Kein Wort zu irgendjemandem! Du hast ihn nicht gesehen! Und jetzt sieh zu, daß du fort kommst, du Seuche!“, befahl Ruppert streng.

Mit einem Augenrollen und einem Kopfschütteln verschwand Urnue wieder durch die Tür, durch die er gekommen war. Ohne einen weiteren Kommentar.

Victor zeigte sich erstaunt. „Du schickst deinen Genius Intimus weg?“

„Wieso nicht?“

„Er sollte dich vor mir beschützen, falls ich eine Gefahr für dich bin.“

„Du wirst einen Teufel tun, mir was anzuhaben. Du brauchst mich noch. Und der neugierige Rotzlöffel muss nicht alles wissen, was wir zu besprechen haben. Jetzt komm schon rein. prochodi.“, grummelte Ruppert und ging voraus.

Victor ließ seinen Mantel im Flur zurück und folgte ihm seufzend ins Wohnzimmer. Er fand es nicht okay, wie Ruppert seinen Genius Intimus behandelte.

„Ich nehme nicht an, daß du schon was gegessen hast!?“, hakte der Bankenbesitzer ein wenig misslaunisch nach.

„Nein, um ehrlich zu sein nicht.“
 

„Victor?“, versuchte Urnue auf sich aufmerksam zu machen, als er mit einem Teller voll belegter Brötchen ins Wohnzimmer kam, um den ungebetenen Gast wunschgemäß zu bewirten. Aber der lag verdreht seitlich auf dem Sofa und reagierte nicht. „Victor! ... He! ... Ist er ohnmächtig?“, wollte er von Ruppert wissen.

„Nein, nur völlig am Ende. Er hat seit Tagen nicht geschlafen.“ Ruppert griff nach einer Schnapsflasche und schraubte sie auf. Er wusste inzwischen, wie Victors Flucht verlaufen war, gipfelnd in einem halbtägigen Flug über das Meer und einer darauffolgenden, stundenlangen Suche nach Rupperts Haus. So genau hatte der arme Kerl Rupperts Adresse dann wohl auch nicht mehr gewusst. „Hier in meinem Haus ist er das erste Mal wieder soweit in Sicherheit, daß er sich´s leisten kann, zu schlafen wie ein Stein. ... Lass ihn einfach liegen.“

Urnue krachte den Teller etwas schlecht gelaunt auf den Couch-Tisch. „Stört es dich gar nicht, ihn hier zu haben?“

„Was willst du jetzt von mir hören, Urnue?“, gab Ruppert ruhig zurück und goss sich einen Scotsch ein. „Tod und Teufel sind hinter ihm her. Erwartest du ernsthaft, daß ich ihn wieder auf die Straße werfe? Gerade jetzt?“ Der Scotsch wanderte vom Glas ungesehen weiter in Rupperts Kehle.

„Verbrecher halten zusammen, was?“

„Halt deine vorlaute Klappe, wenn du keine Ahnung hast.“, brummte Ruppert humorlos und goss sich nochmal nach. Nebenbei musterte er abwechselnd seinen Genius Intimus und Victor abschätzend. „Rück mal nen Satz Klamotten von dir raus, Urnue. Bei deiner Statur passt er da sicher besser rein als in meine.“

„Sag mal ...“, begehrte Urnue empört auf und deutete vorwurfsvoll auf den Gast. Seine wütend-hilflose 'hast-du-überhaupt-eine-Ahnung-wer-der-Kerl-ist?'-Frage blieb ihm angesichts Rupperts drohenden Blickes aber im Hals stecken.

„Was!?“

„Ach nichts.“, grummelte Urnue und trollte sich. Brachte nichts.

Urnue

„Hier, ich soll dir was zu trinken bringen.“, erklärte Urnue, als er am nächsten Morgen ins Gästezimmer hereinplatzte. An sich war das eine Lüge. Er hatte keine entsprechende Aufforderung von irgendwem erhalten, aber egal. Er hatte ein Flasche Limonade und ein sauberes Glas bei sich, die er Victor beide auf den Schreibtisch stellte. Er hatte auch ganz bewusst darauf verzichtet, anzuklopfen. Er wollte wissen, was dieser Victor hier in Rupperts Haus trieb. Aktuell saß er am Laptop und hatte irgendeine russische Internetseite geöffnet, aus der Urnue sich auf die Schnelle nichts nehmen konnte. Um ihn herum war Zettelkram verteilt. Alles in allem wirkte er nicht, als säße er erst seit 10 Minuten hier. Ob der Russe in der Nacht überhaupt mal geschlafen hatte, nachdem er vom Sofa wieder hochgescheucht worden war? Nun, zumindest unter der Dusche musste er mal gewesen sein. Seine verfilzten, schwarzen Haare wirkten wieder sauber und ordentlich ausgebürstet.

„Danke.“, erwiderte der Gast, lächelte ihn kurz an, und widmete sich dann ganz offen wieder dem Computer. Rupperts Computer, wohlbemerkt. Wenigstens sah es nicht aus, als ob er hier irgendwas verfängliches anstellte, was keiner mitkriegen sollte.

Urnue lehnte sich neben ihm mit dem Hintern gegen die Tischplatte. Mit herrisch verschränkten Armen. Irgendwie störte es ihn, daß dieser Victor tatsächlich in der Kleidung herumlief, die er ihm gestern hatte geben müssen. „Du wirst jetzt also ne Weile hier bleiben, ja?“

Victor schaute wieder nett lächelnd zu ihm hoch. „Solange Ruppert es duldet, ja.“

„Ich will ehrlich sein, ich bin nicht glücklich darüber, dich hier zu haben.“

„Ist mir klar.“

„Ich bin ganz genau im Bilde, wer du bist. Dich zu verstecken, ist gefährlich. DU bist gefährlich! Ich habe ein Auge auf dich, glaub mir das! Auch wenn Ruppert mir befohlen hat, mich von dir fern zu halten.“

„Hat er das?“, lächelte Victor amüsiert.

„Unsere Haushälterin hat keine Ahnung, wer du bist. Sie hält dich für einen Freund. Und Ruppert will, daß das auch so bleibt. Er hat mir verboten, mit ihr über dich zu reden. Und wenn du klug bist, wirst auch du sie in dem Glauben lassen.“

Victor senkte den Blick auf seinen Laptop-Bildschirm zurück. „Du überschätzt mich, Urnue. Ich bin nicht der gewissenlose Killer, als den du mich wahrscheinlich wahrnimmst. Und ich will Ruppert ganz sicher nicht schaden. Mir scheint, du hast Ahnung von der Motus und ihrem Treiben. Du bist ein Gegner der Motus, das ist gut. Und sicher hast du auch mitgekriegt, daß diese Organisation gerade systematisch von der Polizei zur Strecke gebracht wird. Land für Land. Staat für Staat. Die Motus ist verraten worden.“

„Ja. Darum bist du ja jetzt hier und verkriechst dich!“

Victor kicherte leise. „da, tak ono jest.“, stimmte er auf Russisch zu. „Darum bin ich jetzt hier und verkrieche mich.“

Urnue konnte Russisch. Alle, die mit der russischen Motus zu schaffen hatten, konnten das. Gezwungenermaßen. Er hatte das 'So ist es.' durchaus verstanden, wusste nur nicht recht, warum Victor so unvermittelt russische Sätze in die Unterhaltung mit einstreute. Wollte er damit etwas bestimmtes vermitteln?

„ICH war der, der die Motus verraten hat, Urnue. Darum bin ich jetzt hier. Ich hasse die Machenschaften dieser Verbrecher. Ja, es hat mich einige Opfer gekostet, um so weit zu kommen, daß ich sie wirksam auffliegen lassen konnte. Das war mein Ziel, seit ich mich der Motus angeschlossen habe. Ruppert wusste das. Und ja, ich habe einige Genii auf dem Gewissen. Aber bitte reduziere mich nicht auf diese Genii, die ich auf dem Gewissen habe. Meine Absichten sind andere.“

Urnue starrte ihn fassungslos an. Das Bild, das er von dem unliebsamen Gast gehabt hatte, geriet schlagartig arg ins Wanken. Das hatte Ruppert ihm nicht erzählt.

Ruppert kam lautstark die Treppe hochgepoltert. „Urnue, verdammt, wo steckst du nichtsnutziger Bastard?“

Der Genius mit den schwarzen Wuschelhaaren schaute zur Tür, dann nochmal ungläubig auf Victor, dann wurde die Tür auch schon aufgerissen.

„Hier!? Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dich fern halten?“, schnaubte Ruppert wütend.

„Hast du das?“, klinkte sich Victor sofort ins Gespräch ein und drehte sich vom Schreibtisch zur Tür um, um ihn anzusehen. „Tut mir leid, das wusste ich nicht. Ich wollte deinen Urnue nicht aufhalten.“

Ruppert holte sauer Luft, um etwas zu erwidern, wusste dann aber nicht, was. Also blieb ihm nichts, als es bei einem missbilligenden Schnaufen zu belassen.

„Ich komme schon.“, meinte Urnue leise und schlüpfte mit eingezogenem Kopf an ihm vorbei aus dem Zimmer.

Ruppert wartete, bis sein Genius Intimus außer Hörweite war. Dann funkelte er Victor fast drohend an. „Was hast du ihm erzählt?“

„Die Wahrheit. Das ich derjenige war, der die Motus verraten hat. Er sollte wissen, mit wem er unter einem Dach leben muss. Und wenn er mich nicht als den Bösen ansieht, stellt er weniger Dummheiten an.“

„Was meinst du damit?“

„Ich fühle mich sicherer, wenn ich keine Angst haben muss, daß er wegen mir die Polizei ruft, das ist alles.“, fand Victor leichthin und wandte sich demonstrativ wieder seiner Internetseite zu. „Mh, ich muss irgendwie verhindern, daß meine Aktivitäten hierher zurückverfolgt werden können, wenn ich von hier aus die Fäden ziehen will ...“, überlegte er dabei laut.

„Was!? Lass das!“, jaulte Ruppert entrüstet und bückte sich panisch nach dem Stecker neben der Tür, um das Internetkabel förmlich aus der Wand zu reißen. „Schön und gut, wenn du dich hier verstecken willst! Aber mein Haus wird nicht die neue Zentrale für deine Konspirationen! Verhalte dich gefälligst still, solange du hier bist!“

„Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?“, wollte der Russe in einem Tonfall wissen, als würde er Ruppert beileibe keine besseren Vorschläge unterstellen.

„Von der Bildfläche verschwinden und warten, bis sich da draußen wieder alles beruhigt hat! Bis Gras über die Sache gewachsen ist!“

„Ich werde nicht tatenlos rumsitzen und zusehen, wie diese Magier weiter Genii abschlachten. Jetzt, wo die Polizei die Führungsebene der Motus lahmgelegt hat, werden die sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen. Die, die genauso untergetaucht sind wie ich, müssen ausgeschalten werden. Ich muss im Auge behalten, wo die alle hin sind, sonst finde ich sie später nie wieder.“

Ruppert verengte verblüfft die Augen. „Du willst denen den Krieg erklären?“

„Das habe ich bereits. Das weißt du. Ich BIN im Krieg. Ich muss sie finden, bevor sie mich finden, sonst bin ich ein toter Mann. Es gibt kein Zurück mehr.“, erklärte er, während er nebenbei etwas in den Laptop tippte, wofür er offensichtlich keine stehende online-Verbindung brauchte.

Ruppert nickte langsam. „Aber nicht von meinem Haus aus! Victor, du bist mir ein willkommener Gast. Komm hier wieder zu Kräften, sammel dich und plane dein weiteres Vorgehen. Bleib, solange du willst und kannst. Aber sobald es dich wieder dazu treibt, aktiv zu werden, muss ich dich bitten, mich nicht mit hinein zu ziehen. Nenn mich einen Feigling, wenn du willst, aber DAS mache ich nicht mit.“

Victor schmunzelte ihn fröhlich an. „Du bist vielleicht kein heroischer Ritter, der für seine Sache in den offenen Kampf ziehen und töten würde. Aber wenn du irgendwas auch nicht bist, dann ein Feigling. Ich werde dich nicht in Gefahr bringen, keine Sorge.“

„Gut.“, brummte Ruppert erleichtert. „Ach ja, wenn du was zum Frühstück haben willst, wirst du dich übrigens in die Küche bequemen müssen. Lieferservice aufs Zimmer bekommst du hier nicht.“

Der Russe überlegte kurz. „Ruppert, tust du mir einen Gefallen?“

„Was denn?“ Noch mehr Gefallen? War es noch nicht genug, daß er Victor hier versteckte? Er bückte sich, um den Internetstecker wieder anzustöpseln.

„Als mein Freund ... Nenn mich von jetzt an 'Dragomir', okay?“
 

„Sperrst du deinen Genius Intimus immer aus, wenn du frühstückst?“, wollte Victor etwas unglücklich wissen und nippte dann an seinem Kaffee. Englischer Kaffee war übrigens echt lausig, aber er wollte sich nicht über die Gastfreundlichkeit beschweren. Er saß mit Ruppert in der Küche, Urnue und die Haushälterin mussten draußen im Wohnzimmer auf dem Couch-Tisch essen.

„Nein. Ich will nur nicht, daß du ihm zu nahe kommst.“

„Ruppert, das wird sich nicht vermeiden lassen, wenn ich noch ne Weile hier wohne.“

„Mach einfach einen Bogen um ihn. Er soll nicht mit dir reden.“, brummte der grauhaarige Bankenbesitzer ernst. „Ich mach mir Sorgen, welchen Einfluss du auf ihn haben könntest. Ich hab ihn nicht grundlos auch von der Motus ferngehalten, so gut es ging. Als mein Genius Intimus weiß er zwar notgedrungen, was Phase ist, aber er soll sich nicht mit in diese Machenschaften hineinverstricken. Ich will, daß er keinen Kontakt in solche kriminellen Kreise hat, wie wir beide.“

Victor senkte den Blick mit einer hinnehmenden 'von-mir-aus'-Mimik in den Kaffeepott zurück und sagte nichts mehr dazu. Das dieser Plan unmöglich sehr lange aufgehen konnte, musste Ruppert ja wohl selber klar sein. Dennoch nahm er sich vor, mit Urnue nur über möglichst unverfängliche Themen zu reden, wenn sich eine Unterhaltung mit ihm nicht vermeiden ließ. Und, daß sie sich auf Dauer nicht vermeiden ließ, lag ja in der Natur der Dinge.

„Erzähl mal.“, wechselte Ruppert neugierig das Thema. „Wie genau hast du die Motus auffliegen lassen? Es war von einem Brief an die Polizei die Rede!?“

Victor dachte zurück und sammelte sich in Gedanken ein paar passende Vokabeln zusammen. Da er hier in England war, fand er es nur angemessen, mit Ruppert und dessen Haushaltsmitgliedern auch Englisch zu sprechen. Aber daran musste er sich erst wieder gewöhnen. War lange her, daß er so richtig ernsthaft auf Englisch hatte kommunizieren müssen ...

Es war 5 Uhr morgens, also noch so gotteslästerlich früh, daß es noch nichtmal ganz hell war. Er erhoffte sich davon ein so großes Zeitfenster, daß er es nochmal nach Hause schaffte, um sich umzuziehen, bevor er ins Büro musste.

„Sind Sie mein Kontakt?“, fragte jemand.

Victor sah aus seinem Klatschblatt hoch, als er sich angesprochen fühlte. Er hatte zwar so getan, als sei er total vertieft in das Ding und völlig unaufmerksam, tatsächlich hatte er seine Umgebung aber genauestens im Auge gehabt. Er musterte den unscheinbaren, bärtigen Mann vor sich nur kurz. Ja, das war der Polizei-Inspektor, den er hatte treffen wollen. Einer von denen, die noch wirklich hinter Verbrechern her waren, statt sich mit Korruption eine goldene Nase zu verdienen. Victor stellte seinen coffee to go mit einem Lächeln zur Seite. „Ich bin sehr erstaunt. Sie sind wirklich alleine gekommen.“

„Versuchen Sie erst gar keine krummen Dinger. Es befinden sich getarnte Agenten in der Umgebung, die mich absichern.“

Victor warf einen Blick in die Runde, als müsse er das nochmal überprüfen. Das hatte er natürlich abgechecked. Er hatte den Polizisten von dessen Haus bis hier her verfolgt und wusste sehr genau, ob und mit wem der gesprochen hatte. Victor war nicht in der Position, sich mit der Polizei auf einen großen Aufriss einzulassen. Wäre der Polizei-Inspektor in Begleitung gekommen oder hätte auch nur ein verstecktes Diktiergerät getragen, hätte Victor dieses Treffen hier sofort abgebrochen. Sobald der Bulle mitbekam, wen er hier vor sich hatte, würde er nämlich alles daran setzen, ihn dingfest zu machen. Victor musste echt Acht geben und im Ernstfall schnell die Biege machen. „Nein. Es sind keine da. Sie sind alleine.“, entschied er.

„Sie halten sich für ein gewitztes Kerlchen, was?“, lenkte der Polizist ein. Er war in der Tat wahnsinnig, alleine hier aufzukreuzen. Oder überhaupt hier aufzukreuzen und mit so zwielichtigen Gestalten zu verkehren. Keine Ahnung, was ihn dazu bewogen hatte. Aber nun war es einmal so. Er setzte sich. Auf eine Treppe in einem leeren Hinterhof, ohne Zeugen, neben einen anonymen Kontaktmann.

„Sagen wir, ich hab´s nötig, vorsichtig zu sein.“, schmunzelte Victor.

„Verraten Sie mir Ihren Namen, mein Bester?“

„Sagt Ihnen die 'Motus' etwas?“

Der Polizist verlor kurz seine gesunde Gesichtsfarbe. Himmel, mit DENEN hatte er sich hier eingelassen? Die Motus war ein Verbrecherkartell, das 'gefährliche' Genii einfach ohne viel Federlesen ausradierte. Sie waren Mörder und Dealer. Ein paar wenige ihrer Opfer waren als Sklaven im Dienste irgendwelcher zwielichtigen Schlüsselfiguren der Unterwelt wieder aufgetaucht. Man konnte nur mutmaßen, wie groß diese Organisation tatsächlich war und wie weit ihr Aktionsradius sich zog. Es hatte in mehreren Ländern der Welt Morde und andere Verbrechen gegeben, die man der Motus zuschrieb. Das Einflussgebiet der Motus reichte von Russland bis weit nach Westeuropa hinein. Und in Polizeikreisen sagte man, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auch auf Asien oder gar Amerika übergriffen. Vielleicht hatten sie das sogar schon und die Polizei wusste es nur noch nicht. Er räusperte sich. „Welchem Polizisten sagt die Motus nichts!?“

Victor zog einen großen Briefumschlag aus seinem Klatschblatt und hielt ihn dem Polizisten einladend hin. „Da drin finden Sie alles, was das Herz begehrt. Fotos. Namen. Adressen. Pläne. Beweise.“

Dem Inspektor entwich seine eben erst zurückgewonnene Farbe erneut. Er wurde schon wieder bleich, nahm den Umschlag aber mit zittrigen Fingern entgegen. Auch wenn er das Gefühl hatte, daß das entschieden eine Nummer zu groß für ihn war. „W-Wer sind Sie, um Gottes Willen?“

„Sie nennen mich Akomowarov.“

Der Polizei-Inspektor gaffte ihn mit offenem Mund an. Der Name klingelte in seinen Ohren wie eine Alarmglocke. „Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov? Der stellvertretende Chef von diesem Haufen?“

„Ja.“

„Was wollen Sie von mir?“

Victor deutete vielsagend auf den Briefumschlag. „Machen Sie diesem Kartell ein Ende. Und zwar möglichst schnell. Es wird in der Motus nicht lange unbemerkt bleiben, daß irgendjemand geredet hat. Es war mir wichtig, Ihnen diesen Umschlag persönlich zu geben. Hätte ich ihn bloß in den Briefkasten geworfen, wäre er wohlmöglich verloren gegangen. Man weiß ja nie.“ Mit diesen Worten nahm Victor seinen coffee to go wieder an sich, stand auf und spazierte seiner Wege.

Der Polizist schaute sich paranoid um, bereute es hundertfach, tatsächlich ganz alleine hergekommen zu sein, verbarg den sorgenschweren Umschlag dann in seiner Jacke und hetzte ebenfalls davon. Auf die Idee, den vielfach gesuchten Akomowarov festnehmen zu wollen, kam er nicht. Er hatte viel zu sehr mit seiner Angst zu kämpfen, es noch lebend bis aufs nächste Polizeirevier zu schaffen, um den Umschlag wenigstens abliefern zu können, bevor er von wütenden Handlangern der Motus kalt gemacht wurde.

Bannkreise

Victor Akomowarov kam mit suchendem Blick ins Wohnzimmer spaziert, wo Ruppert gerade seine Lieblingsserie im Fernsehen schaute. Als Bankenbesitzer musste er sich ab und zu mal in seiner Bank sehen lassen und arbeiten gehen. Dann nahm er Urnue natürlich mit. Aber heute schien mal wieder so ein Tag zu sein, wo er lieber blau machte und auf der faulen Haut lag. Es war noch früher Nachmittag. „Wo ist denn Urnue hin?“

„Was willst du von ihm?“, brummte Ruppert unwillig zurück, ohne die Frage zu beantworten. „Du sollst einen Bogen um ihn machen.“

„Ich will gar nichts von ihm. Ich wundere mich nur, weil ich ihn nirgends finden kann. Er wird doch nicht alleine aus dem Haus gegangen sein, ohne dich, oder?“

„Er ist unten im Keller.“

Victor verzog das Gesicht. „Du hast ihn in den Keller gesperrt?“

„Ich hab ihn nicht da runter gesperrt, du Pfeife!“, zeterte der Bankenbesitzer ungehalten und sah ihm endlich ins Gesicht. „Ich hab ihm da unten einen Fitness-Raum eingerichtet, damit er nach Herzenslust trainieren kann. Mein Genius ist, wenn es ums Kämpfen geht, ein sehr ehrgeiziger Genosse. Ich war es irgendwann leid, jeden zweiten Tag stundenlang mit ihm im Trainings-Center zu hocken.“

Victor zog eine Augenbraue hoch. „Hm. Würde dir aber auch mal gut tun.“

„Raus!“, jaulte Ruppert mit überschnappender Stimme. „Lass mich jetzt endlich meine Serie weitergucken, sonst setzt´s was! Vorlauter Flegel!“

Lachend schob der kleingeratene Russe die Hände in die Hosentaschen und spazierte weiter, bevor Ruppert noch seine Bierdose nach ihm schmiss. Diesen Fitness-Raum wollte er sich doch mal angucken. Vielleicht konnte er ja auch ein paar Übungen probieren. Sein verwundeter Rücken kam langsam zur Ruhe. Mal sehen wozu er damit inzwischen schon wieder in der Lage war.

Der Banker wandte sich – nach einem letzten bösen Blick – leise maulend wieder dem Fernseher zu. Dieser Akomowarov machte ihn noch irre. Diese selbstsichere, überlegene Art, die er an sich hatte. Diese aufrechte Körperhaltung, mit der er immer herumlief. Jede Bewegung bis zur psychologischen Vollendung ausgereift. Völlig frei von irgendwelchen Existenzängsten oder irgendeinem Abhängigkeitsbewusstsein. Er wusste, daß ihm keiner was anhaben konnte. Seine Feinde von der Motus nicht, und sein Freund Ruppert ebenso wenig. So sehr Ruppert ihn auch mochte und für sein mutiges Vorgehen gegen die Motus bewunderte, kam er bisweilen dennoch nur schwer mit dessen ungeniert tolldreistem Charakter klar.
 

Urnue hörte auf, den Sandsack zu vermöbeln, als er Victor mit verschränkten Armen im Türrahmen lehnend entdeckte, und trat einen Schritt zurück. Er hatte schon eine ganze Weile trainiert, wie man an seinen nassen Sachen und den im Gesicht klebenden Haaren unschwer erkannte. „Was gibt es?“, keuchte er. Aus der Puste war er auch.

Victor schüttelte negierend den Kopf und lächelte. „Nichts. Ich war nur neugierig, was du hier unten treibst. Ein schöner Fitness-Raum, den du hier hast!“

„Willst du auch trainieren?“

„Lieber nicht. Ruppert schmeißt mich achtkantig raus, wenn ich alles kaputt mache.“

„Großmaul.“, nörgelte Urnue und angelte nach einem Handtuch von der Hantelbank, um sich den Schweiß aus den Augen zu wischen.

„Ich meine das ernst. Meine Art des Kampfes ist nicht dazu gedacht, einen Angreifer nur zeitweilig abzuschrecken oder in die Flucht zu schlagen, ihn aber nicht ernsthaft zu verletzen. Was ich anstelle, ist aufs sofortige Töten ausgerichtet.“

Urnue schnaufte humorlos. „Ich weiß, daß ihr Motus-Wichser alle gewissenlose Killer seid. Das musst du mir nicht sagen.“

„Wir hatten keine andere Wahl. Bei den Viechern, mit denen wir uns angelegt haben, hatte man nur die Chance, sie schnell kalt zu machen, bevor sie einen kalt machen.“

„Okay, du Angeber, lass uns doch ne Runde kämpfen. Ich garantiere dir, daß du mit mir kein leichtes Spiel hast, Genii-Mörder!“

„Ach, Urnue.“, seufzte er. „Reduzier mich doch nicht immer auf meinen Vize-Chef-Status bei der Motus. Ich hab dir doch erzählt, warum ich das alles getan habe.“

„Traust du dich nicht?“, hakte Urnue herausfordernd nach und stemmte selbstsicher die Hände in die Hüften. Mit dieser halben Portion würde er es ja wohl noch aufnehmen können, dachte er. Um so mehr, da er Victor ohnehin nicht so richtig leiden konnte und folglich keine große Rücksicht nehmen würde. Dieser Verbrecher hatte ne Tracht Prügel mehr als verdient.

Akomowarov konnte sich das Schmunzeln nicht mehr verkneifen. „Du willst jetzt ernsthaft nen Schwanzvergleich mit mir machen? Ruppert wird gar nicht begeistert sein.“

„Dachte ich´s mir doch! Du bist ein Feigling!“

Der Russe zupfte kurz an seinem T-Shirt. „Machen diese Klamotten, die du mir gegeben hast, eine Verwandlung in eine andere Gestalt mit?“

„Nein, die sind nicht magisch.“

„Dann lass uns die Schlägerei lieber auf andermal verschieben. Ich will deine Sachen nicht kaputt machen, wenn du schon so nett bist, mir welche zu leihen. Aber ich hab ne andere, schöne Herausforderung für dich.“, entschied er und löste sich aus dem Türrahmen, um sich den Schreibblock und den Stift holen zu gehen, die auf dem Boden herumlagen. Urnue hielt dort drin augenscheinlich seine Trainingsergebnisse und Fortschritte fest. „Ruppert sagte mir, du hättest richtig Ahnung von Bannkreisen.“, meinte der Russe und begann einen solchen aufzumalen, in den er eine ganze Menge Zeichen und verworrene Schlangenlinien einflocht. Über dem Blatt Papier baute sich auch ziemlich bald eine durchsichtige, magische Barriere auf und in dem Mini-Bannkreis erschien eine kleine, grüne Gestalt, die ohne feste Form herumwabberte wie ein Nebelfetzen. Sie glotzte Urnue aus großen Augen an und gab hohe, fiepende Töne von sich.

Urnue schlief das Gesicht ein. „Du kannst Geister beschwören?“

Victor warf den Stift wieder neben dem Schreibblock auf den Boden. „Wenn du diesen Bannkreis wieder auflösen kannst, gebe ich mich geschlagen. Dann hast du gewonnen, einverstanden? Lasst den Schwanzvergleich beginnen.“, schmunzelte er, zwar siegessicher, aber nicht gehässig. Er mochte Urnue ganz gern und ließ sich nicht so schnell davon ins Boxhorn jagen, daß das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. „Viel Spaß damit. Wir sehen uns.“, fügte er noch an und ging dann wieder. Ließ den Genius Intimus allein mit seiner Knobelaufgabe im Fitness-Raum zurück.
 

Etliche Stunden später tauchte Ruppert im Fitness-Raum auf und kam ihn suchen. Er hatte einen überaus belustigten Akomowarov im Schlepptau. „Hör mal, kommst du heute noch zum Abendessen, oder willst du lieber hungern?“, grummelte Ruppert.

Urnue schaute erst fragend aus seinem Buch hoch, mit dem er im Schneidersitz auf dem Boden vor dem Mini-Bannkreis saß, dann wanderte sein Blick weiter zur Uhr. „Wouw, ist das spät. Ich hab total die Zeit vergessen.“

„Was treibst du hier?“, hakte Ruppert verständnislos nach.

„Er meinte, mich schlagen zu können. Diese Herausforderung hab ich natürlich gern angenommen.“, erzählte Victor grinsend. „Ti gotov?“, wandte er sich dann an den Genius Intimus.

„Nein. Aber ich glaube inzwischen, der Geist ist nicht echt.“

„Glaubst du, oder weißt du es?“

„Ich bin mir nicht sicher. Zumindest habe ich inzwischen rausgekriegt, daß der Bannkreis Illusions-Elemente mit drin hat. Er könnte mir also durchaus bloß vorgaukeln, daß sich ein Geist da drin befindet. Aber dann wäre es eine verdammt gute Illusion. Der Geist verfolgt jede meiner Bewegungen und sieht mich immer direkt an, egal auf welcher Seite des Bannkreises ich gerade stehe. Und er gibt Geräusche von sich. Also müssten neben den optischen sogar noch akustische Illusionen mit im Spiel sein. Alter Schwede, so hohe Magie hab ich noch nicht gesehen, wenn das wirklich nur eine künstlich geschaffene Illusion ist.“

„Gibst du auf?“, wollte Victor wissen.

Ruppert rollte genervt mit den Augen. „Dragomir, mach den Quatsch wieder rückgängig und dann kommt endlich zum Essen, alle beide!“

„Nein-nein-nein! Ich knacke dieses Ding schon noch. Gib mir noch ne Weile.“, hielt Urnue jedoch sofort dagegen.

„Meinetwegen, dann tüfftel nach dem Essen dran weiter! Aber entweder du bewegst jetzt deinen Hintern hoch, oder du gehst mit leerem Magen ins Bett!“

„Ja, ich komm ja schon.“ Schwerfällig und ächzend raffte er sich vom Boden auf und folgte seinem Schützling und dessen Gast aus dem Keller nach oben. Nicht ohne die Nase weiter im Bannkreis-Lehrbuch zu haben.

„Ich geb dir nen Tipp. Wirf mal einen Blick in den Abschnitt über 'Judas-Magie'.“, schlug Akomowarov ihm vor, während sie gemeinsam die Treppen hochstapften.

„Wie bitte? Sowas benutzt du!?“

„Warum nicht?“

„Das ist verbotene Magie!“

„Und? Das macht sie ja gerade so wirkungsvoll. Damit rechnet keiner. Darum weiß auch keiner, wie man sich dagegen verteidigt.“

„Dragomir, hör auf, meinem Schutzgeist solches Zeug beizubringen!“, zeterte Ruppert empört dazwischen.

„Ich fände es nicht verkehrt, wenn er sowas kennt. Er muss es ja nicht selber anwenden. Aber in der Motus sind Judas-Bannkreise nicht unüblich. Es wäre besser, wenn er sich gegen sowas zumindest zur Wehr setzen könnte. Gerade in den heutigen Zeiten, wo die Motus aus allen Fugen gesprengt wurde und ihre Anhänger unberechenbar geworden sind. Man weiß ja nie.“

„Was genau macht Judas-Magie denn so speziell?“, wollte Urnue wissen und setzte sich an den Esstisch. Inzwischen waren sie in der Küche angekommen und er störte sich nicht die Bohne daran, daß er normalerweise separat im Wohnzimmer zu essen hatte, seit ihr ungebetener Gast hier eingezogen war.

„Judas-Magie ist verräterisch. Sie zeigt sich dir als was anderes als sie wirklich ist. Sie gibt dir vor, ein Bannkreis zu sein, ist aber in Wirklichkeit ein Sprengsatz, der hochgeht, wenn du versuchst, ihn aufzulösen. Sie gibt dir vor, Wasser in Apfelschorle zu verwandeln, macht aber in Wirklichkeit Gift daraus. Sie gibt dir vor, dir hellseherische Fähigkeiten zu verleihen, verpasst dir aber in Wirklichkeit gefährliche Halluzinationen. Sie gibt dir vor, dich mit harmlosen Plüschtieren zu bewerfen, aber in Wirklichkeit regnet es giftige Skorpione und Kobras auf dich runter. Judas-Magie ist böse Tarnmagie, die dich blind für die offensichtlichsten Gefahren macht.“

„Victor!“, unterbrach Ruppert ihn sauer, ganz bewusst nicht mehr den erbetenen Freundesnamen 'Dragomir' verwendend.

„Bring mir das bei! Wenigstens wie ich sie erkenne!“, bat Urnue, Feuer und Flamme.

„Jetzt reicht´s aber!“, fluchte Ruppert. „Urnue, du scherst dich jetzt sofort raus ins Wohnzimmer, und Victor, du hörst auf, ihm solche niederträchtigen Sachen einzureden! Ich sagte, du sollst meinen Genius in Ruhe lassen und dich von ihm fern halten!“

„Natürlich. Entschuldige.“, erwiderte Victor mit einem leichten Schmunzeln, das irgendwie nicht ganz glaubwürdig aussah.

Geschäftspartner

„Das war eine knappe Sache bei Adelina.“, erzählte Victor, während er ein paar Papiere lochte und abheftete. Er war jetzt schon 3 Wochen hier und hatte seit einer Weile begonnen, Ruppert bei der Arbeit zu helfen. Wenn er schon hier rumlungerte, konnte er sich auch nützlich machen.

Ruppert brummte nur verstehend und hackte nebenbei Zahlen in den Taschenrechner. Ruppert machte immer einen sehr muffeligen Eindruck, als würde Victors bloße Anwesenheit ihm schlechte Laune bescheren, aber der kleingeratene, zierliche Russe störte sich nicht daran. Soweit er wusste, war Ruppert noch nie ein lebenslustiger oder gar herzlicher Typ gewesen.

„Mit etwas Pech wäre ich dort nicht mehr weggekommen. Ihre Fessel hat sich von Tag zu Tag fester zugezogen. Mit jedem Tag der vergangen ist, war sie weniger bereit, mich gehen zu lassen. Hätte die Motus nicht begonnen, jedes Haus in dem Viertel auseinander zu nehmen, hätte sie die Arbeit an meiner Bannmarke sicher nicht mehr beendet, sondern hätte mich behalten. Sie mochte mich gern und hat sich sehr unverblümt an mich rangeschmissen. Sie dachte, weil sie mich nicht schlägt, behandelt sie mich besser als der Sklavenhändler. Sie dachte, weil sie sanft mit mir umgeht, tut sie mir nicht weh. Aber als Gefangener ist und bleibt man halt ein Gefangener.“

„Was hat sie denn so schlimmes getan?“

„Ich hatte ständig ihre fordernden, fummelnden Finger irgendwo unter meiner Kleidung, zum Teil an Stellen, die wirklich nicht mehr schicklich waren, und musste es wehrlos hinnehmen. Die Tatsache, daß ich durch das Bannsiegel meinem Unwillen keinen Ausdruck verleihen konnte, hat sie als Bestätigung genommen und einfach immer weitergemacht.“

Rupperts Blick scannte den kleinen, dürren Jungen von oben bis unten und wieder zurück und fragte sich sichtlich, wie jemand was an diesem Erscheinungsbild finden konnte. Aber aussprechen tat er das diplomatischerweise nicht. Er fragte auch nicht nach, wie weit diese Adelina es wirklich getrieben hatte. Die Türklingel ließ beide hochschrecken. Rupperts Augen weiteten sich perplex, dann sah er auf die Uhr. „Au, Mist, das ist ein Geschäftspartner von mir! Ich hatte total vergessen, daß der heute herkommen wollte. Er darf dich hier nicht finden!“

„Keine Sorge, das wird er nicht.“, schmunzelte Victor und verwandelte sich in eine Fliege. Die kleinste Form, die er beherrschte, um in jedes noch so winzige Versteck und durch jede noch so enge Spalte zu passen. Heute hatte er Sachen an, die die Verwandlung mitmachten.

Ruppert musterte die Fliege auf seinem Sofa einen Moment lang nachdenklich. „Du bist inzwischen sehr fähig und geschickt, wie ich sehe.“, urteilte er. „Hör zu, tu mir einen Gefallen und verzieh dich aufs Gästezimmer, ja? Ich kann dich hier nicht brauchen, wenn ich Verhandlungen führe.“

Die Fliege hob gehorsam vom Sitzkissen ab und flog summend davon.

Ruppert folgte der Fliege bis in den Flur, um sicher zu gehen, daß der auch wirklich verschwand, und um seinen Geschäftspartner herein zu lassen, der wartend draußen vor der Tür stand. Diese Fähigkeiten, die Victor hatte, waren beunruhigend. Jemand der sowas fertigbrachte, konnte förmlich unsichtbar werden und durch Wände gehen. Er war mit nichts aufzuhalten. Vor so jemandem war man nirgends sicher. Kein Wunder, daß er Vize-Boss der Motus geworden war. Wie hatte Vladislav es wohl geschafft, einen wie ihn so einfach zu überrennen? „Schick mir Urnue runter, wenn du einmal gehst.“, trug er Victor noch auf, bevor er sich der Tür zuwandte und öffnete.
 

Urnue tauchte während der gesamten Besprechung nicht auf. Ruppert beriet seinen Kunden ausführlich und gewissenhaft zur aktuellen Börsenlage, machte Kaufverträge über einige Aktien mit ihm und trank dann sogar noch bei einer Runde Smalltalk einen Kaffee mit ihm. Seine magische Begabung erstreckte sich auf Hellseherei, und dort speziell auf die Weltwirtschaft und die daraus resultierenden Börsenkurse, daher war er im Umgang mit Aktien extrem erfolgreich und machte damit ein Vermögen. Natürlich sagte er das keinem, sonst wäre er sicher wegen unlauteren Wettbewerbs angezinkt worden und das wäre es dann mit seinen schönen Millionen gewesen. Offiziell behauptete er deshalb, daß seine magische, hellseherische Begabung sich auf die finanzielle Lage seiner Kunden beschränke, was er angeblich dazu nutzte, ihre Kreditwürdigkeit zu beurteilen, wenn sie bei seiner Bank Geld leihen wollten.

Ruppert verabschiedete seinen abgefertigten Kunden also reichliche 2 Stunden später wieder an der Haustür und stapfte dann mürrisch in die obere Etage, um zu sehen, warum Urnue nicht wie aufgefordert heruntergekommen war. Nicht, daß er seinen Genius Intimus bei solchen Meetings gebraucht hätte, aber er wollte ihn nichts desto trotz gern etwas unter Kontrolle haben.
 

„Die Kinder hast du auch erschossen?“

„Ja, leider. Es wäre aufgefallen, wenn ich die lebend dort zurückgelassen hätte. Und auch 5-jährige sind Zeugen und können reden, weißt du?“

„Wie kommst du damit klar, so viele Leben auf dem Gewissen zu haben?“, wollte Urnue wissen, dann schob er sich eine Erdnuss in den Mund. Und trotz seiner anfänglichen Feindseligkeit schien er den Russen zunehmend interessant zu finden, jetzt wo er wusste, daß der gar nicht so rightdown evil war wie gedacht.

Victor nippte schmunzelnd an seiner Limonade. „Eigentlich ganz gut. Kommt halt darauf an, wie plausibel man es vor sich selbst rechtfertigen kann.“

„Das kannst du?“, hakte Urnue mit der Neugier eines Forschers nach.

„Ich habe ein Verbrecherkartell von internationalem Ausmaß aufgedeckt. Und ich verfolge die Mörder und Schänder, die immer noch frei da draußen rumlaufen. Ist das nicht plausibel?“

„Naja, ob das gleich eine 'Rechtfertigung' ist ... Der Zweck heiligt die Mittel, was?“

„Es ist mein Lebensinhalt. Ich habe jede freie Minute gelernt und trainiert, um so mächtig wie möglich zu werden. Ich habe die Bann-Magie und die Gestaltwandlung gemeistert. Für die Gestaltwandlung habe ich schon den Magister Magicae, und den für Bann-Magie werde ich auch noch machen, sobald sich die Chance dazu bietet. Und dann mache ich mit Angriffs- und Abwehrzaubern weiter. Wer drei verschiedene Magie-Arten gemeistert hat, darf sich offiziell 'Magister Artificiosus Magicae' nennen. Von denen gibt es auf der ganzen Welt nur eine Handvoll. Das sind so hochbegabte Genossen. Die meisten Menschen und Genii haben nur eine oder maximal zwei magische Veranlagungen. Das jemand überhaupt drei verschiedene Arten von Magie bewerkstelligen kann, zählt zu den Ausnahmetalenten. Aber bis dahin bringe ich es bestimmt noch!“

„Du hast keine Freunde oder Familie, oder?“, wollte Urnue zynisch grinsend wissen. Das war eine rethorische Frage, eindeutig.

„Ich? Nein, ich hab keine Familie. Das wäre mir bei der Motus auch schlecht bekommen. Damit hätte Vladislav ein viel zu massives Druckmittel gegen mich in der Hand gehabt. Ich habe es vorgezogen, mich ganz der Arbeit bei der Motus zu widmen, um möglichst schnell in die Führungsetage aufzusteigen.“, beantwortete Victor Urnues Frage trotzdem. „Aber sag mal, hatte Ruppert nicht Kinder? Das Haus ist leerer, als ich erwartet habe.“

„Ja, zwei Söhne, Josh und Danny. Sie leben bei ihrer Mutter. Ruppert hat sich irgendwann von ihr scheiden lassen. Ich hab nie ganz verstanden, warum. Vielleicht, weil er sie auch nicht in diese ganze Motus-Sache mit reinziehen wollte.“

„Wie alt sind die beiden jetzt?“, hakte Victor interessiert nach.

„15 und 17. Josh ist sowas ähnliches wie ein Hellseher, so wie Ruppert auch. Wir haben seine Fähigkeit immer 'Intuition' genannt. Er konnte aus einem Gefühl heraus sagen, was es mit einer Sache auf sich hat. Bei Danny wissen wir es noch nicht so genau, in welche Richtung sich seine Fähigkeiten entfalten könnten. Ich schätze, es wird irgendwas in Richtung Bannmagie. Aber er setzt alles daran, sie nicht einzusetzen, weil sein Genius Intimus nie aufgetaucht ist.“, erzählte Urnue ganz unbekümmert und wahrheitsgemäß und steckte sich dann wieder eine Erdnuss in den Mund.

„Wie das?“

Urnue zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Er und Danny haben sich bis heute nicht gefunden. Vermutlich ist der Genius schon im Kindesalter gestorben, sonst wäre er ja sicher gekommen, als Dannys Begabung das erste Mal zu Tage getreten ist. Danny hat sich jedenfalls nie getraut, seine magische Begabung so richtig zuzulassen, ohne den Schutz eines Schutzgeistes. Ich hab oft auf ihn eingeredet, daß ich ihn ja auch beschützen könnte, wenn ich da bin, aber das wollte der Junge nicht. Er wollte mir keine Umstände machen. Er meinte, ich sollte lieber ganz für Ruppert da sein, das wäre meine Aufgabe.“

Victor beugte sich vor und griff mit in Urnues Erdnusspackung, um sich auch eine Portion Erdnüsse zu schnappen.

In diesem Moment wurde die Tür grob aufgestoßen und Ruppert, der darin erschien, holte sichtlich Luft, um wütend los zu toben.

Victor fiel ihm sofort mit einem „Oh, hey, ist dein Kunde wieder weg?“ ins Wort, um den Gewittersturm schon im Keim zu ersticken, und schenkte Ruppert noch einen warnenden Blick dazu.

Der Bankenbesitzer, von dieser vorlauten Frage aus dem Konzept gebracht, konnte nicht viel mehr tun, als sich nach einer Sekunde des Gedankensammelns in ein beleidigtes 'hmpf' zu retten und sauer die Arme vor der Brust zu verschränken. „Sitzt ihr zwei schon die ganze Zeit hier?“, wollte er wissen. Nichtmal ansatzweise so wütend, wie er es vorgehabt hatte. Immerhin hatte er Urnue ja angehalten, sich nicht mehr mit Victor abzugeben als nötig. Nur machte keiner der beiden Anstalten, das großartig zu beherzigen. Erst vorgestern hatte er die beiden ausgelassen lachend und sich spielerisch raufend auf dem Fußboden vorgefunden. Die zwei Kerle waren sich offensichtlich einig. Wahrscheinlich hatte Victor ihm gar nicht erst ausgerichtet, daß Ruppert ihn schon seit 2 Stunden unten hatte sehen wollen. Ruppert war zwar sauer darüber, wusste allerdings immer noch nicht so recht, wie er sich gegen Victor durchsetzen sollte.

„Ja, wir sitzen schon die ganze Zeit hier und vertreiben uns die Langeweile. Wir wollten ja deine Unterredung dort unten nicht stören.“, gab Victor ungerührt zurück. Er machte einen Eindruck als ob er wüsste, daß er im Recht war. Kein schlechtes Gewissen. Kein Unrechtsbewusstsein. Wenn er mit Urnue reden wollte, redete er mit Urnue. Da hatte ein Ruppert Edelig ihn nicht zu reklementieren. Auch wenn er nur Gast im Haus war, war der Russe doch extrem selbstsicher, befehlsgewohnt und strahlte – wenn er wollte – nach wie vor die Autorität eines Vize-Chefs aus, der sich Ruppert als Untergebener zu beugen hatte. Selbst wenn Victor so wie jetzt auf der Tischplatte saß, die Füße baumeln ließ und sich mit Urnue gemütlich plaudernd eine Packung Knabberkram teilte, konnte er mit einem bloßen Blick genug Bedrohung aufbauen, um ernstgenommen zu werden. Ruppert war sich nichtmal sicher, ob er es schaffen würde, Victor wieder des Hauses zu verweisen, wenn er genug davon hatte. Wenn der entschied, hier nicht wieder weg zu gehen, dann würde er auch nicht gehen.

„Urnue, du unnützes Gesindel, hatte ich dich nicht gebeten, weg zu bleiben?“, erinnerte Ruppert seinen Genius matt und resignierend.

„Ich muss nicht in Ruhe gelassen werden.“, klinkte sich Victor erneut ein, bevor Urnue selbst was dazu sagen konnte. Dann hüpfte er schwungvoll von der Tischplatte herunter und streckte seinen verspannten Rücken durch. „Ruppert, ich muss mal raus hier. Ich geh ne Weile in die Stadt. Ist das okay für dich?“

Ruppert seufzte schwer und ließ den Kopf hängen, als wisse er nicht mehr, was er mit diesem Kerl noch machen sollte. Es war aussichtslos. Dann griff er in seine Gesäßtasche, holte sein Portemonnaie heraus, daß er zufällig gerade noch einstecken hatte, und hielt ihm wortlos einige große Scheine hin. Wäre ja sonst auch Quatsch gewesen. Was sollte er ohne Geld in der Stadt wollen? „Nimm Urnue mit.“

„Ach, auf einmal?“, machte Victor überrascht.

„Ist eh zwecklos mit euch beiden. Euch auseinander zu halten ist wie den Wind mit bloßen Händen zu fangen. Ich geb´s auf.“

„Ich will aber nicht mit in die Stadt!“, maulte Urnue empört. „Willst du etwa alleine hier bleiben? Ich bin immer noch dein Genius Intimus und hab auf dich aufzupassen!“

„Als ob du das könntest.“, hielt Ruppert höhnisch dagegen. „Was soll mir in diesem Hochsicherheitstrakt von einem Wohnhaus schon passieren? Pass lieber auf, daß der towarisch draußen keinen Unsinn anstellt.“, verlangte er mit einem vehementen Fingerzeig auf Victor und drehte sich dann um, um zu gehen.

„Aber ...“

„Kein 'aber', du elendes Pack! Würdest du wohl einmal gehorchen, wenn ich dir was befehle? Sieh zu, daß du fort kommst!“

Victor quittierte die ganze Situation mit einem ungläubigen Kopfschütteln, hob mit einem ernsten 'Danke' nochmal vielsagend das Geld hoch, das er bekommen hatte, und stopfte es dann lose in seine Hosentasche.

„Ja-ja. Lass dich draußen nicht wegfangen ... Dragomir.“, murrte Ruppert noch und war schon durch die Tür und um die Ecke verschwunden.

Victor schmunzelte amüsiert. „Er ist angefressen, weil ich mit dir rede, was?“

„Ich versteh bloß nicht ganz, warum.“, gab Urnue zurück. „Bist du gefährlich für mich?“

„Für dich nicht, nein. Aber für ihn.“, schmunzelte Akomowarov in einer rätselhaften Tonlage, aus der man sich nichts nehmen konnte. Er ließ ganz bewusst offen, was er damit jetzt hatte sagen wollen. "Ich mag aussehen, als könnte er mein Vater sein, aber er muss aufhören, mich so zu behandeln als wäre er das."
 

„Wo gehen wir hin?“, wollte Urnue wissen, kaum, daß sie das Haus so richtig verlassen hatten. Er war ein bisschen hibbelig. Er hoffte, Victors Ausflug würde nicht zu lange dauern. Er wollte so schnell wie möglich wieder zu Ruppert zurück, denn es machte ihn ziemlich nervös, nicht in der Nähe seines Schützlings zu sein. Das machte wohl die unsichtbare Verbindung zwischen ihnen.

„Naja, es war zwar nicht mein Ziel, aber wenn Ruppert mir schonmal ein paar Scheinchen gesponsort hat, kann ich mir ja neue Klamotten kaufen gehen. Dann muss ich nicht mehr deine tragen.“, lächelte Victor ihn aufmunternd an. „Eigentlich wollte ich bloß mal für ne Weile aus dem Haus, um nicht mehr mit ansehen zu müssen, was zwischen Ruppert und dir so abgeht.“

„Ach, er meint es nicht so. Er war schon immer ziemlich raubeinig. Ich nehm mir das nicht zu Herzen.“, gab Urnue zurück, auch wenn er ein wenig unglücklich klang.

„Wie du meinst ... Ach ja, vorher muss ich unbedingt zum Bahnhof.“

St. Dunstan-in-the-East

„Man, ich bin neidisch wie die Hölle.“, meinte Urnue und beäugte den kleineren Russen aus dem Augenwinkel, während sie gemeinsam durch die Straßen schlenderten. Der hatte sich einen affengeilen, schwarzen, langen Ledermantel mit ein paar Metall-Ösen auf den Schultern gekauft. Noch nicht ganz Gothic, aber schon dezent in diese Richtung. Das Teil war bei der Herstellung magiedurchwirkt worden und machte Verwandlungen in eine andere Gestalt mit. Entsprechend teuer war er auch gewesen. „So einen hätte ich mir auch schon immer mal kaufen wollen, wenn Ruppert mir erlauben würde, sowas zu tragen. Aber das wird Ruppert nicht.“

„Hat er was gegen deinen Mode-Stil?“, wollte Victor wissen.

„Ja, sehr sogar. Er ist halt Bankenbesitzer und großer Geschäftsmann. Da gehören sich Anzug und Krawatte. Er war noch nie glücklich damit, daß ich mich diesem Business-Stil nicht anzupassen gedenke. Er findet, es sieht kacke aus, wenn der Genius Intimus eines Anzugträgers in schwarzen Rocker-Sachen rumläuft. Ruppert sagt immer, daß ich optisch bloß so auffallen will, weil ich sonst nichts anderes kann. Aber ich glaube, er denkt nur, daß mein Look ihn unseriös machen würde.“

Victor schüttelte nur unterschwellig den Kopf. Verstehe einer die Wirtschaftsbosse.

„Du fällst mit diesem Ledermantel übrigens auch extrem auf, dafür, daß du von allen so schwer gesucht wirst. Hast du keine Angst, von irgendjemandem entdeckt zu werden, der dich besser nicht entdecken sollte?“

„Ich kann es mir leisten, so rumzulaufen. Genauso wie du es dir leisten kannst, so rumzulaufen. Du bist ein verdammt starker Genius, Urnue. Und das gibt dir das Recht, es auch zu zeigen. Wenn du dich im Durchschnitt versteckst, wird man dich auch nur für Durchschnitt halten.“

„Unterschätzt zu werden ist nicht so schlimm wie ne große Klappe und nichts dahinter, ist meine Meinung.“

Victor lächelte warm. „Im Gegenteil. Wenn deine Gegner glauben, daß du stark bist, erspart dir das von vorn herein eine ganze Menge Ärger.“

Nun war es Urnue, der belustigt feixen musste. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß dich mal einer für nen starken Gegner gehalten haben könnte, so wie du aussiehst.“

„In meiner menschlichen Gestalt wahrlich nicht.“, gab Victor zurück. Er wusste selber, daß er wie ein harmloser Milchbubi aussah und nahm es mit Humor. Dann wurde er spürbar wieder ernster. „Urnue, tust du mir einen Gefallen und lässt mich mal ne Weile alleine durch die Gegend ziehen? Ich hab was zu erledigen, wo ich dich nicht brauchen kann. Lass uns später irgendwo wieder treffen, was hältst du davon?“

„Gar nichts. Ruppert hat mir aufgetragen, sicher zu stellen, daß du keinen Blödsinn treibst. Also egal was du vor hast, ich komm mit.“

„Wie du willst. Aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. ... Taxi!“, rief er und hielt den Anhalter-Daumen auf die Straße hinaus. Es scherte auch sofort eines der vielen Taxis aus und fuhr links heran, um ihn und Urnue einzusammeln. Linksverkehr, daran musste sich der Russe erst noch gewöhnen.

„Guten Tag, Sir. Wo darf ich Sie denn hinbringen?“, wollte der Fahrer freundlich wissen.

„Zum St. Dunstan-in-the-East.“, meinte Victor und hoffte, der Taxifahrer würde ihn trotz seines russisches Akzentes gut verstehen.

„Oh Gott ... ich ahne jetzt schon, daß das ne ganz bekloppte Idee wird.“, stöhnte Urnue, der sich mit zu ihm auf die Rückbank zwängte. St. Dunstan-in-the-East war eine Kirchenruine. Der Park drumrum war zwar öffentlich zugänglich und ganz hübsch, aber die Ruine selber galt mit als eine der gruseligsten von ganz London. Und das zu recht. Dort hausten angeblich Rotkappen, echt gemeine Viecher, die Menschen erschlugen und ihre Mützen mit dem Blut ihrer Opfer rot färbten. Deshalb mied man das Gebiet in der Regel weiträumig, sobald es dämmrig oder gar dunkel wurde.

„Sir, die Sonne geht bald unter. Ich bring Sie gerne hin, aber seien Sie dort dann bitte vorsichtig, ja?“, warf auch der Taxifahrer ein, wenngleich er gehorsam losfuhr.
 

Urnue schlang fröstelnd die Arme um sich und schaute mit weit aufgerissenen Augen im Park herum. Offiziell war der Park schon geschlossen. Sie hätten gar nicht mehr hier sein sollen. Und er verfluchte Victor dafür, daß der dennoch einen illegalen Weg gefunden hatte, sich jetzt noch Zutritt zu diesen Gemäuern zu verschaffen. „Hör mal, Ruppert wird uns sicher schon vermissen. Wir sollten nach Hause gehen.“ Er bekam wie erwartet keine Antwort. „Was genau suchen wir denn hier?“

„Iwan Pawlowitsch. Auch bekannt als 'Rollender Rubel'. Du würdest ihnen vermutlich als 'Motus-Wichser' bezeichnen.“, schmunzelte Victor.

„Rollender Rubel. Sagt mir was. Ist der gefährlich?“

„ALLE Motus-Killer sind gefährlich, Urnue. Er wurde hergeschickt, um die Rotkappen hier zu beseitigen. Er sollte erst wieder nach Russland zurückkommen, wenn er alle erwischt hat. Soweit ich weiß, hat er ...“

„Was willst du von dem!?“, zischte der Genius Intimus schockiert dazwischen.

„Ihn umlegen.“

„Victor!“

„Ich sagte doch, das würde dir nicht gefallen. Du wolltest ja unbedingt mitkommen.“

„Spinnst du? ... Der Park ist schon seit ner Stunde zu! Wir sind die letzten hier! Woher weißt du, daß er gerade heute hier ist?“

„Vertrau mir, er ist hier.“, entschied Akomowarov und stiefelte festen Schrittes voraus. Sein neuer, offener Ledermantel, wehte hinter ihm her wie ein Umhang. Wenn es noch etwas dunkler war, würde er damit nahtlos mit der Nacht verschmelzen.

Dann ging plötzlich alles furchtbar schnell. Hinter einer hohen Rosenhecke trat ein Mann hervor in ihr Sichtfeld, der – in dem Glauben ungestört zu sein – abgelenkt an den Mauern der Ruine hochschaute. Victor griff unter seinem Ledermantel nach hinten, zog mit einer geübten Bewegung eine Pistole aus seinem rückwärtigen Hosenbund und legte eiskalt an. Urnue riss ihm die Arme samt der beidhändig geführten Waffe nach oben, so daß der Schuss in den Himmel ging. Iwan – jedenfalls nahm Urnue an, daß es der Gesuchte war – wirbelte erschrocken herum, erkannte Victor, und rannte fluchend davon.

eto angliya, du Blödmann!“, zischte Urnue entrüstet. Auf Russisch, damit der skurpellose Geselle es auch ganz sicher verstand. „Das ist England! Du bist hier nicht mehr in Sibirien, wo es keine Sau kümmert, wenn einer von der Bildfläche verschwindet und nie wieder gesehen wird!“

Victor schaute dem flüchtenden Mann emotionslos nach, bis er außer Sicht war, dann steckte er mit einem stummen Seufzen die Pistole wieder ein. Ohne Urnue ins Gesicht zu sehen. Man konnte absolut nichts aus diesem Blick lesen. Weder Einsicht, noch die Wut darüber, aufgehalten worden zu sein.

„Du bist bewaffnet?“, zeterte Urnue aufgebracht weiter.

„Denkst du denn, ich bin lebensmüde? Weißt du, wer alles hinter mir her ist? Ich lauf doch nicht ungesichert in der Gegend rum.“

„Wo hast du die her? Ruppert hat dir doch keine Knarre gegeben!“

„Die hab ich mir am Bahnhof aus einem Gepäckschließfach geholt. Die Motus hat mehrere solcher Waffendepots in etlichen Städten, in denen sie aktiv ist.“

„Ist die Waffe registriert?“

„Natürlich nicht.“, schmunzelte er mit einem wo-denkst-du-hin?-Ausdruck.

„Ich will nicht, daß du mit ner Knarre rumläufst!“, maulte Urnue, immer noch ein wenig hysterisch. Das Adrenalin rauschte ihm noch in den Ohren. Er war noch nie zuvor so richtig mit Waffengewalt konfrontiert worden. Ruppert hatte immer nur mit den Konten und Wirtschaftsbüchern zu tun gehabt, nie mit dem eigentlichen Geschäft, das sich tagtäglich draußen abgespielt hatte.

„Warum denn nicht?“

„Ich glaube nicht an Waffen!“

„Oh, wenn du das erste Mal in den Lauf einer 39´er geschaut hast, die auf deinen Kopf gerichtet ist, wirst du es. In unserem Gewerbe kommt man mit seinen gottgegebenen, magischen Fähigkeiten selten weiter.“ Geradezu ungerührt setzte Victor sich in Bewegung und folgte seinem Opfer in die Richtung, in die es geflohen war. Wahrscheinlich war Iwan in die Kirchenruine eingedrungen und hatte sich darin verschanzt. Das war der einzige halbwegs sichere Rückzugsort in diesem Gelände.

Urnue kriegte sich langsam wieder ein, also kam auch die Neugier wieder durch. „Wie schaffst du es, daß die Pistole die Verwandlung mitmacht, wenn du deine Gestalt änderst?“

„Tut sie nicht. Wenn ich mich verwandle, verliere ich sie, oder muss sie vorher weglegen. Ich kann sie in meinen Klauen tragen, aber da nützt sie mir nicht viel.“, erzählte er, während er sich unaufhaltsam weiter seinen Weg bahnte. Wie erwartet lehnte die Tür der Ruine bloß an. „Bleib lieber draußen, wenn dir dein Leben lieb ist.“ Er durfte Iwan Pawlowitsch nicht unnötig Zeit geben, sich wieder zu sammeln oder Gegenmaßnahmen einzuleiten. Ohne sich mit viel Gefackel aufzuhalten, zerrte er seine Pistole wieder hervor und stieß die Tür ruckartig auf. In penetrant selbstsicherer, aufrechter Haltung trat er in die alte, verwitterte Kirche, von der nur noch die Grundmauern ohne Dach standen, ein und ballerte im Vorwärtsgehen sein gesamtes Magazin leer. Einhändig. Er hatte Iwan schon längst hinter der nächsten Tür entdeckt und hinderte ihn durch den Dauerbeschuss daran, eigene Aktionen zu starten oder aus seiner Deckung zu flüchten. Als Victors Pistole nur noch ein leeres Klicken von sich gab, sprang Iwan zwar kurzentschlossen aus seinem Versteck, aber Victor hatte bereits ein neues Magazin aus seiner Gesäßtasche gezerrt, das alte aus dem Magazinschacht fallen lassen, das neue hineingerammt, und schoss weiter, ehe Iwan auch nur einen einzigen, eigenen Angriff starten konnte. Fluchend hechtete der Rotkappenjäger zwischen Querschlägern und aus den Wänden gesprengten Gesteinsbröckchen zurück in sein Versteck. Ehe Victor das zweite Magazin komplett geleert hatte, war er an der Durchgangstür angelangt, verschaffte sich in nach wie vor arrogant aufrechter Haltung, ohne die geringste Angst, regelrecht kaltblütig, Zugang zum hinteren Raum und entschwand damit aus Urnues Sichtfeld.

Urnue sah noch einen kurzen Eissturm durch die Durchgangstür fegen, der das halbe Kirchenschiff weiß färbte, dann ein Aufschrei, der eindeutig nicht von Victor stammte, dann Stille. Urnue ließ seinen angehaltenen Atem wieder fahren und keuchte stattdessen überrumpelt auf. Das Eis war wohl das letzte Aufgebot dieses Iwans gewesen. Der Kerl war offenbar ein Hypothermiker gewesen, er hatte die Fähigkeit gehabt, alles zu unterkühlen und zu Eis gefrieren zu lassen. Diese Fähigkeit war hier in England eher selten. Die fand man vorrangig bei Magiern und Genii, die aus nördlicheren Ländern kamen, wo es schon von Natur aus immer kalt war.

Victor tauchte stoisch aus dem Hinterzimmer auf und kam ohne Eile wieder nach vorn zum Ausgang. Auf seinem meterlangen Weg durch das Kirchenschiff lud er in aller Ruhe seine Pistole nach und steckte sie dann weg. Wieder hinter seinen Rücken in den Hosenbund, gut versteckt unter dem weiten Ledermantel. „Lass uns gehen.“, meinte er zu Urnue, der immer noch fassungslos, wie vom Donner gerührt, herumstand. Victors Gesichtszüge waren weich, als müsse er hart gegen ein Lächeln ankämpfen, als er den Genius Intimus ansah.

Differenzen

„Hey, ihr wart aber lange weg.“, begrüßte Ruppert die beiden, als er ihnen zu Hause die Tür öffnete. „Was ist denn mit dir passiert?“, wollte er von Urnue wissen, der als erster herein stapfte.

Der Genuis Intimus sagte nichts. Er zog nur ein versteinertes Gesicht, klatschte schlecht gelaunt die Einkaufstüten auf den Boden, die er getragen hatte, und stakste dann mit verschränkten Armen in Richtung Badezimmer davon.

Ruppert musterte als nächstes Victor und dessen neuen, bodenlangen, schwarzen Ledermantel. Er konnte sich ein abwertendes Brummen nicht verkneifen. „Du hast genauso einen furchtbaren Geschmack wie Urnue. Kein Wunder, daß ihr zwei euch so blendend versteht.“

„Oh, da wäre ich mir jetzt nicht mehr so sicher.“, lachte der Russe. „Im Moment findet er mich gar nicht mehr so cool.“

„Wieso?“

„Ich hab den 'Rollenden Rubel' kalt gemacht.“

„Wie bitte!?“

„Ich hab Urnue gebeten, heim zu fahren, aber er wollte unbedingt mitkommen. Ich kann nichts dafür!“, hob Victor sofort abwehrend die Hände. „Aber dein Genius Intimus war zu keinem Zeitpunkt in Gefahr. Ich hab gut auf ihn Acht gegeben.“

„Das meinte ich nicht!“, jappste Ruppert Edelig überrumpelt. „Du kannst doch nicht einfach in London rumlaufen und Leute kalt machen!“

„Wir haben jahrelang nichts anderes getan als das, Ruppert. Und die Polizei hätte es auch nicht geschafft, ihn lebend zu fangen. Wenn sie ihn überhaupt gefunden hätte. Und du weißt selber gut genug, daß das Schwein es verdient hat. Ein paar Jahre Gefängnis auf Staatskosten hätten nie wieder aufgewogen, was er alles getan hat. Im Gegenteil, wahrscheinlich hätte er es noch geschafft, aus dem Gefängnis zu entfliehen.“

Urnue war inzwischen aus dem Bad zurück und hatte die letzte Argumentation der beiden noch mitbekommen. „Du bist keinen Deut besser als der!“, hielt Urnue ihm sauer vor. „Du bist hier in der zivilisierten Welt! Hier gelten Gesetze! Und im Gegensatz zu deinem Russland hält man Gesetze hier auch ein!“ Die ganze Rückfahrt über hatte Urnue verbissen die Klappe gehalten. Klar, er konnte ja auch schlecht im Beisein eines Taxifahrers auswerten, wie mies er es fand, daß Victor gerade einen Mord begangen hatte. Aber jetzt, wo sie wieder unter sich waren und frei sprechen konnten, sprudelte alles aus ihm heraus.

„Mir scheint, du hast keine Ahnung, wer der Kerl war.“, meinte Victor versöhnlich.

„Es ist mir scheißegal, wer der Kerl war! Nichts gibt dir das Recht, mit ner Waffe durch London zu rennen und kaltblütig Leute abzuknipsen! Genau genommen hast du nichtmal das Recht, überhaupt mit ner Waffe durch London zu rennen! ... Ich bin im Keller, wenn ihr mich sucht. Ich muss nen Sandsack vermöbeln.“

Sowohl Ruppert als auch Victor seufzten still in sich hinein, ließen ihn aber gehen. Der musste sich erst wieder abregen. „Was hast du mit der Leiche gemacht?“

„Hab sie mit einem Feuerzauber restlos eingeäschert.“

Ein verstehendes Nicken. „Ich hoffe, deine Aktivitäten ziehen keine Aufmerksamkeit auf sich, Dragomir.“, gab Ruppert zu bedenken. „Im Moment hat Vladislav vielleicht keine Ahnung, wo du steckst. Aber wenn hier noch mehr Motus-Handlanger auf mysteriöse Weise verschwinden, merken die bestimmt sehr schnell, daß du in London bist.“

Victor nickte mit einem dünnen Lächeln. „Ich weiß ... Ich hoffe ja, daß er möglichst bald von der Polizei festgesetzt wird, so wie schon der Rest seiner Führungsetage.“
 

„Wo willst du hin?“

„Ach, du redest wieder mit mir?“, entgegnete Victor belustigt, als er am nächsten Tag von Urnue im Flur dabei erwischt wurde, wie er sich gerade seinen langen, schwarzen Mantel um die Schultern warf und in die Ärmel schlüpfte. Er hatte Urnue den ganzen gestrigen Abend nicht mehr zu Gesicht bekommen und heute hatte der Genius Intimus noch kein Wort mit ihm gewechselt. Der hatte geschmollt und Victor mit Nichtachtung gestraft. Er war immer noch spürbar angefressen von Victors kriminellem Treiben, egal ob für oder gegen die Motus.

„Wo du hin willst, hab ich gefragt!“, zischte er sauer.

Victor deutete leichthin auf die Tür. „Raus.“, meinte er nur, mehr nicht.

„Hast du wieder deine Pistole dabei?“

„Na logisch.“

„Her damit! Rück sie raus!“, verlangte Urnue und streckte ihm fordernd die Hand hin.

„Nimm sie mir ab, wenn du dich traust!“, schmunzelte der Russe.

Urnue starrte ihn eine Weile feindseelig an, bewegte ihn damit aber offensichtlich nicht zu einer Kapitulation. „Schön, du Revolverheld, ich komme mit! Egal wo du hin willst oder was du vor hast! Wage es ja nicht, ohne mich zu gehen!“, legte er fest und verschwand wieder durch die Tür.

Victor musste schon fast lachen, als er ihm ins Wohnzimmer folgte.

„Ruppert, Victor will außer Haus!“, trug Urnue seine neuen Erkenntnisse breit.

Victor will außer Haus ...“, äffte der Bankenbesitzer ihn nach. „Meine Fresse, Urnue, du bist wie ein kleines Kind, das bei seiner Mami petzen geht. Was interessiert´s mich, ob er raus geht oder nicht? Dragomir ist erwachsen und mir keine Rechenschaft schuldig. Lass ihn doch rausgehen, wenn er´s unbedingt braucht.“

„Er hat ne Knarre einstecken!“

„Und?“

„Und!? Er wird wieder Leute meucheln!“

Ruppert reagierte nur mit einer abfälligen Handbewegung und wandte sich wieder seinem Laptop zu, um weiter zu arbeiten.

„Wenn er rausgeht, werde ich mitgehen!“, informierte Urnue ihn bockig.

„Meinetwegen.“

„Ich halte das für keine gute Idee.“, streute Victor nachdenklich ein. „Wenn Urnue erkannt und mit mir zusammen gesehen wird, wird man Rückschlüsse ziehen, daß ich mich in deinem Haus aufhalte. Oder zumindest, daß du mir hilfst. Ich will euch beide nicht unnötig in Gefahr bringen.“

„Dann lass deine Waffe da!“, verlangte Urnue streng.

„Nix da, mich selber will ich ja auch nicht unnötig in Gefahr bringen. Die nehm ich mit!“

„Jetzt macht mich doch nicht wahnsinnig, ihr zwei!“, maulte Ruppert genervt. „Nimm Urnue und dein Schießeisen und zieh endlich Leine! So bekannt ist Urnue bei der Motus nicht, ich hab sein Gesicht nie rumgezeigt!“

„Wie du meinst.“
 

„Okay, dann erzähl mal. Wen jagen wir heute?“, wollte Urnue muffelig wissen, als sie gemeinsam davonschlenderten. Unfassbar, daß er schon wieder seinen Schützling allein ließ, um mit diesem Verbrecher um die Häuser zu ziehen. Diesmal sogar freiwillig. Er war entsetzt über sich selbst. Er hatte das Gefühl, durch den schlechten Umgang einem akuten Werteverfall anheim zu fallen.

Victor lachte nur. „Wieso bist du mitgekommen, hm? Um zu verhindern, daß ich noch mehr Leute über den Haufen schieße? Du hast doch weder den Mut, noch die Macht, mich aufzuhalten, wenn es drauf ankommt.“

„Ich weiß auch nicht.“, gestand der Genius Intimus, nun eine ganze Ecke ruhiger. „Ich hab mit Ruppert gestern noch die halbe Nacht über Iwan Pawlowitsch diskutiert. Diesen Kerl, den ihr 'Rollender Rubel' genannt habt. Der muss echt ein Dreckschwein vor dem Herrn gewesen sein. Hat seine eigene Frau über Tage hinweg zu Tode gefoltert und seine eigenen Kinder einem seltsamen Totengott geopfert, wobei sie lebendig verbrannt wurden. Mit seinen zahllosen anderen Opfern scheint er ausnahmslos ähnlich verfahren zu sein. Der Typ war echt ein Sadist. Und ich sehe ein, daß unser Rechtssystem so einem Psychopathen nicht gerecht werden kann. Wahrscheinlich hätten sie ihn noch für unzurechnungsfähig gehalten und gar nicht erst bestraft. Allerdings bin ich auch der Meinung, daß ihn einfach abzuknallen auch nicht der richtige Weg war. Ich seh nur keine Alternative. Welche Strafe wäre für so einen Typen gerecht? Ich weiß nicht, was man mit so einem am besten machen sollte. Er gehört weg, keine Frage. Aber wie? Wie wird man so einen auf korrektem Wege los, ohne selber auf sein dreckiges Niveau herab zu sinken? Wenn man ihn tötet, wird man selber zum Mörder und ist keinen Deut mehr besser als er. Das ist ne Zwickmühle. ... Seit ... seit ich mit dir im St. Dunstan-in-the-East war, weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich noch denken soll. Meine ganze Moralvorstellung ist aus den Fugen geraten, seit ich dich besser kenne und zu verstehen beginne, was du tust.“

„Ruppert hat dir nie viel über die Motus erzählt, was?“

„Nein. Er hat mich da immer rausgehalten und ich war dankbar dafür. Ich hab ihn auch nie groß danach gefragt. Ich wollte das gar nicht wissen. Ruppert hat ja auch nie selber Genii gejagt oder versklavt. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie eine Waffe in der Hand. Er wüsste nichtmal, wie man damit umgeht. Er hat immer nur Zahlen in Kassenbüchern hin und her jongliert. Mit der eigentlichen Arbeit der Motus sind wir beide nie so direkt konfrontiert worden.“

„Die Motus ist voll von solchen psychopathischen Schweinen wie Iwan. Dutzende, wenn nicht gar hunderte. In 8 Ländern der Welt. Und es gibt keinen, der sich um sie kümmert. Die Justiz wird es nicht. Wenn man solche Kaliber jagen will, hat man keine andere Wahl als so zu werden wie sie, sonst hat das mit Gerechtigkeit nichts zu tun.“

Urnue nickte langsam. „Ja, vermutlich. Und genau das ist der Punkt, mit dem ich mich partu nicht anfreunden kann.“

„Das verlangt ja auch keiner von dir. Im Gegenteil, ich bin froh, daß du noch sowas wie Moral und Werte hast, Urnue. Bewahr dir das. Und pass auf, daß Ruppert sich das auch bewahrt. Er ist ein guter Mann, auf seine Art. Und alles weitere überlasst mir. Lasst mich einfach meine Arbeit machen, mehr will ich nicht.“

Urnue warf ihm einen unschlüssigen Seitenblick zu. „Willst du die Wahrheit hören? Das schlimmste ist, daß ich nichtmal Angst vor dir habe. Das ich dich trotz der Aktion gestern immer noch ziemlich hoch achte, setzt mir gerade am meisten zu.“
 

Victor stand auf dem Dach eines Hauses und schaute aufmerksam in die Straße hinunter. Inzwischen war auch Urnue bis hier rauf vorgedrungen. Im Gegensatz zu Victor konnte er zwar nicht fliegen, aber er hatte es in seiner Wieselgestalt dennoch irgendwie geschafft, im Hinterhof über die Äste eines Baumes bis auf das Dach zu klettern und zu springen. Rupperts Genius Intimus war echt gut, er hatte eine fabelhafte Körperbeherrschung, dachte Victor anerkennend und versuchte ihn darüber hinaus zu ignorieren. Sein Augenmerk lag gerade viel mehr auf den Passanten unten auf der Straße.

„Wonach genau suchen wir?“, wollte Urnue gelangweilt wissen. Sie hockten immerhin schon seit über zwei Stunden hier oben und beobachteten den alltäglichen Trubel auf den Fußwegen. Er war es langsam leid. Und er wollte endlich zurück zu seinem Schützling, der alleine zu Hause saß. Ihre Haushälterin war zwar auch eine ungebundene Genia und konnte im Notfall handeln, aber Urnue war es entschieden lieber, seinen Schützling selber zu verteidigen.

Victor hatte seine Zielperson endlich entdeckt. Einen Motus-Sklavenhändler, der dafür bekannt war, etliche seiner weiblichen Sklaven missbraucht zu haben, bevor er sie verkauft hatte, und nicht wenige auch einfach um die Ecke gebracht hatte, wenn er der Meinung war, daß sie sowieso keinen guten Preis erzielen würden. Statt Urnue zu antworten, griff er unter seinem Ledermantel nach hinten und zog seine Waffe aus dem rückwärtigen Hosenbund. Es waren verdammt viele Leute auf dem Gehsteig. Er musste gut zielen, wenn er nicht jemand falschen anschießen wollte. Aber dazu kam er gar nicht mehr, denn in diesem Moment sprang ihn ein riesiges Wiesel von der Seite an und riss ihn hart zu Boden. Die Waffe flog ihm aus der Hand und segelte klappernd über das Häuserdach davon, um ein Stück weiter weg liegen zu bleiben.

Victor drehte sich reflexartig auf den Rücken und spürte auch schon das schwere Gewicht von Urnue auf sich, der – nun wieder in seiner menschlichen Gestalt – rittlings auf ihm saß. Er riss beide Arme vor das Gesicht, um sich vor den wilden, wütenden Schlägen zu schützen, mit denen Urnue ihn eindeckte, und musste einen Moment lang fieberhaft überlegen, was er tun sollte. Alle Kampftechniken, die ihm auf die Schnelle einfielen, hätten Rupperts Genius Intimus sofort getötet. Und das wollte er nicht. Er war schon ewig nicht mehr in einer Situation gewesen, in der er sich wehren musste, ohne sein Gegenüber zu verletzen.

„Du Flachzange, du gottverdammte! Lass die scheiß Knarre stecken!“, schrie Urnue ihn stinksauer an und deckte ihn wie eine Furie weiter ungehalten mit Prügel ein. „Du legst hier niemanden um, wenn ich es verhindern kann! Verruchter Penner, ich hasse dich! Ich prügel dir deine gewissenlose Mordsucht aus dem Leib!“ Und noch mehr Fausthiebe. Die Tatsache, daß Victor schon wieder Leute abknallen wollte, ließ ihm eine Sicherung rausschnappen. Das sollte er nicht! Das durfte er nicht! Nicht nochmal! Urnue war völlig in Rage geraten.

Okay, das reichte, entschied Victor. Er griff hart in einen Druckpunkt in Urnues Oberschenkel, damit der Genius vor Schmerz hochzuckte, und zwängte dann einen Arm durch die so entstandene Lücke zwischen seinem Körper und Urnues Hosenboden. Mit der anderen Hand krallte er Urnue vorn am T-Shirt. Dann hob er das erschrockene Kerlchen mit Wucht aus und schleuderte ihn von sich.

Urnue flog gefühlte zwei Meter weit über das Dach und kam mit einer geschickt abgefangenen Vorwärtsrolle wieder auf, rollte aber durch den massiven Schwung, den er von Victor mitbekommen hatte, noch einige Überschläge weiter. Als er endlich wieder Herr über sich und seine Körpermotorik war, fuhr er knurrend herum.

Ihrer beider Blicke fielen gleichzeitig auf die Wurzel allen Übels. Victors Waffe lag genau mittig zwischen ihnen auf dem Dach. Urnue und Victor fixierten einander. Das hier würde eindeutig ein Wettkampf werden. Wer die Waffe zuerst erreichte, hatte gewonnen und bestimmte über deren weiteren Verbleib. Entweder Victor war eher bei der Pistole oder er musste fortan ohne sie auskommen.

„Glaub mir, ich bin schneller als du!“, drohte Urnue böse und war schon auf dem Sprung, als warte er nur auf einen Startschuss.

„Schon möglich. Aber im Gegensatz zu dir bin ich gefährlich.“, lächelte der Russe zuckersüß zurück.

Wie auf Kommando sprangen sie beide gleichzeitig vor. Victor verwandelte sich im Sprung in einen großen, schwarzen Wolf, so daß Urnue plötzlich riesige, gefletschte Reißzähne auf sich zukommen sah und entsetzt schreiend mitten in der Bewegung wieder zurückprallte.

Als Victor die Pistole erreicht hatte, hatte er bereits wieder seine harmlose menschliche Gestalt angenommen. Lachend saß er im Hirtensitz auf dem Boden, die Waffe im Anschlag. „Du kannst mich nicht schlagen.“, bekräftigte er.

„Hör auf, mit dem Ding auf mich zu zielen!“, maulte Urnue sauer. Das war in seinen Augen unfaires Spiel gewesen, aber was sollte er machen. Victor hatte die Pistole wieder, die Sache war entschieden.

Victor hob ergeben die Hände, samt der Waffe darin, sicherte diese und steckte sie dann in Ruhe weg.

„Schön. Ich hab´s vielleicht nicht geschafft, dir die Knarre wegzunehmen, aber ich hab immerhin verhindert, daß du wieder jemanden umbringst. Damit bin ich zufrieden.“, stellte Urnue selbstsicher klar, als er aufstand und sich die Kleider zu ordnen begann.

„Diese Rechnung geht nicht auf. Du hast ein Leben gerettet, aber damit mindestens vier andere dem Tode geweiht, Urnue.“, erklärte der Russe mild. Er war nicht böse oder nachtragend. Weder, daß sein Zielobjekt ihm nun inzwischen entkommen war, noch, daß er von Urnue gerade Prügel bezogen hatte. Er hatte Verständnis für Urnues Skrupel. „Der Kerl ist auf Mission. Er wird fröhlich weiter Genii töten. Die Killer von der Motus stören sich nicht daran, daß der Chef weg ist. Die arbeiten nicht aufgrund von Befehlen, sondern aus Überzeugung. Die machen auch ohne Vladislav weiter, wenn sie nicht aufgehalten werden.“

Abschied

„Ich geh mal ne Runde raus.“

„Ohne Waffe?“ Urnue holte die Pistole hervor und legte drohend auf Victor an.

„Ah, du hast sie!?“, gab er nur unbekümmert zurück. „Die hab ich schon vermisst.“ Er schenkte Urnue ein Lächeln und richtete weiter seine Kleider. Heute hatte er sich entschieden, seinen Ledermantel vorn zu zu machen, aber irgendwie wollten die Schnallen nicht so, wie er es gern gehabt hätte.

„Ich ziele auf dich, verdammt!“

„Das ist nicht die erste Knarre, die auf mich gerichtet ist.“

„Hast du gar keine Angst vor mir?“, wollte Urnue grenzhysterisch wissen und kippte die Pistole horizontal auf die Seite, damit es cooler und hoffentlich selbstbewusster aussah. Es machte ihn fertig, daß der Russe sich überhaupt nicht beeindrucken ließ.

„Angst? Vor dir? Ach was!“

„Ich bin bewaffnet! Und du nicht!“

„Ich brauch nicht unbedingt Waffen. Ich kann auch mit Magie und Körpereinsatz sehr effektiv kämpfen, wenn es sein muss.“

Urnue ließ die vorgehaltene Waffe resignierend etwas sinken. „Ja, als großer, schwarzer Wolf bist du sehr überzeugend.“, gab er finster zu.

Victor seufzte leise und ließ die Hände in den Taschen des nun ausreichend zurechtgezurrten Mantels verschwinden. Er hatte keine Lust mehr zu diskutieren. „Hör zu, wenn du mich doch nicht umlegst, würde ich jetzt gern gehen.“

Die Pistolenmündung zuckte wieder hoch. „Du wirst das Haus nicht verlassen, das erlaube ich nicht! Du willst doch sicher wieder diesen Sklavenhändler suchen, der dir letztes Mal durch die Lappen gegangen ist! Ich lasse nicht zu, daß du Leute erschießt! Es muss einen anderen Weg geben, diese Verbrecher loszuwerden!“

„Das entscheidest nicht du. Also dann, bis später, wir sehen uns.“, schmunzelte Victor und zog die Haustür auf, um in den mit hohen Hecken umsäumten Vorgarten zu entschwinden.

Nachdem Victor jetzt fast drei Wochen lang das Haus nicht mehr verlassen hatte, hatte Urnue beinahe geglaubt, der Kerl hätte seine Pläne aufgegeben. Weit gefehlt, wie er nun sehen musste. „Aber ... aber ... deine Pistole!?“, rief Urnue ihm hinterher.

„Behalt sie. Pass gut auf sie auf, bis ich wieder da bin.“

Fluchend steckte der Genius Intimus die Waffe weg und hechtete ihm nach.

„Was denn, kommst du mit?“

„Darauf kannst du deinen Hintern verwetten.“

Victor streckte ihm warmherzig die Hand hin. „Dajtje mnje pistolet. Na los, gib mir die Knarre wieder. Bevor du dich damit noch selber verletzt.“ Er bekam sie auch ungesehen ausgehändigt, auch wenn Urnue dabei etwas beleidigt aussah. „Ich versteh dich nicht, Urnue. Einerseits hast du so ein Problem mit dem, was ich tue. Aber trotzdem kommst du immer wieder mit. Ohne den ernsthaften Versuch, mich aufzuhalten.“

„Letztes Mal habe ich dich aufgehalten!“

„Also wenn das ein ernsthafter Versuch war, dann bin ich enttäuscht von dir. Ich hab ja nichtmal einen blauen Fleck abgekriegt.“

Urnue ließ geschlagen den Kopf hängen. „Du bist so ein arroganter Penner, man. Ich weiß echt nicht, warum ich dich immer noch so gut leiden kann.“

„Aber ich weiß es.“, erwiderte Victor mit einem plötzlich sehr traurigen Lächeln. Dann legte er die Pistole auf den Boden, um sie bei der Verwandlung nicht zu verlieren, nahm die Gestalt eines unscheinbaren Vogels an und hob ab, um eine schnelle Runde über dem Straßenzug zu drehen und zu sehen, ob die Luft rein war. Wäre ja blöd gewesen, wenn irgendjemand von der Motus ihn fröhlich aus Rupperts Haus hätte herausspazieren sehen.

Urnue blieb unten am Grundstückstor allein zurück, ohne des Rätsels Lösung erfahren zu haben. Warum mochte er diesen Russen so? Weil der echt was drauf hatte? Weil sein fortwährend gutgelauntes Lächeln davon zeugte, daß seine selbstgefälligen Kommentare eigentlich nur Spaß waren, und nicht ernst gemeint? Schulterzuckend zog er sein Handy heraus und nutzt die Zeit dazu, Ruppert anzurufen, um ihm wenigstens mitzuteilen, wo er steckte. Er hatte in seiner Eile, Victor nicht allein davonkommen zu lassen, nichtmal mehr Bescheid gesagt, daß er außer Haus war. Er musste sich das wieder abgewöhnen, ständig mit Victor draußen rum zu ziehen. Er war ein Genius Intimus, ein an einen Menschen gebundener Schutzgeist, und sollte sich eigentlich ständig in der Nähe seines Schützlings aufhalten.

Es dauerte gar nicht lange, bis der rabenschwarze Vogel wieder neben ihm zu Boden ging und wieder zu Victor wurde, welcher in Ruhe seine Pistole einsammelte. „Der Weg ist frei. Wir können los.“
 

An diesem Abend saßen sie gewohnheitsmäßig zu dritt am Küchentisch, um Abendbrot zu essen. Urnue war ja schon längst in die Riege der Eingeweihten aufgestiegen, aber die Haushälterin wurde immer noch von Unterhaltungen jeglicher Art ausgeschlossen. Sie hielt Victor nach wie vor für einen Freund, der einfach nur auf Urlaub hier war und Ruppert ohne konkreten Anlass besuchte.

Urnue schob sich mit der Gabel ein Stück Schnitzel in den Mund. „Mit Victor zu arbeiten, ist manchmal echt anstrengend.“, mampfte er mit vollem Mund.

„Ach, jetzt arbeitet ihr also schon zusammen?“, hakte Ruppert mürrisch nach. Er hatte nach wie vor ein Problem damit, daß sein Genius Intimus und Victor so dicke waren, auch wenn er es aufgegeben hatte, dagegen vorzugehen.

„Naja, nein, das war übertrieben. Aber echt mal, er tut Dinge, ohne sie dir zu erklären. Er verschwindet, ohne dir zu sagen, wohin oder warum, und lässt dich einfach dort zurück wo du gerade bist. Und taucht dann wieder auf und scheucht dich hoch, ohne dir zu sagen, was los ist.“

„Klingt nach nem ziemlichen Idioten.“, lachte Victor selbsthumoristisch und nahm einen Schluck von seinem englischen Bier, das dem englischen Kaffee an Lausigkeit in nichts nachstand.

„Oh, nein, im Gegenteil. Er ist einfach nur vorsichtig. Er muss sicher sein, daß du nicht zuviel weißt.“, hielt Ruppert an Urnue gewandt dagegen.

„Vertraut er mir nicht?“

„Doch. Dir schon. Aber er vertraut nicht seinen Feinden, die dich in die Finger kriegen könnten. Du bist dir doch wohl hoffentlich bewusst, daß das gefährlich ist, mit ihm in London rumzulaufen.“

„Ihn alleine rumlaufen zu lassen, wäre viel gefährlicher.“, maulte Urnue.

Victor stellte schmunzelnd sein Bier weg. „Hör mal, Ruppert, ich hab mich heute bei der englischen Zentrale der Motus rumgetrieben.“

Ruppert verschluckte sich akut an seinem Essen. „Bist du wahnsinnig?“, würgte er zwischen zwei Hustenanfällen.

ne volnujstjes. Keine Sorge. Ich bin nicht gesehen worden. Aber die Motus zieht gerade sehr offensichtlich alle verfügbaren Leute in London zusammen. Ich schätze, die haben spitz gekriegt, daß ich mich irgendwo hier in der Gegend aufhalten muss.“

„Selber Schuld!“, zickte Urnue dazwischen. „Was musstest du auch unbedingt diesen Eis-Speier verschwinden lassen!? Diesen Motus-Wichser da, den ihr 'Rollender Rubel' genannt habt.“

Victor ignorierte ihn. „Ich bin jetzt schon über 2 Monate hier bei dir, Ruppert. Und ich bin dir wirklich dankbar, daß du mir so lange Unterschlupf gewährt hast. Aber ich denke, jetzt ist es langsam an der Zeit zu gehen. Ich sollte weiterziehen. Ich bin inzwischen wieder fit und ich habe viel Arbeit vor mir.“

Ruppert atmete sichtlich durch. „Gut, wie du meinst. Ich wünsch dir Erfolg.“

„Was, du verlässt uns?“, wollte Urnue, schlagartig unglücklich, wissen. „Aber wo willst du denn hin?“

„Zurück nach Russland. Ich habe ein hübsches Plätzchen in der tiefsten, sibirischen Pampa gefunden, das ich mir herrichten werde. Dort findet mich niemand.“

„Und wann wirst du gehen?“

„Morgen bin ich weg.“

„Woar, so schnell?“, jammerte Urnue.

Ruppert nickte nur nachdenklich. „Nagut, ist mir recht. Meine beiden Söhne haben gefragt, ob sie wieder mit zu mir ziehen können. Sie haben wohl mit ihrer Mutter immer stärkere Differenzen und wollen dort weg. Da könnte ich sicher keinen Vize-Chef der Motus mehr im Haus brauchen. Aber lass trotzdem ab und zu mal von dir hören!“
 

Es war der nächste Vormittag. Der letzte Vormittag. Victor und Urnue standen inzwischen allein im Vorgarten. Ruppert, der noch nie ein sehr herzlicher Typ gewesen war, hatte seine Verabschiedung kurz gehalten und sich schon wieder auf den Weg zurück zum Haus gemacht. Urnue hingegen konnte sich immer noch nicht so recht von dem Russen trennen, der für ihn langsam Idol-Status hatte. Ja, er war ein Mörder und Verbrecher, daran hatte sich Urnue erst gewöhnen müssen, aber seine Opfer hatten es einfach nur verdient, ausnahmslos.

Victor warf einen sentimentalen Blick in die Wolken hinauf. „Wünschst du dir manchmal, du wärst mir nie begegnet?“

„Nein.“, meinte Urnue gelassen. „Am Anfang hab ich mir das oft gewünscht, aber inzwischen nicht mehr. Seit ich dich besser kenne und deine Arbeit verstehe, bin ich eher stolz, jemanden wie dich zum Freund zu haben ... Dragomir.“

„Vertraue den Menschen nicht. Sie haben dir wehgetan.“, raunte Victor ihm leise und ernst zu. Mit den Augen signalisierte er dabei vielsagend in Rupperts Richtung, um zu bekräftigen, daß er tatsächlich ihn meinte. „... und werden es wieder tun.“

„Vict- ... Dragomir. Das ist mein Schützling.“, flüsterte Urnue fassungslos zurück.

„Ja? Behandelt er dich so?“ Victor lächelte ihm aufmunternd zu, um zu sagen, daß er über das Thema in einer ruhigen Minute nochmal nachdenken sollte, dann wandte er sich mit einem symbolischen Griff an eine erdachte Hutkrempe ab und ging.

„Was?“, flüsterte Urnue, inzwischen nur noch zu sich selbst. Er war ein Genius Intimus. Er war an seinen Schützling gebunden, das musste Akomowarov doch klar sein. Er konnte nicht weg, geschweige denn Ruppert irgendwie schaden.

„Los, komm in die Gänge, du Abschaum.“, blaffte Ruppert, der schon in der Tür stand und nicht länger auf Urnue zu warten gedachte.

Nein, das sollte er auch gar nicht, begriff Urnue da. Er sollte Ruppert nichts antun. Das war es nicht, was Akomowarov ihm hatte sagen wollen. Er sollte sich nur mal deutlicher bewusst werden, wie Ruppert ihn eigentlich behandelte, und ob er das weiter so hinnehmen wollte. Und im gleichen Atemzug wurde ihm auch klar, warum er Victor die ganze Zeit so unerklärlich gern gemocht hatte. Weil der ihn nie so abfällig behandelt hatte. Victor hatte, trotz seiner ganzen selbstgefälligen Masche, nie so getan als wäre Urnue weniger wert als er selber. Mit einem dezenten Kopfschütteln und etwas mürrischer Miene drehte Urnue sich um und kam zum Haus zurück. „Ruppert, wir müssten mal über deinen Wortschatz reden!“, merkte er trotzig an.

„Was ist damit?“

„Du könntest dir mal nettere Namen für mich einfallen lassen.“

Ruppert schaute ihn mit großen Augen an, dann sah er Akomowarov nach, der gerade um eine Ecke verschwand, dann glotzte er wieder Urnue an.
 

Ende / Fortsetzung folgt ...


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, ihr Lieben, damit wären wir am Ende von Victors Vorgeschichte. Eigentlich wollte ich ja noch auflösen, welches Wesen denn nun wirklich in ihm steckt, also was seine wahre Gestalt ist, aber ... nö. Ich will diesen mysteriösen Typen nicht komplett enträtseln. Paar Geheimnisse darf er behalten.

Wie es weitergeht, könnt ihr in den bereits veröffentlichten FF´s 'Magister Magicae' ( = chronologisch gesehen Teil 2) und 'the world outside' ( = Teil 3) lesen. ^_^

Ich hab mich gefreut, daß ihr so lange dabei geblieben seid. Danke an alle Leser. Komplett anzeigen

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