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Collide

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Uuuuuuuuuuuuuuuuh... endlich, dieses Kapitel hab ich so (oder so ähnlich) tatsächlich seit neun Jahren im Kopf... und endlich komm ich dazu, es zu schreiben ^___^/ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Nur ne kurze Warnung, Sprache ist zum Teil etwas derber... Fluchen kann was soooo Schönes sein ;)

(Updates kommen langsamer wegen Real Life-Arbeitsoverload... oder so...) Komplett anzeigen

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André warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde, bis seine Schicht anfing. Genug Zeit für einen Kaffee. Mit einem Gähnen stand er wieder von der äußerst bequemen Couch im Pausenraum des 'Paradise Hill' auf, und machte die Kaffeemaschine an. Die Nacht würde interessant werden. Er hatte definitiv nicht genug geschlafen, aber wenigstens war es nur eine kurze Schicht. Und sobald er draußen war, umgeben von der Menge an Gästen, die einfach nur tanzen und Spaß haben wollten, und den Beat spürte, würde er schon wach werden. Und das Haus rocken, wie immer.
 

„Hey, du bist schon da!“
 

Ein Kribbeln breitete sich in seinem Nacken aus. Mit einem Lächeln drehte er sich zu Adam, der sich neben ihn gestellt hatte, und drückte ihm einen kurzen Begrüßungskuss auf die Lippen. Weich und süß, wie immer.
 

„Ja, irgendwie hab ich viel zu früh das Haus verlassen.“ Er lehnte sich mit dem Rücken an den Küchentresen und beobachtete Adam, wie er sich seine heiße Schokolade zubereitete. Es war ein Wunder, dass der Junge nicht regelmäßig einen Zuckerschock bei seinen Trinkgewohnheiten erlitt. „Du hast Pause?“
 

„Mhm, zum Glück. Es ist mega voll draußen.“
 

Adam verdrehte die Augen. Die wunderschönen, kristallblauen Augen. Die, die einen so intensiv anstarren konnten. So unschuldig. So traurig. Er hatte sich zuerst in diese Augen verliebt. Innerlich gab er sich einen Arschtritt. Der Zug war abgefahren. Adam war jetzt mit Leon zusammen. Und auch, wenn er nicht glaubte, dass das dauerhaft halten würde, er hatte keine Chance. Für Adam gab es nur Leon. Vermutlich für immer.
 

Und eigentlich war es lächerlich. Es war nicht das erste Mal, dass er verliebt war. Auch nicht das erste Mal unglücklich. Aber jedes Mal, wenn er Adam ansah, seine Augen, seine Haare, die sich im Nacken leicht kräuselten, sein süßes Lächeln, immer ein wenig unschuldig und ein wenig frech, wurde er doch wieder schwach. Mit seiner unerfüllten Liebe befreundet zu sein und zusammen zu arbeiten war wirklich nicht empfehlenswert.
 

So langsam sollte er wohl mal mit sich selber klar kommen. War Zeit, sich wieder ein paar heiße Dates zu organisieren.
 

„Wie war deine Weihnachtsfeier mit Leon?“
 

Und jetzt bitte: Smalltalk! Wenn er schon nicht Adams Partner sein konnte, so wollte er wenigstens sein Freund sein.
 

Adam sah ihn mit einem zutiefst genervten Blick an.
 

„Genauso, wie man sich das vorstellen kann. Ganz viel Blingbling, ganz viel Kohle und ganz viel sinnloses Geschwätz. Ernsthaft, an dem Abend hat Muse hier gearbeitet, und ich hab ihn dermaßen beneidet, das glaubst du gar nicht.“ Er nahm einen Schluck von seiner Schokolade und schloß kurz genießerisch die Augen. „Mhm. Du warst bei deinen Eltern über die Feiertage, oder? Wie war's?“
 

Diesmal war es an André, einen genervten Seufzer von sich zu geben.
 

„Ich durfte die herzallerliebste, supersüße Singletochter von einer der Freudinnen von meiner Mutter kennenlernen. Diesmal hat meine Mutter auf den Typ 'Süß mit riesigen Möpsen' gesetzt. Und damit mein ich nicht die Hunde.“
 

„Ernsthaft?“ Adam lachte leise auf. Mhm, er liebte dieses Lachen. Verdammt. „Gibt sie immer noch nicht auf?“
 

„Leider nicht. Sie denkt immer noch, dass alles wäre eine pubertäre Phase, und es braucht nur das richtige Mädel kommen. Irgendwie will sie auch nicht verstehen, dass man mit 26 schon länger aus der Pubertät raus ist.“
 

„Oh, apropos Pubertät.“ Er grinste. „Thomas meinte, er müsste dringend was mit dir besprechen. Du sollst in sein Büro kommen, sobald es geht.“
 

André musste sein Grinsen erwidern. Die Assoziation passte ganz gut. Thomas, der Besitzer des 'Paradise Hill', war bereits Ende 40, groß, hatte eine Glatze, Vollbart und ein Kreuz wie ein Schrank, benahm sich aber für gewöhnlich nicht unbedingt so. Er verliebte sich täglich neu, wobei seine Opfer von süß und niedlich bis zu supermännlich und megaschwul reichten. Dabei nölte er sie seine Mitarbeiter regelmäßig mit seinen neusten Eroberungen – oder dem neuesten Liebeskummer – zu und ließ sie an seinen liebestollen Gedanken teilhaben. Bei ihm hatte man tatsächlich öfter das Gefühl, dass die Pubertät ihn voll im Griff hatte. An und für sich war er aber ein guter Kerl. Er engagierte sich mit Herzblut in der schwulen Szene, und sein Haus war die Anlaufstelle Nummer 1 für jeden, der sein Herz ausschütten musste, und die Tür stand dementsprechend – im wahrsten Sinne des Wortes – immer offen. Ihn und André verband seit über zehn Jahren eine lose, aber gute Freundschaft. Seit der Zeit, als André selber noch ein hilfloser Junge auf der Suche nach seiner eigenen Identität gewesen war. Eine Zeit, die er zum Glück schon lange hinter sich gelassen hatte.
 

„Na, dann geh ich lieber.“ Er warf einen Blick auf die Uhr. „Ich muss mich auch noch aufwärmen und umziehen. Hoffentlich dauert es nicht zu lang.“ Mit einem verschmitzten Lächeln warf er Adam eine Kusshand zu. „Bis später!“
 

Auf dem Weg zu Thomas' Büro hörte er den Bass aus dem Tanzraum. Es kribbelte ihn in den Fingern, oder besser gesagt, in den Füßen, endlich raus zu gehen. Er liebte das Tanzen. Sich zu der Musik zu bewegen, sie in sich zu spüren, sie in Bewegung umzuwandeln, er konnte sich nichts besseres vorstellen. Er grinste. Tatsächlich, nicht mal Sex war so gut, wobei es immerhin sehr nah rankam.
 

Nach einem kurzen Klopfen betrat er das Büro. Es war kitschig wie immer. Die Wände waren voll mit Fotos von Mitarbeitern, ehemaligen Mitarbeitern, vielleichthoffentlichzukünftigen Mitarbeitern, beste Freunde, beste Feinde, beste Gäste, Leute, die keiner kannte, aber irgendwie mega Spaß hatten, Tänzer, Barkeeper, Ex-Lover und und und. Dazwischen befanden sich Postkarten, Eintrittskarten, Flyer, Buttons, Fähnchen, Blümchengirlanden, Schals und was man sich sonst noch alles als Erinnerungsstück irgendwohin hängen konnte. Es wirkte nicht wie ein Büro, sondern wie ein Sammelsurium an Erinnerungen. Zumindest wurde es einem nicht langweilig, wenn man hier mal länger auf den Chef warten musste, weil er sich mal wieder mit irgendwem irgendwo festgequatscht hatte.
 

„Hey, du wolltest mich sprechen?“
 

„André!“ Thomas sprang direkt auf, umschlang ihn mit einer Bärenumarmung und drückte ihm rechts und links ein Küsschen auf die Wange. „Mein Mann! Wie war dein Urlaub? Wieder ein paar süße Mädels kennengelernt?“
 

„Ja, wie immer. Meine Mutter lässt dich schön grüßen.“ Er lächelte und ließ sich auf einen der bequemen Sessel nieder. Thomas fand, Stühle im Büro waren viel zu spießig, also hatte er Sessel für seine Gäste aufgestellt. Sessel mit einem gräßlichen, roten Überwurf und bunten Plüschkissen. Ernsthaft, er war ein einziges, laufendes schwules Klischee. Wenigstens war er nicht Raumausstatter oder Friseur. „Ich muss mich gleich fertig machen. Adam hat gesagt, du willst mit mir reden?“
 

„Ehm.... ja.“ Nervös knetete Thomas seine Finger. „Machen wir es kurz und schmerzlos. Ich hab eine Bitte an dich.“ Er holte tief Luft. „Also... ich war über die Weihnachtsfeiertage bei meiner Schwester.“
 

Er machte eine Pause. Eine lange Pause. André zog fragend eine Augenbraue hoch. Unter kurz und schmerzlos verstand er was anderes.
 

„Jaaaa?“
 

„Mein Neffe... er wurde von der Schule geschmissen. Das Umfeld, in dem er momentan ist... naja, es ist nicht so gut für ihn. Er ist erst 15 und leicht zu beeinflussen und... naja... hat wohl ein bisschen Probleme.“
 

Wieder eine Pause. Thomas' Augen fixierten André flehentlich, doch der zuckte nur mit den Schultern.
 

„Worauf willst du hinaus?“
 

„Naja... ich hab mit meiner Schwester gesprochen... ich möchte den Jungen da raus haben, er braucht ein anderes Umfeld, jemand, der ihm ein bisschen Halt gibt. Er ist noch so... naja, unerfahren, unschuldig und so. Deswegen... ich hab ihn schon hier an der Schule angemeldet, er kommt nach Silvester hierher.“
 

„Okay.“ André runzelte die Augenbrauen. „Was hat das mit mir zu tun?“
 

„Najaaaaaa...“ Für Andrés Geschmack hatte dieses Gespräch zu viele 'najas'. „Du weißt, wie es bei mir zu Hause ist. Es sind immer fremde Leute da... und dauernd kommt oder geht jemand... und einige Leute sind jetzt auch nicht so empfehlenswert für einen 15jährigen...“
 

„Thomas...“ So langsam ahnte er, worauf das alles hinauslaufen sollte.
 

„Und deswegen dachte ich, er könnte vielleicht bei dir eine Zeit lang wohnen? Bittedaswürdemirsehrhelfen!!!“
 

„Thomas!“ Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Sah nicht so aus, als ob er es pünktlich auf die Bühne schaffen würde. „Ist das dein Ernst? Ich soll irgendeinen fremden Jungen bei mir aufnehmen? Du weißt, dass ich ein Loft habe? Ich hab nicht mal ein zweites Bett... soll er die ganze Zeit auf der Couch schlafen, oder was?“
 

„Du hast doch die Galerie!“ Thomas' Gesicht erstrahlte. Anscheinend hatte er dieses Argument erwartet, und schon das richtige Gegenargument vorbereitet. „Du nutzt die doch nicht, da würde ein Bett hinpassen. Ich kauf das naürlich auch. Und du kriegst Geld für alle Ausgaben und alles.“
 

„Thomas, das ist immer noch ein Loft!“ Hilflos rieb sich André übers Gesicht. Das war so ziemlich die dümmste Idee, die sein Chef jemals gehabt hatte. Und er hatte schon einige dumme Ideen gehabt. „Da gibt es nicht eine einzige Tür. Wie stellst du dir das vor? Soll ich den Kleinen immer rausschmeißen, wenn ich Besuch bekomme?“
 

„In letzter Zeit hast du aber keinen mehr abgeschleppt.“
 

„In letzter... Zeit, ja, aber ich hab vor, das wieder zu ändern. Die Idee ist bescheuert!“
 

„Ich bitte dich!“ Thomas legte seine Hände bittend zusammen. „Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll. Ich vertraue dir, bei dir hat er es gut. Und von seiner Mutter muss er weg, ernsthaft. Jede Sekunde, die er dort verbringt, schadet ihm. Er ist echt ein süßer Junge, er wird dir keinen Ärger machen.“
 

André starrte ihn fassungslos an. „Über welchen Zeitraum reden wir hier denn?“
 

„Mhm, bis ich einen Ort gefunden habe, der passender ist. Vielleicht kann ich ja auch einen Bereich bei mir im Haus abgrenzen. Auf jedenfall... keine Ahnung, ein, zwei Monate?“
 

„Ein, zwei Monate???“ Seine Stimme überschlug sich fast.
 

„Bitte!!!“
 

Mit einem entnervten Seufzer schloß André die Augen und massierte sich die Schläfen. „Wirklich, Thomas. Wie kommst du auf die bescheuerte Idee? Ich bin auch den ganzen Tag unterwegs, oder hier im Club. Ich hab keine Ahnung von Jugendlichen, und meine Babysitterqualitäten sind auch eher mäßig.“ Er fixierte seinen Chef. „Der Junge wäre den ganzen Tag allein. Und die Nacht. Mein Kühlschrank ist mit Bier und Tiefkühlpizza gefüllt. Warum fragst du nicht einen der anderen Jungs? Ich kann mir vorstellen, dass Adam ihn aufnehmen könnte, seine Eltern sind ziemlich locker drauf. Und wir haben noch einige andere... die Partner haben, die einen festen Rhythmus haben. Jeder wäre besser geeignet als ich.“
 

Thomas verzog seinen Mund zu einem leichten Schmollen und verschränkte die Arme. „Das glaube ich nicht. Wenn ich nicht wüsste, dass er bei dir gut aufgehoben ist, hätte ich dich nicht gefragt. Besser als bei allen anderen, da bin ich mir sicher. Du bist immer sehr... unverbindlich, ich weiß. Aber du bist ein guter Kerl, und übernimmst Verantwortung. Du würdest ihn nicht im Stich lassen, wenn er Hilfe braucht.“
 

Andrés grüne Augen funkelten ihn leicht verärgert an. „Ich möchte aber nicht in der Position sein, Verantwortung übernehmen zu müssen. Ich möchte Spaß haben, Thomas. Chillen, weggehen, irgendwelche Typen aufreißen und ne geile Nacht haben. Und mir nicht überlegen müssen, dass zu Hause noch irgendein kleiner Junge wartet, der kein Abendessen hatte. Ich kann nicht mal kochen, verdammt. Willst du, dass er sich die nächsten Monate nur von Pizza und Fertigbolognese ernährt?“
 

„Bitte. Wenn es gar nicht geht, finde ich eine Lösung, aber bitte... wenigstens für ein, zwei Monate. Wenigstens, bis ich irgendwie was geregelt bekomme.“
 

Für einen Moment starrten sie sich an. Was für ein verplanter Tagträumer er auch sonst war, diese Sache schien Thomas tatsächlich ernst. Gut, es ging ihm um seinen Neffen. Er hatte nicht oft von ihm oder seiner Schwester erzählt, aber scheinbar war dort noch nie alles eitel Sonnenschein gewesen. Und vielleicht würde André dann auf andere Gedanken kommen, wenn er sich um den Kleinen kümmern sollte. Auch wenn ihm der Mangel an Privatssphäre schon jetzt auf den Sack ging.
 

„Okay. Ein, zwei...“
 

Weiter kam er nicht. Mit einem lauten „Jippie“ fiel ihm sein Chef um den Hals und erdrückte ihn fast in seiner Umarmung.
 

„Du bist der Beste! Superdupermegageil. Ich geh gleich morgen das Bett kaufen! Und klär alles! Er kommt dann kurz nach Silvester, denke ich. Ich geb dir dann ein paar Tage frei, dass du genug Zeit hast, um ihn kennenzulernen. Das wird super! Echt, ihr werdet euch prächtig verstehen!“
 

André wand sich aus der Umarmung, starrte Thomas nur entgeistert an und verdrehte dann die Augen. Und hoffte, dass dieser Neffe nicht das Temperament seines Onkels geerbt hatte. DAS würde er bestimmt nicht mal zwei Wochen durchstehen, geschweige denn zwei Monate.
 

„Okay... ehm, wir klären später alles? Ich geh dann, ich muss eigentlich schon längst auf der Bühne stehen.“
 

„Ja, ja, ich danke dir tausendfach! Tanz dir die Seele aus dem Leib, mach dir einen schönen Abend! Du hast was gut bei mir! Ich liebe dich, Junge!!!“
 

Mit einem schiefen Grinsen verließ André das Büro fast schon fluchtartig, und begab sich nochmal kurz zum Pausenraum. Hatte er sich ernsthaft auf diesen Schwachsinn eingelassen? Naja, ein 15jähriger war kein Baby mehr, der konnte sich bestimmt selber bespaßen. Und wenn er, wie der Chef es sage, süß und nett war, würden sie schon irgendwie zurecht kommen. Trotzdem... er brauchte jetzt Kaffee, dringend einen starken, schwarzen, von den Toten erweckenden Kaffee. Adam hatte immer noch Pause, inzwischen hatte sich jedoch auch Muse zu ihm gesellt. Bei seinem Eintreten blickten sie ihn an, zuerst neugierig, dann etwas besorgt.
 

„André... alles okay? Du siehst blass aus. Schlechte Nachrichten vom Chef?“
 

„Schlechte Nachrichten?“ André rieb sich den Nacken. „Nein, nein. Cheffe meint nur, mein Leben auf den Kopf stellen zu müssen. Sonst nichts.“
 

Und irgendwie beschlich ihn das Gefühl, dass er damit richtiger lag als ihm lieb war.
 

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Das Bier zischte leise, als André den Verschluss öffnete. Müde starrte er aus dem Fenster. Der Ausblick war grandios. Es hatte schon was, im siebten Stock zu wohnen. Dadurch, dass es das höchste Gebäude in der Umgebung war, hatte er eine umfassende Aussicht, und konnte so regelmäßig die nächtliche Skyline überblicken mit den zahlreichen Lichtern und beleuchteten Straßen. In Kombination mit einem Feierabendbier und guter Musik war es Entspannung pur. Oder zumindest eine gute Vorbereitung auf spätabendlichen Besuch.
 

Er seufzte. Eigentlich steckte ihm noch der Silvesterkater – und, genau genommen, auch der Nachsilvesterkater – in den Knochen, aber heute kam Thomas mit seinem zukünftigen Mitbewohner. Sie wollten immerhin Pizza mitbringen, so musste er nicht kochen... oder das, was man bei ihm unter Kochen verstand. Er war schon froh, Nudeln halbwegs hinzubekommen und sie mit einer Tomatensauce zu vermischen, aber tatsächlich bestand sein Speiseplan hauptsächlich aus Fertiggerichten und Lieferserviceessen. Ernsthaft, wie sollte er sich denn bitte um einen Jugendlichen kümmern können?
 

Passend zu seinen Gedanken klingelte es. Er seufzte nochmal, und bemühte sich, ein etwas freundlicheres Gesicht zu machen. Es war besser, wenn er wenigstens versuchte, gut mit seinem Besuch zurecht zu kommen. Der Kleine konnte ja wirklich nichts für die Situation. Nachdem er die Musik leiser gedreht hatte, öffnete er die Tür, und noch bevor er irgendwas sagen konnte, wurde er direkt in eine feste Bärenumarmung gedrückt.
 

„André! Wir sind da!!!“
 

„Uff... ist mir aufgefallen.“ Er schnüffelte. „Und die Pizza auch.“
 

„Ja, natürlich, wir haben an alles gedacht!“
 

Thomas grinste ihn an, bevor er sich nach hinten umdrehte. Durch seine Größe nahm er quasi die gesamte Breite der Eingangstür ein, so dass er alles verdeckte, was sich hinter ihm befand. In diesem Fall auch den Jungen, der etwas verloren wirkte, während er die Pizzakartons in einer Hand balancierte und mit der anderen einen Rucksack festhielt. Neben ihm stand eine riesige Sporttasche, die bis zu der überschwänglichen Begrüßung vermutlich Thomas getragen hatte, ganz Gentleman, sozusagen.
 

„Kommt erstmal rein.“ André winkte sie ins Innere und schloß hinter ihnen die Tür. Während die beiden ihre Sachen ablegten, brachte er die Pizzakartons zur Küchentheke, stellte einige Teller und Besteck heraus, und wendete sich dann den beiden zu. „Okay, jetzt erstmal die Vorstellungsrunde. Ich bin André.“
 

Er streckte dem Jungen die Hand entgegen und nutze die Gelegenheit direkt, um ihn zu musstern. Der Junge war mindestens einen Kopf kleiner als er und eher schmächtig. Seine schulterlangen, rotblonden Haare fielen ihm ins Gesicht und wirkten, als ob er gerade frisch aus dem Bett gekrochen wäre. Zum Teil bedeckten sie seine Augen, die er auch eher auf den Boden gerichtet hatte. Als er Andrés Hand ergriff, blickte er ihn jedoch direkt an. Graublau, ein bisschen wie ein schmutziger Regenhimmel. Zusammen mit der Stupsnase und den zahlreichen Sommersprossen gab er tatsächlich das perfekte Bild eines unfertigen, süßen Jugendlichen ab, der die Welt erstmal noch kennenlernen musste. Sein Handgriff war jedoch fest und warm.
 

Na, vielleicht würde es doch nicht so schlimm werden wie gedacht.
 

„Cyril.“ André merkte, wie der Junge seinerseits ihn musterte, und dann leicht lächelte. Seine Stimme war leise, schüchtern. „Die meisten nennen mich Cy.“
 

„Ihr versteht euch ja schon prima!“ Thomas klatschte begeistert in die Hände und strahlte sie mit einem riesigen Grinsen an. „Dann lasst uns doch erstmal essen, ich habe einen Mordshunger! Und dann kannst du ihm das Loft zeigen, André.“
 

„Mhm. Was wollt ihr trinken?“ Während Thomas es sich auf einem der Barhocker bequem machte, öffnete er den Kühlschrank und warf einen Blick hinein. „Ich habe Wasser, Cola, Saft...“
 

Er zuckte kurz zusammen, als etwas ihn am Oberarm berührte. Cyril war hinter ihn getreten und lugte an ihm vorbei in den Kühlschrank, wobei er ihn mit seiner Wange gestreift hatte. Jetzt sah er ihn von unten herab mit großen Augen an.
 

„Cola?“
 

„Okay...“ André strich sich verwirrt durch seine kurzen, braunen Haare. Der Junge schien vertrauensvoller zu sein als erwartet. Er wirkte ein wenig wie ein verlorenes Kätzchen, das jetzt seinen Erretter vor sich hatte. Hoffentlich war er nicht wirklich so anhänglich wie er jetzt wirkte.
 

Die Abendunterhaltung bestritt hauptsächlich Thomas, während sie ihre Pizza aßen. Er berichtete von allen möglichen Leuten, die er kennengelernt hatte, den neuesten Begebenheiten im Paradise Hill, den neusten Besuchern in seinen eigenen vier Wänden, und natürlich, nahezu minutiös, wie die Hin- und Rückfahrt für die Abholung von Cyril gewesen war. Cyril blieb weitestgehend still, nickte nur hin und wieder oder gab zustimmende Laute, wenn es von ihm erwartet wurde, so dass André der einzige Gesprächspartner blieb. Es dauerte über zwei Stunden, bis nicht nur die Pizza vertilgt, sondern auch der Gesprächsbedarf von Thomas halbwegs gedeckt war.
 

„So, ich mach mich dann mal auf die Socken. Wie sieht es morgen aus? André, kannst du Cy bei mir vorbei bringen, dass er auch mal mein Haus kennenlernt?“
 

„Ich...“ André warf einen kurzen Blick zu dem Jungen. „Ich muss eigentlich bis zum Nachmittag arbeiten... danach würde es gehen.“
 

„Schon okay.“ Mit einem Lächeln hob Cyril abwehrend beide Hände. „Ich habe Google Maps, und ich weiß, wie man die Öffentlichen benutzt. Ich werde dein Haus schon finden, Onkel Thomas. André muss sich nicht bemühen.“
 

„Super, super, dann bis morgen, Cy.“
 

Thomas verteilte nochmal ausgiebig Küsschen, bevor er wie ein Wirbelwind aus der Haustür verschwand und die beiden sich selber überließ. André seufzte leise. Was redete man mit so einem Jugendlichen?
 

„Ehm...“ Er machte eine ausladende Bewegung. „Dann, willkommen. Ich würde dich ja rumführen, aber... eigentlich sieht man hier ja direkt alles, was es zu sehen gibt.“ Mit einem Nicken deutete er auf den Schreibtisch in einer Ecke des Raumes und auf den Fernseher. „Du kannst an den PC und den Fernseher, wie es dir beliebt. Bedien dich bei allem, was du brauchst. Fühl dich wie Zuhause.“
 

„Mhm.“ Cyril sah sich fragend um. „Wo... schlaf ich?“
 

„Ach, ja. Komm.“ André nahm seine Tasche und führte ihn die Treppe zur Galerie hoch. Der Bereich war zwar nicht sehr groß, doch reichte er für das Ein-Mann-Bett, die kleine Kommode und die Nachttischlampe völlig aus. „Im Moment ist hier nur das Bett, aber wir können bei Bedarf noch was dazu holen. Du brauchst vielleicht noch einen Schreibtisch, oder? Und eine Kommode oder so.“
 

„Mhm.“
 

„Bist du müde? Du kannst dich ruhig hinlegen. Der Tag war lang. Ich leg dir im Bad ein paar Handtücher raus, die kannst du dann immer nutzen.“
 

„Mhm, danke. Ich bin wirklich müde. Ich glaube, ich schmeiß mich direkt ins Bett.“
 

„Okay, dann... gute Nacht. Ich muss morgen früh raus, aber lass dich davon nicht stören. Im Kühlschrank findest du alles für's Frühstück.“
 

„Mhm.“
 

Sonderlich gesprächig wirkte der Kleine ja nicht. Sich am Kopf kratzend ließ André Cyril alleine, der immer noch ein wenig verloren vor seinem Bett stand. Naja, er war alt genug, um selber ins Bett zu finden. Vielleicht hatte er auch Heimweh. Die genauen Gründe, warum Thomas ihn so schnell wie möglich aus seinem Zuhause weghaben wollte, hatte er ihm leider immer noch nicht verraten, aber vielleicht war es auch zu privat. Ärger mit der Mutter oder sowas. Er würde es schon noch erfahren, und im Moment spielte es eh keine große Rolle.
 

André gähnte. Schlafen war keine schlechte Idee, wenn er es sich recht überlegte. Thomas' Quasi-Monolog zum Abendessen, das Bier und die Restmüdigkeit von Silvester machten ihn ziemlich fertig. Und morgen müsste er wieder in der Art School auftauchen. Er mochte zwar beide seine Jobs – Gogo-Tänzer im Paradise Hill und Tanzlehrer in der International Art School –, aber der Wechsel von Tag- und Nachtschichten konnte durchaus ziemlich anstrengend sein. Wobei er mit seinem Leben trotzdem ziemlich zufrieden war.
 

Nachdem er die Lichter ausgemacht und sich passende Shorts angezogen hatte – normalerweise schlief er gerne nackt, doch in Anbetracht seines Besuchs fand er das weniger angemessen –, ließ er sich auch müde in sein Wasserbett fallen. Von Cyril hatte er auf der Galerie nichts mehr gehört, scheinbar war der Junge tatsächlich direkt schlafen gegangen. Na, es war ein anstrengender Tag für ihn gewesen. Sie würden noch genug Zeit haben, sich gegenseitig ausgiebig kennen zu lernen. Und mit diesem Gedanken fiel er auch in tiefen, traumlosen Schlaf.
 

Irgendwas weckte ihn. Er lag auf dem Rücken, so, wie er meistens schlief, spürte diesmal aber ein Gewicht auf sich drauf. Immer noch nicht ganz bei Sinnen öffnete er die Augen. Und erstarrte.
 

Cyril hatte es sich auf seinen Hüften bequem gemacht. Mit einem Lächeln, das weit entfernt von unschuldig oder naiv war, strich er über Andrés nackte Brust, über den muskulösen Bauch nach unten zu Regionen, in denen seine Finger wirklich nichts zu suchen hatten.
 

„Oh, du bist wach.“ Er beugte sich vor und umspielte mit der Zunge eine von Andrés Brustwarzen. „So macht es natürlich mehr...“
 

Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden. André packte ihm am Shirt und stieß ihn mit solch einer Heftigkeit von sich runter, dass Cyril mit einem schmerzhaften Aufschrei auf dem Boden landete.
 

„Was zum Teufel... was machst du da? Das hat weh getan!“
 

„Was ich mache? Was ICH mache?“ Fuchsteufelswild verließ André das Bett, packte Cyril am Shirt und zog ihn nah zu sich ran. Der Junge balancierte nur noch auf seinen Zehenspitzen und musste sich an Andrés Unterarmen festhalten, um nicht komplett die Balance zu verlieren. „Was, in drei Teufels Namen, treibst du da? Hast du völlig den Verstand verloren?“
 

Cyril grinste ihn nur an, und leckte sich dann provozierend über die Lippen.
 

„Mich bedanken, natürlich.“
 

„Be... danken?“
 

„Ich will nicht in deiner Schuld stehen.“ Er strich aufreizend mit den Fingerspitzen über die Sehnen, die durch die Anspannung an Andrés Unterarmen hervortraten. „Du bist so nett und bietest mir eine Bleibe an. Da muss ich mich doch revanchieren.“
 

Für einen Moment verschlug es André die Sprache. Was zum Teufel... war das sein Ernst?
 

„Entschuldige, Kleiner.“ Sein Knurren betonte vor allem das letzte Wort. „Ich stehe nicht auf Kinder.“
 

Cyrils Grinsen vertiefte sich noch. Von seiner anfänglichen Schüchternheit war wirklich nichts mehr übrig geblieben.
 

„Wenn du mich lässt, beweis ich dir, dass ich kein Kind mehr bin.“
 

André atmete einmal tief durch, und ließ Cyril dann mit einem Stoß nach hinten los.
 

„Du gehst jetzt schlafen. In DEINEM Bett. Und wenn du sowas noch einmal machst, schmeiß ich dich aus dem Fenster, das schwör ich dir.“
 

Die Augen des Kleinen begannen zu funkeln. „Wir sind im siebten Stock...!“
 

„Richtig.“ André fixierte ihn. „Deswegen solltest du es dir genau überlegen, ob du das Risiko eingehen willst. Ich kratz dich dann nicht vom Asphalt ab. Und jetzt schleich dich, bevor ich es mir nochmal überlege und dich direkt rausschmeiß.“
 

„Ernsthaft?“ Cyril verschränkte die Arme und sah ihn beleidigt an. „Du bist schwul, Mann! Bist du impotent, oder was? Ich hab doch gesehen, wie du mich angeguckt hast!“
 

„Ich... habe keine Ahnung, wie das da so läuft, wo du herkommst.“ André atmete tief durch. Er wollte ins Bett. Er wollte schlafen. Und er wollte diesen verdammten Knilch weit weit weg haben. „Aber ich stehe nicht auf Kinder. Wenn ich dich irgendwie angeguckt habe, dann höchstens wie ein verlorenes Hündchen. Geh deine tollen Fähigkeiten an jemand anderem ausleben, aber wenn du sowas nochmal machst, wirst du es bereuen.“ Er sah den Jungen an, der immer noch schmollend an der selben Stelle stand. „Ich geh jetzt schlafen. Du kannst da meinetwegen die ganze Nacht stehen bleiben, aber wenn du dich mir näherst, gibt es Tote, das schwör ich.“
 

„Willst du mir Angst machen?“
 

Für einige Sekunden starrten sie sich an, bevor sich André wortlos umdrehte, sich unter seiner Bettdecke verkroch und bewusst mit dem Rücken zu Cyril zusammenrollte. Für einige Sekunden blieb es ruhig.
 

„Wichser!“
 

Dann hörte er, wie Cyril sich umdrehte, die Stufen zur Galerie hochtrampelte und mit voller Wucht auf sein Bett fallen ließ. Mit einem unterdrückten Seufzen drehte André sich auf den Rücken, fuhr mit seinen Händen durch sein Gesicht und starrte entgeistert an die Decke.
 

Süß und nett? Er und Thomas mussten dringend ein Wörtchen miteinander reden. Sein Blick schweifte zur Galerie.
 

Das konnte ja noch verdammt lustig werden.

Sonnenstrahlen weckten ihn. Mit einem genervten Seufzen zog Cyril für einen Moment die Decke über den Kopf. Richtig, er war nicht in seinem Zimmer. Hier gab es ein verdammtes Deckenfenster, das natürlich direkt über seinem verdammten Bett sein musste. Und obwohl es erst Anfang Januar war, schien die Sonne genau heute entschieden zu haben, ihn aus dem Bett zu strahlen. Na, danke auch. Vorsichtig streckte er seine Hand unter der Decke hervor und tastete auf dem Nachtschränkchen neben dem Bett nach seinem Handy. Gefunden... kurz vor Zwölf. Zeit zum Aufstehen. Auch wenn er sich schönere Beschäftigungen vorstellen konnte als seinem Onkel einen Pflichtbesuch abzustatten, aber je schneller er es hinter sich brachte, um so schneller konnte er seinen eigenen Interessen nachgehen.
 

Für einen Moment lauschte er, den Kopf gerade soweit unter der Decke hervorgestreckt, dass seine Ohren frei waren. Keine Geräusche von unten. Sein Gastgeber schien nicht da zu sein. Umso besser, die Begegnung wäre vermutlich nicht sonderlich freundlich ausgefallen. Er rieb sich seinen schmerzenden Rücken. Nun, die nächtliche Reaktion war heftiger ausgefallen als erwartet, damit hatte er nicht gerechnet. Konnte noch spannend werden.
 

Mit einem leichten Grinsen schwang er sich aus dem Bett und tapste barfuß nach unten. Bei Tageslicht wirkte das Loft sogar größer, was vor allem von dem leeren Platz in der Mitte herrührte. André mochte es wohl eher spartanisch, wenn man die Einrichtung bedachte. Die einfache Küche sah aus wie ein Sammelsurium an Schränken, vermutlich von verschiedenen Flohmärkten zusammen gekauft. Die Theke, die aus Holz und Stein zusammengebastelt war, wies zahlreiche Kratzer auf, und hatte die ein oder andere Beschriftung mit Edding, die von gut gelaunten Gästen hinterlassen worden waren. Der Computertisch, der sich an der rechten Wand befand, wirkte simpel und funktional, genauso wie der sich darauf befindliche PC. Nicht so alt, dass er nicht einige moderne Spiele abspielen konnte, aber definitiv auch nicht das neueste Modell. Die riesige weiße Couch vor dem Fernseher war hingegen eindeutig alt und abgewetzt, aber, wie Cyril nach einem kurzen Testsitzen feststellte, unheimlich bequem und weich. Andrés Kleiderschrank passte sich ebenfalls perfekt in diesen Stil – oder, besser gesagt, das Nicht-Vorhandensein eines Stils – ein. Die Klamotten drinnen unterstrichen es noch zusätzlich: Bequeme Shirts, eine abgewetzte, alte Bikerjacke aus Lederm – scheinbar ein Lieblingsstück –, einige Jeans. Ein paar exquisitere Teile, die für Shows oder offizielle Anlässe dienen sollten, und einige nette Klamotten, die für Partys gedacht waren. Cyril gab einen unzufriedenen Laut von sich. Keine geheimen Bondageklamotten, kein SM, keine Sexspielzeuge. Wie langweilig.
 

Er wandte sich dem Bett zu, immerhin ein riesiges Wasserbett. Mit Schwung warf er sich drauf und rollte sich einmal über die komplette Breite. Hach, das war bequem. Seine Chancen, hier eine Nacht zu verbringen, standen im Moment aber wohl eher schlecht. Mit einem schiefen Grinsen widmete er sich dem Inhalt der Nachtschränkchen, immer noch auf dem Bett liegend. Na, immerhin. Gleitgel und Kondome. Und diverser unsexy Kram wie Taschentücher und Hustensaft. Himmel, der Typ sah aus wie ein Fleisch gewordener Sexgott, wo war denn der spannende Kram? Er hätte wenigstens irgendwo Geld versteckt haben können. Cyril sah sich um. Das einzige Interessante, was diese Wohnung zu bieten hatte, war die Soundanlage und die höchst bemerkenswerte CD-Sammlung. Seine Liebe zur Musik konnte André zumindest nicht verheimlichen, auch wenn der Rest wenig aussagekräftig war.
 

Alles andere als befriedigt rollte sich Cyril aus dem Bett und steuerte den Kühlschrank an. Erst da entdeckte er den Zettel auf dem Thresen, zusätzlich zu einem Schlüssel.
 

„Haustürschlüssel. Frühstück im Kühlschrank, Pizza im TK. Komme spät.“
 

Wow. Die Eloquenz ließ ihn förmlich erzittern. Er lachte leise in sich hinein. Mit einer herzerwärmenden Nachricht war ja wirklich nicht zu rechnen gewesen, aber André hätte wenigstens ein „Guten Morgen“ und ein „Bis später“ hinzufügen können. Für einen Moment setzte er sich an die Theke und legte seine Wange auf die kühle Oberfläche, während er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ. Wie lange es wohl dauern würde, bis André ihn rausschmeißen würde? Cyrils grinste. Wenn er wetten müsste... nicht lange.
 

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Es war schon dunkel, als sie das Café verließen. André zündete sich gedankenverloren eine Zigarette an und warf einen Blick auf sein Handy. Kurz vor acht Uhr. Irgendwann hatte Thomas ihm geschrieben, dass Cyril schon bei ihm gewesen und auch wieder gegangen war. Der Kleine sollte wohl schon längst wieder zuhause – in Andrés schönem, jetzt infiltrierten Loft – sein, aber es zog ihn nicht sonderlich dort hin. Nicht gerade ein vorbildlicher Erwachsener, dass er den Jungen so lange allein ließ, aber... naja. Nach dem gestrigen Abend musste er erstmal noch ein dringendes Gespräch mit Thomas führen. Der Kleine würde schon nicht beim Pizza machen die Bude abfackeln. Zumindest nicht unabsichtlich.
 

„Wollen wir noch zu dir?“
 

Aus den Gedanken gerissen betrachtete André seine Begleitung. Mike? Steve? Tim? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Bei seinem Projekt 'Über Adam hinweg kommen' hatte er sich von irgendeinem Typen anquatschen lassen, doch seine Wahl war, gelinde gesagt, nicht sehr glücklich gewesen. Gut sah er ja aus mit seinen schwarzen Augen und dem durchtrainierten Körper, aber bei der Anzahl an Hirnzellen wurde er locker von drei Meter Feldweg überboten. Naja, für ne nette Nummer würde es ja vielleicht noch reichen...
 

„Geht nicht, ich habe... Besuch.“ Er schaute nochmal schnell auf die Uhr. „Ich muss noch kurz zum Paradise, dann können wir zu dir.“
 

MikeSteveTim legte ihm mit einem vielsagenden Augenbrauenwippen den Arm um die Schulter und grinste ihn an. „Lass es nur wirklich kurz sein, ich bin schon ziemlich heiß.“
 

André starrte ihn leicht entgeistert an und verdrehte innerlich die Augen, bevor er sich wieder fasste. Die Nummer würde wohl weniger nett werden als erwartet. Was seine Männerwahl betraf, war er wohl etwas aus der Übung. Unmerklich schüttelte er den Arm ab und setzte sich in Bewegung, während seine Begleitung mit inhaltslosem Zeugs auf ihn einblubberte. Ernsthaft, was war eigentlich in ihn gefahren? Normalerweise war seine Partnerwahl nicht so einfallslos. Und er konnte sich eigentlich auch recht frei am Buffet bedienen. Er gab ein leises Schnalzen von sich. So verzweifelt sollte er eigentlich nicht sein.
 

Während er versuchte, MikeSteveTims Gerede auszublenden – gerade legte er ihm ins kleinste Detail dar, wieviele Sit Ups er letztens im Fitnessstudio geschafft hatte –, näherten sie sich dem Partyviertel. Obwohl es früh am Abend war, wurde es voller auf den Straßen. Die Leute hatten sich herausgeputzt, fingen schon mit dem Vorglühen an und warteten nur darauf, bis die heiße Phase begann. Sehen und gesehen werden, flirten, Spaß haben, und am Besten die Nacht nicht alleine verbringen – André liebte es. Genau sein Leben, genau sein Feeling. Er atmete einmal tief durch. Wie gerne hätte er sich auch jetzt unter die Leute gemischt. Aber nein... er wusste nicht, wie oft er Thomas heute schon dafür verflucht hatte, ihm seinen Neffen aufgebürdert zu haben. Und sich selber dafür, so blöd gewesen zu sein, sich darauf einzulassen.
 

Sie waren nur noch wenige Straßen vom Paradise Hill entfernt, als sie an einer der Seitengassen vorbei gingen, die zur Parallelstraße führte. Kaum genutzt, waren sie ein beliebter Platz für heimliche, schnelle Dates. Und stillos, Andrés Meinung nach. Jedoch genau von dort hörte er plötzlich ein dumpfes Geräusch, ein lautes „Fick dich!“, und spürte nur einige Sekunden später, wie irgendwas – oder irgendjemand – mit voller Wucht gegen ihn lief. Instinktiv hielt er die Person fest, nur um im nächsten Augenblick festzustellen, dass er in das wenig begeisterte Gesicht von Cyril blickte. Die Götter schienen ihn gerade nicht sonderlich zu mögen.
 

„Scheiße“ war auch das Einzige, was dem Jungen in dem Moment herausrutschte, bevor er versuchte, sich aus Andrés Griff zu winden. Dieser ließ sich jedoch nicht beirren, schüttelte kurz seine Überraschung ab und wendte seine Aufmerksamkeit dem zu, was sich in der Gasse befand. In den Schatten war irgendein Typ mit herunter gelassener Hose, der seinerseits recht entgeistert drein schaute.
 

„Hey... hey, wir sind noch nicht fertig...“
 

„Für mehr hast du nicht bezahlt, du Wichser!“, zischte Cyril, während er sich leicht nach hinten drehte, merkte jedoch sofort, dass das ein Fehler gewesen war, als er Andrés zornigen Blick auf sich spürte.
 

„Was zum...“ André brauchte nicht lange, um eins und eins zusammenzuzählen. Er atmete tief durch. Das war ja noch eine größere Scheiße als er angenommen hatte. Fuck! Er wendete sich zu dem Typen in der Gasse. „Nur zu deiner Info, der Kleine hier ist fünfzehn, und wenn du dich nicht innerhalb der nächsten drei Sekunden verziehst, und zwar ganz, ganz weit weg, ruf ich die Polizei.“
 

„Fünfzehn? Er hat gesagt, er ist achtzehn, verdammt...!“
 

„Bist du blind?“ Seine Augen funkelten wütend. „Eins...“
 

So schnell hatte er noch nie jemanden mit heruntergelassener Hose rennen sehen. Immerhin. Als Nächstes sah er sein Date an, das mit seinen drei Gehirnzellen immer noch nicht gerafft hatte, was hier grade passierte. Zumindest nach seinem starren Blick und dem offenen Mund zu urteilen. André seufzte.
 

„Sorry, ich muss mich hier um den da“, er deutete mit dem Kinn auf Cyril, „kümmern. Heute wird das nichts.“
 

„Oh, okay.“ MikeSteveTim wirkte immer noch verdattert, kratzte sich dann am Hinterkopf und zuckte mit den Schultern. „Ich brauch aber noch deine Nummer!“
 

„Ehm... nein. Brauchst du nicht, keine Sorge.“
 

Für Höflichkeit hatte er im Moment wirklich keine Nerven. Ohne ein weiteres Wort zog er Cyril mit sich, blieb dann jedoch nochmal kurz außer Sichtweite seines Ex-Dates stehen und nahm sich die Zeit, den Jungen etwas genauer zu mustern. Cyril sah ihn trotzig an, doch das interessierte ihn nicht. Er hob Cyrils Kinn an, um die Schramme an seiner Schläfe zu betrachten.
 

„Der Typ wollte mehr, als ich geben wollte.“ Cyrils Stimme ähnelte dem Fauchen einer Wildkatze.
 

André schwieg und setzte seine Musterung fort. Die Knöchel an Cyrils rechter Hand wiesen ebenfalls Aufschürfungen auf.
 

„Und ich weiß, wie man sich wehrt.“
 

„Sicher.“
 

Er atmete nochmal tief durch, nahm den Jungen dann am Oberarm und zerrte ihn hinter sich her.
 

„Mann, lass mich los! Ich kann selber gehen! Fuck, du tust mir weh!“
 

Mit einem Ruck blieb er stehen und zog Cyril nah zu sich.
 

„Halt... die Klappe!“, grollte er, bemüht, seine Beherrschung nicht zu verlieren. Er war nun wirklich keine Mutter Teresa, aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wann er das letzte Mal so wütend gewesen war. Und gerade war ihm sehr danach, diesen kleinen Mistbengel auf Taschenformat zusammenzufalten. Nett ausgedrückt.
 

Cyril spürte wohl, dass jedes weitere Wort sein Letztes sein konnte, denn er schwieg auf dem restlichen Weg, wobei er jedoch nicht versuchte, seinen Unmut zu verbergen, und eher wie ein bockiger Esel hinter André herstolperte. Doch das kümmerte André nicht im Geringsten. Für einen kurzen Moment spürte er Erleichterung, als sie endlich beim Paradise Hill angekommen waren. Zumindest konnte er gleich das perfekte Ventil für seine Wut aufsuchen.
 

Durch den Mitarbeitereingang begaben sie sich zum Aufenhaltsraum, der zum Glück leer war.
 

„Setz dich.“ Ohne auf Cyrils Reaktion zu warten, drückte André ihn auf einen Stuhl. „Beweg dich nicht. Wenn du dich verpisst, kriegst du Ärger.“
 

„Kannst du auch was anderes als mit leeren Drohungen um dich zu schmeißen?“, zischte Cyril, zuckte jedoch unter Andrés Blick zusammen.
 

„Du kannst es ja gerne drauf ankommen lassen, ob sie wirklich so leer sind.“
 

Er wusste, der Junge war zu schlau, um tatsächlich abzuhauen. André verließ den Aufenhaltsraum und begab sich zu den Türen, die zu den Theken führten. Er öffnete eine und ließ kurz den Blick über die Barkeeper schweifen, die sich mitten in der Arbeit befanden. Die Disco war voll, sie hatten gut zu tun. Wie gerne hätte er sich jetzt unter die Menge gemischt. Fuck! Aber wenigstens in einem Punkt war ihm das Glück hold. Er fand, wen er suchte.
 

„Muse!“
 

Muse zuckte zusammen, drehte sich zu ihm, und hob dann überrascht und verunsichert eine Augenbraue, als er ihn erkannte.
 

„André... was... du arbeitest heute doch gar nicht?“
 

„Nein.“, knurrte André. „Ich muss ein Gespräch mit Thomas führen. Und ich hab eine Aufgabe für dich.“
 

Ohne eine weitere Erklärung nahm er ihn am Ärmel und führte ihn in den Aufenhaltsraum. Cyril saß tatsächlich immer noch dort, wo er ihn zurück gelassen hatte, wobei er es schaffte, mit seinem ganzen Körper puren Trotz auszudrücken.
 

„Darf ich vorstellen, das ist Thomas' liebenswürdiger Neffe, Cyril. Er hatte vorhin eine nicht so nette Begegnung, könntest du ihn bitte verarzten? Und auf ihn aufpassen, damit er nicht abhaut?“
 

„André...“ Muse und Cyril musterten sich für einen Moment, wobei Cyrils Gesichtsausdruck bei seinem Anblick von Trotz zu reinster Freundlichkeit wechselte. „Okay... okay.“
 

„Gut, bis gleich.“
 

Mit einem grimmigen Zug um die Lippen machte sich André auf den Weg zu Thomas' Büro. Sein Puls hatte sich immer noch nicht beruhigt. Gut so. Ohne Anzuklopfen trat er ein. Thomas und einer der anderen Tänzer, Jesse, befanden sich wohl gerade in einer Besprechung, sahen aber erschrocken bei seinem Eintreten auf.
 

„André, was...“ Thomas kam nicht weit.
 

André deutete auf Jesse und dann mit dem Daumen hinter sich.
 

„Raus!“
 

„Hey, wir...“ Auch Jesse kam nicht weit.
 

„Raus! Sofort!“
 

Thomas und Jesse wechselten einen verwirrten Blick, bevor Thomas nickte. Der andere Tänzer musterte für einen Moment André pikiert, bevor er das Büro verließ. Mit Wucht knallte André die Tür hinter ihm zu.
 

„André...“
 

„Wann zum Teufel nochmal wolltest du mir erzählen, dass dein verfickter Neffe sich prostituiert?“ André ballte die Hände zu Fäusten, um seinen Freund und Chef nicht am Kragen zu packen und gegen die nächste Wand zu knallen. „Und wann wolltest du mir erzählen, dass er es geil findet, ältere Männer zu verführen? Weißt du, wie ich heute Nacht aufgewacht bin? Mit ihm auf mir drauf! Und nicht, weil ich so ein scheiß bequemer Stuhl bin, verdammt! Weißt du, welchen Ärger ich kriegen kann, wenn er irgendeinen Scheiß erzählt? Verdammt, Thomas, was hast du dir dabei gedacht?“
 

„André, beruhig dich...“
 

„Beruhigen?“ Er versuchte nicht mal, leise zu sein. „Verdammt, ich hab ihn gerade dabei erwischt, wie er irgendeinem dahergelaufenen Wichser einen geblasen hat. Und es wäre vermutlich noch mehr passiert. Sag mal, spinnst du? Du hast was von nett und süß erzählt. Der ist nicht nett und nicht süß und nicht lieb und sonst auch nichts. Der ist ein kleiner, verfickter Teufel. Was soll der Scheiß? Was, zum Teufel nochmal, soll der Scheiß?“ Mit einem tiefen Ausatmen ließ er sich auf einen der Sessel fallen und fixierte Thomas. „Der bleibt nicht noch eine Nacht bei mir.“
 

„André...“ Thomas sah ihn betreten an und knetete nervös seine Hände. „Ich weiß... was er so macht. Deswegen ist er von der Schule geflogen, irgendwas mit ein paar älteren Schülern... und er hat wohl einen Lehrer verführt und... ach, keine Ahnung. Ja, er ist kein unbeschriebenes Blatt. Aber wenn ich dir das erzählt hätte, hättest du ihn nicht bei dir aufgenommen.“
 

„Aus gutem Grund, verdammt.“ André zündete sich zittrig eine Zigarette an. Eigentlich war im Büro Rauchverbot, aber er war sich sehr, sehr sicher, dass Thomas diesmal nichts dagegen haben würde.
 

„Hör mal...“ Thomas strich sich durch die Haare. Er fühlte sich sichtbar unwohl in seiner Haut. Scheinbar hatte er heute Abend nicht so ein Gespräch auf seiner ToDo-Liste gehabt. Pech für ihn. „Ich liebe meine Schwester, aber sie ist keine gute Mutter. Eigentlich ist sie gar keine Mutter. Sie wechselt ihre Partner öfter als andere Leute ihre Unterwäsche, sie hat ein Alkoholproblem und hatte schon mehrmals einen Entzug hinter sich. Ich kann ihn nicht bei ihr lassen. Dann wird es nur schlimmer mit ihm. Ehrlich gesagt... als ich ihr vorgeschlagen habe, ihn zu mir zu nehmen, war es ihr scheißegal. Oder, besser gesagt, sie war froh, sich nicht um ihn kümmern zu müssen. Sie hat ihn mir quasi mit Kusshand mitgegeben.“
 

„Schön, dann nimm ihn auch zu dir, Thomas.“ André verdrehte die Augen. „Bitte, ziel nicht auf mein Mitleid. Du kennst mich besser, ich bin kein Samariter. Der Kleine tut mir leid, ja. Er hatte wohl ein Scheißleben, und hat ne beschissene Mutter. Aber das hat gottverdammtnochmal nichts mit mir zu tun. Steck ihn in irgendeine Therapie, beglück ihn mit deiner unendlichen Liebe und lass mich aus dem Scheiß raus. Ich mag dich und ich bin dein Freund, aber für die Brut deiner Schwester halte ich nicht den Kopf hin.“
 

„Ich red mit ihm. Das passiert nicht nochmal.“
 

„Willst du mich verarschen?“ Er bemühte sich, ruhig zu bleiben. „Glaubst du ernsthaft, wenn du ein bisschen mit ihm schimpfst und Dutzidu machst, dass er damit aufhört? Sag mal, kennst du ihn überhaupt? Der lügt dir das Blaue vom Himmel, wenn es sein muss, und macht dann sein Ding.“
 

„André, bitte...“ Der Chef vom Paradise Hill vergrub für einen Moment sein Gesicht in seinen Händen. „Ich weiß, ich verlange viel. Aber... er ist ein guter Junge, ich weiß es. Er braucht nur andere Leute. Ich hab ihn extra an der Schule von Muse und Adam angemeldet, damit sie sich um ihn kümmern können. Er braucht Freunde, er braucht jemanden, der ein Vorbild für ihn ist. Das kriegt er bei mir nicht.“
 

„Aber bei mir?“ Andrés Stimme überschlug sich fast. Er wusste nicht, ob er belustigt, entrüstet oder schlicht weg geschockt sein sollte.
 

„Ja.“ Thomas sah ihn eindringlich an. „Ja. Er braucht jemanden, dem er vertrauen kann. Und du bist vertrauenswürdig.“
 

„Thomas, deine gute Meinung über mich in allen Ehren, aber ich habe heute einen Typen abgeschleppt, der dumm wie Brot war, nur um endlich mal wieder nen richtigen Fick zu haben. Und das, obwohl ein einsamer, kleiner Junge theoretisch zu Hause auf sein Essen wartet. Nennst du das vorbildhaft oder vertrauenswürdig?“
 

„Und du hast diesen Fick sausen lassen, um den Jungen vor einem übergriffigen Typen zu retten.“
 

„Nein.“ André lehnte frustiert seinen Kopf nach hinten und starrte an die Decke. „Um seinem dämlichen Onkel den Marsch zu blasen und diesen Jungen loszuwerden.“
 

„Du wolltest ihm ein, zwei Monate geben.“
 

„Ja, da wurde er mir auch noch als süß, nett und unschuldig verkauft.“
 

„André...“
 

Er hätte gerne das Flehen und die Verzweiflung in Thomas' Stimme überhört. Hätte gerne diesen Blick übersehen, der tatsächlich keinen anderen Ausweg wusste. Der einfach nur seinem Neffen helfen wollte, ohne wirklich zu wissen, wie er es anstellen sollte. André seufzte. Er war zwar keine Mutter Teresa und auch kein Samariter, aber er hatte auch kein Herz aus Stein. Verdammt!
 

„Thomas... er bringt mich in Teufels Küche. Wenn irgendjemand auf falsche Ideen kommt, weil er bei mir wohnt oder sich nachts sonstwo rumtreibt, bin ich meinen Job als Tanzlehrer schneller los als ich gucken kann. Die Eltern der Kids machen sich doch jetzt schon in die Hose, nur weil ich offen schwul bin.“ Müde rieb er sich die Augen. „So viel Narrenfreiheit hab ich nicht, dass ich solche Gerüchte überleben würde.“
 

„Ich rede mit ihm. André, bitte... nur vorübergehend, bis ich eine bessere Lösung gefunden habe. Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Ich will ihn nicht alleine lassen. Ich kann ihn nicht zu seiner Mutter zurück schicken. Damit würde ich ihn aufgeben. Er hat eine Chance verdient. Bitte...“
 

Für einen Moment starrten sie sich an. Schwiegen. Resigniert seufzte André.
 

„Bis Ende Januar. Und wenn er nochmal Scheiße baut, fliegt er sofort.“ Er überlegte kurz. „Und er wird mir helfen, wenn ich in der Tanzschule arbeite.“
 

„Was... klar, aber... wieso?“
 

„Weil ich ihn mir nicht auf den Bauch binden kann.“ Er gab einen genervten Laut von sich. „Ich kann ihn nicht rund um die Uhr überwachen, das ist mir klar, aber wenigstens während meiner Arbeit in der Schule kann ich ein Auge auf ihn haben. Und je weniger freie Zeit er hat, umso weniger Zeit hat er, um Mist zu bauen.“
 

Thomas sah ihn mit gerunzelten Augenbrauen an. „Du könntest ihm auch einfach vertrauen. Wenn er verspricht, nichts mehr in die Richtung zu tun, macht er es auch nicht.“
 

André sah ihn fast sprachlos an. „Ernsthaft... deine Naivität übertrifft noch die von Adam. Ein Monat, bis er geht, und in der Zeit arbeitet er in in den Tanzstunden mit. Und du solltest lieber direkt damit anfangen, einen neuen Platz für ihn zu suchen.“ Erschöpft massierte er sich die Schläfen. „Ich werde ihn füttern und dafür sorgen, dass er nicht eingeht, aber erwarte nicht von mir, dass wir Freunde werden oder so ein Scheiß. Das ist nicht mein Ding.“ Er stand auf und öffnete die Bürotür. „Du schuldest mir einiges. Und jetzt führ bitte ein vernünftiges Gespräch mit ihm. In unser aller Interesse...“
 

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Muse sah André etwas verdattert nach, bevor er sich seiner neuen Aufgabe widmete. Er kannte Thomas nun schon einige Jahre, und er hatte immer wieder mal seinen Neffen erwähnt, aber irgendwie... der Junge vor ihm hatte definitiv mehr Feuer als der Junge aus Thomas' Erzählungen. Von dem süßen Unschuldsengel, dem tollen, lieben, netten Jungen, dem nur noch der Heiligenschein fehlte, sah er gerade wirklich nicht viel. Manchmal zweifelte er ernsthaft an der Wahrnehmung seines Chefs.
 

„Okay. Cyril, richtig? Willst du was trinken?“
 

„Cola?“ Cyril musterte ihn immer noch mit diesem ungewöhnlich freundlichen Lächeln. „Und du bist...?“
 

„Muse.“
 

Muse holte aus dem Kühlschrank eine Cola und reichte sie seinem Patienten in spe, stellte den Verbandskasten daneben und hob dann Cyrils Kinn an, um seine Wunde an der Schläfe zu begutachten.
 

„Muse... ah, der, der zur gleichen Schule geht? Und... eh, der andere, Adam? Mein Onkel hat mir von euch erzählt...“ Cyril verzog unwillig das Gesicht. „Ihr sollt quasi meine neuen besten Freunde werden oder so...“
 

„Naja...“ Muse tupfte mit einem Wattebausch etwas Desinfektionsmittel auf die Schramme, wobei er Cyrils Zusammenzucken ignorierte. „Er sagt, wir sollen ein Auge auf dich haben. Scheinbar aus gutem Grund.“ Er warf ihm einen fragenden Blick zu. „Ich habe André noch nie so wütend erlebt. Was hast du angestellt?“
 

„Hm...“ Der Junge zuckte mit den Achseln. „Ich habe etwas unorthodoxe Methoden, mir etwas Geld dazu zu verdienen. Scheint André nicht so geil zu finden.“
 

„Unorthodox?“
 

„Ich lass mich für Geld ficken.“ Cyrils Stimme nahm einen provokativen Ton an. „Problem damit?“
 

Muse starrte ihn einen Moment schweigend an, bevor er Cyrils Kopf etwas zur Seite drehte, um Salbe auf der Schramme zu verteilen und ein Pflaster drauf zu kleben. Erst dann sah er ihn wieder an.
 

„Du bist fünfzehn. Jeder hätte ein Problem damit.“ Er nahm Cyrils Hand und betrachtete die Fingerknöchel. „Vermutlich hätte auch jeder ein Problem damit, wenn du älter wärst. Warum tust du das?“
 

Cyril zuckte wieder mit den Achseln. „Warum nicht? Mein Körper, meine Regeln.“
 

„Hm. So einfach ist das nicht.“
 

„Falsch. Es ist so einfach.“ Cyril hielt für einen Moment Muse Hand fest, die gerade seine Knöchel verarztete, und zwang ihn, ihm in die Augen zu schauen. „Besser, als wenn jemand anderes die Regeln macht, oder? Oder meine Regeln bricht.“
 

Er musste nicht mehr sagen, Muse verstand auch so. Langsam nickte er.
 

„Okay. Trotzdem. Lass es, zumindest so lange du bei André wohnst. Er ist einer von den Guten, er würde nur Ärger dafür bekommen.“
 

Cyril lächelte Muse verschmitzt an. „Nett. Es gibt keine Guten, Muse. Es gibt nur Schlechte und weniger Schlechte.“ Er beugte sich etwas vor. „Wobei... Hm, hast du einen Freund?“
 

„Häh?“ Muse sah überrascht durch den plötzlichen Themenwechsel auf. „Ja... ja, hab ich.“
 

„Schade. Du bist süß.“ Er grinste. „Und wenn es die Guten gibt, gehörst du wohl dazu, hm?“
 

„Das weiß ich nicht.“ Mit einem dünnen Streifen Mullband verband er die Knöchel. Es war alles halb so wild, aber er wollte es ordentlich machen. „Es liegt nicht an mir, das zu beurteilen.“ Er zog den Verband fest. „Fertig.“
 

Cyril setzte an, etwas zu sagen, doch da öffnete sich die Tür und André trat ein. Der Blick des Tänzers war jenseits von Gut und Böse, aber er machte nur eine kleine Bewegung mit dem Kopf nach hinten.
 

„Dein Onkel will mit dir reden. Treppe hoch, Bürotür ist offen. Du kannst es nicht verfehlen.“ Er wartete, bis Cyril sich mit einem unwilligen Gesichtsausdruck an ihm vorbeigeschlängelt hatte, bevor er seine Aufmerksamkeit Muse zuwandte. „Danke. Sorry, dass ich dich von der Arbeit abgehalten habe. Ich denke, du kannst weitermachen... oder dir ne Pause gönnen. Hast du verdient. Der Kleine ist anstrengend.“
 

Muse lächelte ihm aufmunternd zu, während er den Verbandskasten wegräumte. „Für mich nicht so sehr wie für dich, würde ich sagen. Er kann ganz nett sein, weißt du.“ Er tippte ihm leicht auf die verschränkten Arme. „Entspann dich. Ich muss weitermachen. Wir sehen uns.“
 

André sah entnervt seinem Freund hinterher, wie er den Raum verließ. Er hätte sich gerne ein Bier aufgemacht. Sich hingesetzt. Irgendwas. Aber er war zu unruhig. Und musste noch fahren. Verdammt, sein Auto stand noch beim Café. Wo er mit dem kleinen Teufel im Schlepptau gleich noch hinlaufen musste. Gerade, als er zum gefühlt millionsten Mal an diesem Abend seufzen wollte, kamen Cyril und Thomas zurück. André verdrehte die Augen. Anhand der kurzen Zeitspanne wusste er, dass es nicht mehr als ein nettes Dutzidu gewesen war. Wie zu erwarten.
 

„Alles geklärt. Cy ist mit allem einverstanden. Alles bestens.“
 

Die aufgesetzt gute Laune und Cyrils Mimik, die alles, nur nicht komplettes Einverständnis ausdrückte, sagte ihm alles. Er gab einen unwilligen Ton von sich.
 

„Wir gehen.“
 

Als sie das Paradise Hill verließen, schlug ihnen die kalte Nachtluft entgegen, gemischt mit dem Lärm der Partygänger. André hätte es gerne genossen, aber er war müde. Genervt. Verärgert. Die Nacht hatte gerade erst angefangen, und er wollte jetzt schon ins Bett, sich die Decke über den Kopf ziehen und einfach nur schlafen. Aber er hatte ja leider dieses Anhängsel, das ihm mit einigen Schritten Entfernung folgte, Hände in den Jackentaschen vergraben, Schultern hochgezogen, mit einem verschlossenen Gesichtsausdruck. In diesem Leben würden sie beide sich wohl kaum noch anfreunden.
 

Cyril brach als erstes das Schweigen, nachdem sie einige Zeit kein Wort gesprochen hatten.
 

„Warum tust du das?“
 

André machte sich nicht die Mühe, ihn anzuschauen. „Was?“
 

„Mich aufnehmen. Du kennst mich nicht. Oder hat mein Onkel auf die Tränendrüse gedrückt? Von der süchtigen Nutte erzählt, die sich Mutter nennt? Oder was?“
 

„Du bist mir egal, Cyril. Und deine Mutter sowieso.“ Seine Stimme klang müde. „Ich mach das für Thomas. Er hat mich drum gebeten. Ende Januar bist du wieder weg, so oder so. Thomas ist mein Freund. Wenn es ihm hilft, bitte.“ Er warf Cyril einen kurzen Blick zu. „Du musst mich nicht mögen, und ich muss dich nicht mögen. Wäre nett, wenn wir die nächsten paar Wochen halbwegs miteinander auskommen, ohne uns gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Und danach findet sich jemand Neues, dem du auf den Sack gehen kannst.“
 

„Zumindest bist du ehrlich.“
 

„Gewöhn dich dran.“ André drehte sich zu Cyril um und betrachtete ihn für einen Moment. Er hatte wieder Trotz erwartet, aber diesmal sah Cyril ihn nur ernst an. Ruhig, mit einem erstaunlich offenen Blick. Vertrauen, hm? Für einen Augenblick hielt er inne, bevor er die Hand ausstreckte. „Hier ist der Deal: Ich bin ehrlich zu dir, und lass dir so viele Freiheiten wie möglich. Du baust diesen einen Monat keinen Scheiß, und verdienst dein Geld ausschließlich in der Tanzschule. Ich nehm dich ernst, du nimmst mich ernst. Keine Spielchen, keine Verarsche, nichts. Und danach können wir beide wieder unser Ding machen wie gewohnt. Deal?“
 

Er merkte, wie Cyril ihn intensiv musterte. Zögerte. Versuchte, etwas in seinem Gesicht zu sehen. Keine Ahnung, was er suchte, aber offensichtlich war es nicht da. Langsam nickte er und schlug ein, sein Griff so fest und warm wie bei ihrer ersten Begegnung.
 

„Deal.“

Das kühle Wasser fühlte sich angenehm an. Erfrischend, belebend. Cyril nahm noch eine Handvoll und benässte sein Gesicht, bevor er den Wasserhahn zudrehte. Er hob den Kopf, einige Wassertropfen auf der Haut, und betrachtete sein Spiegelbild. Zur Feier des Tages – immerhin war es sein erster Schultag an der neuen Schule, juhu!!! – hatte er versucht, seine Haare etwas zu bändigen, indem er die langen Ponyfransen zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte. Leider kamen dabei seine Sommersprossen und die helle Haut besonders gut zur Geltung, unterstrichen von seinen rotblonden Haaren. Danke, Mama, deine Gene hättest du ruhig behalten können... Er seufzte. Früher hatten ihn seine Mitschüler Karottenkopf und ähnliches genannt, bis sie auf schmerzhafte Weise gelernt hatten, dass er das so gar nicht geil fand. Es war nicht so, dass er sich als hässlich ansah, dafür wusste er nur zu gut, dass es nicht stimmte – nicht schön, aber definitiv zu süß für diese Welt –, aber ein ein bisschen sexieres Aussehen wäre schon ganz cool gewesen. Naja, er hoffte, dass das noch kam, sobald er diese Nicht-Fisch-nicht-Fleisch-Phase hinter sich gelassen hatte. Pubertät war doch was feines...
 

Ein paar jüngere Jungs betraten die Jungentoilette. Sie sahen ihn nur uninteressiert an, bevor sie sich laut lachend auf die Toiletten verteilten. Durch die kurz geöffnete Tür hörte er jedoch den langsam ansteigenden Lärmpegel auf den Schulgängen. Die Mittagspause hatte angefangen. Zeit zu gehen und Thomas' Projekt 'Finde neue tolle besteste Freunde und hab ne superdupergeile Schulzeit' in Angriff zu nehmen. Innerlich verdrehte er die Augen, während er den Raum verließ und sich in den Strom der Schüler einreihte, die zur Kantine eilten. Muse hatte er ja wenigstens schon kennengelernt, auch wenn die Umstände eher suboptimal gewesen waren. Aber er war süß und nett. Sehr süß und sehr nett. Zu schade, dass er anscheinend schon einen Freund hatte. Nur Adam... Mit der Beschreibung, die ihm sein Onkel gegeben hatte, konnte er nicht allzu viel anfangen. Gut aussehend, er sollte davor aber keine Angst haben. Nett, aber manchmal etwas komisch. Sehr touchy-feely – Thomas hatte tatsächlich das Wort „touchy-feely“ verwendet –, aber nur zu den Leuten, die er wirklich mochte. Wovon es wohl nicht sehr viele gab, aber zumindest Muse und André gehörten wohl dazu. Und irgendeinen ominösen Lover-Nicht-Lover-Irgendwie-mega-heißen-Lover namens Leon. Alle andere hingegen hielt er auf meilenweiten Abstand.
 

Cyril hatte nur genickt und gesagt, wie sehr er sich freute, aber eigentlich hatte er so gar kein Bock auf diesen Adam. Sympathisch klang anders.
 

Er entdeckte Muse sofort, als er die Kantine betrat. Durch seine Größe, die blonden Haare und die Tatsache, dass er einer der wenigen Schüler mit einem dunkleren Hautton war, stach er selbst in einer größeren Menge heraus. Cyril musste innerlich seufzen. Muse war nicht der Typ Junge, der auf den ersten Blick gut aussah. Aber auf den zweiten und spätestens auf den dritten Blick hatte man all die kleinen Besonderheiten an ihm entdeckt, die einem das Herz flatterig machten. Die langen Wimpern zum Beispiel. Die warmen, haselnussbraunen Augen. Die Art, wie er skeptisch eine Braue hob. Die langen, schlanken Finger, die einen so richtig, richtig sanft berühren konnten. Dieses süße, schmale Lächeln, dass einem das Hirn schmelzen ließ.
 

Schade, dass die besten Jungs immer schon vergeben waren. Er hielt kurz inne. Und eigentlich wäre Muse auch zu schade für ihn. Perlen vor die Säue, sozusagen.
 

Erst beim Näherkommen entdeckte er den anderen Jungen, der neben Muse an einem der Tische lehnte und sich mit ihm unterhielt.
 

Adam.
 

Gut aussehend, hatte Thomas gesagt. Und damit die Untertreibung des Jahrhunderts abgeliefert.
 

Cyril hatte schon viele Jungs und Männer gesehen. Gut aussehend, sexy, süß, heiß, charmant, anziehend, mit dem Gewissen etwas. Es gab zahlreiche Wörter, um sie zu beschreiben.
 

Schön war bis jetzt noch nie dabei gewesen. Perfekt auch nicht. Bis jetzt.
 

Adam war die Verkörperung von beidem. Mit seinen glatten, schwarzen Haaren, die das richtige Maß an Widerspenstigkeit mit sich brachten, und seiner hellen Haut wirkte er wie die männliche Form von Schneewittchen. Unter seinem schwarzen Rollkragenpullover zeichnete sich ein wohl geformter Körper ab. Er war nicht so groß wie Muse, aber auch nicht klein. Seine hohen Wangenknochen gaben seinem Gesicht einen Ausdruck von edler Arroganz, der durch seine androgynen Züge jedoch abgemildert wurde. Alles an ihm war symmetrisch, vollendet und optimal auf einander abgestimmt. Als ob ein Künstler sein Meisterwerk geschaffen hatte. Und das krasseste – ja, ein anderes Wort als krass gab es dafür einfach nicht – Merkmal an ihm waren seine Augen. Kristallblau, so rein, so hell, so schmerzhaft stechend und kalt. Im ersten Moment, wenn er einen anblickte, tat es weh, als ob sie einen durchbohren würden. Wie Cyril genau jetzt feststellen musste, als Adam zufällig seinen Blick in seine Richtung schweifen ließ.
 

Alles an ihm war perfekt und besonders.
 

Er konnte ihn jetzt schon nicht leiden.
 

Cyril atmete tief durch, bevor er zu den Beiden trat. Besteste Freunde und so. Man konnte es ja mal versuchen.
 

„Hi!“
 

Adam musterte ihn so, wie er ihn selber gerade gemustert hatte. Seine Mimik drückte zumindest nicht die größte Herzlichkeit aus, eher eine Mischung aus Misstrauen und Nervosität. Die Antipathie schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen.
 

„Ah, Cyril, hi!“ Muse hingegen lächelte ihm freundlich zu und machte eine vermittelnde Geste zwischen den beiden Jungs. „Adam, das ist Cyril. Cyril, das ist Adam. Ich denke, Thomas hat dir von ihm erzählt?“
 

„Jaaaaa...“
 

Er streckte ihm die Hand hin, die Adam nur zögerlich und mit offensichtlich unterdrücktem Widerwillen ergriff. Was hatte Thomas gesagt? Er hielt alle außer die ihm nahestehenden Personen auf meilenweiten Abstand? Jetzt verstand er. So unerwünscht fühlte er sich normalerweise nur bei seiner Mutter. Die Mauer um Adam herum war nicht nur meterdick, die war auch noch mit Stacheldraht und einer Selbstschussanlage ausgestattet. Heilige Scheiße, wie hatte Muse es geschafft, sich mit diesem Typen anzufreunden?
 

„Hallo... schön, dich kennenzulernen.“
 

Adams Stimme war tiefer als erwartet. Männlicher als sein androgynes Äußeres vermuten ließ. Und irgendwie weich. Trotz der dicken, fetten Lüge, die die Worte beinhalteten.
 

„Hast du schon was gegessen?“ Muse sah sich um und deutete in eine Richtung. „Dort kannst du dir was holen. Oder hast du was dabei?“ Er blickte wieder Cyril an, offen und ehrlich interessiert. „Wie war eigentlich dein erster Tag? Hast du schon ein paar aus deiner Klasse kennengelernt?“
 

Cyril lachte auf. „Du klingst wie eine Mutter. Alles gut, ich brauch nichts zu essen. Und nein, ich hab die noch nicht kennengelernt. Kommt bestimmt noch, aber heute durfte ich mir eigentlich erstmal anhören, wo die sich gerade im Lernstoff befinden, was ich noch nachholen muss und so weiter und so fort. Und hab nen Riesenpacken an Krams und Aufgaben bekommen, die erledigt werden wollen.“
 

Er betrachtete kurz die Umgebung. Der Kantinenraum war groß genug, um ein paar Hundert Schüler zu fassen. Entsprechend unruhig und wuselig war es um diese Zeit. Nicht jeder hatte Nachmittagsunterricht, aber diejenigen, die ihn hatten, versammelten sich bei der Kälte, die draußen herrschte, lieber im Warmen und nahmen das ziemlich abwechslungsreiche Essensangebot in Anspruch. Nur machte es den Raum ungemütlich und laut, eine ruhige Ecke zu finden war nahezu unmöglich.
 

„Seid ihr immer hier?“
 

„Nein. Normalerweise sind wir draußen oder in einem der leeren Klassenzimmer. Hier ist es... mögen wir es nicht so. Wir können es dir gleich zeigen, aber ich dachte, du willst dich vielleicht lieber etwas unter die Leute mischen.“
 

Muse antwortete ihm, während Adam sich in vornehmes Schweigen hüllte. Cyril schüttelte nur den Kopf.
 

„Nicht nötig. Ich werde sie noch früh genug kennenlernen. Meinetwegen können wir gehen.“
 

Er wollte sich gerade abwenden, um den Ausgang anzusteuern, als sich beide Jungs vor ihm versteiften. Auf ihren Gesichtern zeichnete sich Unmut ab, doch während Muse seinen Kopf senkte und den Blick auf den Boden richtete, starrte Adam etwas hinter Cyril an, die Kiefer angespannt.
 

„Pete...“ Nur ein leises Knurren.
 

„Woah, können sich Schwuchteln jetzt doch vermehren?“
 

Während die beiden Jungs zusammen zuckten, drehte Cyril sich neugierig um. In einigen Metern Entfernung stand ein Junge in Adams und Muse' Alter, die Hände locker in die Hosentaschen gesteckt, mit einem hämischen Grinsen sie drei abfällig anstarrend. Er war nicht so groß wie Muse, aber schien sich offensichtlich trotzdem für den Größten zu halten. In seinem Schlepptau hatte er ein paar Mädchen und Jungs, vermutlich sein persönlicher kleiner Fanclub, und um sie herum schien sich automatisch eine Art Vakuum zu bilden.
 

Er kannte diese Typen zur Genüge. Reiches Elternhaus, hatte immer das beliebteste Mädchen der Schule als Freundin, und hielt sich für Adonis höchstpersönlich. Von den Lehrern verhätschelt, von den Mitschülern gefürchtet oder verehrt, hielt er sich für mächtig. Und für seinen persönlichen Stressabbau suchte er sich einen Punching-Ball unter seinen Mitschülern, damit er regelmäßig zeigen konnte, was für ein geiler Typ er war. Für diesen Typen hier – Pete – war die Wahl wohl auf Adam und Muse gefallen.
 

„Na, wie oft musstet ihr euch gegenseitig in den Arsch ficken, um dieses Prachtbürschchen hinzukriegen?“ Pete lachte und musterte Cyril von Kopf bis Fuß. „Haben dir Papi und Papi denn auch schon gezeigt, wie man ordentlich den Schwanz lutscht?“
 

Cyril spürte, wie Muse ihn am Ärmel zupfte und leise „Wir gehen“ flüsterte. Er betrachtete Pete für einen Moment, und langsam zeichnete sich auf seinem Gesicht ein liebenswürdiges Grinsen ab. Ein Grinsen, das Pete eindeutig irritierte.
 

Den Kopf leicht zur Seite gebeugt, Pete unschuldig von unten anlächelnd, trat er einen Schritt nach vorne und schüttelte damit Muse' Hand an seinem Ärmel ab.
 

„Oh, keine Sorge, das mussten sie mir nicht zeigen. Das ist mir quasi schon in die Wiege gelegt.“ Sein Grinsen wurde eine Spur breiter. „Für nen 20er beweise ich dir auch, wie gut ich darin bin.“ Er trat noch einige Schritte nach vorne. „Für nen 50er kriegst du sogar meinen Arsch.“ Jetzt stand er direkt vor Pete. Obwohl er fast einen Kopf kleiner war als der ältere Junge, trotz seiner schmächtigen und alles andere als beeindruckenden Gestalt, starrte Pete ihn verwirrt, fast sogar schon etwas ängstlich an, und lehnte sich mit dem Oberkörper abwehrend nach hinten. Cyril grinste jetzt fast von Ohr zu Ohr, seine Augen leuchteten. „Aber extra für dich gibt es auch ein paar Sachen kostenlos.“
 

Und damit hob er sein Knie und rammte es mit voller Wucht in Petes Weichteile. Mit einem durchdringend lauten Schmerzensschrei ging Pete zu Boden und hielt sich mit den Händen die schmerzende Stelle, während seine Freunde aus ihrer Beobachterrolle aufwachten, wie ein Schwarm Bienen um ihn herumschwirrten, auf ihn einredeten, versuchten, ihm aufzuhelfen, und trotzdem mit der Situation heillos überfordert schienen. Der Tumult zog auch die Aufmerksamkeit der anderen Schüler und der aufpassenden Lehrer auf sich, so dass sich innerhalb von Sekunden die Menschenmenge um sie herum verdichtet hatte.
 

Cyril betrachtete interessiert die Szenerie, fast, als ob er daran gar nicht beteiligt war, bis er einen Ruck spürte und ihn jemand aus der Menge riss. Adam hatte ihn am Arm gepackt und zerrte ihn hinter sich her, den komplett fassungslosen Muse im Schlepptau. Durch das Durcheinander, die aufgeregten, neugierigen Schüler, die wissen wollten, was passiert war, und sich um Pete zusammen rotteten, verließen sie unbemerkt die Kantine, doch Adam hielt erst an, als sie im zweiten Stock ein verlassenes Klassenzimmer erreichten. Er bugsierte beide hinein und lehnte sich dann von innen gegen die geschlossene Tür. Für einen Moment starrten sie sich alle drei an, Muse immer noch fassungslos, Cyril mit einem erwartungsvollen, aber verwirrten Lächeln, Adam fast schon wütend.
 

Dann brach Muse in schallendes Gelächter aus. Atemlos ging er in die Hocke, sich den Bauch haltend, und rang vergeblich nach Luft. Cyrils Verwirrtheit steigerte sich noch. Er hätte gerne mitgelacht, doch etwas in Adams Gesicht sagte ihm, dass es eigentlich gar nicht so witzig war wie es schien.
 

„Muse...“ Adam atmete tief durch, versuchte, seinen Freund zu ignorieren, und wendete sich Cyril zu. „Was war das denn?“
 

Cyril sah ihn mit einem fragenden Ausdruck in den Augen an. „Was war was?“
 

„Das!“ Er versuchte, nicht laut zu werden. „Du hast dir grad den... keine Ahnung, wie man das nennt... Schulobermacker zum Feind gemacht. Der wird dich jetzt immer auf dem Kieker haben und versuchen, dich fertig zu machen!“
 

„Und?“
 

„UND???“ Adam biss sich auf die Unterlippe. „Ist dir das... – Muse... hör auf zu lachen!.... – Cyril, ist dir das egal?“
 

Muse holte tief Luft, setzte sich auf den Boden und atmete nochmal tief aus, bevor auch er Cyril seine Aufmerksamkeit widmete. „Adam hat recht. Die Aktion war... cool,“ er bemühte sich, nicht wieder in Lachen auszubrechen, „aber du kriegst damit so richtig Probleme.“
 

„Und?“, wiederholte Cyril und zuckte mit den Schultern. „Was, glaubt ihr, kann er machen?“
 

Adam und Muse wechselten einen Blick.
 

„Nun...“, fing Adam an, unterbrach sich dann aber. Es gab einige Szenarien, die er sich vorstellen konnte. Aber irgendwas stimmte da nicht.
 

Cyril lehnte sich gegen einen der Tische und strich sich ein paar Strähnen nach hinten. Seine regengrauen Augen blitzen auf. „Nun“, nahm er Adams Gedanken auf und fing an, an seinen Fingern abzuzählen, „er könnte mich immer wieder öffentlich beschimpfen und niedermachen. Hm, interessiert mich nicht. Er könnte Beleidigungen auf meinen Spind schreiben, irgendwas Ekliges reinstecken, mich bei Facebook oder so mit irgendwelchen Posts mobben. Interessiert mich nicht.“ Er überlegte kurz. „Er könnte natürlich ein paar seiner Freunde zusammen trommeln, mich in irgendeiner einsamen Gasse verprügeln. Naja... es wäre nicht das erste Mal, meine letzte Schule war nicht so nett wie diese hier. Ich habe gelernt, mich zu wehren.“ Auf seinen Lippen erschien ein leises Lächeln. „Sie würden es sich danach definitiv überlegen, ob sie mich nochmal anfassen wollen.“ Er betrachtete seine Hand, die Aufzählung, die nirgendwohin führte. „Er kann mir nichts. Nichts, was ich nicht schon hinter mir habe. Warum soll ich Angst vor ihm haben? Warum soll ich mich von ihm beleidigen lassen?“
 

Muse senkte seinen Kopf, starrte auf den Boden, die Finger nervös ineinander verschränkt. „Ich lass das mit mir machen. Seit Jahren. Nicht jeder ist so kämpferisch wie du.“
 

„Musst du auch nicht.“ Cyril zuckte mit den Schultern. „Aber dann lass mich doch kämpfen. Ich werde ihm keine Macht über mich geben. Ihr könnt machen, was ihr wollt, euch verstecken und den Schwanz einziehen, aber lasst mich da raus.“
 

„Das heißt, du willst dich öfter mit ihm prügeln?“, fragte Adam. „Das ist nicht sehr... elegant.“
 

„Ich bin auch nicht elegant.“ Er erwiderte Adams Blick. Er würde auch nicht vor diesen kalten, blauen Augen Angst haben. „Ich komme aus der Gosse, ich muss gar nicht elegant sein. Wenn mir jemand auf den Sack geht, wehre ich mich. Und einige verstehen keine andere Sprache. Pete gehört dazu.“ Fast ein wenig grimmig fixierte er die Beiden. „Sorry, so bin ich halt. Mein Onkel möchte zwar, dass ich mich mit euch anfreunde, aber wenn ihr ein Problem damit habt, oder euch Sorgen macht, dass ich euch irgendwo mit reinziehe, müsst ihr euch nicht mit mir abgeben. Ernsthaft, ich komme alleine klar. Wir müssen nicht irgendwelche lächerlichen Freundschaften erzwingen, für die wir uns verstellen müssen.“
 

„Das... ist nicht so gemeint.“, stammelte Muse.
 

„Es ist okay. Lasst uns einfach Bekannte sein, uns auf den Gängen grüßen, sowas halt. Aber wir müssen nicht die Zeit miteinander verbringen. Ich glaube eh nicht, dass wir gemeinsame Interessen haben.“ Cyril lächelte. Ein ehrliches, offenes Lächeln. „Und wenn Pete mich jetzt auf dem Kieker hat, habt ihr ja auch vielleicht eure Ruhe.“
 

Er sah Adam freundlich, aber auffordernd an, der mit einen Nicken die Tür freigab. Mit einem liebenswürdigen „Bis dann“ verließ Cyril den Raum und ließ die beiden Jungs etwas ratlos zurück. Doch das störte ihn nicht. Auch wenn Thomas' Projekt damit schneller als erwartet gescheitert war, man konnte ihm zumindest nicht vorwerfen, es nicht versucht zu haben. Aber er war lieber frei als in nutzlose Beziehungen verstrickt. Nutzlose Beziehungen, die ihn in Passivität und ein Leben in Angst zwingen wollten.
 

Mit einem fröhlichen Pfeifen auf den Lippen schlenderte er die fast leeren Gänge entlang. Jetzt musste er nur noch den einen Monat bei André überstehen, um dann vielleicht wieder in sein altes, altbekanntes und wesentlich spannenderes Leben zurück zu kehren.
 

---
 

Die International Art School – kurz IAS – war eine Schule, die sich speziell auf die kreative Entwicklung ihrer Schüler konzentrierte. Sie begleitete ihre Schüler von der Grundschule bis zum Universitätsabschluss, wobei der Quereinstieg jederzeit möglich war. Dabei wurden die Schüler nicht nach ihren Finanzen ausgewählt, sondern rein nach Talent. Und dieses Talent konnte sehr weitgreifend sein. Prinzipiell fand die Ausbildung in den klassischen Künsten statt, doch in den höheren Klassen konnten sich die Schüler auch auf Disziplinen wie Modeln, Tätowieren, Modedesign, Schmiedekunst und ähnliches konzentrieren. Hier unterrichteten nur die Besten der Besten, und mit einem IAS-Abschluss gehörte man definitiv nicht zu der Riege der brotlosen Künstler.
 

Während der Zugfahrt hatte sich Cyril die Homepage der Schule angeschaut. Sie lag etwas außerhalb der Stadt, was er zwar im ersten Moment seltsam fand, jedoch verstand, als er die Bahn verließ. Die Haltestelle war extra für die IAS eingerichtet worden. Die IAS, die fast schon einer kleinen Stadt glich. Neben den Wohnheimen, die für die Internatsschüler gedacht waren, gab es zahlreiche Ateliers, Werkstätten, Tanzräume, Theaterbühnen, Proberäume und und und. Sie hatten ihre eigenen Cafés und Bäckereien, Mensen und Kantinen, Sportplätze und Fitnessstudios. Aufgelockert wurde der Campus durch kleine Parks, Wiesen und Gärten, die zum Ausruhen, Verweilen und vermutlich kreativen Input dienen sollten.
 

Es war ein gigantischer Komplex, der all seine Energie darauf verwendete, aus den einzelnen Schülern Ausnahmekünstler zu machen. Tatsächlich war Cyril ein wenig beeindruckt. Wenn André hier unterrichtete, dann musste er ziemlich gut sein. Fragte sich nur, warum er dann in einer Schwulendisco als GoGo-Tänzer arbeitete. Er überlegte nochmal. Nein, eigentlich war die Frage falsch gestellt. André war von seiner ganzen Art her ein Vorzeige-GoGo-Tänzer. Nur der Job als Tanzlehrer passte nicht so richtig zu ihm.
 

André hatte ihm eine genaue Wegbeschreibung geschickt, so dass er ziemlich gut das richtige Gebäude und den entsprechenden Raum finden konnte, auch wenn er sehr lange brauchte, um den Campus zu überqueren. Vermutlich hatte jeder Schüler seinen eigenen Campusplan immer dabei, sonst würde man sich nur heillos verlaufen.
 

Die Tür des angegebenen Raumes stand offen, so dass Cyril einen Blick hineinwerfen konnte. Eine junge Frau übte einige Tanzschritte, die ein wenig wie Ballett aussahen, es jedoch nicht ganz waren, während André ihre Haltung korrigierte oder sie an einigen Stellen unterbrach und einzelne Schritte nochmal durchging. Cyril hätte irgendwie bei beiden formellere Kleidung erwartet, immerhin war es hier quasi eine Eliteschule, doch André trug nur ein Muskelshirt und eine lockere Stoffhose, die an den Waden enger wurde, und die Schülerin hatte kurze Leggings und ein Yogashirt an. Eigentlich logisch, er würde ja auch nicht im Anzug Basketball spielen.
 

Der Raum hatte fast die Größe von Andrés Loft, war an zwei Seiten komplett verspiegelt, während sich an der dritten Wand eine Theke befand, und hatte an der Seite mit der Tür noch eine Garderobe. Vor einer der Spiegelwände befand sich zusätzlich ein Podest. Die Ausstattung war aus schlichtem Holz, so dass kaum etwas von den wirklich wichtigen Dingen ablenkte, nämlich den Tänzern, die hier ihre jeweiligen Choreografien einübten.
 

Es dauerte einen Moment, bis André ihn bemerkte. Mit einem kurzen Handzeichen bedeutete er ihm, zu warten, während er mit dem Mädchen noch einige Schritte besprach, und sie sich schließlich verabschiedeten. Sie nickte ihm zu, bevor sie an ihm vorbei nach draußen verschwand.
 

„Tanzunterricht ohne Musik?“ Cyril betrat den Raum und ließ seine Tasche auf den Boden plumpsen.
 

„Manchmal geht es erstmal um die Technik.“ André ging zur Theke und bedeutete Cyril, ihm zu folgen. „Hast du gut hergefunden?“
 

„Mhm.“
 

„Willst du was trinken?“
 

Er ging in die Hocke, um in den Kühlschrank zu schauen, der sich unter der Theke befand. Cyril trat hinter ihn, beugte sich vor und stützte sich auf seinen Schultern ab, um ebenfalls einen Blick hineinzuwerfen, als er merkte, wie André seinen Kopf zu ihm wendete und ihn skeptisch betrachtete.
 

„Hey!“ Cyril hob seine Hände und richtete sich wieder auf. „Darf ich dich gar nicht anfassen oder was?“
 

„Nein.“
 

André holte eine Cola raus und reichte sie Cyril, ohne ihn weiter anzusehen. Sein Nacken kribbelte. Seit ihrem Deal vor ein paar Tagen hatten sie sich beide bemüht, den anderen weitestgehend zu ignorieren. Ihre Interaktion bestand hauptsächlich aus kurzen Begrüßungen, wenn sie morgens aufstanden oder einer von beiden wieder zurück nach Hause kam. Er wusste nicht, ob Cyril sich komplett an den Deal hielt – er war mehrmals alleine unterwegs gewesen, da hätte er durchaus einige Typen abschleppen können –, aber zumindest kam er ihm körperlich nicht zu Nahe. Dabei wollte er es auch belassen.
 

Cyril verkniff sich eine entsprechende Bemerkung.
 

„Okay, okay, und was ist mein Job hier?“
 

„Nicht viel. Du wirst hauptsächlich dann arbeiten, wenn ich Klassen unterrichten muss, nicht beim Einzelunterricht. Vor und nach jeder Stunde muss einmal der Boden grob sauber gemacht werden. Dann kannst du die Anwesenheit überprüfen, die Handtücher müssen gewechselt werden, und wenn jemand was zu trinken will, gibst du es raus. Wenn nichts zu tun ist, kannst du meinetwegen was für die Schule machen oder lesen oder so. Vielleicht finden wir auch noch ein paar andere Aufgaben für dich.“
 

Er verzog unbegeistert das Gesicht. „Dieser Job ist wirklich nur dafür da, dass du ein Auge auf mich werfen kannst, richtig?“
 

„Korrekt.“ André versuchte nicht mal, irgendetwas anderes vorzutäuschen. „Und damit du ein wenig Geld verdienen kannst. Vielleicht siehst du dann von deiner anderen Nebentätigkeit ab.“ Er sah auf die Uhr, die über der Eingangstür hing. „Heute kommen nur noch zwei Klassen. Viel zu tun wird nicht sein, aber für deinen ersten Tag ist das vielleicht ganz gut.“
 

Mit einem Seufzen ließ sich Cyril auf einem der Barhocker nieder, holte seine Tasche zu sich und packte einige seiner Hefte und Schulbücher auf den Thresen. „Wunderbar, hab heute nämlich jede Menge aufgebrummt bekommen. Für's Nichtstun bezahlt zu werden ist auch nicht schlecht.“
 

„Übrigens“, André setzte sich ihm gegenüber, „war nicht der Deal, dass du keinen Ärger machst?“
 

„Ich hab nichts angestellt.“
 

„Aha. Und das mit Pete?“
 

Cyril kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Woher weißt du das?“
 

„Adam hat mir davon erzählt. Und bevor du sauer auf ihn bist, ich hab ihn gefragt.“
 

„Und er muss es natürlich direkt ausplaudern.“, fauchte er. Adam wurde ihm immer unsympathischer.
 

„Adam kann nicht lügen. Außerdem bist du selber Schuld.“ Der Tänzer betrachtete ihn mit einem schiefen Lächeln. „Diesmal lass ich es dir durchgehen, weil Pete wirklich ein Arsch ist und von den Lehrern scheinbar keiner gecheckt hat, was passiert ist, aber zügel ein wenig dein Temperament. Thomas wird nicht sehr begeistert sein, wenn er wegen einer Prügelei in die Schule gerufen wird.“
 

Cyril nickte nur, schwieg aber. Thomas, der eine Art vorübergehendes Sorgerecht für ihn hatte, solang seine Mutter, mal wieder, auf Entzug war, hatte ihn immerhin zu André abgeschoben. André, der kein Geheimnis daraus machte, dass er ihn für die Pest persönlich hielt und prinzipiell einen Sicherheitsabstand von zwei, drei Metern wahrte. Muse und Adam, die seine Freunde werden sollten, und dabei eigentlich nur zwei Feiglinge waren, die sich versteckten, sobald es Ärger gab.
 

Keiner, dem er in den letzten Tagen begegnet war, wollte ihn wirklich hier haben. Ernsthaft, was hatte er hier eigentlich verloren?
 

Es dauerte nicht lange, bis die erste der zwei Stunden anfing. Es war eine Gruppe von zehn, zwölf Kindern um die zwölf Jahre, Jungen wie Mädchen. Sie begrüßten André aufgeregt mit Vornamen, umschwirrten ihn wie Bienen eine besonders leckere Blüte, und schnatterten ununterbrochen auf ihn ein. André lächelte sie an, flachste, ging auf ihre Witze ein und behandelte sie erstaunlich – erstaunlich ebenbürtig vor allem. Cyril, den André nebenbei als Aushilfe vorgestellt hatte, war fasziniert. Scheinbar ging André in der Rolle des Lehrers komplett auf, wie auch der Unterricht selber bewies. Sie studierten eine Choreografie zu einem gängigen Song aus den Charts ein, und er behandelte jeden einzelnen Schüler individuell, passte sein Tempo ihnen an, verbesserte freundlich, wo es nötig war, und wurde es nicht müde, schwierige Stellen immer und immer wieder zu erklären. Die Bewunderung, die die Kids für ihn hatten, war nicht zu übersehen. Dieser Eindruck setzte sich auch in der zweiten Stunde fort, diesmal mit älteren Schülern, die einige Standardtänze lernten. Sie waren nicht ganz so aufgedreht, nicht ganz so schnatterhaft, aber dass sie ihren Lehrer schätzen und sich von ihm geschätzt fühlten, war eindeutig.
 

Cyril hatte die ganze Zeit nur wenig zu tun, so dass er sich eigentlich wunderbar seinen eigenen Aufgaben hätte widmen können. Sein Blick wurde jedoch immer wieder von den Personen vor ihm abgelenkt. Mit Tanz hatte er bisher wenig zu tun gehabt, und sowohl die Kraft und Beherrschung, die die jüngeren Kids in ihrer Choreografie zeigten, wie auch die Ausdrucksstärke und Harmonie der Standardtänze beeindruckte ihn. Er wartete noch einen Moment, nachdem die letzten Schüler gegangen waren. André stand noch an der Musikanlage und stellte irgendetwas ein, während er sich mit einem Handtuch den Nacken abwischte. Cyril rutschte von seinem Stuhl und trat ein paar Schritte in den Raum hinein, betrachtete sich in den riesigen Spiegeln. Betrachtete Andrés Spiegelbild.
 

„Kannst du mir das beibringen?“
 

„Was?“ André sah nicht mal auf.
 

„Tanzen.“ Cyril lächelte sanft sein Spiegelbild an. „Ich kann es nicht, auch wenn der Regen manchmal dazu einlädt.“
 

Das Spiegelbild warf ihm einen misstrauischen Blick zu. „Wofür brauchst du es?“
 

„Ich lerne gerne.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, wofür ich es mal gebrauchen kann.“ Mit einem fetten Grinsen drehte er sich zu André um. „Vielleicht werde ich ja mal Edelnutte und kann damit meine Freier beeindrucken.“
 

Jetzt sah André ihn ganz an. Mit einem ausdruckslosen Gesicht. „Dafür würde ich es dir nicht beibringen.“
 

„War nur ein Witz. Sei doch nicht immer so ernst.“
 

André seufzte und trat näher. „Meinetwegen. Auch wenn du dir meinen Unterricht eigentlich gar nicht leisten kannst...“ Er rieb sich kurz über die Augen. „Welchen Tanz willst du lernen?“
 

„Alle?“
 

Er hob skeptisch eine Augenbraue. „So viel Zeit haben wir nicht. Du solltest es nicht unterschätzen. Wenn du wenigstens grundlegend was können willst, solltest du dich auf einen beschränken.“
 

Cyril grinste verschmitzt. „Wart es doch ab. Ich bin ziemlich schnell von Begriff.“
 

„Na, wie du meinst.“ André überlegte kurz. „Fangen wir mit Rumba an.“
 

Cyrils Augen blitzten siegessicher auf. Wie weit konnte er gehen, ohne den Deal zu verletzen? Wie schnell konnte er seinen Aufenthalt hier verkürzen? Er streckte seine Hand aus.
 

„Die Frauenschritte. Als Edelnutte brauch ich die Männerschritte bestimmt nicht.“
 

André musterte ihn für einen Moment. Die graublauen Augen, die im gedämmten Licht trotzdem leuchteten. Die Lippen, die ihn herausfordernd anlächelten. Die leichte Neigung des Kopfes, selbstbewusst, verspielt. Es würde ein sehr langer Monat werden.
 

Langsam berührte er die Fingerspitzen von Cyrils ausgestreckter Hand mit seinen eigenen. Nur das, nicht mehr.
 

„Fangen wir an.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich gestehe... ich mag Cyril ^///^ Auch wenn er jetzt wirklich nicht wie der perfekte Mitbewohner wirkt :D Ich freu mich auf Kommentare, und bin gespannt, was ihr zu ihm sagt :3 Komplett anzeigen

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