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Das Volk aus den Bergen

Magister Magicae 4
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Trigger-Warnung: Gewalt

Alter Schwede, war dieses Kapitel ein Krampf ... XD
Aber ich hab´s fertig gekriegt. :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Trigger-Warnung: Gewalt (nicht adult) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, ihr Lieben, Übersetzungen fehlen hier absichtlich. Euch soll es ja schließlich auch nicht besser gehen als dem armen Victor. O_~ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Okay, da inzwischen alle Handlungsstränge zusammengeführt wurden, lasse ich Ortsangaben jetzt weg. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgehen, daß sich ab jetzt alles im Labor abspielt. ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Endlich! (^o^)/
Das zentrale Kapitel und Kernstück der Story. Darauf hab ich mich schon die ganze Zeit riesig gefreut. Dieser Abschnitt hier war das eigentliche Anliegen und der Grund, weshalb ich die Story überhaupt geschrieben habe. :D Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, ihr Lieben.
Vielen Dank, daß ihr bis hier her mitgelesen habt. An sich war die Story mit dem letzten Kapitel beendet. Aber diesen Abspann hier musste ich einfach noch dranhängen. Ich kam um die Szene nicht drumrum. XD Komplett anzeigen

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Victor platzte mit mehr vorgetäuschtem als echtem Elan in das Büro des Motus-Bosses hinein, in einer Hand ein Würstchen, in das er gerade biss. Aber er blieb wie angewurzelt in der Tür stehen, als er direkt in den Lauf einer Pistole schaute. Seine übliche, vorlaute Begrüßung blieb ihm ebenfalls im Hals stecken.

Vladislav saß hinter dem Schreibtisch, die Knarre im Anschlag. Als er Victor erkannte, lächelte er. „Hey, komm rein. prochodi“, meinte er und winkte seinen Vize näher. Erst dabei kam das herausgezogene Magazin zum Vorschein. Vladislav wartete die Kanone wohl gerade.

„W-Was wird das?“, fragte Victor etwas stockend zurück. Auch wenn die Pistole gar nicht geladen war, steckte ihm doch immer noch der Schreck in den Knochen. Den Boss bewaffnet zu sehen, gab ihm ein unwohles Gefühl.

„Nichts, was dir Sorgen machen müsste. Ich bin nur gerade auf der Suche nach einer Waffe, die mir gefällt.“

„Willst du jemanden erschießen?“

„Wenn sich´s ergibt!? ... Nun setz dich schon, Mann. Steh nicht so dumm da in der Tür rum, das macht mich hibbelig.“

Mit einem Nicken schloss der Gestaltwandler die Tür hinter sich und ließ sich auf der gegenüberliegenden Seite von Vladislavs Schreibtisch nieder. Und biss wieder in sein Würstchen, das er nun endlich aufessen wollte.

„Du hast dich in den letzten Tagen rar gemacht, Victor. Was ist los?“, wollte der Boss wissen und zerlegte dabei seine Waffe weiter in Einzelteile, um sich alles genau anzusehen.

„Ja, tut mir leid. Ich hab einen langjährigen Freund verloren. Das hat mich ein bisschen aus der Bahn gehauen. Ich wäre dir zu nichts nütze gewesen, in diesem Zustand. Darum hab ich mich mal ein paar Tage aus allem rausgenommen.“

„Ehrlich? Ich hätte nicht gedacht, daß dich mal was aus der Bahn hauen könnte. Bisher bist du noch mit allem irgendwie fertig geworden. ... Du hast Freunde?“

„Jetzt nicht mehr. Er war der einzige. Und eigentlich ... hatte ich den Kontakt zu ihm auch schon seit geraumer Zeit abgebrochen. Ich wollte nicht, daß er irgendwas von der Motus mitkriegt.“ Er machte eine kurze, sentimentale Pause. „Naja, aber gemocht habe ich ihn deswegen ja trotzdem noch. Sein Tod war mir nicht gleichgültig.“

Vladislav beäugte ihn verstehend. Er wusste, wie es war, nahestehende Leute zu verlieren und was das bewirkte. Er selbst hatte seinen Sohn verloren. Das war der Grund, warum sie heute alle hier waren. „Und bist du jetzt wieder okay?“

Der Vize nickte. „Ja, es geht wieder. Sonst wäre ich nicht hergekommen. Also, warum hast du mich gerufen?“

„Wir haben Arbeit“, meinte Vladislav humorvoll und zeigte vielsagend seine Pistole hoch. Oder was davon noch in einem Stück war. „Ich gehe nach Japan, einen seltsamen Fall unter die Lupe nehmen. Und du kommst mit.“

„Aha?“, war das einzige, was Victor dazu einfiel.

„In Japan gibt es eine Gegend, die immer wieder von tückischen Kreaturen heimgesucht wird. Raubüberfälle, Plünderung, Brandstiftung, inzwischen gibt es sogar Tote. Die Übergriffe häufen sich und das betroffene Gebiet wird immer größer. Im Klartext, es scheinen immer mehr von diesen Dingern zu werden. Wir werden uns das ansehen und entscheiden, ob man die nicht besser auf die blaue oder schwarze Liste setzen sollte.“

„Und du sprichst Japanisch, ja?“

„Nein, aber mein Genius Intimus tut es.“

Victor warf einen kurzen Seitenblick auf den schweigsamen, verbissen dreinschauenden Kerl, der immer mit im Büro herumlungerte. Als magisch begabter Mensch hatte Vladislav natürlich einen Schutzgeist. Alle Magi hatten einen. Victor konnte sich nicht entsinnen, jemals ein Wort mit dem gewechselt zu haben. Der schien gänzlich unkommunikativ zu sein. Entweder war er stumm, oder Vladislav hatte ihm gehörig eingeprügelt, daß er die Klappe zu halten hatte. Manchmal waren Schutzgeister echt nur das persönliche Eigentum ihrer Schützlinge, selbst heutzutage noch. „Na schön. Und wie kommt´s, daß du selber losziehst? Hast du keine Leute, die du schicken kannst?“, wandte er sich wieder an den Boss.

„Ich hab dir doch mal erzählt, daß ich noch nie jemanden eigenhändig umgebracht habe, außer dem einen Kerl, der meinen Sohn erschlagen hat. Das muss sich endlich ändern. Ich langweile mich hier zu Tode. Ihr seid die ganze Zeit da draußen und habt Spaß und ich sitze hier über dem öden, organisatorischen Bürokram. Ich will auch endlich mal rausgehen und mitmischen.“

Victor runzelte nur unverständig die Stirn, als würde er arg am Verstand seines Bosses zweifeln.

„Dank deiner guten Arbeit hab ich ja jetzt auch die nötige Freizeit dafür“, quasselte der blonde Chef der Motus weiter. „Du nimmst mir so unglaublich viel Kram zuverlässig ab, das finde ich super.“

Victor strich sich mit der Hand endlich eine Strähne der langen, schwarzen Haare aus den Augen, die ihn schon länger störte. „Und wieso muss ich nach Japan unbedingt mitkommen? Sollte nicht wenigstens einer von uns beiden hier die Stellung halten?“

„Die Berichte und Meinungen, um was für Viecher es sich dort handelt, gehen sehr auseinander. Jeder sagt was anderes. Jeder beschreibt die Dinger anders. Ich nehme also an, daß wir es mit Gestaltwandlern zu tun haben.“

„So wie ich“, ergänzte Victor ohne jede Begeisterung.

„So wie du, ganz genau. Mir fällt niemand ein, der mir gegen diese Biester besser helfen könnte als du.“

„Nur weil ich selber Gestaltwandler bin, bin ich ja nicht gleich ...“

„Du hast einen Magister Magicae für Gestaltwandlung, oder liege ich da falsch?“, fiel der Boss ihm ins Wort. „Jetzt versuch mir nicht weiß zu machen, du könntest mit sowas nicht umgehen! Ich weiß, daß du andere Gestaltwandler erkennen und enttarnen kannst.“

„Schon gut“, seufzte Victor lustlos. „Hat wohl keinen Sinn, es abzustreiten. Aber ich versteh trotzdem nicht, was wir in Japan wollen. Die haben eine funktionierende Yakuza da. Das ist Einzugsgebiet der Konkurrenz. Sollen die sich doch selber drum kümmern, wenn du mich fragst!“

„Dich frage ich aber nicht“, hielt der Boss genervt augenrollend dagegen.

„Aber, hör mal, wo wir gerade bei Magister Magicae sind, da wollte ich sowieso nochmal mit dir reden.“

„Ja?“, machte Vladislav nur und begann seine zerlegte Pistole wieder zusammen zu bauen. Jedenfalls versuchte er es, wenn auch mit wenig Erfolg.

„Ich will wieder zur Uni und weiter studieren. Ich will noch einen Magister Magicae für Bann-Magie machen. ... Damit ich dir mehr nütze, weißt du?“, fügte er scheinheilig noch schnell an.

„Ah ja“, brummte der Boss zynisch. „Und weiter?“

„Dafür müsste ich dich allerdings bitten, mich erstmal eine Weile nicht mehr so sehr im Ausland rum zu schicken. Oder wenigstens nur in den Semester-Ferien. Das würde sonst mit den Vorlesungen kollidieren. Ich schaffe den Abschluss nicht, wenn ich im Unterricht zu viel fehle.“

„Und was schlägst du stattdessen vor?“

„Was weiß ich. Hast du nicht genug andere Leute, die du in der Welt rumscheuchen kannst? Die Motus ist doch ein großer Laden“, argumentierte Victor.

„Ist sie. Aber ich bin kein Freund davon, die Leute über den Tellerrand schauen zu lassen. Die sollen bei den Aufgaben bleiben, die sie haben, und nicht zuviel von anderen Abteilungen mitkriegen.“

„Gut, auch wieder wahr. ... Naja, aber du hast ja selber gerade gesagt, daß du mehr Außendienst schieben willst. Wie wär´s damit?“

Vladislav warf ihm einen tadelnden Blick zu. Dieser Vorschlag war jetzt wirklich dreist. Das hieß übersetzt, daß Victor dafür das Büro am Laufen hielt. Da hätte er ja auch gleich sagen können, daß er Vladislavs Chef-Posten an sich reißen wöllte. „Lass uns nochmal drüber reden, wenn wir aus Japan zurück sind. Jetzt verkrümel dich und pack deine Sachen. Morgen geht der Flug. Wir treffen uns 11 Uhr hier im Büro.“

„Ist gut. Noch irgendwas, was ich über diese Viecher in Japan wissen sollte?“

„Sie sind gefährlich.“

„Ach was, echt!?“, erwiderte Victor, nun seinerseits sarkastisch, und rollte genervt mit den Augen. Da wäre er ja nie im Leben drauf gekommen. Dann beugte er sich vor, schnappte Vladislav die Einzelteile der Pistole aus der Hand und setzte sie mit zwei, drei sicheren Griffen wieder zusammen. Der bekam das ja offensichtlich nicht selber hin. „Ein paar mehr Infos wären schon schön. Von asiatischer Magie und asiatischen Genii hab ich jetzt nicht so die Ahnung. Also würde ich mich gern noch ein bisschen auf die Expedition vorbereiten, bevor wir uns ins Verderben stürzen.“

„Wir werden bewaffnet sein. Erwartest du Probleme?“

„Es gibt da draußen genug Wesen, die sich mit Blei nicht aufhalten lassen. Für manche muss die Munition aus Silber sein, oder mindestens mit einem Bann belegt, damit sie überhaupt was ausrichtet. Und da gibt es die verschiedensten Spielarten. Bann ist nicht gleich Bann, und nicht jeder wirkt bei allen Genii. Und wie gesagt, dann kommt noch dazu, daß die Asiaten sowieso ein komplett anderes Spielfeld sind als das, womit wir´s sonst so zu tun haben. - Also: erwarte ich Probleme? Ja, verdammt!“

Der Boss zog eine Augenbraue hoch. „Da spricht der Mann mit Praxis-Erfahrung. Ich sehe, es ist eine kluge Entscheidung, dich mitzunehmen. Du wirst wohl gut auf mich aufpassen“, kommentierte er. Dabei griff er nach einer Akte und hielt sie Victor hin. „Hier, nimm mit! Steht alles drin, was bisher bekannt ist.“

„Geht doch! Warum nicht gleich so?“ Der Vize tippte sich an eine erdachte Hutkrempe und überließ Vladislav dann wieder sich selbst. Himmel, eine Mission gemeinsam mit dem Boss persönlich, das konnte ja heiter werden.
 

Draußen vor der Tür schlug Victor die Akte auf, ließ die Seiten kurz mit dem Daumen durchblättern, dann machte er wutschnaubend wieder Kehrt und platzte abermals ins Büro hinein. „Willst du mich verarschen!?“, jaulte er sauer und pfefferte ihm das Pamphlet auf den Tisch zurück, noch ehe der Boss was sagen konnte.

„Was ist denn?“, wollte Vladislav scheinheilig wissen. „Du wolltest doch alles haben, was ich zu dem Fall zusammengetragen hab.“

„Das ist alles Japanisch, du Blödmann! Wenn dein Genius Japanisch übersetzen kann, schön! Ich kann es nicht!“

„Jetzt beschwert er sich auch noch!“, wandte sich Vladislav amüsiert an seinen Genius Intimus, welcher sich jedoch kein Statement dazu erlaubte.

Victor deutete mit dem Zeigefinger auf die Akte. „Hättest du wohl die Güte, mich aufzuklären, was da steht?“

„Na schön, du wirst mir ja eh keine Ruhe lassen. Also wie gesagt geht es um Plünderei, Brandstiftung, Körperverletzung und jetzt sogar Totschlag. Die Täter sind eine offenbar gut organisierte Gruppe, die von den Einheimischen 'das Volk aus den Bergen' genannt wird. Gemeldet wurden die ersten Fälle von der Insel Okinawa, aber diese Dinger haben es wohl inzwischen schon bis auf die Hauptinseln geschafft.“

Victor nickte, während er schon über das Gehörte nachdachte. „Worauf sind die aus, wenn sie ihre Raubzüge abhalten? Lebensmittel? Wertgegenstände?“

Vladislav warf seinem Genius Intimus einen fragenden Blick zu. Er konnte kein Japanisch, um selber in der Akte nachzulesen.

„Sake“, brummte der Mann mit tiefer Stimme. Das erste Wort, daß Victor ihn jemals hatte reden hören. Also war er doch nicht stumm. „Die schleppen allen Reiswein weg, den die tragen können. Sieht so aus, als feiern die gern.“

„Sehr ungewöhnlich“, fand Vladislav.

Aber Victor schüttelte den Kopf. „Das trifft auf die meisten Yokai zu, also alles was irgendwie in die Kategorie 'japanische Dämonen' fällt. Die trinken alle gern.“

„Ich dachte, du kennst dich mit denen nicht aus.“

„Tu ich auch nicht. Das ist Allgemeinbildung“, hielt Victor dem Boss vor. „Was steht da sonst noch so?“

„Nur ein paar Augenzeugenberichte mit optischer Beschreibung dieser Viecher. Alle sehr konträr. Aber darauf kann man nichts geben, da wir sowieso von Gestaltwandlern ausgehen. Das einzige, worin die sich alle einig sind, ist, daß diese Wesen auf dem Erdboden bleiben. Fliegen können die nicht.“

„Das finde ICH wiederrum ungewöhnlich. Da ich selber Gestaltwandler bin, weiß ich da wovon ich rede. Wenn man schon so eine tolle Fähigkeit hat, dann nutzt man sie doch auch komplett aus.“

„Und? Theorien?“, wollte Vladislav wissen.

Der Vize wog abwägend den Kopf hin und her. „Wenn ich raten müsste, würde ich am ehesten Kizune, Tanuki oder Mujina in Betracht ziehen. Das sind die drei gängigsten japanischen Arten, denen umfangreiche, gestaltwandlerische Fähigkeiten nachgesagt werden und die mehr oder weniger finster drauf sind. Wobei Kizune normalerweise nicht im Rudel auftreten. Aber ich werde mich bis morgen noch etwas belesen.“

„Und was sind das für Dinger?“

„Fuchs-, Marderhund- und Dachs-Tiergeister. Allesamt sehr clever, aber leider haben sie meistens nur Unsinn im Kopf und foppen die Menschen. Sie spielen Streiche, in der Regel alles andere als lustig, weil die Menschen dabei in die Irre geführt oder in Gefahr gebracht werden. Manchmal sterben dabei auch Menschen, aber das sind dann eher Unfälle. Sie klauen auch schonmal Dinge. Aber so bestialisch, Menschen mutwillig tot zu schlagen, ist eigentlich keiner von denen.“

Vladislav nickte mit einem undeutbar schalkhaften Gesichtsausdruck, irgendwo zwischen amüsiert und anerkennend. „Wir werden sehen“, entschied er dann. „Also los, ubirajtes! Jetzt hau schon ab, Mann! Ich hab dich schon zweimal rausgebeten. Geh deine Sachen packen und sei morgen pünktlich.“

„Ja-ja, 11 Uhr hier im Büro. Schon klar“, erwiderte Victor und drehte sich um, Richtung Tür. Die nutzlose, japanische Akte ließ er liegen. „Also bis morgen dann.“

Der Boss seufzte leise, als die Tür endlich hinter Victor zu war, und schüttelte leicht den Kopf vor sich hin.

„Was ist?“, wollte sein Genius Intimus wissen.

„Ach, nichts. Der Kerl tut nur immer so, als hätte er von nichts Ahnung, und dann wartet er im Ernstfall doch mit einem Haufen Wissen und Können auf.“

„Ist doch gut, wenn er kein Hochstapler ist, sondern ein bisschen bescheiden.“

Vladislav lachte leise. „Bescheiden? Klingt er für dich bescheiden?“

„Naja, schlagfertig. Etwas vorlaut vielleicht. Aber nicht prahlerisch.“

„Er weiß jedenfalls mehr, als er zugibt, und das gibt mir zu denken“, befand der Boss, nicht ohne die hochachtungsvolle Note ganz aus seiner Stimme filtern zu können. Er hatte eine hohe Meinung von Victor als Vize, so oder so. Er vertiefte sich wieder in ein paar Unterlagen auf seinem Tisch. Das deutliche Zeichen für seinen Genius Intimus, daß jetzt gefälligst Klappe-halten angesagt war. Die Unterhaltung war beendet, er wollte nichts mehr hören.

alte Bekannte

einige Jahre zuvor, Japan
 

Loriel saß zufrieden in seiner üblichen Kneipe, wie immer am Tresen, und trank ein Bier. Zwei Wochen. Nur noch zwei Wochen, dann war es soweit. Er freute sich jetzt schon riesig darauf. Das würde ein cooles Leben werden.

„Hörst du mir überhaupt zu?“

„Was?“ Loriel sah auf und schaute den Wirt, einen kleinen, drahtigen Endsechziger, fragend an.

„Herrgott, Lori, was ist denn heute los mit dir?“, wiederholte der Wirt geduldig, stellte das Glas weg, das er gerade trockenpoliert hatte, und warf sich das Tuch dann über die Schulter. Sie kannten sich schon seit Jahren. Loriel war schließlich Stammkunde und saß fast jeden Abend hier. „Wie lange du noch bleiben willst, hab ich gefragt.“ Er deutete vielsagend in die Runde.

Loriel drehte den Kopf und ließ den Blick durch die Kneipe schweifen. Erst jetzt merkte er, daß abgesehen vom Radio alles totenstill war. Keine Menschenseele mehr hier. „Oh, bin ich der Letzte?“

„Schon seit einer ganzen Weile. Ich würde für heute gern schließen, wenn du nicht noch ein Bier trinken willst“, gab Shoji zurück.

„Tut mir leid, ich war total in Gedanken“, grinste Loriel, trank den Rest aus seinem Glas leer und wischte sich dann das Bier vom Schnauzbart. Dieser dunkelgraue Schnauzer und der ungepflegte Dreitage-Bart ringsherum ließen ihn alt und etwas heruntergekommen aussehen. Der runde Bierbauch und die Tätowierungen auf seinen Armen taten ihr Übriges. Da Loriel gerade nur in offener Lederweste da saß, konnte man beides sehr schön bewundern. Ein ranziger, alter Sack eben.

„Müssen ja fesselnde Gedanken gewesen sein“, brummte der Wirt, der trotz seines Alters so ziemlich das Gegenteil von Loriel war.

Der Gast grinste. „Wundervolle Gedanken!“

„Na, dann lass mich mal dran teilhaben“, kam als Vorschlag zurück, zusammen mit einer neuen Flasche Bier. Dann schnappte sich Shoji auch selber noch ein Glas und eine Schnapsflasche aus dem Regal hinter dem Tresen, kam herum und setzte sich neben ihn. Waren ja sonst keine anderen Gäste mehr hier, die er bedienen musste. Also konnte er auch an der Bar sitzen und mit seinem Kumpel quatschen.
 

Einen Moment hörten sie beide einfach nur dem Radio zu. Da lief gerade ein Song von Bunkai, einer noch recht jungen, japanischen Visual Kei Band. Der Sänger hatte eine Menge Power, Loriel mochte die Truppe. Irgendwann musste er mal auf einem Konzert von denen aufkreuzen.

„Also, was ist nun?“, hakte der Wirt schließlich nach, als ihm das Schweigen zu lästig wurde. Das Lied im Radio schien noch eine Weile zu gehen. Er wollte nicht warten, bis es zu Ende war.

„Du weißt doch, daß ich ein Shogu Tenshi bin. Ein Schutzengel.“

„Schon seit 15 Jahren nicht mehr, mein Lieber. Seit du deinen letzten Schützling überlebt hast, bist du etwas aus der Übung gekommen.“

„Ist doch egal“, gab Loriel beleidigt zurück.

„Wie alt werdet ihr Jungs überhaupt?“ Shoji goss sich selbst einen Schnaps ein und kippte diesen direkt weiter in seinen Rachen.

„Alt. Sehr alt. Ein paar hundert Jahre. Darum haben wir im Laufe unseres Lebens auch mehrere Schützlinge.“

Shoji musterte den dickbäuchigen, grauhaarigen, faltigen Kerl neben sich verstohlen. Ob der einen noch vernünftig beschützen konnte, war arg zu bezweifeln. „Und du meinst nicht, daß du für deinen nächsten Schützling ein wenig im Training bleiben solltest?“

„Genau da liegt der Knackpunkt! Ich werde keinen mehr haben! Nie wieder! Ich bin frei, verstehst du? Frei!“ Euphorisch öffnete Loriel seine bereitgestellte Bierflasche und goss sich nochmal nach.

„Und da bist du dir so sicher, weil ...???“

„Weil ich in vierzehn Tagen Geburtstag habe! Ich werde 500 Jahre alt.“

„Dann nenn ich mal einen runden Geburtstag. Wird das gefeiert?“

„Aber hallo! Weißt du, was das bedeutet?“

„Das du nicht nur ein Säufer mit einer dicken Wampe bist, sondern ein alter noch dazu. Soll ich schonmal einen Krückstock besorgen?“, grinste Shoji.

Aber Loriel ließ sich davon die gute Laune nicht verderben. „Dann ist meine aktive Dienstzeit als Schutzengel vorbei und ich werde in den Rang eines Cheruben befördert. Und das ist verdammt cool.“

„Wenn du meinst!? Dafür hab ich nicht genug Ahnung von euch Jungs.“ Der Wirt goss sich ebenfalls nach. „Ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Mensch und außer dir kenne ich auch keine magisch begabten Leute oder Genii.“

„Doch, bestimmt kennst du welche. Sie haben sich bloß nicht zu erkennen gegeben. Die meisten gehen damit nicht unbedingt hausieren, weil sie auch lieber in Frieden leben wollen, soweit sie es können. Na, wie dem auch sei, ich freu mich jedenfalls riesig, wenn ich dann keine Schützlinge mehr zu bemuttern habe. Nach dem zweiten oder dritten wird es echt lästig, daß die einem immer so schnell wegsterben. Es wäre schöner, wenn die in Sachen Lebenserwartung ein bisschen mit uns Shogu Tenshi mithalten könnten.“

„Du meinst, es wäre schöner, wenn du nicht immer nach deren Pfeife tanzen müsstest, obwohl sie so unerfahrene, ahnungslose Jungspunde sind.“

„Das auch. Aber das darf ich natürlich nicht sagen.“

Beide lachten, prosteten sich gegenseitig zu und kippten sich eine Ladung ihrer jeweiligen Getränkte hinter die Binde. Shoji schüttelte sich. „Na dann, auf deinen Geburtstag. ... Und wie genau funktioniert diese Beförderung zum Cheruben? Gibt´s da jemanden, der das zu entscheiden hat?“

„Nein, das ist unser ganz normaler Entwicklungsprozess im Laufe unseres Lebens. So wie Menschen in die Pubertät kommen, oder wie bei Magi irgendwann die magischen Begabungen zu Tage treten, so kommen wir Shogu Tenshi einfach irgendwann in ein weiteres Stadium unserer Entwicklung. Es geht neben der optischen Veränderung und einer Veränderung unserer Fähigkeiten auch damit einher, daß dann halt keine Schützlinge mehr auftauchen, die mit uns verbunden wären.“

„Dann ist 'Beförderung' aber ein irreführendes Wort“, fand der Wirt. „Ich würde es eher 'in den Ruhestand gehen' nennen, oder sowas.“

„Schon möglich. Aber so nennt es sich nunmal.“ Loriel trank sein Bier in einem Zug aus und kramte dann nach seiner Geldbörse. „Okay, Shoji, ich will dich nicht länger von deinem Feierabend abhalten. Ich verzieh mich jetzt. Wieviel kriegst du?“

„Äääähm ... ach, ich rechne es morgen zusammen. Bei dir muss ich ja keine Angst haben, daß du nicht wiederkommst.“

„Meinetwegen. Dann bis morgen.“

„Ja, bis morgen. Gute Nacht, Lori.“

Der alte, graue Shogu Tenshi wälzte sich von seinem Barhocker herunter und stapfte mit einem breiten Grinsen davon. Die Türglocke schlug an, als er die Tür aufzog, und nochmal, als sie wieder hinter ihm zufiel.

Shoji lächelte leicht. Er freute sich ein wenig für seinen langjährigen Kumpel. Er konnte zwar die Tragweite dieser altersbedingten 'Beförderung' in den nächsten Lebensabschnitt nicht ganz verstehen, aber wenn Loriel darüber so happy war, dann war es sicherlich etwas Gutes. Der alte Kneipengänger war mit seinem Bierbauch ja immerhin schon lange kein passabler Schutzengel mehr. Er sah nicht mal mehr wie einer aus, selbst wenn er körperlich wirklich noch in der Lage gewesen wäre, diesem Job nachzugehen. Ein Engel war er bestenfalls noch im Geiste. Seine Art schwankte zwischen gelassen und fröhlich, und das mochte der Wirt so an ihm. Er hatte Loriel noch nie negativ erlebt. Shoji beschloss, ebenfalls zu gehen. Den Boden durchwischen konnte er auch morgen noch, bevor die ersten Gäste kamen.
 

Loriel spazierte fröhlich pfeifend die Straße hinunter und kramte dabei schon nach seinem Wohnungsschlüssel. Weit hatte er es bis nach Hause nicht, er wohnte quasi eine Querstraße weiter. Genau darum war der Schuppen von Shoji auch sein Stammlokal. Es war halt gleich um die Ecke. Auf seinem Weg musterte er die schreiend bunten Werbereklamen. Das hier war nicht Tokyo oder Osaka, aber selbst in den kleineren Städten war es niemals still oder dunkel. Auch hier wurde es niemals Nacht. Auch diese kleine Stadt schlief nie.

Der Shogu Tenshi beschloss, nochmal in einen Konbini-24-Stunden-Laden abzubiegen und sich noch etwas zu essen zu beschaffen, denn er wusste wie es um seinen Kühlschrank derzeit bestellt war. An Geldmangel litt er zwar nicht, aber er war gern mal zu faul zum einkaufen. Einige Minuten später stand er mit einer Packung Knabberkram an der Kasse und zückte die Geldbörse.

„Das macht bitte 200 Yen“, informierte der Kassierer ihn freundlich.

Loriel nickte und öffnete das Kleingeldfach. ... Und plötzlich drehte sich ihm der Magen um, als er ein Gefühl in sich aufsteigen spürte, das er inzwischen nur zu gut kannte.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, wollte der Verkäufer besorgt wissen. „Sie sehen plötzlich ganz furchtbar aus.“

erfolglose Suche

jetzt, Moskau
 

Der Gestaltwandler hatte die Stirn in die Hand gestützt, wodurch er nur noch mit einem Auge in das Buch schauen konnte, das er vor sich liegen hatte. Aber das machte den Inhalt auch nicht besser oder erträglicher. Es war frustrierend. Er hatte sich in die Bibliothek gesetzt und sich ein paar Nachschlagewerke über japanische Genii gekrallt. Nur weil Vladislav davon ausging, daß es sich um Gestaltwandler handelte, mussten es ja noch lange keine sein.

Das Schlimme war: sie waren alle völlig unterschiedlich zu handhaben. Es gab kein Patentrezept gegen Yokai. Allein die drei Arten, die er für die wahrscheinlichsten Übeltäter hielt, Kizune, Tanuki und Mujina, waren so grundverschieden wie Tag und Nacht, obwohl sie allesamt Tiergeister waren. Kizune, die Füchse, hatten in ihrer tierischen Gestalt keinen stofflichen Körper. Jedweden Einsatz von Schusswaffen, Schlagwaffen, bloßen Fäusten oder konventionellen Fallen konnte man sich sparen. Denen kam man nur mit Magie bei. Tanuki, die Marderhunde, waren wiederrum immun gegen die meisten Arten von Bann-Magie. Die konnte man nur gepflegt über den Haufen schießen, damit Ruhe war. Vorausgesetzt, man verwendete Silberkugeln. Aber woher nehmen, auf die Schnelle? Und die Mujina, die Dachse ... nun, wenn sie nicht freiwillig eines natürlichen Todes starben, dann wurde man sie nur los, indem man ihren Körper komplett vernichtete. Und was das anging, schienen die wirklich verdammt viel Körperschaden kompensieren zu können. Verstümmeln, ausbluten, erschlagen, durchbohren, verbrennen ... kein Thema. Mujina erholten sich von allem. Ihre Regenerationsfähigkeit war unbeschreiblich. Alles was nicht mindestens 'Kopf ab' war, juckte sie wenig. In diesem Buch hier hieß es, daß der einzige bekannte Kerl, der jemals ein Mujina getötet hatte, ein Drachen gewesen war. Und der hatte den Mujina einfach mit Haut und Haar aufgefressen ...

Drachen ... Auch so ein Stichpunkt, den Victor sich nochmal näher anschauen sollte. Die asiatischen Drachen waren mit den europäischen nicht zu vergleichen. Die waren eine RICHTIG haarige Kategorie von Genii. Die Super-Genies unter den Schutzgeistern. Es gab offenbar nichts, was die nicht konnten, und sie waren nicht aufzuhalten! Mit nichts! Nagut, sicher übertrieben die Bücher in dieser Hinsicht. Ganz so allmächtig würden die schon nicht sein. Und die asiatischen Drachen galten außerdem als die ultimativen Glücksbringer und Segenspender. Als Heilige oder gar Gottheiten. Die würden wohl kaum in Horden durch das Land ziehen, Raubüberfälle begehen und Schnaps plündern.

Victor überflog die Passage noch zweimal, dann nahm er die Stirn aus der Hand und lehnte sich deprimiert zurück. Er wusste nicht, welches dieser Viecher am schlimmsten war. Er hoffte einfach, daß es bei ihrer Mission um keines davon ging, wenn sie in Japan waren. Inzwischen wünschte er, er hätte sich die optischen Beschreibungen der Augenzeugen zumindest einmal angehört, auch wenn der Boss hundertmal glaubte, es seien sowieso nur Tarngestalten gewesen. Vielleicht hätte es ihm ja trotzdem irgendeinen Anhaltspunkt geliefert. Ernüchtert griff Victor in seine Umhängetasche und holte etwas zu schreiben heraus. Er musste sich Notizen machen. Das konnte er sich nie alles merken, wenn er außer diesen dreien noch mehr japanische Genii-Arten unter die Lupe nehmen wollte und die ebenfalls alle so verschieden waren. Nebenbei warf er einen kurzen Blick auf die Uhr, wieviel Zeit ihm blieb. Die Bibliothek schloss um 19 Uhr. Warum nur musste Vladislav unbedingt morgen schon fliegen? Hätte das nicht noch eine Woche oder zwei Zeit gehabt?
 

Das letzte Shirt segelte in hohem Bogen in den Koffer. Da er nicht sonderlich scharf auf diese Reise war, packte er seine Sachen nicht unbedingt sorgfältig oder gar pfleglich. Er wusste nichtmal, wie lange Vladislav in Japan zu bleiben gedachte und wieviele Klamotten man folglich mitnehmen sollte. Der Blick aufs Handy lenkte Victor von seiner Grübelei über eventuell noch vergessene Dinge ab. Da war ja noch was. Er angelte das Telefon vom Nachttisch und wählte kurzentschlossen eine Nummer.

da!?“, meldete sich jemand ohne Namen.

Kurz verwirrtes Schweigen. Da ging einer auf Russisch ran? „Äh ... Ruppert?“, fragte der Vize also vorsichtshalber nach.

„Ja, anwesend.“

„Hallo, Kollege. Hier ist Victor.“

„Ich weiß. Du bist der einzige, der mich ständig mit unterdrückter Nummer anruft“, gab Ruppert salopp zurück. „Wie geht´s dir? Bist du nicht ein bisschen spät dran? Wieviel Uhr ist es gerade bei euch in Russland?“

„Noch nicht zu spät für einen netten Plausch. Ich wollte mich bloß verabschieden.“

„Ja, wie ich höre, schickt der Boss dich mal wieder in der Weltgeschichte rum!?“

„Schlimmer. Vladislav kommt mit.“

„Wie!?“, machte Ruppert überrascht, als hätte er sich verhört.

„Er kommt mit. Er steigt in ein Flugzeug und fliegt nach Japan“, beharrte Victor.

„Ihr zwei geht zusammen auf Mission?“

„Sieht so aus. Er will Action. Und glaub mir, ich bin gar nicht begeistert davon, die ganze Zeit unter seiner Beobachtung zu stehen.“

Am anderen Ende der Leitung erklang ein unglückliches Seufzen. „Das erklärt, warum ich eine Rechnung für drei Flugtickets nach Japan bekommen habe. Ich hab mich schon gefragt, wen du da wohl mitnehmen sollst. Hör zu, sei vorsichtig, ja? Du neigst langsam dazu, hier und da irgendwelche Sachen zu sabbotieren und es wie einen Unfall aussehen zu lassen, um dem Boss ins Handwerk zu pfuschen. Aber das solltest du besser lassen, wenn er direkt daneben steht.“

„Ach, das macht es doch nur spannender. Und im Ernstfall sage ich, du hättest mich dazu gezwungen.“

„Sauhund!“, betitelte der Engländer ihn.

„Also bitte!“ Victor gab sich erschüttert. „Was kennst du denn für russische Wörter!?“

„Ich meine das ernst! Ich bin wirklich ein Fan von deiner Sache. Ich finde es gut, daß du Vladislav das Leben schwer machst. Du tust das Richtige. Aber riskiere deinen Kopf nicht unnötig, sonst hast du vielleicht nicht mehr viel Gelegenheit, Vladislav zu ärgern.“

„Ich pass auf mich auf.“

„Tu das bitte!“, stimmte Ruppert grummelig zu.

Victor ließ sich rückwärts in sein Bett fallen und telefonierte auf dem Rücken liegend weiter. Seiner lustlosen Stimmlage hörte man an, was Phase war. „Das wird so furchtbar. Ich werde mich vor Vladislav am laufenden Band beweisen müssen. Ich darf mir keinerlei Unprofessionalität oder Nachlässigkeit leisten. Und wenn ich versehentlich ohne ihn aus Japan zurückkomme ...“ Er ließ den Satz unvollendet hängen.

„Was meinst du mit 'versehentlich ohne ihn zurückkommen'?“, wollte Ruppert am anderen Ende argwöhnisch wissen.

„Du weißt schon, was ich damit meine. Ich soll da seinen Bodyguard spielen. Und das, obwohl er einen Genius Intimus hat. Keine Ahnung, wie dieser Genius Intimus so drauf ist. Ich kenn ihn kaum. Wahrscheinlich ist er nicht besonders stark, wenn der Boss lieber auf mich zählt. Und wenn der Boss wirklich in Schwierigkeiten gerät – wovon ich bei seiner mangelnden Erfahrung mal schwer ausgehe – kann ich nicht einfach daneben stehen, warten und zugucken. Das wäre mir ja das Liebste. Oder noch besser: ich bring ihn gleich selber um die Ecke. Aber das kann ich leider nicht. Wenn ich die Motus auffliegen lassen will, muss ich das klüger und weniger auffällig anstellen. Sonst rückt einfach ein anderer an Vladislavs Stelle nach und alles bleibt beim Alten.“

„Lass uns solche konspirativen Themen lieber nicht am Telefon klären, Victor“, brummte der englische Finanz-Chef der Motus dazwischen.

„Wieso? Hast du Angst, daß ich abgehört werde?“

„Ich würde das jedenfalls tun, wenn ich Vladislav wäre.“

„Unsinn. Erstens wäre es dann jetzt eh zu spät. Also können wir auch weiterreden. Und zweitens mache ich es ihm so leicht nun auch wieder nicht. Mein Telefon ist nicht so ohne Weiteres abzuhören. Ich bin Bann-Magier.“

„Das ist der Boss auch“, betonte Ruppert humorlos.

Victor setzte sich lustlos wieder auf. Das Bettgestell knarrte leise unter ihm. Er verzichtete darauf, anzumerken, daß er dem Boss da – in aller Bescheidenheit – um einiges überlegen war. Vladislav war kein besonders begabter Bann-Magier. Er hatte nur ein Talent dafür, zwielichtige Gestalten um sich zu scharen und für seine Sache mobil zu machen. Er war ein besserer Gangster-Boss als ein Magier.

„Und du hast vermutlich keine Ahnung, was sein Genius Intimus so drauf hat“, fuhr Ruppert fort.

„Nein, tatsächlich nicht. Du etwa? Was ist das denn für einer?“

„Ich hab keine Ahnung.“

„Hast du keine, oder willst du keine haben?“, hakte Victor näckisch nach. Ruppert kannte den Boss schon seit so vielen Jahren. Da musste er doch auch mal irgendwas über dessen Schutzgeist mitbekommen haben.

„Ich hab noch nie mehr als ein 'Hallo' mit ihm gewechselt. Und Vladislav plaudert für gewöhnlich nicht mit anderen über seinen Genius. Selbst mit mir nicht.“

Naja, da waren sich Ruppert und Vladislav ziemlich ähnlich, dachte Victor. Ruppert hielt seinen Genius Intimus ja auch sehr konsequent vor anderen versteckt. „Hör mal, wieso ich eigentlich anrufe ... Haben wir in Japan Leute?“, wechselte der kleingeratene, langhaarige Russe das Thema.

Kurz war Ruhe, als der Finanz-Chef über diese unvermutete Frage nachdachte. „N-Nicht, daß ich wüsste, nein. Wieso?“

„Mist. Ich bräuchte jemanden, der uns dort Waffen zuspielt. Am besten mit Silber-Schrot statt normaler Munition. Durch die Flughäfen können wir ja keine mitbringen.“

„Da wirst du wohl diesmal auf Magie ausweichen müssen.“

„Wenn es die Viecher sind, die ich denke, dann hab ich mit Magie schlechte Karten. Tanuki sind gegen die meisten Bann-Zauber resistent. Und Flüche dauern im Ernstfall zu lange. Flüche sind nicht kampftauglich.“

„Ihr jagt Tanuki?“, hakte Ruppert verwundert nach. Berechtigterweise, denn mit denen hatte sich die Motus noch nie beschäftigt.

„Wir wissen noch nicht genau, was das für Viecher sind. Das sehen wir erst vor Ort. Aber ich halte Tanuki unter allen Möglichkeiten für die wahrscheinlichste. Das einzige, wovon ich weiß, daß es gegen Tanuki helfen soll, sind Scheinwerfer. Die sind nachtaktiv und mögen kein helles Licht. Oder ein lautes Radio, oder eine Sirene. Lärm mögen sie nämlich auch nicht. Das sind aber alles keine sehr nachhaltigen Lösungen. Damit verjagt man sie bestenfalls.“

„Willst du sie denn meucheln? So gefährlich sind die ja nun auch wieder nicht.“

„Ich will das vielleicht nicht. Aber du musst bedenken, daß ich Vladislav im Schlepptau habe. Und der glaubt, diese Marderhund-Geister würden mordend und plündernd durch die Dörfer ziehen.“

Ruppert brummte. „Na schön. Wenn du wirklich in die Bedrängnis kommst, ein Tanuki töten zu müssen, dann versuch es mit Kuhmilch. Das ist Gift für sie.“

„Achso?“ machte Victor verdutzt und überdachte das. „In Japan gibt es aber meines Wissens nach nirgendwo Milch oder Milchprodukte.“

„Ja. Deshalb gibt es in Japan ja auch Tanuki. Weil die meisten Asiaten laktose-intolerant sind. Lass dir irgendwas einfallen.“

„Okay ... Gut, das hilft mir trotzdem sehr weiter. Danke.“

„Dafür nicht. Auf Mordbeihilfe bin ich nicht stolz.“

ungeahnte Fähigkeiten

einige Jahre zuvor, Japan
 

Chippy begutachtete nochmal im Spiegel der Bahnhofs-Toilette ihr Erscheinungsbild und nickte zufrieden. Die abgewetzte Rocker-Lederjacke war zwar drei Nummern zu groß und ihre dreckige Jeans hatte schon Löcher, man konnte mit etwas gutem Willen allerdings behaupten, daß das Absicht wäre. Den peppigen, assymetrischen Stachelhaarschnitt mit dem schrägen Pony hatte einer ihrer Freunde ihr verpasst, genauso wie die lila Haarspitzen, die eingefärbt waren. Der knallrote Lippenstift – den sie geklaut hatte – passte nicht recht dazu, aber wenn man schon klaute, konnte man halt nicht wählerisch sein. ... Ja, alles in allem sah sie ganz vorzeigbar aus, für ein obdachloses Straßenmädchen von 16 Jahren, das schon mehr Männer durchprobiert hatte als andere Leute Teesorten. Eigentlich ein kleines Wunder, daß sie nicht längst schwanger geworden war, oder schlimmeres. Vielleicht sollte sie da in Zukunft mal etwas vorsichtiger werden, denn so gern sie auch mit Kerlen rummachte; das letzte, was ihr jetzt noch fehlte, war ein Kind. Sie hatte genug damit zu tun, selber irgendwie durchzukommen.
 

Nachdem das Rocker-Mädchen sich vor dem Spiegel noch eine Strähne glattgestrichen hatte, spazierte sie halbwegs ziellos weiter. An einer Ramenbude blieb sie stehen und las die ausgehängte Speisekarte. Nudelsuppe mit Huhn, oder mit Rind, oder mit Fisch, oder mit Gemüse, in verschiedenen Würzigkeits-Stufen, ... Das klang alles so verdammt lecker. Chippy angelte in die Innentasche ihrer Jacke und holte heraus, was an Geld noch drin war. Viel war es nicht. Ein 1'000-Yen-Schein und zwei 5-Yen-Münzen, das war ihr letztes Vermögen. Abwägend schaute sie zwischen dem Schein und der Tafel hin und her. Ramen mit Rind waren heute im Angebot. Es half nichts. Ramenbuden waren so ziemlich die günstigste Alternative, die Japan zu bieten hatte, wenn man auf der Suche nach Essen war. Außer man ging in den Supermarkt und kaufte sich eine Tüte Popcorn, oder so. Billiger würde es also kaum werden. Und Chippy war echt am Verhungern. „Ich wünschte, du wärst ein 10'000-Yen-Schein“, murmelte sie leise, raschelte wehleidig mit ihrem Tausender und setzte sich an die Bar der Ramenbude.

Der Koch der Nudelbude tauchte auf und lächelte sie fröhlich an. „Willkommen. Na, was darf es sein, Mädchen?“

„Das Tagesangebot bitte.“ Sie schob ihren 1'000-Yen-Schein über den Tresen.

Der Betreiber zog ein etwas unglückliches Gesicht. „Hast du´s nicht kleiner?“

„Äh ... kleiner?“, machte Chippy verwirrt. Das Tagesangebot kostete 300 Yen. Da war ihr Tausender doch wohl kein unpassendes Zahlungsmittel, oder?

„Ich hoffe, daß ich das wechseln kann“, gab der Koch zurück und verschwand mit dem Geld an die Kasse. Wenig später stand er wieder vor dem Rocker-Mädchen und legte ihr das Wechselgeld passend hin. „Hier. Deine Ramen kommen gleich.“

Chippy glotzte ratlos auf den Haufen Scheine und Münzen. Der Koch hatte ihr 9'700 Yen wieder ausgezahlt. Das war mehr Geld, als das Straßenkind je besessen hatte. Fragend schaute sie dem dicken Mann hinterher, der schon emsig weitergewuselt war, um sich um seine Kochtöpfe zu kümmern. Sie beschloss, das Geld schnell in ihrer Jackentasche verschwinden zu lassen, bevor der den Irrtum bemerkte, und ließ sich beim Warten auf ihr Essen nichts anmerken. Jetzt um Gottes Willen nicht dämlich grinsen oder sowas!
 

„Hi, Chibi!“

„Du sollst mich nicht Chibi nennen!“

Lachend setzte sich der Junge mit den grün gefärbten Haaren zu ihr auf den Fußboden. Wenn sie sich hier im Bahnhof trafen, saßen sie ganz gern in irgendeiner Ecke auf dem Boden herum, denn in den offiziellen Sitzecken waren sie mit ihrem Erscheinungsbild nicht gern gesehen, auch wenn die meisten Japaner zu höflich waren, um das in Worte zu fassen. Die Tatsache, daß sie die stets vollen Bänke binnen Sekunden für sich allein hatten, wenn sie sich mal dort niederließen, sagte genug.

„Ob ich dich nun Chibi oder Chippy nenne, macht doch so einen großen Unterschied auch wieder nicht, oder?“, zog ihr Kumpel sie weiter auf.

„Halt die Klappe, du Freak.“

„Und du sollst mich nicht Freak nennen, du Chibi, du!“ Er piekte ihr mit dem Zeigefinger in die Seite, sie schlug die Hand quietschend weg, und schon war das größte Spaß-Gerangel im Gange. Sie unterhielten mit ihrem schallenden Lachen die ganze Bahnhofshalle und störten sich nicht die Bohne an den tadelnden Blicken der Passanten. Als Straßenkinder waren sie da schmerzfrei.

Obwohl das Gekampel nur Sekunden dauerte, waren sie beide danach völlig aus der Puste. Kichernd und jappsend lagen sie rücklings auf dem blanken Fußboden und schauten zur Decke der Bahnhofshalle hinauf.
 

Kenji rappelte sich als Erster wieder auf und klaubte verwundert die zwei Geldscheine auf, die zwischen ihnen auf dem Boden lagen. „Sind das deine?“

Chippy schnellte wieder in die Senkrechte. „Oh, die sind mir wohl bei der Rangelei aus der Tasche gerutscht“, bestätigte sie und griff danach.

„Wo hast du soviel Geld her?“, wollte Kenji wissen.

„Mir ist heute ein komisches Ding passiert“, begann sie zu erzählen, während sie das Geld wieder in die Innentasche ihrer Jacke stopfte. „Der Ramen-Koch hat sich beim Wechselgeld verzählt. Ich hab ihm 1'000 Yen gegeben, und er hat mir fast 10'000 Yen wieder ausgezahlt. Natürlich hab ich die Klappe gehalten und nichts gesagt“, fügte sie grinsend an.

„Gib mir was davon ab!“

„Nö.“

Kenji wirkte plötzlich beängstigend ernst, fast schon böse. „Gib mir auch welches, hab ich gesagt!“

„Nein. Ich denk ja gar nicht dran. Klau dir selber welches!“

„Ich brauch aber Geld!“ Der junge Mann mit den grün gefärbten Haaren rückte ihr auf die Pelle und krallte sich in ihre Jacke.

„Kenji!?“ Chippy glotzte ihn perplex an. Er war noch nie grob zu ihr geworden. So kannte sie ihn gar nicht. Was erwartete er denn? Sie waren beide Straßenkinder. Er wusste doch nur zu gut, daß sie jeden Yen selber brauchte und nicht teilen konnte. Er hatte ja auch noch nie mit irgendjemandem geteilt. Das war ein unausgesprochenes Gesetz auf der Straße. Jeder musste alleine sehen, wo er blieb. Unter Heimatlosen gab es keine Helden und keine Ehre. Das war das Erste, was Straßenkinder lernten.

„Du Hure! Gib mir das Geld!“

Chippy schlug die Hand weg, die unter ihre Jacke angelte, und schrie dann spitz auf, als ihr Kumpel plötzlich mit den Händen nach oben zu ihrem Hals rutschte und zudrücken wollte. Sie begann zu strampeln und um sich zu schlagen, erzielte aber nicht den erhofften Effekt. Der Schock, daß ein guter Freund aus heiterem Himmel so mit ihr umging, verflog langsam, und wich dem Überlebens-Instinkt. Kenji meinte das ernst, wurde ihr endlich klar. Der blöffte nicht. Der würde ihr für Geld tatsächlich etwas antun. Der junge Mann griff nach, bekam ihren Hals besser zu fassen und würgte sie fester. Ihr Schrei, der scharf in ihre eigenen Ohren geschnitten hatte, erstarb zu einem Röcheln. Chippy schlug ihm linkisch ins Gesicht, erwischte aber nur eine harte, unempfindliche Stelle am Schädel, die ihm nicht viel ausmachte. Sie trommelte mit den Schuhen ungelenk an seine Hüften, so gut sie an ihn heran kam, was Kenji aber ebenfalls nicht weiter störte. Ihn richtig zu treten, war anatomisch nicht mehr möglich. Dafür war er zu nah. Hilfslos zogen ihre Hände an seinen Unterarmen, bekamen diese aber nicht los. Sie kippte nach hinten auf den Rücken und Kenji folgte der Bewegung.

Erstickt drehte Chippy den Kopf und sah sich panisch um. Die Bahnhofshalle war voller Menschen, die allesamt damit beschäftigt waren, angestrengt wegzusehen. Das war so typisch für Japan. Hinterher würde auch keiner was gesehen haben. Die Sprache Japans gegenüber der Polizei war Schweigen. Würde ihr denn keiner helfen? Langsam schwanden ihr die Sinne und ihr Blickfeld wurde trüb. Wieso half ihr keiner? Mit einem letzten Kraftaufgebot versuchte sie Kenji nochmals ins Gesicht zu boxen. Vergeblich. Konnte nicht wenigstens ein Hund oder sowas angerannt kommen und sie retten, wenn die Menschen es schon nicht taten? Hunde waren doch da sicher unparteiischer, wenn sie Gefahr spürten ...
 

In diesem Moment wurde ein kehliges Knurren laut. Mit verschwommenem Blick sah Chippy einen wirklich gewaltigen Schäferhund, der plötzlich mit gefletschten Zähnen neben ihr stand und bedrohlich grollte.

„Hölle!“, quietschte Kenji, ließ das Mädchen los und prallte entsetzt vor dem großen Rüden zurück, welcher ihn mit blutrünstigen Augen fixierte.

Chippy schnappte erstickend nach Luft, als sie unvermittelt wieder atmen konnte, und war noch einen Moment viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, um auf den Schäferhund oder auf Kenji zu achten.

„Geh weg, du Töle! Hau schon ab!“, fluchte der Straßenjunge, halb trotzig, halb doch etwas eingeschüchtert von dem gefährlichen Tier. Er bekam nur ein weiteres, dunkles Knurren zur Antwort und der Schäferhund tappte sogar noch zwei Schritte auf ihn zu. Schockiert wich Kenji im Krebsgang rückwärts zurück und kletterte dabei endgültig von Chippy herunter.

Chippy, endlich wieder Herr ihrer selbst, nutzte die Chance, warf sich auf den Bauch herum, sprang auf und ergriff die Flucht. Hinter ihr gab es einen Aufschrei. Es klang, als hätte der große Hund Kenji nun endgültig angefallen. Aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie war immer noch viel zu sehr in Todesangst und wollte einfach nur in heller Panik auf und davon rennen. Kenji war ihr egal, der Hund war ihr egal, ALLES war egal! Hauptsache sie kam hier weg und konnte aus dieser Situation entfliehen.
 

Chippy stürzte aus dem Bahnhof hinaus auf die Straße und bemerkte erst dort so richtig das Schwindelgefühl, das sie taumeln und stolpern ließ. Stöhnend blieb sie kurz stehen und stützte sich gegen die nächste Hauswand. Das Blut rauschte in ihren Ohren und der Sauerstoff war spürbar noch nicht wieder bis in die letzten Winkel des Gehirns zurückgekehrt. Ihr Blickfeld flackerte kurz, aber sie zwang sich, auf den Beinen zu bleiben. Sie konnte jetzt nicht einfach umkippen. Sie musste weiter. Weg hier. Komme was wolle. Etwas langsamer und vorsichtiger kämpfte sie sich weiter. Nicht nachdenken. Nicht zurück schauen. Nur einen Fuß vor den anderen.

Nach einigen Metern ging es ihr wieder besser und sie konnte ohne die stützende Hauswand weiterlaufen. Wo sollte sie hin? Sie war einfach kopflos davon gerannt und wusste noch gar nicht, wohin. Wo würde am wahrscheinlichsten niemand nach ihr suchen? Instinktiv schlug sie den Weg zu einer alten Abriss-Ruine ein, zu der sie sich schon vor langer Zeit einen unauffälligen Zugang verschafft hatte, und in der sie in besonders kalten oder regnerischen Nächten gern mal übernachtete. Meist versuchte sie es zu vermeiden, dort hinein zu gehen, denn wenn sie zu oft anwesend war, wäre das sicher irgendwann jemandem aufgefallen. Aber im Notfall nutzte sie dieses Versteck schonmal. Und jetzt gerade war ganz eindeutig ein Notfall.
 

Tokyo war verdammt groß. Chippy hatte fast eine halbe Stunde Fußmarsch hinter sich, bis sie endlich an dem besagten, leerstehenden Haus ankam. Leider hatte der Fußmarsch nicht im mindesten dazu beigetragen, daß sie sich wieder beruhigt hätte. Sie war aufgewühlter denn je, ja, regelrecht verzweifelt. Was war nur in Kenji gefahren? So kannte sie ihn gar nicht. Und sie war schon Jahre mit ihm befreundet. Was konnte Geld nur aus einem Menschen machen? War das zu fassen? Und wo zur Hölle kam dieser riesige Hund plötzlich her?

Chippy setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken gegen eine Wand gelehnt, und spürte, wie ihr endgültig die Tränen in die Augen schossen. Sie war so fertig und verstand die Welt nicht mehr. Ihr Hals schmerzte. Sicher würde sie riesige Würge-Male bekommen. Und die körperlichen Spuren würden wahrscheinlich nicht die einzigen bleiben. Es hatte noch nie jemand versucht, sie umzubringen, Herr Gott! Das Straßenmädchen hatte das Gefühl, daß sie das für den Rest ihres Lebens prägen würde. Musste man auf der Straße wirklich morden, um zu überleben? War das etwa ihre verdammte Zukunft? Sie hatte ja schon oft geklaut, um ihren Magen zu füllen. War eingebrochen, um nicht zu erfrieren. Aber das waren ja Bagatelle, verglichen mit sowas. Sie zog die Knie an, schlang die Arme darum, legte ihre Stirn darauf ab und heulte ungehemmt los. Da sie kein Taschentuch hatte, wischte sie sich die Nase mit dem Handrücken ab, dann fiel ihre Stirn abermals auf die angezogenen Beine. ... Was war nur los mit der Welt?

weite Reise

jetzt, Japan
 

Victor schaute nochmal in seinen Reisepass, den er von Artjom bekommen hatte. Dann legte er das kleine Buch dem Kontrolleur am Flughafenschalter vor. 'Dmitri Borodin' hieß er jetzt, solange er auf Reisen war. Artjom war ein wirklich begnadeter Urkundenfälscher. Victor besaß inzwischen auch einen Personalausweis und eine Fahrerlaubnis auf seinen neuen Namen Victor Akomowarov. Der gute, kleine Student Nikolai, der er früher gewesen war, starb mehr und mehr. Nun nahm er aber für Japan vorübergehend den Namen Dmitri Borodin an, denn unter seinem gängigen Namen Victor Akomowarov konnte er sich schwerlich in irgendeiner Polizeikontrolle blicken lassen. Er war ja schließlich ein schwer gesuchter Geselle.

„Wie lange bleiben Sie in Japan?“, wollte der Kontrolleur wissen und warf kaum einen halbherzigen Blick in den Pass.

„Drei Wochen.“

„Was ist der Zweck Ihrer Reise?“

„Ich bin geschäftlich in Japan.“

„Gut. Viel Spaß hier.“ Er stampfte einen Einreisestempel in den Reisepass und gab ihn Victor zurück.

„Danke.“ Victor ging ein paar Schritte weiter, um den Schalter für den Nächsten frei zu machen ohne dumm im Weg rum zu stehen, und wartete auf Vladislav und dessen Genius Intimus, die am Nachbarschalter anstanden. Auf dem 10-stündigen Flug hier her hatte Victor Gelegenheit gehabt, sich endlich etwas näher mit diesem kühlen, maulfaulen Typen bekannt zu machen. Er hieß Waleri Konjonkow, also gleichfalls ein Russe, auch wenn dieser Name sicherlich nur ein Deckname war. Genii verrieten ihren wahren, vollständigen Namen nicht so ohne Weiteres, da das einem Magier zuviel Macht über denjenigen gegeben hätte. Im Rahmen der Magie konnte man mit einem bloßen, vollständigen Namen erstaunlich viel anfangen. Auch ein Grund, warum Victor sich Victor nannte und dem Boss bis heute glaubhaft machte. Aber egal. Waleri hatte sich ihm als Waleri vorgestellt, also würde er für Victor eben Waleri sein.

Der Genius Intimus war ein Einhorn. Aber nicht so ein weißes Pony, wie man sich Einhörner gemeinhin vorstellte, sondern ein Elasmotherium sibiricum. Diese eigentlich eher mit dem Rhinozeros verwandte Art war pelzig, über zwei Meter groß und vier-einhalb Meter lang. Sie waren schwer wie ein Panzer, ebenso unaufhaltbar, und leider auch kein Stück intelligenter. Im Gegensatz zu klassischen Nashörnern hatten sie nur ein Horn, welches dafür aber ziemlich gewaltig war. Und dieses trugen sie mitten auf der Stirn, was ihnen zu ihrem Namen verholfen hatte. Seine menschliche Erscheinung entsprach dem ebenfalls recht gut: Waleri war ein ziemlicher Bulle von Mann, so wie man sich einen typischen Schläger vorstellen würde. Glatze, Schläger-Visage, Hände wie Klo-Deckel. Warum der Amigo nun Japanisch konnte, hatte Victor noch nicht herausgefunden. Offenbar war das einem längeren Japanaufenthalt noch vor seiner Zeit als gebundener Schutzgeist, geschuldet. Nur was er dort gemacht hatte, hatte er Victor nicht plausibel erklären können.

Vladislav kam herüber spaziert, nachdem auch er problemlos durch die Kontrolle gekommen war, und gähnte hinter vorgehaltener Hand. „Gott, diese Zeitverschiebung bringt mich um. Wie spät ist es gerade?“

„11 Uhr“, antwortete Victor.

„Ich meine bei uns.“

„In Moskau?“ Victor sah auf seine Armbanduhr, die er noch nicht umgestellt hatte. „Da ist es jetzt 5 Uhr morgens.“

„Kein Wunder, daß ich so müde bin“, nörgelte Vladislav und unterdrückte ein neuerliches Gähnen. „Müssen wir jetzt wirklich noch fast 3 Stunden bis nach Okinawa runter fliegen? Ich hab keine Lust mehr, im Flieger zu hocken.“

„Wir können auch mit dem Auto und der Fähre fahren“, scherzte Victor. „Das kostet uns dann ungefähr 40 Stunden, ohne Pausen natürlich, aber immerhin könnten wir dann jederzeit ...“

„Halt die Klappe mit deinen unqualifizierten Beiträgen!“, fiel der Boss ihm ins Wort, womit er Victor zum Lachen brachte, und stiefelte leise grummelnd weiter. „Elende Quarktasche ...“, maulte er noch vor sich hin. Sie mussten langsam zum anderen Gate, um den Anschluss-Flug zu kriegen.

Victor kicherte und schloss sich an. Er liebte es immer wieder, die beleidigte Reaktion des Chefs zu sehen, wenn er die große Klappe hatte. Für ihn war es spürbar unüblich, daß seine Leute frech wurden. Aber damit musste er jetzt einfach mal leben, solange Victor sein Vize war. Hoffentlich klappte das Umladen der Koffer von einem Flieger in den anderen ohne Probleme.
 

An diesem Abend saßen sie auf Okinawa im Speisesaal ihres Hotels. Gebucht hatten sie vorher nicht. Sie waren einfach in das erstbeste Hotel eingefallen, das sie gefunden hatten, und Vladislavs sprachbegabter Genius, Waleri, hatte den Rest geklärt. Nun saßen sie über dem Abendbrot. Es gab ganz klischeehaft Lachs-Sushi. Dagegen hatte Victor zunächst nichts. Auch in Russland stand viel Fisch auf der Speisekarte. Was ihm aber echt zu schaffen machte, waren diese elenden Stäbchen, mit denen er nicht zu essen gewöhnt war. Messer und Gabel gab es hier nicht. Nachdem ihm das Sushi zum dritten Mal wieder auf den Teller geklatscht war, legte er die Stäbchen genervt weg und aß einfach mit den Fingern, egal wie unfein das aussah. Vladislavs Genius tat das schließlich auch schon die ganze Zeit, ohne sich dafür zu schämen. „Also!“, mampfte er dann mit vollem Mund. „Hier sind wir nun. Und wie geht´s weiter? Wie gedenkst du diese was-auch-immer-das-für-Viecher-sind zu finden?“

Vladislav fädelte sich gekonnt ein Klümpchen Reis in den Mund. Er kam mit den Stäbchen besser klar als Victor. „Wir reden mit den Leuten, die schon mit ihnen zu tun hatten. Irgendwer wird uns ja wohl was sagen können.“

„Wie du meinst.“

„Ich geb dir nachher, wenn wir wieder auf unsere Zimmer gehen, noch eine Knarre.“

„Wir haben Waffen? otkuda?“ [Woher?]

„Von zu Hause mitgebracht. Sie sind fast vollständig aus Plastik, so sind sie durch die Kofferkontrollen gekommen. Und bevor du mich jetzt fragst, warum wir sowas nicht häufiger einsetzen; ich hab nur zwei Stück von den Dingern. Ich kann nicht jedem meiner Leute eine stellen. Außerdem sind das ziemliche Einweg-Waffen. Plastik ist für solche Rückstöße, und die Reibungshitze, die sich bei einem Schuss entwickelt, eigentlich nicht ausgelegt. Wenn man ein Magazin leergeschossen hat, ist die Waffe für gewöhnlich schon Schrott.“ Vladislav grinste schief. „Ich hab dir doch versprochen, wir würden bewaffnet sein.“

„Naja ... Die Frage ist, ob´s was bringt“, kommentierte Victor weniger euphorisch. Er fragte sich, was wohl mit Waleri war. Wenn der Boss nur zwei von diesen Knarren hatte, und Victor eine davon abgeben wollte, hieß das ja, der Genius Intimus würde leer ausgehen. Konnte der folglich auf sich selber aufpassen? Victor wusste bis jetzt nicht, welche Fähigkeiten Waleri wohl haben mochte. Er hatte sich da im Gespräch sehr bedeckt gehalten.

„Silberkugeln sind natürlich keine drin“, fuhr der Boss fort. „Um genau zu sein, sind noch gar keine Kugeln drin. Die hätten wir nämlich am Flughafen nicht durch den Gepäck-Scanner bekommen. Um die müssen wir uns hier erst kümmern. Aber das lass mal meine Sorge sein.“

„Lass uns erstmal rausfinden, mit was wir es nun genau zu tun haben.“
 

Vladislav legte seine Stäbchen weg und rückte mit dem Stuhl nach hinten, um aufzustehen. Sein Schutzgeist Waleri, der schon länger fertig war, tat es ihm gleich. Dabei griff er nach ihrem Zimmerschlüssel, der auf dem Tisch lag.

„Hast du schon mit dem Typen an der Rezeption gesprochen?“, wollte Vladislav wissen, während er langsam losspazierte.

Waleri nickte gelangweilt. „Wir müssen zum Berg Yonaha-san rauf. Das scheint das Zentrum der Aktivitäten zu sein ...“

Victor schob sauer seinen Teller von sich, sprang auf und hechtete den beiden nach. Zum einen wollte er das auch wissen, und zum anderen hatte Vladislav ihm ja schließlich ein Schießeisen versprochen. Er war ein wenig angefressen, daß der Boss nicht wenigstens warten konnte, bis Victor fertig gegessen hatte.

„Man kann das da oben ein wenig als Gebirge bezeichnen“, fuhr Waleri unterdessen ungerührt fort. „Um den Yonaha-san drumrum gibt es noch ein paar kleinere Berge und ein paar wenige Dörfchen. Die wurden von diesem seltsamen 'Volk aus den Bergen' zuerst überfallen. Wir sollten in Ogimi oder Kunigami anfangen zu suchen. Das eine Dorf liegt nördlich, das andere südlich vom Yonaha-san.“

„Du kannst mir viel erzählen. Die japanischen Namen klingen für mich alle gleich. Ich verlass mich da ganz auf deine Meinung“, erwiderte Vladislav nur. „Müssen wir dafür das Hotel wechseln?“

„Nein. Man ist in anderthalb Stunden dort. Ich denke, da kann man pendeln.“

„Kriegen wir ein Mietauto?“

„Hab ich nicht gefragt.“

„Wieso nicht? Wie willst du denn sonst da rauf kommen?“

„ICH fahr hier jedenfalls kein Auto!“, betonte Waleri. „Die Karren in Japan haben das Lenkrad ja alle auf der falschen Seite. Auf Linksverkehr hab ich keinen Bock.“

„Hm ... Fährt da irgendein Zug hin, oder so?“

Victor verfolgte das Gespräch mit einigem Interesse. Der Schutzgeist schien doch sehr viel mehr seinen eigenen Kopf haben zu dürfen als anfangs gedacht. Victor hatte jedenfalls nicht geglaubt, daß der Boss solche Widerworte dulden würde.

„Sah nicht so aus“, fuhr Waleri fort.

„Dann müssen wir eben auf dir reiten.“

„Ich denk ja gar nicht dran!“

Vladislav drehte sich plötzlich mit fragendem Blick zu Victor um, der brav und stumm hinter ihm hertrottete. Als hätte er gerade erst gemerkt, daß der ja auch noch da war. Ein Grinsen stahl sich auf seine grobkantigen Gesichtszüge. „Victor könnte uns fliegen, wenn er in seine Greifen-Gestalt wechselt.“

„Ja, da bin ich schon eher dafür“, stimmte Waleri einverstanden zu.

„Hackt´s bei euch?“, maulte Victor. „Beschafft mir ein Auto! Ich fahre!“

Vladislav und Waleri lachten, was die Laune des Vize-Chefs nicht wirklich hob, dann schloss Waleri das Hotelzimmer auf, vor dem sie inzwischen angekommen waren. Sein Schützling Vladislav folgte ihm nach drinnen, nachdem er Victor bedeutet hatte, kurz draußen zu warten. Ein paar Augenblicke später tauchte Vladislav wieder in der Tür auf und drückte ihm eine zusammengeknüllte Plastiktüte in die Hand. „Wir treffen uns morgen 8 Uhr unten beim Frühstück. Gute Nacht.“

„Äh ... gute Nacht ...“, erwiderte Victor etwas perplex, noch damit beschäftigt, die Tüte zu befummeln, um anhand der Form vielleicht zu erraten, was drin war. Offenbar die versprochene Pistole.

Vladislav wartete nicht, bis sein Vize zu einem Ergebnis gekommen war, sondern klappte ihm einfach die Tür vor der Nase zu und sperrte ihn damit aus.

Der Boss hatte echt komische Manieren, dachte Victor. Unhöflich. Er trollte sich kopfschüttelnd auf sein eigenes Zimmer.
 

Victor setzte sich auf sein Hotelbett und packte die Waffe aus, um sie zu beaugenscheinigen. Nun ja, sie war ... Plastik eben. Da durfte man halt nicht zuviel erwarten. Das Ding war schwarz, hatte einen schätzungsweise 7 Inch langen Lauf und vermutlich 9-Millimeter-Geschosse. Und natürlich keinen Schalldämpfer, bemerkte Victor desillusioniert. Wäre ja auch zu schön gewesen. Die Spielzeug-Knarre lag recht schwer in der Hand, dafür daß sie nur aus Plastik war. Wenigstens das war gut. Mit zu leichten Waffen zielte es sich nicht besonders toll. Er zog das Magazin heraus. Es war leer, wie angekündigt. Victor schätzte, daß es um die 20 Schuss fasste. Nicht gerade viel. Er ging mit Munition ja für gewöhnlich nicht sparsam um, wenn er schon in die Verlegenheit kam, welche gebrauchen zu müssen. Er rammte das Magazin zurück in den Schacht und zog als nächstes am Schlitten, um zu sehen, wie sich die Waffe durchladen ließ. Dabei ging er etwas grober mit dem Teil um als nötig. Auch wenn sie nur aus Plastik war, musste sie das bitte ab können. Der Schlitten schnappte mit einem hörbaren Klicken wieder in die Ausgangsposition zurück. Victor zielte mit der Pistole noch ein wenig im Zimmer herum, mit allen möglichen Winkeln und Drehungen im Handgelenk, stellte beim Überpeilen fest, ob der Lauf auch ordentlich gerade war, und packte die Waffe dann schließlich weg. Naja. 'Gut' war was anderes, aber man konnte sie im Ernstfall schon verwenden, wenn das eigene Leben davon abhing.

„Okay ... was machen wir jetzt noch ein bisschen?“, überlegte Victor laut und ließ den Blick in seinem Hotelzimmer schweifen. So spät war es ja nun auch noch nicht. Ob er mal raus ging und die Stadt unsicher machte? Andererseits ... ohne ein Wort Japanisch zu sprechen, konnte er sich nichtmal in eine Kneipe setzen und etwas zu trinken bestellen. Mangels Kanji-Kenntnissen würde er die Speise- und Getränkekarte aber ohnehin nicht lesen können. Also irgendwie kein sehr gewinnversprechender Plan.

enttäuschte Hoffnung

einige Jahre zuvor, Tokyo
 

Loriel stieg aus dem Zug und schaute sich suchend um. Da war er also wieder. Willkommen in Tokyo. War schon ein paar Jahre her, daß er sich das letzte Mal hier hatte sehen lassen. Aber die quirlige, laute, bunte Stadt hatte sich seither kaum nennenswert verändert. Der Shogu Tenshi war extrem hin und her gerissen zwischen mega schlechter Laune und leichter Sorge. Dieses Gefühl, das ihm letzte Nacht im 24-Stunden-Laden so auf den Magen geschlagen war, hatte sich bestätigt. Eine neue Verbindung zu einer anderen Seele hatte sich aufgetan. Er hatte wieder einen Schützling. Diese Verbindung, silberner Faden genannt, war eigentlich von Geburt an da, wurde aber erst so richtig aktiv, wenn sich bei dem menschlichen Schützling das erste Mal die magischen Begabungen zeigten. Das geschah für gewöhnlich irgendwann zwischen den Kindertagen und der Pubertät. Dann spürte der mit ihm verbundene Genius – der Schutzgeist – die Verbindung und lief wie in Trance los, um seinen Schützling zu suchen und für den Rest seines Lebens an dessen Seite zu bleiben. Nun hatte Loriel als Shogu Tenshi die zwiespältig zu betrachtende Eigenart, sehr alt zu werden. Mehrere Menschenleben alt. Wesen, die so alt wurden, hatten in der Regel im Laufe ihres Lebens irgendwann wieder einen neuen Schützling. Loriel selbst hatte bereits drei Schützlinge überlebt, was nicht direkt schön war, denn der Trennungsschmerz und die danach folgende Trauerphase setzten ihm genauso zu wie jedem Menschen auch. Nach dem 500. Geburtstag bekamen Shogu Tenshi allerdings keine neuen mehr, weil sie dann zu etwas Höherem aufstiegen. Dann wurden sie Cheruben, und die hatten keine Schützlinge.

Nun, Loriel hatte jetzt jedenfalls einen neuen Schützling. Und das kaum zwei Wochen vor seinem wohlverdienten Ruhestand. Er war echt angenervt von dieser Tatsache. Das verzögerte seinen Aufstieg zum Cheruben nämlich um Jahre. Er würde jetzt so lange ein Shogu Tenshi bleiben und sich um seinen Schützling kümmern müssen, bis der irgendwann eines natürlichen oder unnatürlichen Todes starb und Loriel wieder frei war. Ein verdammter Mist war das! Loriel hatte in seinem Alter absolut keine Lust mehr darauf, einen Schützling ans Bein gebunden zu kriegen.

Andererseits spürte er aber über die Verbindung bereits, daß sein neuer Schützling gerade massiv in Schwierigkeiten steckte. Auf der Zugfahrt hier her hatte es sich beinahe wie ein Todeskampf angefühlt. Schmerzen und pure Panik waren wie ein Wasserfall über ihn hereingebrochen. Und das machte ihm, ob er wollte oder nicht, doch Sorgen. Er sollte sich also besser beeilen, diesen seinen Schützling so schnell wie möglich zu finden. Inzwischen hatte sich der Mensch zwar wieder etwas beruhigt und schien außer Gefahr zu sein, auch wenn es ihm immer noch hundeelend ging, aber trotzdem durfte Loriel keine Zeit verlieren. Wer wusste schon, wie lange der außer Gefahr bleiben würde? Noch so ein Umstand, der Loriel ein wenig frustrierte. Da tat sich schon eine lästige Verbindung zu einem neuen Schützling auf, und dann musste der auch gleich noch akut in Problemen stecken. Konnte er nicht wenigstens einen Schützling haben, der es etwas ruhiger angehen ließ? Es war zum Heulen.
 

Der Schutzengel kämpfte sich fast zwei Stunden lang kreuz und quer durch Tokyo, immer dieser undefinierbaren, mentalen Verbindung folgend, die ihn unweigerlich zu seinem neuen Schützling führen würde, und blieb irgendwann endlich vor einer abbruchreifen Ruine stehen, die mit Bauzaun abgesperrt und schon zum großen Teil mit Planen gesichert war, damit keine Mauerteile herunter fielen. Kein Zweifel. Sein Schützling war da drin. Loriel fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. „Das ist jetzt nicht dein verdammter Ernst, oder?“, murmelte er leise, als könne der noch unbekannte Mensch ihn hören. Seufzend nahm er kurz seine wahre Erscheinung an, damit seine über die Jahre schon etwas grau gewordenen Engelsflügel zu Tage traten und er über den Absperr-Zaun fliegen konnte. Denn einen anderen Eingang sah er auf die Schnelle nicht. Was die Passanten dazu sagten, war ihm egal. Er hatte ja keine Wahl, er musste da rein. Und sollte jemand die Polizei rufen, würde er es erklären können. Drüben nahm er wieder seine normal-menschliche Tarngestalt an. Die mit dem Bierbauch, dem strubbeligen, grauen Schnauzbart, den tätowierten Armen und den unrasierten Pausbäckchen.
 

Chippy schaute verdutzt hoch, als sie das Klackern eines weggekickten Steins auf dem Boden hörte. Sie saß immer noch mit angezogenen Beinen und um die Knie geschlungenen Armen auf dem Boden, auch wenn die Tränen längst versiegt waren. Durch das Halbdunkel sah sie einen älteren, dicken Mann auf sich zukommen, der vorsichtig über den Schutt hinweg balancierte, der hier überall herum lag. Er kam sehr zielstrebig auf sie zu, als hätte er sie schon gesucht.

Das Rocker-Mädchen machte vor Entsetzen riesige Augen. Sie war gefunden worden? Hier drin? Was wollte der Kerl von ihr?

„Hey, keine Angst, ich hab nicht vor, irgendwem irgendwas zu tun“, grüßte der Mann sie, als hätte er ihren Schreck und ihren Argwohn bemerkt.

„Wie bist du hier reingekommen!?“, wollte Chippy leicht hysterisch wissen.

„Na, genauso wie du, vermute ich.“ Er blieb direkt vor ihr stehen und musterte sie.

Chippy konnte körperlich spüren, daß er überhaupt nicht zufrieden mit dem war, was er sah. Sie beschloss, lieber nicht länger hier sitzen zu bleiben, sondern wenigstens aufzustehen, obwohl sie nicht das Gefühl hatte, Angst vor ihm haben zu müssen. Aber sicher war sicher. Vor Kenji hatte sie ja schließlich auch nie Angst gehabt, und dann hatte er plötzlich so eine Nummer mit ihr abgezogen.

„Ich bin Loriel, dein Schutzgeist“, stellte der dicke Mann sich vor.

„Mein WAS!?“

„Dein Schutzgeist. Dein Genius Intimus. Wir sind miteinander verbunden, weil du eine magische Begabung hast, die gerade erwacht ist. Jeder magisch begabte Mensch ...“

„Ich hab WAS!?“, unterbrach Chippy ihn in einem Tonfall, als wäre das das Dümmste, was sie je gehört hatte.

„Eine magische Begabung!“, beharrte Loriel.

„Ist klar. Und du hast einen an der Waffel!“

„Na schön, schau her!“, seufzte Loriel und nahm für sie abermals seine wahre Gestalt an. Die des Shogu Tenshi, des Schutzengels, die zwar abgesehen von den mächtigen Schwingen auch nicht viel schmeichelhafter war als seine bierbäuchige, menschliche Form, aber als Beweis würde es hoffentlich genügen. Da er in seinem Leben bereits drei Schützlinge gehabt hatte, besaß er inzwischen eine gewisse Routine darin, die erste Kontaktaufnahme zu diesem möglichst nutzbringend anzufangen.

Chippy gaffte ihn mit offenem Mund an. Die mentale Verbindung, die sie trotz allen Leugnens sehr wohl auch spürte, ließ keinen Zweifel daran offen, daß alles stimmte, was dieser Loriel ihr einreden wollte.

„Ich nehme an, du bist dir deiner magischen Begabung noch gar nicht bewusst!?“, warf Loriel ein, um das Gespräch irgendwie am Laufen zu halten. Anders konnte er sich ihre Reaktion jedenfalls nicht erklären. Sie schien weder von magischen Begabungen noch von Schutzgeistern irgendwas zu wissen.

Das Mädchen schüttelte nur mit offenem Mund den Kopf.

Der Shogu Tenshi sah ein, daß er noch viel Arbeit vor sich hatte. „Nagut, lass uns irgendwo anders weiter quatschen. Hol deinen Schulranzen.“

„Welcher Schulranzen?“

„Wenn ich so auf die Uhr schaue, solltest du doch eigentlich gerade in der Schule sitzen, oder nicht? Ich nehme an, du schwänzt den Unterricht!?“

„Ich hab noch nie eine Schule von innen gesehen!“, stellte Chippy klar.

Jetzt war es Loriel, der dumm aus der Wäsche schaute. „Du gehst nicht zur Schule?“

„Nein.“

„Wie alt bist du denn?“

„16.“

Loriel blies die Backen auf und ließ die Luft dann langsam wieder entweichen. Für das erste Auftreten ihrer magischen Begabung war sie ein echter Spätzünder. Es war eher ungewöhnlich, daß Magi ihr Talent erst in diesem Alter entdeckten. Aber mal abgesehen davon war sie mit 16 sehr wohl noch schulpflichtig. „Ich bring dich wohl besser erstmal nach Hause und rede mit deinen Eltern ...“

„Welches zu Hause?“

„Sowas hast du auch nicht?“

„Nö. Kein zu Hause. Keine Eltern. Ich bin Straßenkind.“

Loriel ließ den Kopf hängen. Ein Straßenkind. Verdammte Hölle. Womit hatte er das nur verdient? Erst handelte er sich 14 Tage vor seinem Ruhestand noch einen Schützling ein, und dann ausgerechnet auch noch so einen? Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Der Schutzengel widerstand dem Drang, sich überfordert an die Stirn zu greifen, und schaute wieder auf. „Schön. Dann lass uns eben in einem Cafe weiter reden. Jedenfalls nicht in diesem Abbruch-Haus hier. ... Verrätst du mir deinen Namen?“

„Ich bin Chippy“, gab sie knapp zurück.

„Chippy. Und wie noch?“ Er drehte sich um und lief langsam los, in der richtigen Annahme, daß sie ihm folgen würde.

„Nichts 'noch'. Nur Chippy.“

„Einen Familiennamen hast du also auch nicht?“

„Ich bin ein Straßenkind!“, erinnerte sie ihn.

„Welcher Name steht denn auf deinem Ausweis?“

„Ich habe keinen Ausweis.“

Loriel atmete innerlich tief durch und beschloss, das Thema abzubrechen. Bei diesem Kind wunderte ihn inzwischen gar nichts mehr. „Ich frage lieber gar nicht erst, ob du einen Vormund hast. So einen hast du garantiert auch nicht“, murrte er nur und ging weiter zielstrebig voran, um diese Bruchbude hier zu verlassen.

„Und wie war dein Name noch gleich, Mister?“, hakte das Rocker-Mädchen nach.

Dieser Tonfall! Dem Shogu Tenshi sträubten sich die Haare. Aber er biss sich auf die Zunge, bevor er unhöflich wurde. Das hier war immerhin sein Schützling. Wobei der Begriff 'Schützling' tatsächlich ein falsches Bild vermittelte. In den allermeisten Fällen war der Schützling der Herr und Meister, erteilte die Anweisungen und sagte seinem Genius, was er zu tun und zu lassen hatte. Loriel war also nicht wirklich in einer guten Position, sich mit ihr umfassender anzulegen oder sie zu maßregeln. Auch nicht wenn sie so viel jünger war als er. „Mein Name ist Loriel.“

„Und weiter?“

„Engel pflegen keine Familiennamen zu haben, so wie ihr Menschen.“

„Du hast also demnach auch keine Eltern? Wieso machst du mir dann Vorhaltungen dafür, daß ich keine habe?“

Der Schutzengel holte Luft, um etwas zu erwidern. Zum Beispiel, daß er ihr keine Vorwürfe gemacht hatte, sondern nur nicht auf diese Tatsache vorbereitet gewesen war. Oder um klar zu stellen, daß er sehr wohl Vorfahren hatte und sein Leben irgendwann mal einen Anfang gehabt hatte, auch wenn man das bei Engeln nicht so direkt als Geburt ansehen konnte, wie es etwa bei Menschen oder Säugetieren üblich war.

Aber Chippy unterbrach ihn schon wieder, bevor er auch nur das erste Wort heraus gebracht hatte. „Dann muss ich dir wohl einen geben.“

„Gute Idee. Wenn du mir einen anderen Namen geben willst, nur zu. Es ist sowieso besser, wenn du mich gegenüber anderen Personen nicht mit meinem echten Namen ansprichst. Das würde ihnen Macht über mich geben.“

„Okay, dein Name ist ab sofort ... äh ... Bierwampe!“

'Ein freches Stück!', dachte Loriel außer sich. Dafür, daß sie sich noch keine zwei Minuten kannten, nahm sie sich ganz schön viel raus. Seine früheren Schützlinge waren ja auch nicht die Liebenswürdigkeit in Person gewesen. Aber das hier war schon arg. „Hör mal, wenn du nie zur Schule gegangen bist, kannst du dann wenigstens lesen, schreiben und rechnen?“, wechselte er mürrisch das Thema.

einsame Insel

jetzt, Insel Okinawa
 

Victor Akomowarov war froh, als er den Mietwagen endlich auf einem Parkplatz abstellen und aussteigen konnte. Der japanische Linksverkehr war doch anstrengender als gedacht. Als Fahrer auf der rechten Seite zu sitzen, war etwas, woran man sich echt erstmal gewöhnen musste. Und dabei hatte er nicht mal sonderlich viel Gegenverkehr gehabt. Die Gemeinde Kunigami bestand im Wesentlichen aus einer langgestreckten Landstraße, die an der Westküste der Insel entlang führte, immer am Wasser, und an der sich die Häuser wie eine Perlenschnur mit mehr oder wenigen großen Lücken auffädelten. Auf der anderen Seite der Straße war nur undurchdringlicher Wald. Hier draußen war absolut gar nichts, also auch kein Verkehr. Um so mehr hatte sich Victor ständig selbst daran erinnern müssen, auf der linken Fahrspur zu bleiben. Falls sich hier doch mal ein einsames Auto im Gegenverkehr her verirrte, wollte er ja schließlich nicht als Geisterfahrer enden und einen Unfall bauen.

„Waleri, aufwachen!“, verlangte der Boss in etwas strengerem Ton vom Beifahrersitz.

Ein leises aber eindeutiges Schnarchen antwortete von der Rückbank. Der Schutzgeist lehnte hinten im Auto mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen an der Fensterscheibe und pennte.

Vladislav griff zwischen den Sitzen hindurch nach hinten und rüffelte ihn an. „He!“

Waleri erwachte leise murrend. „Was denn ... sind wir schon da, oder was?“, nuschelte der Hühne unzufrieden. Schon beim Frühstück hatte er den Eindruck gemacht, daß er gut und gerne noch ein paar Stündchen Schlaf vertragen hätte.

„Ja, sind wir. Komm in die Gänge“, trug Vladislav ihm an.

Waleri gähnte soweit er seine Klappe aufbekam und quälte sich dann mühsam aus dem Wagen heraus.

Victor stand bereits draußen und schaute sich interessiert um. „Das hier scheint das Gemeindezentrum zu sein. Was meinst du, Waleri?“, wollte er wissen. Hier gab es ein Hotel, einen Lebensmittelmarkt, ein Hafenbecken und eine Handvoll Wohnhäuser. Nicht viel, nichts besonderes, aber mehr als die vereinzelt stehenden Hütten entlang der Straße, an denen sie bisher vorbei gekommen waren. Zwischen den Häusern flitzten sogar zwei oder drei Japaner hin und her.

„Yoah, ya soglasen s etim.“, [seh ich auch so], stimmte der Genius zu.

„Okay, Vladi. Wie sieht dein Plan aus?“

„Wie hast du mich gerade genannt???“, jaulte Vladislav empört auf.

„Soll ich dich lieber Vadim nennen?“, kicherte Victor. Das war die offizielle Kose-Form des Namens Vladislav. Wenn ihm das lieber war ...

„Du sollst mir GAR KEINE Spitznamen auf´s Auge drücken! Ich bin immer noch dein Boss, verdammt!“

„Also doch 'Vladi'.“

„Werd nicht frech, Freundchen!“

„Niemals, Sir!“, versicherte Victor mit einem Augenzwinkern. „Nun spuck´s schon aus. Was wollen wir hier und wie geht´s weiter?“, wechselte er dann schnell das Thema, als der Chef der Motus sich bedrohlich mit Luft vollsog, um eine Strafpredigt zu starten.

„Vitja möchte hier bleiben und Schmiere stehen“, teilte Vladislav seinem Genius Intimus sauer mit und brachte Victor damit zum Lachen.

„Was wird das jetzt? Du schlägst mich mit meinen eigenen Waffen? Ist das nicht ein bisschen armselig?“, meinte der Vize amüsiert. 'Vitja' war die Kose-Form des Namens Victor. „Wenn du schon andere dissen willst, hätte ich dir ja zumindest zugetraut, daß du dann wenigstens mit eigenen Ideen aufwartest.“

„Deine große Klappe macht mich noch fertig ...“

„Victor hat dich nicht gebeten, mit nach Japan zu kommen“, mischte sich auch Waleri endlich in das Gespräch ein.

„Verbrüdert ihr zwei euch jetzt auch noch gegen mich, oder wie seh ich das?“

njet, nikogda“ [Nein! Niemals!], beeilten sich die beiden wie aus einem Mund zu versichern.

Victors Aufmerksamkeit wurde plötzlich von etwas angezogen, das sich hinter dem Boss befand, und sein Gesicht wurde wieder ernster und besorgter.

Vladislav drehte sich um und folgte dem Blick. Aber er sah nichts, was einer Beachtung wert gewesen wäre.

„Bin ich der einzige, der hier irgendwas komisch findet?“, fragte der Vize-Boss nach und ließ den Blick schweifen.

„Das hier ist ne abgelegene Insel am Rand der Landkarte. Was erwartest du?“

„Es ist zu ruhig, selbst für eine abgelegene Insel.“

„Na schön. Bevor wir noch länger dumm hier rumstehen, sollten wir langsam was tun. Du suchst dir jetzt irgendwo einen hübschen Ausguck und behältst die Umgebung im Auge. Ich zieh los und frag mal die Leute – falls ich welche finde – ob sie mir was über dieses Volk aus den Bergen erzählen können.“

„Warum du?“, maulte Victor. Ihm ging auf, daß der Boss die Sache mit dem Schmiere stehen wahr machen wollte.

„Weil ich Waleri habe. Und der kann Japanisch, im Gegensatz zu dir.“

„Ich finde, die Größe dieser Ortschaft mit ihren 3 Häusern macht es nicht erforderlich, daß wir uns unbedingt aufteilen müssen. ... Schon gut, schon gut! Zu Befehl“, lenkte Victor ein, als der Boss ihn mit verengten Augen bedrohlich anfunkelte. Der wollte jetzt eindeutig keine Widerworte mehr hören.
 

yama kara no hitobito o shitte imasu ka?

Die Tür flog vor Waleris Nase laut scheppernd ins Schloss. Wie schon die letzten drei. Als wären 'yama kara no hitobito' [Volk aus den Bergen] magische Worte, die ihm jeden Gesprächspartner sofort vom Hals schafften. Der Russe gab einen genervten Ton von sich und klopfte erneut. „Langsam reicht mir das!“, maulte er dabei.

„Was hast du ihr denn gesagt?“

„Ich hab nur gefragt, ob sie das Volk aus den Bergen kennt.“

„Du solltest deine Frage anders formulieren, wenn dir danach jeder die Tür vor der Nase zuschlägt“, meinte Vladislav nüchtern.

Waleri klopfte nochmal, als sich die Hausbesitzerin nicht mehr blicken lassen wollte. Deutlich derber. Aber sie blieb vorläufig bei ihrer Meinung. Erst als Waleri etwas auf Japanisch brüllte, das vom Tonfall her klang, als würde er damit drohen, die gottverdammte Tür einzutreten, öffnete sich diese endlich wieder einen kleinen Spalt breit. Ein halbes Gesicht schaute hindurch.

hai“, antwortete die Frau mit hörbarer Verbitterung in der Stimme.

Waleri schimpfte noch ein wenig auf sie ein, sie streute dann und wann eine knapp angebundene Antwort ein, und irgendwann ging die Tür wieder zu. Weniger schwungvoll diesmal.

Vladislav verfolgte das Gespräch, von dem er kein Wort verstand, dennoch mit großem Interesse. Aber schon der jeweilige Tonfall war selbstredend. „Und?“, hakte er nach, als sein Schutzgeist sich umdrehte und weiterging.

„Sie weiß nichts. Oder sagen wir: sie WILL nichts wissen. Das trifft es eher.“

„Sie muss dir doch irgendwas gesagt haben“, gab der Boss irritiert zurück.

„Angeblich gibt es hier kein 'Volk aus den Bergen' und hat es auch nie gegeben. Ich hab sie gefragt, wer denn dann die ganzen Überfälle und Plünderungen begangen hat. Die haben angeblich auch nie stattgefunden, wenn es nach ihr geht.“

„Ah ja. Und was war mit ihren vielen Fensterscheiben, die eingeworfen und notdürftig mit Pappe zugeklebt waren?“

„Hab ich sie auch gefragt. Das war der Wind.“

„Ist klar“, seufzte Vladislav.
 

„Nicht erschrecken, ich bin´s bloß“, kündigte Vladislav sich an, als er sich hinterrücks seinem Vize näherte. Victor saß auf dem blanken Asphalt des Parkplatzes, die Beine lang ausgestreckt, mit dem Rücken an einen Boller gelehnt, und machte nicht den Eindruck, sehr aufmerksam zu sein. Aber Vladislav wusste, daß Victor verdammt gute Reflexe hatte und schnell mit einer abgedrückten Pistole reagieren konnte. Er wollte keine Kugel im Kopf haben, weil er Victor versehentlich erschreckt hatte.

„Ist mir nicht entgangen. Ich hab dich schon bemerkt, seit du aus dem Supermarkt da drüben gekommen bist“, erwiderte Victor nur gelassen, ohne sich zu rühren. Weder stand er auf, noch würdigte er seinen Boss eines Blickes.

„Wir waren nicht sehr erfolgreich. Nichtmal aus dem Betreiber des Supermarktes haben wir was rausgekriegt. Hier scheint keiner mit uns reden zu wollen. Diese Leute schweigen. Warum auch immer.“

„Die haben wohl noch dreckigere Geheimnisse als wir“, vermutete sein grobschlächtiger Genius Intimus mit einem schiefen, gequälten Grinsen.

„Und hier? Auch alles ruhig, wie?“, legte Vladislav nach.

„Würde ich so nicht sagen. Ich habe schon vier Autos gezählt, die hier mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit durchgebrettert sind. Das ist bezeichnend. Diesen Landstrich scheinen alle zu meiden oder schnellstmöglich wieder verlassen zu wollen, wenn sie schon unbedingt hier durch müssen. Und wir stehen bereits unter Beobachtung. Siehst du das Haus da gegenüber? Hinter der Gardine lungert irgendjemand rum und rührt sich nicht von der Stelle. Der verfolgt jeden unserer Schritte seit wir hier angekommen sind. Soviel ich weiß, ist das nicht die Art der Japaner, sich in die Angelegenheiten anderer Leute einzumischen. Die Einwohner sind argwöhnisch. Das sagt mir, daß hier irgendwas faul ist.“

Waleri drehte sich zu dem bezeichneten Haus um und suchte mit seinem Blick die Fenster ab. An diesem Haus hatten sie vorhin auch geklopft. Dort hatte man ihnen gar nicht erst aufgemacht.

„Und was nun?“

„Wir warten!“, entschied der Boss motiviert.

Victor drehte endlich den Kopf, um die beiden fragend anzusehen. „Wie meinst du das: Wir warten!?“, wollte er ungläubig wissen.

„Wir bleiben hier! Waleri, lass uns in dem Hotel da nach Zimmern fragen!“

Victor Akomowarov sprang vom Boden hoch und hechtete den beiden nach, um den Anschluss nicht zu verlieren. „He, Sekunde mal! Was meinst du mit warten??? Willst du jetzt etwa hier rumsitzen, bis irgendwas passiert?“

„Offensichtlich tun wir das! Das ist der Plan!“, stimmte Vladislav zu. „Du könntest in den Supermarkt gehen und uns ein paar Lebensmittel beschaffen. Vielleicht erstmal für zwei oder drei Tage.“

Victor ließ sich etwas zurückfallen und wischte sich mit einer fahrigen Bewegung die schulterlangen, schwarzen Haare aus dem Gesicht. Das durfte nicht wahr sein. Diese Insel war keine 15 Kilometer breit. Man konnte innerhalb von 4 Stunden zu Fuß von einer Küste zur anderen spazieren, wenn man das wollte. Wieso gingen sie nicht einfach nach den Übeltätern suchen? Das konnte doch nun wirklich kein Problem sein. Oder wenigstens ins Auto steigen und weiterfahren!? Vielleicht fanden sie weiter oben im Norden ja mehr Hinweise als hier. Da merkte man wieder, daß Vladislav keinerlei Praxis-Erfahrung hatte und noch nie in seinem Leben selber auf so eine Jagd gegangen war. Wahrscheinlich dachte er, wenn schon die Polizei in diesen Wäldern nichts fand, dann würde er selber erst recht nichts finden.

viele Wege

einige Jahre zuvor, Tokyo
 

„Du bezahlst doch, oder?“, wollte Chippy wissen, als sie sich in einem Cafe auf einen Stuhl fallen ließ, und griff sich die Karte.

„Ich hab wohl keine Wahl“, murmelte Loriel leise. Immerhin war er froh, daß sie tatsächlich des Lesens mächtig zu sein schien, wenn sie die Karte entziffern konnte. Verstohlen musterte er das Mädchen. Für eine 16-Jährige sah sie recht frühreif aus. Er hätte sie locker noch etwas älter geschätzt, jetzt bei Tageslicht betrachtet. Sie hatte lila Spitzen in ihre Haare gefärbt, die Frisur machte jedem Visual Kei Musiker Konkurrenz, und die Klamotten ... naja ... waren wahrscheinlich aus der Altkleider-Tonne. Die Vorliebe für Rocker-Outfits war ihr deutlich anzusehen. Aus dieser Sicht hatte er mit seinem neuen Schützling wenigstens schonmal eine einzige gemeinsame Basis, denn er war mit seinen tätowierten Armen, den langen, ungekämmten Sauerkraut-Haaren und den Lederklamotten ja auch in dieser Richtung unterwegs. „Also, wo wohnst du?“, versuchte er abermals ein vernünftiges Gespräch zu eröffnen.

„Überall und nirgends. Manchmal in dem Abbruch-Haus, aus dem du mich gerade raus gezerrt hast, manchmal auf dem Sofa irgendeines Freundes, manchmal im Bahnhof. Hängt von Jahreszeit und Laune ab.“

„Dann schätze ich, daß du mit bei mir einziehen musst.“

„Hab ich nix gegen“, kommentierte sie salopp und klappte die Speisekarte wieder zu. Sie hatte sich wohl schon entschieden. „Aber glaub ja nicht, daß du alter, notgeiler Bock irgendwie mit mir rummachen kannst!“

Alter ... notgeiler ... Bock!? Bitte was!? Loriel war erschüttert. Er war ihr Schutzgeist. Er würde einen Teufel tun, sich an ihr zu vergreifen! „Du hast ein vollkommen falsches Bild von mir“, gab er gezwungen zurück.

„Ach was! Ihr seid doch eh alle gleich.“

„Warum erzählst du mir nicht, ob dir in den letzten Tagen irgendwas Komisches passiert ist? Damit wir vielleicht mal raus bekommen, welche magische Begabung du hast?“

„Bei mir passieren ein Haufen komische Sachen“, winkte Chippy ab.

„Was war das gestern Abend? Dieser ... Kampf ... oder was immer es war. Du warst in heller Panik, das habe ich deutlich gespürt.“

„Ja. Und du tauchst 12 Stunden zu spät auf, statt mich zu retten, Bierwampe. Ein toller Schutzengel bist du! Wenn man nicht alles selber macht ...“, hielt das Mädchen mit einem gehässigen Schmunzeln dagegen.

Loriel atmete tief durch, um nichts Falsches zu sagen. Dieses Kind würde ihn noch fertig machen, wenn das so weiter ging. „Erzähl mir, was passiert ist“, verlangte er nur.
 

„Lass mich das nochmal zusammenfassen. Du gibst dem Nudelverkäufer einen 1'000-Yen-Schein, wünschst dir, es wäre ein 10'000´er, und er hält es wirklich für einen 10'000´er? Und du wirst von jemandem angegriffen, wünschst dir, ein Hund möge dich retten, und dann steht plötzlich wirklich ein Hund da?“

„Zufall, ganz einfach“, behauptete Chippy.

Der Shogu Tenshi schüttelte den Kopf. „Nein. Du scheinst mir ein Illusionist zu sein. Du kannst anderen Leuten Dinge vorgaukeln, die gar nicht da sind.“

„Du meinst, ich könnte mir wünschen, du wärst wieder weg?“

Schmeichelhafter Wunsch, dachte Loriel still zähneknirschend. „Du kannst die Illusion erzeugen, ich sei weg. Dann hört und sieht mich außer dir keiner mehr, zumindest vorübergehend. Aber du kannst mich nicht wirklich verschwinden lassen. Und du kannst dich auch nicht selber verarschen. Auf dich selber haben deine Illusionen keine Wirkung. Bis du so eine Illusion, die du gestern in Not und Panik erzeugt hast, bewusst und gezielt bewerkstelligen kannst, ist es allerdings ein langer Weg.“

Eine Kellnerin kam an den Tisch und unterbrach die beiden, um die Bestellung aufzunehmen. Chippy gönnte sich ungeniert den größten Eisbecher, zwei Stücken Kuchen, eine Kanne Tee und eine Obstschale. Ihr neuer Schutzengel bezahlte ja ab jetzt alles. Immerhin ein Vorteil. Vielleicht war es ja doch nicht das Schlechteste, ihn jetzt an der Backe zu haben.

„Was ich damit sagen will ...“, fuhr Loriel fort, nachdem die Kellnerin wieder gegangen war und er ans Thema anknüpfen konnte. „Du solltest eine Ausbildung machen und deine magische Begabung ordentlich zu kontrollieren lernen.“

„Und wo macht man solche Ausbildungen? Ich bin noch nie mit Magie in Berührung gekommen. Du bist das erste nicht menschliche Wesen, das ich je gesehen habe. Und Magier sind selten, soweit ich weiß.“

„Nicht ganz so selten wie sie immer tun. Die meisten Magi und Genii gehen nur nicht damit hausieren, was sie sind. In Japan gibt es mehr oder weniger geheime Gruppen von magisch begabten Leuten, sowohl Menschen als auch Genii. Innerhalb der magischen Welt sind sie bekannt, aber normal-sterbliche Menschen haben in der Regel noch nicht davon gehört. Diese Orden bleiben gern unter sich. Aber man wird dich dort sicher aufnehmen und dich ausbilden.“

Chippy nickte interessiert. „Erzähl mir mehr davon!“

„Nun ja, es gibt drei nennenswerte Bildungseinrichtungen für Magie in Japan, die als Ersatzschulen staatlich anerkannt sind. Die Meister der Nord-Schule, oder Drachen-Schule, wie sie sich selbst nennen, haben sich vorrangig der trockenen Theorie verschrieben. Es gibt eine Menge schlaue Köpfe da, dort sind alle wie wild am Studieren und Forschen und Lernen. Dann gibt es die Ost-Schule unter dem Banner des Tigers. Die sind militärisch strukturiert und mehr so hau-drauf-Typen. Die arbeiten daran, ihre Magie kampftauglich zu machen und möglichst große Krieger zu werden. Im Prinzip ist das eine Kampfschule. Aber die nehmen eigentlich nur Genii als Schüler auf. Ich glaube nicht, daß du als Mensch dort überhaupt angenommen wird. Und dann wäre da noch die Süd-Schule, die schon seit Generationen vom Klan der Feuervögel betrieben wird. Die haben was von einer Sekte, wenn du mich fragst. Ich weiß nicht genau wie, aber die haben´s irgendwie mit der Religion und der Ethik. Die leben in ihrem Internat wie in einem Kloster und versuchen moralisch einwandfrei zu werden und ihren Seelenfrieden zu finden. Moral-Prediger, um es auf den Punkt zu bringen. Entsprechend wenig Schüler haben die, aber die sind dafür absolute Elite.“ Loriel machte eine Sprechpause und ließ ihr Zeit, das zu verdauen. „Also ich würde dir die Nord-Schule nahe legen“, fügte er letztlich an. „Da du von Magie noch keinerlei Ahnung hast, sollte dir das viele Theorie- und Hintergrundwissen sehr nützlich sein.“

„Warte, warte, Bierwampe!“, hielt Chippy ihn auf. „Was ist mit dem Westen? Gibt es im Westen keinen Schule?“

„Inzwischen nicht mehr, nein. Zumindest nicht in Japan. Bis vor einigen Jahrzehnten hat es mal eine dubiose Vereinigung namens 'Bruderschaft des Bären' gegeben, die quasi die magisch begabte Bevölkerung im ganzen Westen organisiert und verwaltet haben. Sie wollten den Magi und Genii, die ja weltweit eine totale Minderheit sind, mehr Rechte und Bedeutung einräumen. Alles in allem waren sie also eine politische Gruppierung. Nach einigen internen Streitigkeiten und mehreren Führungswechseln wurden die im Laufe der Zeit komplett auf´s Festland verdrängt. Aber was die Bären überhaupt so richtig gemacht haben, weiß eh keiner. Die waren immer recht zwielichtig, wenn du mich fragst. Sie wollten auch Schulen eröffnen, aber dazu kamen sie hier in Japan nicht mehr. Ich glaube, drüben in China haben sie inzwischen zwei.“

Chippy überlegte. „Die Magie-Schulen werden also alle privat betrieben, von irgendwelchen mehr oder weniger geschlossenen Gruppierungen, Orden, Familien, oder wie auch immer.“

„Nicht alle“, quasselte Loriel dazwischen. „Es gibt wie gesagt auch staatliche Schulen für Magie. Aber die taugen nichts. Von denen würde ich dir abraten.“

„Muss man unbedingt dieser jeweiligen Gruppierung angehören, um auf deren Schule gehen zu können?“

„Nein, musst du nicht. Die meisten, magisch begabten Wesen wollen das auch gar nicht. Der Großteil ist frei und ungezwungen und macht sein eigenes Ding. Und zwei der drei Kollektive nehmen neue Mitglieder auch nur unter strengsten Auflagen auf. Dafür muss man diverse Prüfungen bestehen. Ich weiß nicht, ob man angefangen hat, eigene Schulen zu betreiben, weil die staatlichen Schulen für Magie für die Tonne sind, oder ob die staatlichen Schulen nicht reformiert und verbessert werden, weil es ja sowieso die viel besseren, privat geführten Schulen dafür gibt. Jedenfalls kümmert man sich nicht sonderlich um die staatlichen, weil sie nicht konkurrenzfähig sind.“

„Aber wer finanziert diese freien Schulen denn dann?“

„Oh, die haben Gönner, glaub mir“, lächelte Loriel.

Chippy lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Dabei sah sie sich ungeduldig nach der Kellnerin um. Sie wollte wohl endlich ihre bestellten Sachen haben. „Woher weißt du das eigentlich alles?“

„Oh, ich bin alt“, schmunzelte der Schutzengel. „Ich bin viel rumgekommen und habe eine Menge gesehen und gehört.“

„Gut, Bierwampe, dann lass uns in den Norden gehen!“, entschied sie mit einem einverstandenen Nicken.

Loriel verdrehte die Augen. „Du könntest dir echt mal einen anderen Spitznamen für mich einfallen lassen, Kind.“

Das Rocker-Mädchen winkte achtlos ab. „Ich mag dich nicht. Du bist alt und dick und hässlich. Und mich nervt es jetzt schon, dich für den Rest meines Lebens als Aufpasser an der Backe zu haben. Und da werde ich auch keinen Hehl draus machen, nur um dir einen Gefallen zu tun.“

'Wie schön, daß wir uns da einig sind ...', dachte Loriel still, sagte das aber nicht laut. Dieses Gör nervte ihn nicht minder, und er war ebenfalls alles andere als begeistert davon, sie als Schützling zu haben. Nur war er in der schlechteren Position, um seiner Meinung Ausdruck zu verleihen.

„Erzähl doch mal, was du eigentlich so drauf hast“, schlug Chippy vor. „Kannst du überhaupt irgendwas, wenn du dich schon als Schutzengel aufspielst?“

raue Sitten

jetzt, Insel Okinawa
 

Vladislav und sein Schutzgeist Waleri spazierten am Hafenbecken entlang, Victor schlurkste lustlos hinterdrein und hatte die Hände in die Taschen seiner Jeansjacke gestopft. Sie waren jetzt seit 3 Tagen hier und er langweilte sich zu Tode. Hätte er die Bande aufspüren sollen, die hier regelmäßig Rabatz machte, wäre er anders an die Sache rangegangen. Aber der Boss wollte warten, bis etwas passierte, und ließ sich davon auch nicht abbringen. Dabei hätte er zu Hause in Moskau in seinem Büro beileibe genug Arbeit gehabt, statt seine Zeit hier so sinnlos abzusitzen. Aber nagut, er war der Boss und sein Wort war Gesetz. Zumindest war Victor mal ins Auto gestiegen und die Landstraße noch ein Stück weiter hinauf gefahren, um zu schauen, was es denn am Nord-Ende der Insel noch so gab. Er war da oben zwar auf ein weiteres Gemeindezentrum mit etwas dichterer Besiedlung und ein paar Läden gestoßen, aber abgesehen davon war dort oben genauso tote Hose wie hier auch.

Waleris Versuche, irgendeinen Einheimischen in die Finger zu bekommen, der mit ihm reden wollte, waren auch weiterhin erfolglos. Vladislav hatte ihm irgendwann gesagt, er solle damit aufhören. Sie würden sich nur verdächtig machen, wenn sie hier tagelang jeden immer und immer wieder nach dem Volk aus den Bergen fragten. Der Hotelbetreiber hatte schon begonnen, seinerseits blöde Fragen über die Absichten und Interessen der drei russischen Herrschaften zu stellen, die ganz offensichtlich nicht auf Urlaub hier waren.
 

Victor blieb stehen und schaute neugierig einer Prozession von vielleicht zehn Männern hinterher, die zwei Mädchen in Ketten und Handschellen in Richtung Waldrand schleiften. Die jungen Damen, die kaum volljährig sein konnten, heulten zwar herum und wehrten sich, hatten dem Pulk Kerle aber natürlich nichts entgegen zu setzen. Sie wurden unbarmherzig weitergezerrt. Victor stieß einen leisen Pfiff aus, um Vladislav und Waleri zum Stehen zu bringen, die blind weitermarschierten und von der ganzen Sache gar nichts mitbekamen.

Der Boss schaute fragend zurück und folgte dann Victors Blick, um die Delegation gerade noch im Wald verschwinden zu sehen. „chto sluchilos?“ [Was ist los?], wollte er ahnungslos wissen.

„Hast du die nicht gesehen?“, erwiderte Victor.

Der Motus-Boss kam die paar Schritte zurück, die er voraus gewesen war, um sich besser mit seinem Vize unterhalten zu können. „Was war denn mit denen?“

„Die haben zwei junge Mädchen in Ketten in den Wald geschleift.“

„Und?“

„Und!?“, äffte Victor ihn nach. Wie konnte man nur so schwer von Begriff sein? Das schrie doch förmlich nach einem Hinweis auf was auch immer hier vor sich ging. Vladislav bewies hier mal wieder seine phänomenale Praxis-Fremde.

„Die Mädels werden wohl was angestellt haben und wurden in Polizeigewahrsam genommen. Was machst du dir da so einen Kopf drüber? Bei uns in Russland würden wir genauso mit denen verfahren.“

„Aber zehn Kerle gegen zwei wehrlose Kinder?“, meinte auch Waleri zweifelnd.

„Die sahen auch nicht aus wie Polizisten. Das war eine Zivilisten-Rotte. Da geht irgendwas nicht mit rechten Dingen zu. Lass uns hinterher gehen und schauen, was die mit den Mädels anstellen. Wenn du nicht mitkommst, geh ich halt alleine.“

Vladislav fuhr sich stöhnend durch die blonden Strubbelhaare und gab sich dann geschlagen. Aber auch nur, weil er gerade nichts besseres zu tun hatte und sich auf dieser Insel nach 3 Tagen schon selbst zu langweilen begann.
 

Hinter ihm krachte ein Ast, der zertreten wurde. „Ssssccccchhhhh! ne delayte takoy shum! [Macht nicht so einen Lärm!] Die hören uns noch!“, zischte Victor. Es war furchtbar. Der Boss und sein mischuggener Genius Intimus hatten wirklich keinerlei Spionage-Qualitäten. Die konnten mit ihrem Krach Tote wecken.

„Echt mal! Du Trampel!“, zog auch Vladislav seinen Schutzgeist auf.

„Musst du gerade sagen!“, maulte der zurück.

„Ruhe jetzt! Wir scheinen da zu sein.“

Die drei kauerten sich hinter ein dichtes Gebüsch und schauten auf die kleine Lichtung hinaus, die sich vor ihnen erstreckte. Mitten auf der Lichtung stand ein mannshoher Holzpfahl, an dem man die zwei Mädchen gerade festkettete. Es wirkte beinahe feierlich, wie ein Ritual. Die Männer schwiegen. Nur das Heulen und Zetern der beiden wehte entfernt herüber.

„Wonach sieht das für dich aus?“, wollte Vladislav leise wissen.

„Ich weiß nicht. Aber wie eine übliche Verbrecher-Rüge wirkt es auf mich nicht“, überlegte Victor Akomowarov unschlüssig. „Ich geh mir das mal aus der Nähe ansehen. Ihr bleibt hier! Lasst euch ja nicht hören oder sehen.“ Der Gestaltwandler legte seine Pistole auf dem Boden ab, die er bei der Verwandlung sowieso verlieren würde, nahm die Form einer schwarzen Schlange an, ähnlich einer Blindschleiche, und schlängelte sich davon. In dieser Gestalt würde wohl keiner von ihm Notiz nehmen. Seine gewöhnliche Jeans-Jacke, die bei der Herstellung nicht magisch durchsetzt worden war und deshalb die Verwandlung nicht mitmachte, blieb einfach in der Wiese liegen.

Als er schon mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte und gerade seine Schlangen-Nase neugierig in einen herumstehenden Leinensack steckte, gab es plötzlich eine Verpuffung. Die Männer schrien erschrocken durcheinander, ein paar wurden von der Druckwelle zu Boden geschubbst. Einer schlug dem kurzhaarigen Mädchen wütend mit der Faust ins Gesicht. Ein kurzer Tumult brach aus. Da Victor kein Japanisch verstand, konnte er nicht ergründen, worum es genau ging, aber ihm wurde klar, daß er lieber Abstand halten sollte. Als Magier hatte er durchaus gespürt, daß diese Verpuffung das Resultat eines – wenn auch sehr schwachen und ungeübten – Zaubers gewesen war. Und magische Duelle waren alles andere als Spaß.
 

Ein paar Minuten später war der größte Spuk an sich schon wieder vorbei, ohne daß noch etwas nennenswertes passiert wäre. Der Pulk aus japanischen Kerlen hatte unter nervösen Blicken in die Umgebung den Heimweg angetreten. Die zwei heulend aneinander klammernden Mädchen waren an den Pfahl gekettet zurückgelassen worden. Und dann kehrte Ruhe ein.

Waleri erschreckte sich tierisch, als Victor plötzlich neben ihm wieder seine volle, menschliche Größe annahm. Er und sein Schützling Vladislav hatten wider Erwarten tatsächlich brav in ihrer Deckung gewartet, bis Victor zurück kam.

„Und?“, fragte Vladislav sofort interessiert.

„Komische Sache“, berichtete sein Vize. Er griff nach seiner zurückgelassenen Jacke, um sie wieder anzuziehen. „Ich würde sagen, die zwei jungen Damen sind ein Genius Intimus und ihr Schützling. Aber warum man sie hier angekettet hat, weiß ich nicht.“

„Dann sind sie wohl mit ihrer Magie irgendwo angeeckt und ernten nun die Strafe dafür. Was tun wir jetzt? Befreien wir sie, oder gehen wir wieder ins Hotel zurück?“

Victor schüttelte langsam den Kopf. „Nein, da steckt mehr dahinter. Wir sollten warten und sehen, was passiert.“

„Ach, auf einmal? Als ich in den letzten Tagen diese Strategie verfolgt habe, warst du nicht gerade begeistert davon.“

„Das hat einen Grund, warum man hier mitten im Wald auf einer einsamen Lichtung so einen Pfahl errichtet hat. Der ist nicht nur zum einmaligen Gebrauch vorgesehen, solche Aktionen passieren hier öfter. Die zwei Kids sind zu einem bestimmten Zweck hier ausgesetzt worden. Da stehen auch zwei Sake-Fässer und ein paar Säcke mit Goldschmuck und Lebensmitteln rum. Auch die werden nicht zum Spaß da hingepackt worden sein.“

„Und für wen sind die deiner Meinung nach?“, hakte Vladislav schnippisch nach.

„Meiner Meinung nach wird sich das schon zeigen, wenn wir nur etwas Geduld haben. Also mecker jetzt nicht und warte!“

„Moment mal! Seit wann gibst du hier die Befehle?“

„Seit ich entschieden habe, diese Mission zu überleben. Du mit deiner völligen Unerfahrenheit hast doch gar keine Ahnung, was zu tun ist!“

Waleri schmunzelte leicht in sich hinein und zog ein Gesicht, als würde er Victor da absolut Recht geben, war aber klug genug, die Klappe zu halten.

„Also warten wir!?“, rückversicherte sich Vladislav mit leicht verdrießlicher Miene.

„Wir warten, basta!“

Waleris Schmunzeln wurde zu einem leisen Kichern. „Vladislav, ich wusste gar nicht, daß du so ein Schisser bist!“

„Also ich darf doch sehr bitten!“

„Du hast total die Hosen voll“, beharrte sein Schutzgeist überzeugt.

„Gar nicht wahr!“

„Ich spüre es doch ganz deutlich über unsere mentale Verbindung. Du willst am liebsten weg, weil du Angst hast, daß hier wirklich gleich irgendwas losgehen könnte!“

„Halt die Klappe, du Schwätzer“, verlangte der Motus-Boss mürrisch.

„Ist schon was anderes als im Büro zu sitzen und seine Leute durch die Gegend zu schicken, hä?“, legte sein Schutzgeist aber trotzdem noch eins nach.

towarisch, sei jetzt still“, ging Victor genervt dazwischen. „Ich will nicht, daß die uns eher entdecken als wie sie.“ Daraufhin war tatsächlich Ruhe.
 

Eine Stunde später saßen sie immer noch hinter ihrem Gebüsch und gaben sich Mühe, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Aber mehr als die erfolglosen Versuche der beiden Mädchen mitzuverfolgen, sich aus den Ketten zu befreien, konnten sie nicht tun. Waleri flocht vor lauter Langeweile aus ein paar wilden Blumen einen kitschigen Blumenkranz, Vladislav starrte Löcher in die Luft und war mit den Gedanken ganz wo anders. Nur Victor war noch bei der Sache. Er fragte sich, was für Ketten das waren, wenn die Mädchen sich nichtmal mit ihrer Magie daraus befreien konnten.

Der Vize war auch der einzige, der aufhorchte, als in der Ferne ganz leise ein schweres, metallenes Läuten einsetzte. „he, vy eto slyshite?“ [Hört ihr das?], raunte er in gedämpftem Tonfall.

„Mh ... nur eine Kirchenglocke“, überlegte Vladislav.

Victor schaute auf seine Armbanduhr, ob es gerade eine volle Stunde war, die geschlagen werden könnte, aber das war es wohl nicht. 18:37 war einfach eine zu krumme Uhrzeit für eine Kirchenglocke. „Ich hab gar keine Kirche gesehen.“

Waleri spitzte die Ohren. „Das kommt auch nicht aus dem Dorf. Dafür wäre es viel zu leise. Das muss von weiter draußen kommen, vom Meer.“

„Es gibt einen Glockenturm vor der Küste?“

„Ein Warnsignal vielleicht.“

„Und wovor soll er warnen? Vor Tsunamis?“, wollte Vladislav zweifelnd wissen.

„Hoffen wir es nicht.“

Als die beiden angeketteten Mädchen sich erneut heulend aneinander kauerten und panisch in den Himmel hinauf schauten, warf Victor ebenfalls besorgt einen Blick nach oben. Die Wolken verloren ihre letzte Abendröte und wurden langsam grau, um sich für die Dämmerung einzurichten. „Ich habe einen Verdacht, wovor die Glocke warnt. Sonnenuntergang.“

„Und das ist ... schlecht, nehme ich an!?“
 

Die Antwort bekam Vladislav prompt, denn nur Augenblicke später fiel eine Gruppe von acht Tengu auf der Lichtung ein und riss johlend alles an sich, was da war. Den Sake, das Gold, und auch die Mädchen, deren Ketten für diese Tengu offenbar keine Hürde darstellten.

„Was wird das denn?“, machte Vladislav überrascht.

Victor Akomowarov kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Der stechende Blick aus Augen, die keine Augenlider hatten, die krummen, schnabelförmigen Nasen, die kahlen, ungewohnt geformten Schädel, die nebulöse Bewegungsunschärfe, die einem jeden ihrer Schritte vor den Augen verschwimmen ließ – alles deutete auf die Raben-Tiergeister hin. Aber irgendwas störte Victor trotzdem an ihnen. „Das sind doch keine Tengu, oder?“

„Für mich sieht´s aber aus wie welche.“

„Für Tengu benehmen die sich viel zu rüpelhaft. Und Tengu ärgern zwar schonmal Menschen mit ihren gedankenleserischen Fähigkeiten, aber sie ziehen nicht in Horden plündernd durch die Gegend.“

„Glaubst du, das ist unser 'Volk aus den Bergen', nach dem wir suchen?“, warf Waleri von der anderen Seite ein.

„Möglich. Wenn wir sowieso davon ausgehen, daß sie Gestaltwandler sind, würde sogar einiges dafür sprechen. Tengu sind das da jedenfalls nicht.“

„Aber was wollen die mit den Mädchen?“

„Gar nichts wollen die mit den Mädchen! Wir retten sie nämlich!“, entschied Vladislav in einem plötzlichen Anfall von Heroismus – oder vom Verlieren der Nerven. „Waleri, hol die zwei da raus! Ich kümmere mich um die was-auch-immer!“

Victor blieb der Mund offen stehen, als Vladislav und Waleri wie die losgelassenen Knallfrösche aus ihrer Deckung sprangen. Er war so baff über diese selbstmörderische Aktion, daß er gleich gar nicht in der Lage war zu reagieren, sondern nur wie versteinert zuschauen konnte, wie der Boss sich in den Haufen Vagabunden stürzte. Allein gegen acht? War das Vladislavs verdammter Ernst? Wie wollte er das machen, so ganz ohne jede ernsthafte Kampferfahrung, und ohne irgendwelches Wissen über die Gegner? Sein Genius Intimus verwandelte sich im Sprint in das Rhinozeros-Einhorn, das er war, und walzte wie ein Panzer mitten durch die Truppe hindurch.

Vladislav zog ein Tütchen mit Salz aus seiner Jacke und versuchte das weiße Zeug nach den Tengu zu schleudern. Aber die zeigten sich sichtlich unbeeindruckt und gingen, nun da sie ihren ersten Schreck überwunden hatten, auf Vladislav los.

Victor schüttelte in seinem Versteck fassungslos den Kopf. Salz! Da hatte der Boss sich mit seinem Unwissen mal wieder selbst übertroffen. Sicher, mit Salz konnte man Dämonen austreiben – in Europa. Yokai, die asiatischen Dämonen, waren aber ein ganz anderer Schlag magischer Kreaturen. Die störten sich nicht die Bohne an Salz, sondern die wurden durch das Werfen von Reis vertrieben. Mal ganz abgesehen davon, daß sie es hier höchstwahrscheinlich nicht mit Yokai zu tun hatten, sondern wohl eher mit Tiergeistern.

Vladislav sah schnell ein, daß sein Salz ihn nicht weiterbringen würde, und verlegte sich auf Bann-Magie. Er zog einen Schutzschild vor sich hoch. Aber offensichtlich auf der falschen Basis, denn der erste Angreifer, der sich wieder auf ihn stürzte, rauschte ungesehen durch den magischen Schild hindurch und hing Vladislav am Hals.

Waleri wendete im vollen Galopp, als sein Schützling hilfesuchend nach ihm rief, und tackelte dabei einen der Tengu zur Seite, welcher getroffen zu einer gelben Sandwolke zerfiel, dann aber sofort seine feste Gestalt wieder annahm und zum Gegenschlag ausholte.

Victor hatte genug gesehen. Er musste einschreiten, es half nichts. Entschlossen griff er sich seine Pistole und ballerte im Vorwärtsgehen das halbe Magazin leer. Keine Ahnung, was für Kugeln da drin waren. Vladislav hatte ihm die Patronen kommentarlos in die Hand gedrückt. Silber würde es wohl kaum sein. Aber egal. Um sich einen Weg zu bahnen, würden sie schon reichen.

hoffnungsloser Fall

einige Jahre zuvor, Sapporo
 

„Okay, da wären wir wieder am Sekretariat. Und? Gefällt dir unsere Schule?“, wollte der freundliche Mitt-Vierziger wissen, der sich als Yamada vorgestellt hatte und wohl der stellvertretende Schulleiter hier war. Er hatte ihnen gerade im Rahmen eines Rundgangs die Schule gezeigt.

Chippy nickte nur mit einem eher halbherzigen 'naja,-kann-man-schon-gelten-lassen'-Gesichtsausdruck, obwohl es hier wirklich schön war. Sowohl die alten, liebevoll restaurierten Gebäude der Schule selber, als auch der gesamte Landstrich waren sehr malerisch. Sapporo lag auf Hokkaido, der nördlichsten Hauptinsel Japans. Nicht grundlos nannte sich das hier die 'Nord-Schule'.

„Wir haben keine Schuljahre, die zu einem festen Termin beginnen und enden. Weil die Magi halt keinen Einfluss darauf haben, wann ihr magisches Talent erwacht und wann sie auf ihren Genius Intimus treffen. Die Schüler kommen, wann sie wollen, und gehen wieder, wenn sie genug gelernt haben. Du bekommst einen Lehrplan, den du in der Reihenfolge und Geschwindigkeit abarbeiten kannst, die du möchtest. Die Lehrer und die Bibliothek stehen dir jederzeit zur Verfügung. Außerdem gibt es immer mal wieder außerplanmäßige Seminare für alle Schüler, die du je nach Interesse belegen oder weglassen kannst. Wenn du alle nötigen Prüfungen bestanden hast, wird dir der Schulabschluss anerkannt.“

Wieder nickte Chippy.

„Und? Möchtest du bleiben?“

„Ja, ist nicht schlecht hier“, stimmte das Mädchen zu.

Loriel verkniff sich ein erleichtertes Aufatmen. Das war doch schonmal ein riesiger Schritt in die richtige Richtung.

„Gut, dann gebe ich dir ein Anmeldeformular, damit du dich bei uns einschreiben kannst. Ich nehme an, dein Schutzgeist wird kein Schüler bei uns werden, sondern dich nur begleiten, oder?“, wollte Yamada mit Blick auf den schon unverkennbar in die Jahre gekommenen Engel wissen. In dem Alter war ja anzunehmen, daß er schon alle vorgesehenen Schulabschlüsse hatte.

„Nein, der wird hier kein Schüler.“

„Schön.“ Der stellvertretende Schulleiter schloss sein Sekretariat wieder auf und ging voran, um den unvermeidlichen Bürokram in Angriff zu nehmen. „Wollt ihr in unserem Internat wohnen, oder habt ihr eine Bleibe im Umkreis?“

„Wir kommen aus Tokyo. Wir werden wohl im Internat bleiben müssen“, streute Loriel von der Seite an.

Yamada nickte, während er sich hinter seinen Schreibtisch setzte, und hatte mit einem einzigen Handgriff das passende Formular parat, das er Chippy mitsamt einem Stift einladend hinschob. „Für das Internat müssen wir eine Gebühr erheben, weil ihr dort ja verpflegt und betreut werdet und Strom und Wasser verbraucht. Der Beitrag von 5'000 Yen im Jahr ist zwar eher symbolisch, aber trotzdem ...“

Chippy reichte ihr Formular samt Stift an Loriel weiter.

Der Shogu Tenshi blinzelte irritiert, bis ihm aufging, daß das Straßenmädchen wohl durchaus ein wenig lesen, aber offensichtlich nicht schreiben konnte. Das würde ja heiter werden. Wie wollte sie da im Unterricht Mitschriften machen? Loriel sah sich schon in der Rolle des Sekretärs. Er überflog kurz die Fragen und geforderten Angaben. Das meiste davon wusste er über seinen neuen Schützling noch gar nicht. Aber es wäre sicher blöd, sie vor den Augen der Schulleitung nach ihrem Geburtsdatum oder ihrem korrekten Namen zu fragen. „Wir füllen den Bogen nachher in Ruhe aus und geben ihn dann wieder rein, okay?“

„Klar, kein Problem“, stimmte Yamada gut gelaunt zu.

Chippy hantierte unterdessen mit einer Geldbörse herum. „5'000 Yen für´s Internat. Mal sehen, ob ich noch so viel Geld einstecken habe.“

Loriel beäugte argwöhnisch von der Seite, wie sie die ganze Geldbörse umkrempelte und drehte und wendete und jedes mögliche Fach einzeln durchsuchte. Sie machte nicht den Eindruck, als würde sie sich in diesem Ding zurecht finden oder wissen, was wo war. Mal ganz davon abgesehen, daß sie eigentlich gar kein Geld mehr hätte haben sollen, nachdem Loriel sie die Zugfahrkarte hierher aus purem Prinzip hatte selber bezahlen lassen. Aber er sagte zunächst nichts.

„Ah, hier, gefunden!“, meinte Chippy plötzlich und zog einen Schein heraus.
 

Der Shogu Tenshi wartete gerade noch, bis man ihnen im Nebengebäude ein Zimmer zugewiesen hatte und der Hausmeister die Tür von außen zuzog. Als sie endlich allein waren, wandte er sich böse an seinen Schützling. „Chippy!? Wo hast du die verdammte Brieftasche her!? Die war doch nicht deine!“

Das Rocker-Mädchen grinste. „Hab sie vorhin dieser Bann-Magie-Tante abgenommen, die uns die Mensa gezeigt hat.“

„Wieso klaust du Geldbörsen?“

„Weil ich das gut kann und mein Lebtag nichts anderes gelernt habe. Irgendwie muss man auf der Straße ja überleben.“

„Aber doch nicht in einer Schule! Du wirst hingehen und ihr das Ding zurückbringen! Hier, steck die 5'000 Yen wieder rein, die du rausgenommen hast!“, verlangte Loriel grenzhysterisch und hielt ihr entsprechend viel Geld aus seiner eigenen Tasche hin. Das war nicht zu fassen. „Und wenn du sowas nochmal machst, gibt es Ärger! Willst du gleich am ersten Tag schon wieder von der Schule fliegen?“

„Und wenn schon. Gibt ja noch mehr Schulen in Japan“, winkte sie sorglos ab. Sie nahm das Geld an und hatte im gleichen Moment schon entschieden, daß sie es natürlich nicht in die Geldbörse zurückstecken würde, bevor sie diese unauffällig irgendwo hinwarf. Natürlich musste sie das Portemonnaie wieder loswerden, damit es nicht bei ihr gefunden wurde. Aber sie war ja nicht so blöd, die Geldbörse persönlich abzugeben. Sie würde es aussehen lassen, als hätte die Material- und Lebensmittel-Logistikerin das Ding einfach verloren.

Der Schutzengel atmete bewusst durch, um sich wieder einzukriegen. Er hätte Chippy lieber ins Kloster zu den Feuervögeln schicken sollen. Da wäre sie vielleicht besser aufgehoben gewesen, bei ihrem Sinn für Moral und Anstand.
 

Knapp drei Monate später saß Loriel in der Bibliothek und schmökerte in aller Ruhe ein Buch über die Geschichte der Elementar-Magie, seiner großen Passion, auch wenn er selber keine beherrschte. Die Bibliothek dieser Schule war wirklich grandios. Hier gab es so viel zu lernen! Und er genoss es, mal für eine Weile seinem aufsässigen Schützling Chippy zu entgehen. Da diese Schule quasi ein geschützter Rahmen war, konnte er sie im Unterricht gut und gerne mal zwei oder drei Stunden alleine lassen. Über ihre mentale Verbindung bekam er ja trotzdem mit, ob bei ihr alles okay war. Im Gegensatz zu draußen musste er hier nicht jede Minute an ihr kleben.

„Loriel?“, unterbrach einer der Schuldiener seinen Gedankengang.

Der Shogu Tenshi ließ über dem Buch den Kopf hängen. „Was hat sie jetzt schon wieder angestellt?“, fragte er nur resignierend. Das war inzwischen nichts Neues mehr. Immer, wenn man nach ihm suchte, hatte Chippy wieder irgendwas verbockt. Vielleicht sollte er sie besser doch nicht alleine lassen, dachte er frustriert. Sachen zu klauen, sich mit anderen Schülern zu prügeln, Lehrer zu bevormunden und zu beleidigen, fiese Streiche zu spielen oder im Streit fremdes Eigentum kaputt zu machen, war bei diesem Mädchen eigentlich an der Tagesordnung. Es verging keine Woche, in der sie nicht bei der Schulleitung antanzen und sich eine Strafarbeit abholen musste.

Honda, der Bibliothekar der Schule, trat mit etwas bedauerndem Gesicht an Loriel heran. Bedauernd, daß er den Schutzgeist mit einer schlechten Nachricht behelligen musste. Er wusste selber, wie machtlos Loriel gegenüber seinem Schützling war und wie sehr ihm das an die Substanz ging. „Chippy hat einer Lehrerin ein Fass Tinte über den Kopf und über alle Unterlagen geschüttet. Und die ist nicht amüsiert, das kann ich dir sagen.“

Loriel fuhr sich stöhnend mit der Hand durch das Gesicht. Was war nur los mit diesem elenden Teenager? Konnte man, auch wenn man ein Straßenkind war, tatsächlich derart missraten? „Ist gut, ich geh schon“, seufzte er lustlos. Also mal wieder ab zur Schulleitung und einen Anpfiff abholen.

„Ich räum dein Buch für dich ins Regal zurück, okay?“

„Danke.“
 

„Sie wollte mir Schwachsinn beibringen!“, maulte Chippy uneinsichtig, als sie ein paar Minuten später vor dem stellvertretenden Schulleiter, Herrn Yamada, stand und zu dem Vorfall befragt wurde.

„Chippy ...“, versuchte Loriel sie zu beschwichtigen.

„Sie will ihren Schülern weismachen, magisch erzeugte Illusionen würden auf bestimmten Licht- und Farbspekten basieren und daher für jedes Wesen gleich aussehen. Das ist einfach Quatsch. Jedes Wesen hat anatomisch gesehen eine andere Farbzäpfchenverteilung im Auge! Jedes Wesen nimmt andere Spektren wahr. Also KANN eine Illusion, wenn sie auf Licht und Farbe basieren würde, gar nicht für jeden gleich aussehen. Habt ihr schonmal was von Tetrachromaten gehört?“

„Was!?“, machte Loriel überfordert und musste erstmal kurz seine Gedanken ordnen, um ihr folgen zu können.

„Die haben eine zusätzliche Art Farbstäbchen im Auge. Die nehmen nicht nur Rot, Blau und Grün wahr, sondern können auch noch eine ganze Palette verschiedenster Gelb-Töne unterscheiden, die den meisten anderen Menschen verborgen bleiben! Oder Hunde und Katzen haben zum Beispiel nur zwei Farb-Rezeptoren im Auge, die nehmen gar nicht so viele Farben wahr wie wir Menschen.“

„Die Basis auf Licht- und Farbspekten ist aber nunmal die vorherrschende Theorie, weil es derzeit einfach keine plausiblere, wissenschaftliche Erklärung dafür gibt, wie die Illusionen funktionieren.“

„Dann sollen sie´s nicht unterrichten, wenn sie´s nicht besser wissen!“

„Trotzdem. Das ist noch lange kein Grund, einer Professorin ein Fass Tinte über den Kopf zu schütten!“, meinte Loriel.

„Ich lass mir hier keinen Stuss beibringen!“

„Wenn du mit der Schule fertig bist, kannst du dich ja der Forschung widmen und eine bessere Theorie erarbeiten, wie es funktionieren könnte.“

Yamada seufzte effektvoll hinter seinem Schreibtisch, um die Debatte zu unterbrechen und die Aufmerksamkeit der beiden zurück zu bekommen. „Chippy, hör zu. Du bist eine unserer besten Schülerinnen. Du bist ein kluges Köpfchen, du kombinierst sehr gut, und du lernst wirklich erstaunlich schnell. Du hast das Zeug dazu, ein verdammt mächtiger Magier zu werden. Ich fände es schade, wenn wir uns von dir trennen müssten. Aber dein Verhalten hier an unserer Schule ist einfach untragbar. Es kann nicht sein, daß du ständig klaust, prügelst, Vandalismus betreibst und sogar unsere Lehrerschaft tätlich angehst.“

Chippy verschränkte schmollend die Arme und sah weg.

„Wenn du dir noch eine Schote leistest, fliegst du. Hast du mich verstanden?“, wollte der stellvertretende Direktor in ruhigem, aber strengem Tonfall wissen.

Das Mädchen zog nur eine Flunsch und sagte nichts.

„Gut. Dann reiß dich jetzt bitte am Riemen. Das wäre für den Moment alles. Ich lass mir noch Strafarbeiten für dich einfallen. Ihr dürft gehen.“

„Ich ...“, wollte Chippy nochmal aufbegehren, aber Loriel packte sie im Genick und bugsierte sie derb aus dem Büro hinaus, bevor sie noch weiter mit dem Mann streiten konnte. Sie machte es ja immer schlimmer.

„Lass mich los!“, verlangte das Mädchen sauer.

„Chippy, wie soll das weitergehen?“, wollte Loriel draußen vor der Tür erstaunlich beherrscht von ihr wissen. „Warum machst du das? Was erhoffst du dir davon?“

„Die sollen erstmal Lehrer mit Ahnung einstellen, bevor sie die große Klappe haben und mich abstrafen!“

„Das ist doch gar nicht das Thema.“

„Ich hab die Nase voll. Ich werde abhauen“, stellte Chippy klar und stiefelte schlecht gelaunt los. „Da ich ja sowieso bald rausgeschmissen werde, kann ich auch gleich selber gehen. Ich breche diese dumme Schule hier ab.“

„Äh ... U-und was dann!?“, wollte Loriel entgeistert wissen. Damit hatte er nun nicht gerechnet. Der Stellvertretende hatte Recht. Chippy war wirklich ein cleveres Mädchen. So ein Wissen hätte Loriel dem ungebildeten Straßenkind selbst nicht zugetraut. Auf die Schnelle konnte er sich das nur so erklären, daß sie über das silberne Band intuitiv mit auf seine 500-jährige Lebenserfahrung zurückgreifen konnte. Diese mentale Verbindung zwischen einem Genius und seinem Schützling war immerhin für so manche Überraschung gut, auch wenn die Wechselwirkungen bei jedem Team ein wenig anders ausfielen. Aber er hatte schon gedacht, der Lernerfolg hier würde Chippy etwas zur Vernunft bringen und sie auf den richtigen Weg lotsen.

ohne Plan

jetzt, Insel Okinawa
 

Natürlich war Victor mit seiner Knarre auch nicht erfolgreicher als Vladislav mit seiner Bann-Magie. Aber das war auch gar nicht sein Ansinnen. Er wollte sich nur bis zu Vladislav durchkämpfen, um mit ihm zwei, drei Worte der Absprache wechseln zu können, denn mitten in diesem Gefechts-Chaos war Zuruf nicht die erste Wahl. Im Hinterkopf jonglierte er dabei schon mit den Details seines eilig gefassten Planes B herum.

„Scheiße, Mann, was sind das für Dinger?“, keuchte Vladislav, als sein Vize endlich zu ihm aufschloss. Salz brachte nichts, Bann-Magie brachte nichts, Munition brachte nichts, und Waleri spießte unermüdlich einen nach dem anderen mit seinem großen Horn auf, aber auch da materialisierten sich diese Dinger immer wieder von Neuem, nachdem sie kurz zu Staub zerfallen waren.

ya neznayu“ [keine Ahnung], erwiderte Victor Akomowarov ernst. „Hör zu, wir müssen uns von denen fangen und mitnehmen lassen!“

„Hast du sie noch alle?“

„Eigentlich wollte ich ihnen ja heimlich folgen“, erklärte er und schoss noch einen Pseudo-Tengu über den Haufen. „Aber diesen Plan hast du mir mit deiner Heldentat hier zunichte gemacht.“

„Ich lass mich von denen nicht fangen!“

„Wir müssen irgendwie zu ihrem Lager, und zu ihrem Anführer, falls sie einen haben! Anders kommen wir nicht an die Informationen, die wir brauchen! Wir müssen rausfinden, mit wem oder was wir es zu tun haben! Zur Not müssen wir uns eben als Gefangene dorthin mitnehmen lassen. Anders geht´s ja jetzt nicht mehr.“

„Du spinnst ja!“, entschied Vladislav und schlug einem der Tengu die Faust ins Gesicht, woraufhin dieser zu Bruch ging wie eine Keramik-Vase. Nur leider nicht für lange.

„Jetzt hab dich nicht so! Wir befreien uns ja später wieder!“ Der Vize zog kurz das Magazin aus seiner Pistole und prüfte den Füllstand. Nur noch fünf Schuss drin. Das war ganz schön wenig. Unzufrieden drückte er die Munitionsstange mit dem Handballen zurück in den Schacht und wollte weiterschießen. Aber die Waffe klickte mehrfach nur im Leerlauf. „gowno!“, fluchte er.

„Ich sagte ja, die Plastikdinger sind Einweg-Waffen“, rief Vladislav ihm zu, als wolle er damit unterstreichen, wieso er seine eigene nicht auch längst gezogen hatte. Dann musste er sich schon wieder aus den ersten gierigen Klauen losreißen, hechtete davon, weil sich ein ganzer Trupp Angreifer gleichzeitig auf ihn stürzte, und trat vorläufig die Flucht an, bis ihm etwas Effektiveres einfiel.

Das riesige, einhörnige Rhinozeros folgte ihm auf der Stelle.

Victor zog einen doppelt gesicherten Schutzschild aus Bann-Magie vor sich hoch, um sich die Angreifer von vorn vom Hals zu halten. Mit der anderen Hand erzeugte er nacheinander drei Paralyse-Fluch-Kugeln, die wie Projektile davonschossen. Er konnte sich nicht mehr darüber wundern, warum die Geschosse keine Wirkung zeigten, denn da wurde er von einem Tengu hinterrücks am Kopf getroffen und ging zu Boden. Und dort blieb er auch erstmal liegen und rührte sich nicht mehr. Zwei der Kreaturen schnappten ihn sofort an der Jeansjacke und zerrten ihn davon. Ebenso wie die beiden Mädchen, die ursprünglich mitten auf der Lichtung an den Pfahl gekettet gewesen waren und sich trotz Waleris Bemühungen schon längst wieder im Gewahrsam der seltsamen Wesen befanden.
 

Vladislav drückte sich keuchend mit dem Rücken gegen einen Baum und suchte Schutz. Aber es brachte wenig. Die übrigen Viecher folgten ihm bereits auf dem Fuß. Sein Schutzgeist Waleri nahm neben ihm wieder seine menschliche Gestalt an und schaute ebenfalls gehetzt zurück. „Alter, SIND das nun Tengu oder nicht?“, wollte Vladislav überfordert wissen.

„Ich hab keinen Schimmer. Kämpfen tun sie jedenfalls wie welche“, gab Waleri außer Atem zurück.

Vladislav deutete auf die Lichtung hinaus. „Hol Victor da raus!“

„Ich denk ja gar nicht dran!“

„Wie jetzt!? Du meuterst?“

„Bei sowas: ja!“, brummte Waleri, ergriff den Motus-Boss am Ärmel und zog ihn weiter in den Wald hinein, um vor den näher kommenden Tengu zu flüchten. „Mein Schützling bist immer noch du. Ich bin dafür verantwortlich, daß dir möglichst nichts passiert. Für den da bin ich nicht zuständig. Und in so einem Kampfgetümmel lass ich dich auch sicher nicht alleine oder geh Risiken ein! Los, weiter!“

„Waleri!“

„Der kann besser auf sich aufpassen, als wir, glaub mir!“

„Wir brauchen Victor aber noch!“, jaulte Vladislav auf.

Der Genius Intimus blieb stur. „Er wollte doch gefangen werden! Jetzt retten wir erstmal unsere eigenen Ärsche! Um Victor kümmern wir uns vielleicht später!“

Vladislav, der es nicht gewohnt war, schnell und lange zu rennen, hatte langsam nicht mehr genug Puste, um noch weiter mit seinem Schutzgeist zu streiten. Er hatte schon Mühe damit, überhaupt noch mit Waleri Schritt zu halten.
 

Die zwei Russen hetzten eine gefühlte Ewigkeit ziel- und planlos durch den Wald. Durch den Schleier von Adrenalin sah alles gleich aus. Ein Baum wie der andere, wohin sie sich auch wandten. Vladislav hatte schon längst jegliche Orientierung verloren und rannte bloß noch blindlings seinem Genius Intimus nach. Ob der noch wusste, wo er war oder wohin er sollte, oder ob der auch nur noch kopflos immer geradeaus rannte, konnte Vladislav nicht sagen. Und es war ihm auch egal. Er durfte seinen Schutzgeist im dichten Unterholz bloß nicht verlieren. Mehrmals hatte er das Gefühl, in Sicherheit zu sein und die Tengu endlich abgeschüttelt zu haben. Aber immer, wenn er sich eine kurze Atempause gönnen wollte, tauchten sie wieder auf und er rannte weiter um sein Leben. Egal wohin, nur weg. Wie groß war diese verdammte Insel? Sollten sie nicht schon längst an irgendeiner Küste sein, so weit wie sie jetzt schon gerannt waren?

„Waleri, ich kann nicht mehr weiter!“, röchelte der Boss der Motus irgendwann und ließ sich zurückfallen.

Waleri bremste, hechtete zu ihm zurück und packte ihn grob am Handgelenk. „Sei nicht albern! Komm weiter, du Pussi!“, verlangte er aufgekratzt und zerrte ihn gnadenlos mit sich davon.

„Eh, sieh mal! Da drüben ist ein Haus.“

„Glaubst du etwa, das stört diese Dinger, die uns am Arsch hängen?“

„Mir egal! Ich verschanze mich jetzt da drin. Ich renne keinen Meter mehr!“

„Wie du meinst“, gab Waleri nach und änderte die Richtung. Das war ihm lieber, als Vladislav tragen zu müssen. Zwischen den Bäumen und dem Gestrüpp kam ein flacher, grauer Betonbau ohne Fenster zum Vorschein. Er war so winzig, daß er kaum Platz für einen einzigen, vernünftigen Raum bieten konnte. „Was glaubst du, was das ist? Hat was von einem Travo-Häuschen“, stellte Waleri im Näherkommen fest.

„Mitten im Wald?“

„Ich seh hier nirgends eine Zufahrt, oder sowas.“

„Mir ist alles egal! Ich geh da rein, wenn offen ist!“, beharrte Vladislav und warf sich schwungvoll gegen die Metalltür. Tatsächlich ging die Tür auch ohne jedes Problem auf, als er die Klinke herunterdrückte. Er stolperte etwas haltlos hinein.

Sein Schutzgeist folgte ihm und krachte die Tür von innen wieder zu. „Ist hier irgendwas, um die Tür zu verbarrikadieren? ... Oha!“, machte er, als er sich umsah.
 

Für ein Bauwerk, das keine Fenster hatte, war es hier drin erstaunlich hell. Über ihnen brannte nämlich eine moderne Lampe. Die Wände waren säuberlich weiß gestrichen und der Boden ordentlich gefliest. Der Raum war komplett leer, abgesehen von einer Treppe, die nach unten führte. Das hier war nur ein Eingang, wurde den beiden klar. Was immer das hier für ein Objekt war, es lag unterirdisch und schien eine beachtliche Größe zu haben. „Also ...“, begann Waleri nach kurzem Abwägen nachdenklich. „Wir sollten nicht hier stehen bleiben und warten, ob Tengus Türen öffnen können oder nicht. Lass uns runter gehen“, entschied er. Er spürte über die mentale Verbindung, daß Vladislav damit absolut nicht einverstanden war, aber völlig hilf- und ratlos war, weil er auch keine bessere Idee hatte. Der Boss war doch ein ganz schöner Angsthase, wenn er mal selber agieren musste, statt nur von seinem Büro aus die Fäden zu ziehen. Hinzu kam ganz eindeutig noch, daß Vladislav sich ohne seinen Vize Victor Akomowarov verloren und verunsichert vorkam. Verstehen konnte Waleri ihn da sogar ein wenig. Das war immerhin Vladislavs erste echte Mission. Da durfte er noch unsicher und unprofessionell sein. Und Waleri hatte noch nie die Chance oder die Notwendigkeit gehabt, sich als Schutzgeist zu beweisen. Er hatte Vladislav noch nie ernsthaft gegen irgendetwas oder irgendjemanden verteidigen müssen. Folglich hatte Vladislav auch nie gelernt, sich auf ihn zu verlassen. Victor hatte da ganz andere Voraussetzungen. Der hatte sich schon oft genug bewährt. Auf den zählte Vladislav. „Dieser Verschlag hier scheint genutzt zu werden“, redete Waleri ihm also weiter gut zu, um ihn zum Mitkommen zu bewegen. „Hier muss doch irgendwo eine Menschenseele zu finden sein. Die werden uns schon sagen, wie wir hier wieder weg kommen.“

Vladislav nickte und atmete tief durch, bevor er sich seinem Schutzgeist anschloss und die Treppen hinunter stieg.
 

Unten erstreckten sich zunächst ein paar Meter Gang mit einer offen stehenden Tür am anderen Ende und einer geschlossenen Tür zur Linken. Durch diese offene Tür kam ihnen freudig ein wuscheliges Wesen entgegen getrabt. Es hatte langes, ockerfarbenes Fell und die Größe und Statur eines Dackels, inclusive der strubbeligen Schlappohren und der hechelnden, heraushängenden Zunge. Aber wo andere Hunde eine Schnauze hatten, hatte dieses Tierchen einen kurzen, beweglichen Rüssel, ähnlich einer Tapir-Nase, der aufgeregt in der Luft herumschnorchelte.

„Na hallo, was bist du denn für ein spaßiges Ding?“, wollte Vladislav wissen und ging in die Hocke, um dem begeistert schwanzwedelnden Tier über den Kopf zu streicheln. Das Wesen schien zutraulich zu sein. Es gab durch seinen Rüssel einen Ton von sich, der stark nach einer verstopften Trompete klang. Dann saugte es sich mit der Nase plötzlich an seinem Unterarm fest wie ein Staubsauger. „Hey!?“, machte Vladislav erschrocken und kippte beinahe nach hinten um, als er sich dem Saugrüssel zu entziehen versuchte. „Hör auf damit, lass los!“

Eeeetooooo ... konban wa?“ [Ääääh, guten Abend?], mischte sich da eine irritierte Stimme aus dem Hintergrund ein. In der Tür am Ende des Gangs war ein älterer, europäisch aussehender Herr im weißen Laborkittel erschienen. Die Jahre hatten ihm schon einen gehörigen Kahlschlag in den Scheitel getrieben, so daß er nur noch einen buschigen Kranz Haare um den Kopf herum hatte. Sein Tonfall klang eher nach einer Frage als nach einer Begrüßung. Es war offensichtlich nicht vorgesehen, hier unten Besuch zu bekommen.

Waleri grüßte auf Japanisch zurück und begann ein Gespräch mit dem Mann, um zu erfahren, wo sie hier eigentlich gelandet waren. So einen halben Bunker mitten im tiefsten Wald fand er ja schon etwas dubios. Nach einigen ruhigen, sachlichen Wortwechseln lachte er plötzlich auf. „Ihr seid Russen? Dann können wir ja auch Russisch sprechen, statt uns mühsam mit Japanisch abzuquälen.“

„Seh ich auch so. Willkommen“, meinte der grauhaarige Mann daraufhin in astreinem Russisch und lächelte leicht. „Hier hat sich ja schon ewig keiner mehr her verirrt. Vor allem kein Russe.“

Waleri wandte sich an seinen Schützling, der inzwischen wieder aufgestanden war, aber immer noch mit dem regen Interesse des Fellknäuels zu kämpfen hatte. „Wir sind hier in einer Forschungsstation gelandet“, gab er seine Erkenntnisse weiter. „Das ist Professor Doktor Hülsenkorn, ein Genetiker.“

„Sehr erfreut“, nickte Vladislav. „Warum seid ihr hier in Japan, wenn ihr Russen seid?“

„Mit unserem Forschungsschwerpunkt ist man hier ... naja ... ungestörter, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Okay, ihre Arbeit war also nicht ganz legal, ging Vladislav auf. Die Jungs waren ihm direkt sympathisch. „Habt ihr eure Einrichtung deshalb so weit hier draußen im Nirgendwo? Und ist deshalb hier alles mit Bann-Magie gesichert?“

In den Augen des Professors blitzte es kurz undeutbar auf. „Sie spüren die magischen Schwingungen hier? Sind Sie ein Magi?“

„Ja, ich bin selbst Bann-Magier“, stimmte Vladislav zu.

„Und das da ist dann folglich Ihr Schutzgeist?“

„Richtig.“

Professor Doktor Hülsenkorn nickte verstehend in sich hinein. Dann deutete er auf Vladislavs Unterarm. „Ist der Knutschfleck da von unserem Knuddelz?“, wechselte er das Thema.

„Ja.“

„Schlecht. Sein Rüssel ist giftig.“

„Wie bitte!?“, quietschte Vladislav entsetzt und schaute sich den runden Fleck nochmal genauer an, den das Tierchen auf seiner Haut hinterlassen hatte. Ihm lief es sofort eiskalt den Rücken hinunter. Sowas ließen die hier frei rumlaufen?

„Ach, nicht so wild. Das kann man recht einfach behandeln“, beruhigte der Professor ihn in relaxtem Tonfall. „Aber Sie werden wohl eine Weile hier bleiben müssen, damit wir das medizinisch versorgen können.“

„Was ist das für ein Viech!?“

„Ein Hybrid! Ein Ergebnis unserer gentechnischen Experimente. Es hat also keinen wissenschaftlichen Namen. Wie gesagt, wir nennen es 'Knuddelz'. Ist doch ein süßes Kerlchen, nicht?“

„Ja, ganz süß, dieses giftige Ding“, zynelte Vladislav. Er fand den Tapir-Dackel nach dieser Hiobsbotschaft gar nicht mehr so süß. Das Tierchen gab abermals ein fröhliches, wenn auch verstopft klingendes Tröten von sich.

wilde Zeiten

ein Jahr zuvor, Okinawa
 

„Da wären wir wieder. Willkommen am Arsch der Welt.“

Loriel seufzte nur leise und kommentierte diesen Einwurf seines Schützlings nicht. Er starrte weiter über die Reling des Bootes, mit dem sie gerade nach Okinawa übersetzten. Er wohnte auf dieser Insel. Sein Wohnsitz war da. Chippy hatte seine Wohnung auch schon ein paar Mal besucht. Aller zwei oder drei Wochen waren sie am Wochenende mal hergekommen, um in Loriels Wohnung nach dem Rechten zu sehen, wenn sie in Sapporo keine Schule hatte. Aber diesmal war es ein endgültiges Heimkommen. Loriel war nach Okinawa zurückgekehrt, um zu bleiben. Er hatte noch keine Ahnung, wie das Leben mit seinem Schützling Chippy nun weitergehen würde. Das störrische Gör war für keine Übereinkunft zugänglich. Die Magie-Ausbildung hatte sie abgebrochen. Aber einen Plan, was sie stattdessen machen wollte, hatte sie nicht.

„Müssen wir unbedingt in Ogimi wohnen bleiben? Wieso können wir nicht nach Tokyo ziehen, oder so?“, fuhr Chippy fort. „Auf Okinawa ist doch eh nichts los!“

Loriel strich sich mit einer Hand das schwarze Metallica-T-Shirt über dem runden Bierbauch glatt und wischte dabei auch gleich noch einen Krümel weg. „Wenn du die Wohnung in Tokyo bezahlst, können wir das machen“, brummte er zurück.

„Wovon denn bitte?“

„Lass dir was einfallen. Versuch´s doch mal mit ehrlicher Arbeit.“ Oh, das hätte er nicht sagen sollen. Über die mentale Verbindung zu seinem Schützling spürte er sofort eine Welle der Entrüstung herüber schwappen. Diese Bemerkung fand Chippy gar nicht lustig. Sie hasste es, wenn ihr Genius Intimus vorlaut wurde. „Komm, lass uns unseren Krempel zusammen packen. Wir legen gleich an“, lenkte er das Gespräch schnell in eine andere Richtung.

Chippy funkelte ihn nur drohend von der Seite an, bis er davon huschte, dann schaute sie kommentarlos wieder auf das Meer und das näher kommende Insel-Ufer hinaus.
 

Die Illusionistin schulterte ihren Rucksack mit den paar Habseligkeiten, die sich im Laufe der Monate derwegen angesammelt hatten, und schaute unmotiviert den Passagieren nach, die vom Schiff strömten und wie die Ameisen über den einzigen, vorhandenen Weg vom Hafen weg davon wuselten. Wer abgeholt wurde oder noch ein Taxi erwischte und sich dieses auch leisten konnte, fuhr. Alle anderen liefen eben. „Sagtest du nicht, es gäbe eine Abkürzung zur Hauptstraße?“

„Ich kann mich nicht erinnern, das behauptet zu haben.“

„Hast du auch nicht. Das war eine rethorische Frage, du Knalltüte. Aber mal im Ernst. Ogimi liegt in dieser Richtung, oder?“ Sie zeigte wage in das Bergland hinauf. „Lass uns durch den Wald gehen.“

„Halte ich für keine gute Idee“, erwiderte Loriel.

Chippy marschierte forsch voraus. „Interessiert mich nicht, was du davon hältst.“

„Bitte sehr ...“, seufzte der Schutzengel hinnehmend. „Wenn du unbedingt in Schwierigkeiten kommen willst, dann lass uns eben gehen.“ Er schaute nochmal nach dem Stand der Sonne und rief sich die Landkarte der Insel ins Gedächtnis, um eine Orientierung zu haben, denn er bezweifelte, daß Chippy wirklich ohne Hilfe durch diesen Wald finden würde. Er hatte keine Lust, am Ende noch verloren zu gehen und da drin übernachten zu müssen. „Hör mal, wenn es dir auf Okinawa nicht gefällt ...“

„Nicht gefallen?“, fiel das Mädchen ihm ins Wort. „Ich HASSE Okinawa! Allein das heiße, schwüle Tropen-Klima macht mich schon alle!“

„Wenn es dir auf Okinawa nicht gefällt ...!“, begann Loriel den Satz übertrieben betont nochmal von vorn, um zu signalisieren, daß er die Unterbrechung jetzt nicht gerade toll gefunden hatte. „... dann lass uns doch nach Nagasaki gehen.“

„Und was sollen wir da?“

„Die Süd-Schule hat da eine Außenstelle. Vielleicht gefällt es dir dort ja besser als in der Drachen-Schule im Norden.“

„Die von der Süd-Schule waren die mit der Religion und der Ethik, oder?“, wollte Chippy zweifelnd wissen. Das war nicht gerade ihr Ding.

„Aber das ist eine Elite-Schule“, flunkerte Loriel herum, in der Hoffnung, sein trotziger Schützling ließe sich vielleicht weich reden. „Die Lehrer dort sind absolute Meister. Die bringen dir vielleicht nicht solchen Quatsch bei wie in der Nord-Schule.“

„Warum gibt es eigentlich ausgerechnet eine wissenschaftliche, eine kämpferische und eine religiöse Schule für Magie? Wieso keine ... was weiß ich ... künstlerische, oder wirtschaftliche, oder so? Was macht man, wenn man in so eine Richtung will, die gar nicht angeboten wird?“

„Die Schulen sind damals von verschiedenen Interessengruppen gegründet worden. Und wenn die privat ihre eigenen Schulen betreiben, dann bringen sie ihren Schülern natürlich auch vorrangig ihre eigenen Interessenschwerpunkte nahe“, erklärte Loriel.

Tatsächlich waren sie gefühlt noch keine 200 Meter ins Unterholz vorgedrungen, da nahm ihre Reise auch schon ein jähes Ende. Vor Chippy schnellte ein Fangnetz in die Höhe und versperrte ihr den Weg. Erschrocken drehte sie sich um, aber auch hinter ihr wurden sofort Seile und Netze hochgespannt, um ihr den Weg in alle Richtungen zu versperren. Lachen wurde laut. Aus den Baumkronen und den Dickischten kamen zerlumpte, verlotterte Männer gesprungen. Viele hatten Messer in der Hand, einer sogar einen alten Revolver. Chippy zählte auf die Schnelle 7 oder 8 Kerle, vielleicht einen mehr oder weniger, das war im Getümmel schwer zu sagen.

„Ganz ruhig bleiben! Das hier ist ein Überfall!“, grinste einer der Typen und offenbarte dabei eine effektvolle Zahnlücke in den oberen Schneidezähnen. Die Lücke sah sehr draufgängerisch aus, als wäre der Zahn bei einer heroischen Prügelei ausgeschlagen worden. Tatsächlich und wahrscheinlicher ging der Verlust aber auf das Konto mangelhafter Zahnpflege.

Loriel rollte mit den Augen. Ein Überfall also. „Wär ich ja nie drauf gekommen ...“, murmelte er leise.

Mister Zahnlücke schlich mit anzüglichem Blick einmal um Chippy herum, um sie von allen Seiten zu mustern. Zugegeben, ganz unattraktiv war das Mädchen ja nicht. „Naaaa? Was ist uns denn hier Hübsches ins Netz gegangen?“

„Was wollt ihr?“, blaffte Chippy ihn genervt an.

„Gegenfrage: Was habt ihr denn zu bieten? Komm, rück alles raus, was du hast!“

„Mein angebissenes Mittags-Brötchen? Das kannst du gern haben!“

„Oh, so viel?“, scherzte der Wegelagerer unbeeindruckt. Er schien hier für alle zu sprechen. Augenscheinlich war er der Anführer von dieser Vagabunden-Truppe.

„Ihr wollt doch nicht etwa Geld, oder? Sehen wir aus, als ob wir Geld hätten?“

Der schmierige Geselle fingerte interessiert an einer ihrer Haarsträhnen herum, als wolle er prüfen, wie weich die Haare waren, oder ob sie lila Spitzen abfärbten. „Nun, wenn ihr nichts habt ... dann behalten wir eben dich. Für so süße Mädchen haben wir Verwendung.“ Er schnippste mit den Fingern und gab seinen Leuten ein Handzeichen in Richtung seiner neuen Geiseln, woraufhin sich die Männer euphorisch und johlend auf sie und Loriel stürzten.
 

Chippy schob gehörig schlechte Laune. Da saß sie nun gefesselt in einem Räuberlager mitten im Wald, Rücken an Rücken mit Loriel zusammengebunden, und zur Untätigkeit verdammt. Unfassbar. Und das, obwohl sie einen Schutzgeist an der Backe hatte. Sie hatte ja schon immer gesagt, daß der zu nichts taugte. Aber, daß er so dermaßen unnütz war, hätte selbst sie nicht für möglich gehalten. „Ein ganz großartiger Schutzengel bist du! Wirklich!“, maulte sie sarkastisch. Das erste Wort, das sie wieder mit ihm wechselte, seit sie gefesselt und weggeschleppt worden waren.

Loriel sah das sehr viel entspannter. Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Du wusstest doch, daß ich nicht kämpfen kann.“

„Wozu hab ich dich denn dann, zur Hölle?“

„Ich hab dir gesagt, daß es eine blöde Idee ist, durch den Wald zu gehen. Aber du musstest ja trotzdem loslaufen. Wie heißt es so schön? Tadel nicht den Fluss, wenn du ins Wasser fällst.“

„Ach, halt die Klappe! Halt einfach die Klappe, du nichtsnutzige Bierwampe! Sei froh, daß ich gerade gefesselt bin, sonst könntest du was erleben!“

„Na! Na! Der Zorn steht dir nicht gut“, scherzte der Räuberhäuptling mit der Zahnlücke, der sich ihnen inzwischen als Yagi vorgestellt hatte, als er in diesem Moment zufällig vorbei ging und sie zetern hörte.

„Du sei mal auch schön still! Ihr habt ja keine Ahnung, wer ich bin und mit welchen Mächten ihr euch angelegt habt!“

Yagi ging schmunzelnd vor ihr in die Hocke, damit er mit ihr auf Augenhöhe war. „Dann klär mich doch mal auf, Kleine.“

Ein weiteres Mitglied der Bande gesellte sich dazu, den die Antwort auch interessierte. Loriel spürte schon vorher, daß Chippy sich herausgefordert fühlte und diese Herausforderung auch gern annahm. Eine gewisse Überheblichkeit und bodenlose Selbstsicherheit kochte in ihr hoch. Aber obwohl Loriel auf eine entsprechende Antwort gefasst war, wandte er ungläubig den Kopf zu ihr nach hinten um, als er die Worte aus ihrem Mund allen Ernstes vernahm.

„Ich bin eine Seegöttin!“ stellte das Rocker-Mädchen klar. „Ich beherrsche das Wasser! Und ich schwöre euch, daß ich euch von dieser verdammten Insel spülen werde, wenn ihr mich nicht sofort losbindet!“

Schallendes Lachen brandete auf. Die Diebe fanden das ausgesprochen lustig und kauften ihr das natürlich nicht sofort ab. Welcher Mensch mit Verstand hätte das auch getan? Als Chippy daraufhin aber wirklich mehrere gewaltige Wasserfontainen aus dem Boden schießen ließ, blieb ihnen das Lachen im Hals stecken. Die Wassersäulen bäumten sich meterhoch senkrecht auf wie Geysire und rissen Blätter und Äste aus den Baumkronen. Die Männer wichen schockiert zurück. Als aus den Fontainen dann auch noch humanoide Wassergestalten heraustraten, die auf zwei Beinen frei herum zu laufen begannen, rannten sie schreiend davon. Die wussten ja nicht, daß das bloß magische Illusionen waren. Nach kaum ein paar Sekunden saßen Chippy und Loriel allein in dem Lager. Dummerweise immer noch aneinander gefesselt und gut verschnürt.

„Große Show ...“, kommentierte Loriel trocken. „Was hast du dir dabei jetzt gedacht?“

„Ich hab mir gar nichts dabei gedacht! Ich wollte einfach bloß lebend und unversehrt hier weg kommen! Da du nicht in der Lage dazu bist, uns hier raus zu holen, muss ich mir ja offenbar selber was einfallen lassen.“

„Japp. Bist du ein Kind Gottes, dann hilf dir selbst“, erwiderte Loriel sarkastisch. „Und? Wie geht´s jetzt weiter?“
 

Außer Atem versteckten sich Yagi und seine Leute hinter einem Felsvorsprung und rangen erstmal um Fassung. Sie lebten schon seit Jahren im Wald und überfielen alles, was ihnen über den Weg lief. Sie hatten auch schon Geiseln genommen und gutes Lösegeld dafür herausgeschlagen. Aber so eine Person war ihnen noch nie ins Netz gegangen. Dieses Mädchen hatte übernatürliche Kräfte!

„Sind die Dinger weg???“

„Ha-Habt ihr das gesehen?“, bibberte einer der Gauner.

„Ja, Mann! Was in aller Welt war das?“

„Die sahen aus wie Menschen aus purem Wasser! Ich konnte durch sie durchgucken!“

„War das dieses Kind?“

„Sie sagte, sie ist eine Seegöttin.“

„Offenbar hat sie damit nicht mal ganz gelogen“, warf Yagi ein, fasste sich wieder und nahm etwas Haltung an, um den großen Anführer und Herrn der Lage raushängen zu lassen und seine Männer wieder zur Ruhe zu bringen.

„Na, und was jetzt?“

„Ich geh nicht mehr in das Lager zurück!“

„Was sollen wir mit ihr machen?“

„Freilassen, Mensch! Was denn sonst? Bist du lebensmüde?“, verlangte einer.

Yagi schüttelte den Kopf. „Wir haben uns nur erschrecken lassen. Ich bin sicher, so gefährlich ist sie gar nicht. Aber mit diesen Fähigkeiten, die sie hat, kann man sie sicher teuer verkaufen. Ich kann mir vorstellen, daß jemand militärisches Interesse an solchen übernatürlichen Kräften hat.“

„Die ist eine Göttin!“, echauffierte sich einer der Männer.

Die Debatte ging eine ganze Weile angeheizt weiter. Manche beharrten darauf, daß das Mädchen eine Seegottheit sein müsse, andere tippten auf etwas weniger hochtrabendes wie etwa eine Yokai oder einen Tiergeist. Wirklich Ahnung hatte aber keiner von diesem Thema. Nur ein paar wenige der Männer kannten zumindest alte Geschichten über Dämonen aus früheren Zeiten. Eine Menge Schiss hatten sie dafür alle miteinander. Ob man eine Gottheit nun gefangen halten und verkaufen durfte oder besser wieder freilassen sollte, oder vielleicht sogar töten sollte, wenn man konnte, darüber teilten sich die Meinungen gehörig. Unter welcher Bedingung war ihnen der Zorn dieser 'Gottheit' am wenigsten gewiss?

„Wir sollten abstimmen, was wir mit ihr machen!“, verlangte jemand.

„Wo gibt´s denn sowas? Seit wann geht es in unserer Bande demokratisch zu?“, wollte Yagi wissen und zog drohend Luft durch seine Zahnlücke.

„Nagut, was schlägst du also vor, Chef?“

„Hmmmm ...“ Der Räuberhäuptling verschränkte die Arme und senkte theatralisch das Kinn auf die Brust, als müsse er nachdenken. „Ich habe mir eure Argumente sorgsam angehört und abgewogen“, begann er gebieterisch. Da konnte er eine Drama-Queen sein, wenn er wollte. „Und ich sage ... ääääh ... wir sollten sie in unsere Bande aufnehmen! Als Mitglied unserer Truppe ist sie uns am nützlichsten! Solche Wunder, die sie bewerkstelligen kann, müssen wir uns doch zu Nutze machen!“

Jubel brach aus. Diese Idee fanden die naiven Genossen alle gut und feierten ihren klugen Anführer auf dem Weg zurück ins Lager gehörig.

gründlicher Check

jetzt, Kunigami auf Okinawa, Forschungsstation
 

„Na, dann kommen Sie mal rein in die gute Stube“, bat Professor Doktor Hülsenkorn gut gelaunt und wendete in der Tür wieder. Das Knuddelz trabte ihm eilig hinterher, überholte ihn und schnippelte ihm quer vor die Füße, um schneller in den dahinter liegenden Raum zu gelangen als er.

„Es könnte sein, daß es hier gleich ungemütlich wird“, rief Vladislav ihm nach. „Wir haben uns auf der Flucht vor ein paar seltsamen Kreaturen hier rein gerettet. Die sind immer noch da draußen. Ich hoffe, die kommen nicht hier runter.“

Der Professor schmunzelte leicht. „Sie haben also schon Bekanntschaft mit dem Volk aus den Bergen gemacht?“

„Wisst ihr etwas über die?“

„Ja. Garstige Zeitgenossen. Aber keine Sorge, unter die Erde kommen die nicht.“

Sie spazierten durch ein Labor voller Reagenzgläser, Zentrifugen, Messgeräte, Verdunstungskolben mit kochenden Flüssigkeiten und jeder Menge anderer medizinisch-technischer Vorrichtungen. An der Wand stand eine riesige Glasvitrine mit Glasflaschen, Präparaten und beschrifteten Proben. In der Ecke summte ein Kühlschrank. Mitten in dem Piepsen, Klirren und Brodeln spazierte noch ein weiterer Mann mit weißem Laborkittel und Klemmmappe herum, der fragend hochschaute.

„Darf ich vorstellen? Mein Kollege, Herr Doktor Bürstenbein. ... Herr Kollege Doktor Bürstenbein, wir haben Besuch. Das sind ein Bann-Magier und sein Genius Intimus, die sich auf der Flucht vor dem Volk aus den Bergen in unsere heiligen Hallen gerettet haben. Die beiden sind Russen, wie wir.“

Der Doktor mit dem Turm krauser Haare und der Hornbrille nickte nur verstehend und legte ein fast begeistertes Lächeln auf. „Magier? Wie schön. Willkommen!“

Vladislav verengte ein wenig die Augen. Professor Doktor Hülsenkorn und Doktor Bürstenbein. Diese Namen waren einfach zu skurril.

„Und wie dürfen wir Sie nennen?“, wollte Doktor Bürstenbein wissen.

„Äh ... sagt einfach Mika zu mir“, schlug Vladislav vor. Das war der Name, den sein Urkundenfälscher Artjom ihm in den falschen Reisepass geschrieben hatte. So würden wenigstens keine blöden Fragen aufkommen, sollte irgendjemand den Reisepass versehentlich mal in die Finger kriegen. „Und mein Schutzgeist hier ist Rhino“, fuhr er fort, in Anlehnung an die Tatsache, daß Waleri eben ein einhörniges Rhinozeros war. Rhino klang nach einem Code-Namen und das war auch gut so, denn alle Genii arbeiteten gegenüber Fremden mit Code-Namen, um sich nicht zu gefährden. „Seid ihr auch Magier?“

„Nein.“ Doktor Bürstenbein schüttelte lächelnd den Kopf. „Wir sind nur ganz gewöhnliche Menschen, die sich der Genmanipulation verschrieben haben.“

„Nun gut, Mika. Dürfte ich Sie bitten, kurz hier Platz zu nehmen?“, mischte sich Professor Doktor Hülsenkorn wieder von der Seite ein und deutete auf eine Liege. „Dann kümmere ich mich gleich um Ihre Vergiftung.“ Mit diesen Worten verschwand er in einem angrenzenden Raum.

Sein Kollege Doktor Bürstenbein schloss sich ihm an.

Mangels anderer Sitzgelegenheiten pflanzten sich Vladislav und Waleri beide auf die Liege und warteten geduldig. Abgesehen davon gab es hier nämlich nur noch einen Drehstuhl an einem Computer, und dort wollte sich nun gerade keiner der beiden niederlassen, auch wenn die Simulation, die darauf lief, sehr faszinierend aussah. Vladislav ließ die Beine baumeln und den Blick durch das Labor schweifen. „Glaubst du, Victor lebt noch?“, wollte er leise von seinem Schutzgeist wissen.

„Da bin ich ganz zuversichtlich. Sollte mich schon arg wundern, wenn der sich einfach umbringen lässt.“

„Oh Mann, da hab ich mich ja in was reingeritten. Ich dachte nicht, daß meine erste Mission gleich so eskalieren würde. Ich dachte, wir hören uns hier ein bisschen um, entscheiden ob es in Japan irgendwelche Viecher gibt, die man auf die blaue oder schwarze Liste setzen sollte, und dann fliegen wir wieder heim.“

„Wenn du dachtest, daß es so einfach wird, warum hast du Victor dann mitgeschleppt?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht, weil er schon genug Erfahrung mit sowas hat.“

„Ich bin jahrelang in Japan gewesen. Ich hätte dir genauso gut sagen können, wie hier alles funktioniert“, schmollte Waleri.

„Und? Hat es mir was gebracht?“

„Durchaus. Im Gegensatz zu Victor sind wir nicht gefangen worden!“

„Ja, weil du dich geweigert hast, ihm zu helfen, du Held.“

„Er WOLLTE sich doch fangen lassen!“

„Na, dann prahle nicht damit, wie großartig wir sind, nur weil wir noch frei sind“, hielt Vladislav ruhig aber ernst dagegen.

Waleri holte tief Luft, um zurück zu schießen, kam aber nicht mehr dazu, weil die zwei Laborkittelträger den Raum wieder betraten.
 

Professor Doktor Hülsenkorn mit dem kahlen Kopf brachte eine steril verpackte Kanüle und ein Röhrchen mit Schraubverschluss. „So. Dann werde ich Ihnen erstmal eine Blutprobe abnehmen, was? ... Werter Kollege Doktor Bürstenbein, wären Sie vielleicht so freundlich, mir zu assistieren?“

„Aber natürlich, Herr Professor Doktor Hülsenkorn. Es wäre mir eine Ehre.“

Die beiden Forscher desinfizierten Vladislavs Ellenbeuge, pieksten ihn fachmännisch mit der Nadel an und zapften ihm ein volles Röhrchen Blut ab. Eine Sache von Sekunden, wie sich das für Profis gehörte. Einer drückte ihm einen Wattebausch auf die Einstichstelle, um die Blutung wieder zu stoppen.

„Ganz herausragende Arbeit, Herr Professor Doktor Hülsenkorn!“, lobte der eine.

„Vielen herzlichen Dank, Herr Doktor Bürstenbein.“

Waleri verdrehte genervt die Augen. Wenn die zwei sich auch weiterhin so gegenseitig beweihräucherten, kam ihm noch das letzte Essen wieder hoch. Das war ja schlimmer als eine Liebesschmalze.

„Wir bestimmen anhand der Blutwerte, wie viel Gift Sie von unserem kleinen Knuddelz abbekommen haben. Wenn das Gegenmittel nämlich überdosiert wird, hat es sehr unschöne Nebenwirkungen, die wir Ihnen gern ersparen wollen“, klärte Professor Doktor Hülsenkorn ihn auf und wedelte dabei vielsagend mit Vladislavs Blutprobe. „Und wenn es zu niedrig dosiert wird ... naja ... Sie verstehen schon.“

Der nickte lediglich einverstanden.

„Wie schnell wirkt das Gift denn?“, verlangte Waleri zu wissen.

„Ach, so schnell nun auch wieder nicht. Ihr Kollege wird nicht gleich tot umfallen. Wenn die Menge Gift nicht hoch genug war, verläuft das Ganze nicht mal tötlich, sondern nur wie eine deftige Grippe mit Fieber, Magenbeschwerden und Gliederschmerzen.“

„Ich möchte euch auch strengstens geraten haben, daß das nicht tötlich verläuft. Sonst gibt es hier noch mehr Tote, das schwöre ich euch!“

„Keine Sorge“, lächelte der Professor humorvoll.

Vladislav und Waleri zogen synchron ihre Füße in die Luft, als der Dackel-Hybrid mit wedelndem Schwanz angetrabt kam, in der Hoffnung, von irgendwem geknuddelt zu werden. Keiner von ihnen wollte wieder mit dem giftigen Rüsseltier in Kontakt kommen.
 

Doktor Bürstenbein mit den wildwuchernden, krausen Haaren und der Hornbrille war schon eine ganze Weile mit einem Mikroskop zugange, forschte an irgendetwas herum und stand nicht für Plaudereien zur Verfügung. Professor Doktor Hülsenkorn hatte sich mit Vladislavs Blutprobe in einen Nebenraum verzogen und betrieb wohl die nötigen Labortests. Insgesamt war es furchtbar langweilig hier. Vladislav hatte sich auf seiner Liege lang ausgestreckt und die Hände im Genick verschränkt. Sein Genius Intimus spazierte ungestört im ganzen Labor herum und sah sich alles an, stets verfolgt von dem Knuddelz, das sich wohl genauso langweilte und auf Beschäftigung hoffte. Leider erfolglos. Waleri ignorierte das Tier, wenn er konnte, beziehungsweise hielt es sich vom Leib, soweit es nötig und der Gesundheit zuträglicher war.

Vladislav rutschte etwas an die Wand, um seinem Schutzgeist Platz zu machen, als der irgendwann zurück kam, damit er sich wenigstens noch zu ihm auf die Kante setzen konnte. Sonst hätte er die Liege komplett allein beschlagnahmt, so wie er sich hier inzwischen ausgebreitet hatte.

Waleri schaute ihn mit einem auffallend fragenden Blick an, der auch ohne Wort genug sagte. Er spürte schon die ganze Zeit einen stärker werdenden Unwillen, beinahe Argwohn, in seinem Schützling aufkeimen.

Der Boss der Motus schüttelte den Kopf. „Später“, raunte er leise zurück. Er wollte nicht, daß dieser Doktor drüben am Mikroskop mithörte.

Professor Doktor Hülsenkorn kam zurück, schnappte sich am gekachelten Labortisch eine große Dose mit irgendeinem Pulver, einen Spatel, eine Waage und Kapselrohlinge, um daraus Medikamente zu machen. Er vermischte das Pulver mit irgendeinem anderen Wirkstoff, brannte es über einem Bunsenbrenner zu bröckeligem Granulat, dosierte das Zeug dann in die winzigen Gelantine-Hülsen und steckte die Hälften zu ganzen Kapseln zusammen, die man einfach schlucken konnte. Davon brachte er Vladislav schließlich einen halben Becher voll. „So~“, grüßte er fröhlich. „ya vernulsy. [Da wäre ich wieder.] Ich habe das Gegenmittel auf die Dosis Gift abgestimmt, die Sie sich eingefangen haben. Die hier reichen erstmal eine Weile. Wenn sie alle sind, mach ich neue. Nehmen Sie davon jede Stunde eine.“

„So einfach ist das?“, witzelte Vladislav herum.

„Nun, ich könnte Sie auch an die Dialyse anschließen und einer kompletten Blutwäsche unterziehen, wenn Ihnen diese Prozedur lieber ist.“

„Sowas haben Sie hier unten?“

„Sie würden staunen, was wir hier alles für Gerätschaften haben“, schmunzelte der kahlköpfige Professor. „Als Genetiker muss man auf alle möglichen Testverfahren vorbereitet sein, um an seine Ergebnisse zu kommen.“

Vladislav hob den Becher voll Pillen kurz dankend hoch und warf sich die erste davon ein. Dabei schielte er mit einem halben Auge auf die Uhr, wann er die nächste würde nehmen müssen.

„Ich würde Sie gern ans EKG und ans EEG anschließen, wenn das für Sie in Ordnung ist. Auch wenn wir Ihnen Gegenmittel verabreichen, müssen wir Ihre Vitalfunktionen unter Beobachtung halten, damit sich das Gift nicht unbemerkt irgendwo festsetzt und sich auf irgendwas auswirkt.“

„Wenn das so ist, dann bin ich natürlich dafür.“

„Können Sie mich auch mal an sowas anstöpseln?“, wollte Waleri wissen.

„Klar, warum nicht. Haben Sie etwa gesundheitliche Beschwerden?“

„Nö. Ich bin bloß neugierig. Ich hing noch nie an solchen Dingern.“

Professor Doktor Hülsenkorn nickte väterlich, wie nur Ärzte es konnten. „Meinen Glückwunsch, wenn sich das noch nie erforderlich gemacht hat. Dann scheinen Sie mir eine robuste Gesundheit zu haben. Ich hoffe, Sie sind nicht enttäuscht, wenn ich Sie an die Geräte anschließe. Sehr spektakulär ist das nicht.“

„Möglich. Aber wann hat man schonmal ohne Grund so eine Gelegenheit?“

„Also wenn Sie möchten, kann ich Sie gern mal ins MRT schieben. Das ist schon eher eine Erfahrung.“

„Au ja!“, jubelte der Genius sensationslüstern. Seine Augen strahlten voller Vorfreude.

Vladislav zog eine Augenbraue hoch. „Sowas haben Sie hier auch?“

„Ja. Und für Sie müssen wir das Ding jetzt sowieso anwerfen. Ihnen blüht das nämlich auch noch, damit wir die Wirkung des Giftes und des Gegengiftes im Auge behalten können.“

klare Verhältnisse

ein Jahr zuvor, Ogimi auf Okinawa
 

Yagi knotete die Fesseln auf und wickelte seine Geiseln aus den Seilen aus, mit denen sie gründlich eingeschnürt waren. „Entschuldige das Missverständnis“, meinte er dabei reumütig. „Wir hatten ja keine Ahnung. Jemanden wie dich werden wir natürlich nicht gefangen halten.“

„Wird auch Zeit“, grummelte Chippy und bewegte ihre steifen, schmerzenden Glieder durch. Endlich konnte sie sich wieder rühren.

„Ich hoffe, du kannst uns das verzeihen. Wir möchten das gern wieder gut machen!“

„Ah ja? ... Da bin ich aber gespannt, wie ihr das hinkriegen wollt.“

„Lass uns dein Gefolge sein“, schlug der lückenzähnige Anführer der Ganovenbande euphorisch vor. „Wir wollen dir dienen, große Seegöttin, okay?“ Seine Leute, die hinter ihm standen, nickten allesamt eifrig.

„Mir dienen?“, wiederholte das Mädchen verblüfft. Sie musste erstmal innerlich abwägen, ob die das ernst meinen konnten, oder ob sie auf den Arm genommen wurde. Vom Gefangenen direkterweise zum Herrscher, das war mal eine coole Karriere. Hatte sie diese Witzbolde tatsächlich so massiv beeindruckt? Für sie selbst war Magie ja inzwischen nichts Außergewöhnliches mehr. Aber bei anderen, die nie damit zu tun hatten, konnte das durchaus vorkommen ...

Yagi, der inzwischen auch den bierbäuchigen Schutzgeist losmachte, gab einen bekräftigenden Laut von sich. „Du bist mächtig und hast unglaubliche Fähigkeiten. Wir bewundern dich, auch wenn du uns erstmal ganz schön erschreckt hast. Jemanden wie dich wollen wir als Anführer haben. Wir werden jeden deiner Befehle befolgen.“

„Schön. ... Dann zuerst mal meinen Rucksack her!“, verlangte Chippy.

„Natürlich, sofort!“

Einer der Männer rannte los und holte das Gepäck der beiden, das zwar inzwischen durchwühlt und unordentlich, aber mangels Wert immer noch vollständig war. Die einzige Jacke, die fehlte, weil einer der Wegelagerer sie inzwischen trug, wurde schnell wieder ausgezogen und dazu gelegt.

„Habt ihr was zu essen?“, fuhr Chippy zufrieden fort.

„Im Moment haben wir nur ein paar Äpfel, aber die sollen dir gehören! Wir müssen erst was Neues klauen.“

„Und Geld?“

„Auch davon werden wir dir alles geben, was wir haben. Äh, Shoji, Ohara, holt doch mal die Schatzkiste her!“, trug Yagi seinen Leuten auf, von denen die zwei Angesprochenen auch sogleich bereitwillig davonflitzten.

Das jugendliche Straßenmädchen musste hart an sich halten, nicht zu lachen. Diese Situation war einfach zu genial. Sie, eine Anführerin! Das hatte was von einer Straßen-Gang. Sowas kannte sie und kam damit klar, daher gefiel ihr die Idee. Chippy hob vom Boden einen hölzernen Prügel auf, den einer der Männer hatte herumliegen lassen, und betrachtete ihn interessiert. Dafür würde sie gute Verwendung haben. Das war jetzt ihrer, entschied sie.

„Wie dürfen wir dich ansprechen, große Seegöttin?“

Sie biss herzhaft in einen der Äpfel, die man ihr inzwischen gebracht hatte. Äpfel waren in Japan richtig heftig teuer. Sowas Feines hatte sie in ihrem Leben noch nicht oft in die Finger bekommen. „Für euch bin ich ab jetzt Lord-Lady Chippy.“

Hinter ihr vernahm man ein kurzes, nasales Prusten, als Loriel sich das Lachen zu verkneifen versuchte. Lord-Lady? Bitte was?

Chippy wandte sich böse zu ihm um. „Für dich auch, Freundchen!“, stellte sie, mit dem angebissenen Apfel auf ihn zeigend, klar.

Der Shogu Tenshi nickte nur hämisch grinsend. „Is' klar.“ Er verzichtete darauf, hier einige Dinge klar zu stellen. Sie war keine Seegöttin. Und wenn sie eine wäre, hätten die Vagabunden wohl gehörig ein paar Höflichkeitsstufen zulegen müssen und sie eher mit 'Sie' als mit 'Du' ansprechen sollen. Aber sowohl die heimatlos im Wald lebenden Kerle als auch Chippy als Straßenkind waren einfach nicht sozialisiert genug, um auf solche Feinheiten zu achten. Mal ganz davon abgesehen, daß 'Lord-Lady' ein ziemlicher Fantasie-Titel war, den es gar nicht gab.

„Und? Wirst du dich uns anschließen und bleiben, Lord-Lady Chippy?“, rückversicherte sich der Räuberhäuptling.

„Vielleicht. Können wir irgendwo reden?“, wollte sie selbstsicher wissen und biss wieder in ihren Apfel.
 

Loriel langweilte sich. Er saß am Rand, auf dem blanken Waldboden, mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt, und starrte in die Baumkronen hinauf. Chippy hing schon seit über zwei Stunden mit diesen Verbrechern zusammen und besprach Details für die nähere Zukunft. Und er, ihr Schutzgeist, musste froh sein, wenigstens in Sichtweite bleiben zu dürfen, um bei Gefahr einschreiten zu können. Da Chippy meinte, er könne sie ohnehin nicht verteidigen, hätte sie ihn ja am liebsten ganz weg geschickt. Sie schien die Sache mit der Seegöttin tatsächlich durchziehen zu wollen. Was ursprünglich ein Bluff gewesen war, um sich aus den Fängen dieser Bande zu befreien, war inzwischen zu einem ernsthaften Zukunftsplan geworden. Sie erwog wirklich, hier bei diesen schmierigen Kerlen zu bleiben. Da sie ihr Leben lang ein Straßenkind gewesen war und nie eine feste Bleibe gehabt hatte, hatte sie wohl auch kein Problem damit, im Wald zu hausen.

Loriel seufzte leise. Wie schön hätte das Leben sein können? Er hätte schon seit Monaten ein Cherube sein können. Hätte auf die Astralebene wechseln, dort bleiben und der irdischen Welt den Rücken kehren können. Aber nein, stattdessen musste er sich 14 Tage vorher noch einen neuen Schützling einhandeln und in der Menschenwelt bleiben. Selbst das wäre auch nur halb so schlimm gewesen, wenn es nicht gerade jemand wie Chippy gewesen wäre.

Chippy riss den Engel aus seinen Gedanken, als sie endlich zurück kam und sich wieder zu ihm gesellte. Sie blieb vor ihm stehen und lehnte sich auf den Holzprügel, ihr neues Spielzeug, wie auf einen Spazierstock.

„Und? Bist du nun Räuberhäuptling?“, erkundigte sich Loriel halbherzig weil frei von jeder Begeisterung. Nicht weniger unwillig bemerkte er das viele Goldgeschmeide, mit dem sie sich inzwischen behangen hatte. Diese Halunken schienen schon so einige erfolgreiche Raubzüge hinter sich zu haben.

„Ja, bin ich. Wir bleiben hier.“

„Ist nicht dein Ernst ...“, stöhnte er. Auch wenn er es beinahe geahnt hatte, hatte sich doch noch ein Funken Rest-Hoffnung gehalten, der nun verpuffte. Was in Gottes Namen wollte sie denn hier? Er hatte in Ogimi eine Wohnung und genug Geld, damit sie auch ohne kriminelle Machenschaften ein bequemes Leben führen konnten. Musste sie denn um jeden Preis zurück in ihr altes, obdachloses Dasein? Da hatte er ja vielleicht gar keinen Bock drauf!

„So, jetzt zu dir!“, wechselte sie theatralisch das Thema, holte mit ihrem Holzknüppel aus und schlug ihn Loriel ungebremst gegen die Schulter.

Er zuckte vor dem unerwarteten Schmerz so heftig weg, daß er fast zur Seite kippte. Dann rappelte er sich schnell vom Boden hoch in eine stehende Haltung. „Aua! Spinnst du jetzt völlig? Das tut weh!“, empörte er sich und rieb sich den Oberarm.

„Gut! Soll es auch!“, stellte sie klar und zog ihm das Holz gleich nochmal über. Da er sich reflexartig wegdrehte, um in Deckung zu gehen, traf sie ihn diesmal mit voller Wucht im Rücken und prügelte damit ein schmerzliches Stöhnen aus ihm heraus, bevor er in die Knie brach.

„Chippy!“

„Schnauze!“, verlangte sie böse. „Du wirst jetzt die Klappe halten und zuhören! Der nächste trifft am Kopf, wenn du Zicken machst!“, drohte das Rocker-Mädchen und fuchtelte mit dem Ende ihres Knüppels in Richtung seines Gesichtes.

Loriel hatte keinen Zweifel daran, daß sie das ernst meinte und wahr machte, also sagte er wirklich kein Wort mehr, sondern starrte sie nur völlig entgeistert und fassungslos an. Sie prügelte ihren eigenen Genius Intimus? Also so richtig gewollt und ernsthaft? Das war unglaublich. Das hatte er bisher noch nie erlebt, weder an sich selbst, noch bei anderen. In den ganzen 500 Jahren nicht, die er schon lebte. Schutzgeister waren schon gut und gerne mal das persönliche Eigentum ihrer Schützlinge und hatten nach deren Pfeife zu tanzen. Aber so schlecht behandelt wurden sie dann üblicherweise doch nicht.

„Ab jetzt herrschen hier andere Sitten!“, tat Chippy in einem Tonfall kund, der jedes Widerwort sofort unterband. „Wir leben ab sofort bei diesen Männern hier. Ich werde sie anführen und befehligen. Und dich will ich dabei nicht in der Quere haben. Du wirst ab jetzt schweigen, hast du das verstanden? Du wirst dich nirgends einmischen, es sei denn ich trage es dir auf; du wirst mich nicht unaufgefordert dumm vollquatschen, es sei denn ich stelle dir eine ausdrückliche Frage; und du wirst auch mit den Männern kein Wort reden. Die sehen in mir eine Seegöttin, der sie gehorchen müssen, und ich will, daß das auch so bleibt. Wenn du ihnen irgendwas Gegenteiliges klar machst, kannst du dein blaues Wunder erleben.“ Das Mädchen hob wieder den Prügel, um zu verdeutlichen, in welcher Form dieses blaue Wunder eintreten würde.

Loriel nickte nur, eher aus Reflex, weniger aus Zustimmung.

„Ich will dich am liebsten gar nicht mehr hören und sehen. Aber da wir nun mal über das blöde, silberne Band miteinander verbunden sind, werde ich dich ja leider nicht los und muss dich weiter ertragen. Sei sicher, daß du mir völlig egal bist. Es sei denn, du machst mir Probleme. Dann wird aus dem 'egal' etwas Schlimmeres, glaub mir!“

Der Schutzengel verschränkte mit einem unglücklichen Durchatmen die Arme. „Darf ich fragen, warum?“

„Warum!?“, begehrte Chippy auf und erweckte den Eindruck, als ob sie ihm alleine für diese Frage schon die nächste Tracht Prügel verabfolgen müsste. „Das fragst du allen Ernstes, nachdem ich schon dreimal in echter Gefahr geschwebt habe und du es kein einziges Mal geschafft hast, mir zu helfen? Du bist absolut nutzlos! Nicht nur als Schutzengel, sondern einfach in allem! Du kannst gar nichts! Du taugst nichtmal zum Ficken! So alt und fett und hässlich, wie du bist, würde einem dabei ja das Kotzen kommen!“

Loriel blieb die Luft weg. ... das ... das hatte sie jetzt nicht wirklich gesagt! Er hatte sich verhört, ganz sicher. „Chippy ... was ...“

Sie schlug ihm abermals den Holzknüppel auf die zwölf. Da er schnell die Arme um den Kopf schlang, traf sie ihn wenigstens nicht am Schädel, aber trotzdem tat es weh genug. Übrigens nicht nur körperlich. „Lord-Lady Chippy, wenn ich bitten darf!“, korrigierte sie ihn streng.

„Meinetwegen. Aber was zur Hölle willst du denn hier im Wald?“, verlangte er verständnislos zu wissen. Dabei kämpfte er sich endlich wieder auf die Beine. Er wollte nicht mehr vor ihr auf dem Boden knien.

„Diese Männer beschaffen mir Essen, sie beschaffen mir Geld, und alles was ich sonst noch haben will. Und sie hören auf´s Wort. So ein cooles Leben wie hier hatte ich noch nie! Essen und Geld habe ich meinen Lebtag noch nicht gehabt.“

„Aber ...“ Loriel brach seinen Einwand sofort ab und zog den Kopf ein, als ihr Holzknüppel wieder drohend hochschnellte. Langsam begriff er, daß mit diesem Kind tatsächlich nicht mehr zu diskutieren war. Er konnte sich nur in sein Schicksal fügen und hoffen, daß Chippy irgendwann von selber wieder zur Vernunft kam. Das einzige, was ihm noch blieb, war der frevelhafte Deal 'Mach mir keinen Ärger, dann mach ich dir auch keinen'.

„Gut. Und ab jetzt sprichst du nur noch, wenn du gefragt wirst!“, erinnerte Chippy ihn, als sie diese einsetzende Resignation bemerkte, ließ ihn endlich wieder in Frieden und ging.

Loriel schaute ihr hilflos und überfordert hinterher. Was in aller Welt war das gewesen? Sie war ja schon von Anfang an eigenwillig und unbeugsam gewesen. Aber das hier wuchs sich langsam zu Größenwahn aus.

dunkle Geheimnisse

jetzt, Kunigami auf Okinawa, Forschungsstation
 

Vladislav lag halb aufgerichtet in einer Art Liegestuhl und musterte emotionslos die Elektroden auf seiner nackten Brust. Toll fand er es nicht, aber das lag eher an seiner ganzen Situation als an diesen konkreten Elektroden. Es half ja nichts. Das EKG wurde neben ihm auf einem Computermonitor mitprotokolliert.

Sein Schutzgeist stand mit verschränkten Armen daneben und beobachtete das Spektakel ebenfalls, wenn auch ungleich faszinierter. Er war schon total gespannt drauf, wie das bei ihm selber nachher aussehen würde. Teils lächelnd, teils fragend schaute er auf Vladislav hinunter, wie um sich zu erkundigen, wie es ihm inzwischen ging.

„Bisher merke ich nichts von einer Vergiftung“, meinte der Motus-Boss beruhigend, auch wenn Waleri über das silbere Band sowieso spürte, ob es seinem Schützling gut oder schlecht ging. Dennoch freute er sich insgeheim ein wenig über das Interesse.

„Hoffen wir, daß es so bleibt“, erwiderte Waleri.

Der Boss nickte. Er merkte auf, als Professor Doktor Hülsenkorn mit einem Klemmbrett den Raum verließ. Er war kurzzeitig mit seinem Genius allein. Endlich! Auf diese Chance hatte er ja lange genug warten müssen. „Eh, pssst! Waleri?“

„Hm?“ Der bullige Glatzkopf schaute fragend vom Monitor wieder herum.

„Du bist doch vorhin in der ganzen Station rumgelaufen, oder?“

„Naja, soweit es möglich war. Es gab zwei abgesperrte Türen, durch die ich nicht weiter kam.“

„Aha? Und findest du hier nicht irgendwas seltsam?“

Waleri ließ den Blick durch den Raum schweifen, als müsse er da erst nochmal genau nachschauen. Er hatte völlig ungestört und unbeaufsichtigt in der Station herumspazieren und alles ausprobieren können, ohne daß es jemanden interessiert hätte. Die schienen hier nichts zu verbergen zu haben. „Nein. Wieso?“

„Die beiden sind hier ganz alleine. Für wen schließen sie dann Räume ab?“, gab Vladislav zu bedenken. „Und außerdem, macht es dich nicht skeptisch, daß es keinen einzigen Magier hier gibt? Genmanipulation hat normalerweise unter der Aufsicht eines Hellsehers zu stehen. Solche Projekte werden streng überwacht, damit da nicht versehentlich irgendwas erschaffen wird, dessen man dann nicht mehr Herr wird. Selbst die illegalen Forschungsgruppen gehen da kein Risiko ein und halten sich dran. Noch dazu liegt diese Einrichtung unterirdisch, mitten im Nirgendwo, und ist mit einem Haufen Bann-Magie abgeschottet, damit sie niemand zufällig findet. Wieso? Und wer war das? Die beiden sind keine Magier, die waren das also nicht selber. Und all diese krassen, medizinischen Geräte, die die hier rumstehen haben; wer finanziert die? Wer finanziert dieses GANZE Labor hier überhaupt?“

Waleri kratzte sich überfordert am Kopf. „Woher soll ich das wissen? Sie sagen selber, ihre Arbeit wäre nicht ganz sauber. Die kriminellen Interessengemeinschaften waren doch schon immer die mit dem meisten Geld.“

„Hast du eine Ahnung, was alleine die Anschaffung und der Betrieb eines MRT´s kosten? Inclusive der magnetischen Abschirmung, den Statik-Arbeiten, dem Schallschutz und der Kühlung des Raumes, der Verkabelung mit der Bedien- und Analysetechnik, oder den Kosten für den Schwerlastkran und für den Abriss und Wiederaufbau des halben Daches, um den 3,5-Tonnen-Magneten überhaupt erstmal einzusetzen? Das geht in die Millionen! Ganz zu schweigen von der Wartung, wenn man sie vorschriftsmäßig macht“, ereiferte sich Vladislav, bemüht, in seiner Erregung nicht zu laut zu reden.

Der Schutzgeist zog eine nachdenklich-zustimmende Flunsch. Das war nicht ganz von der Hand zu weisen, wie ihm schien.

„Hast du einen Verdacht, was in den abgeschlossenen Räumen war?“, wollte Vladislav ein wenig besorgt wissen. Vielleicht gab es ja Schilder an den Türen, oder sowas.

Njet. Aus den zugesperrten Räumen kamen recht seltsame Geräusche, ist mir aufgefallen. Aber ich denke, das waren vielleicht nur ein paar mehr von ihren lebenden 'Experimenten', so wie dieser komische Dackel-Hybrid, der hier rumrennt. Die werden ja nicht nur den einen erschaffen haben.“

Der Magi atmete schwer durch und überlegte lange schweigend. Er wusste nicht so richtig, ob ihm das alles hier spanisch vorkommen sollte, oder ob es vielleicht doch Erklärungen für all das gab, wenn er die Forscher einfach nur mal fragen würde. Nur, konnte er es sich leisten, zu neugierig zu sein? Wissen war oft gefährlich.

„Du willst hier weg, hm?“, fasste Waleri das, was er über die mentale Verbindung zu seinem Schützling schon die ganze Zeit spürte, in Worte.

Der strich vielsagend mit den Fingerspitzen über den Bluterguss auf seinem Unterarm, wo das Knuddelz mit dem Rüssel angedockt hatte. „Geht im Moment nicht. Solange ich nicht außer Gefahr bin, muss ich hier bleiben. Die beiden sind die einzigen, die dieses Gift kennen und behandeln können.“

Doktor Bürstenbein kam herein, schob seine Hornbrille zurecht und schaute interessiert auf den Monitor. „Na? Haben wir schon genug Daten gesammelt?“, warf er salopp in den Raum. Er begann die erfassten Werte zu studieren. Damit war das heimliche Gespräch zwischen Vladislav und seinem Genius vorläufig beendet.

Sein Kollege kam kurz darauf ebenfalls zurück. „Und? Wie sieht es aus?“

„Ganz ausgezeichnet, Herr Professor Doktor Hülsenkorn. Wie immer fabelhafte Arbeit. Ich bin bereits über der Auswertung.“

„Ich habe vielmals zu danken, werter Herr Doktor Bürstenbein. Auf Ihre Hilfe ist eben stets Verlass.“

Waleri drehte sich weg, damit man seine entgleisende Mimik und die verdrehten Augen nicht mehr sah.
 

Der Genius kam grinsend aus dem MRT-Raum in das angrenzende Computerzimmer und zog sich dabei das T-Shirt wieder über. „Meine Fresse, ich hab echt unterschätzt, was für einen Krach das Ding macht.“, berichtete er.

Professor Doktor Hülsenkorn schmunzelte leicht. „Schlimm, oder? Und, hatten Sie in der Röhre Platzangst?“

„Nein, alles gut.“ Waleri stellte sich mit an den PC, wo gerade die Bilder auf dem Monitor angezeigt wurden. Nachdem man Vladislav durch das MRT geschoben hatte, hatte er sich wie versprochen auch selber mal reinlegen dürfen. Würde ihn ja mal interessieren, was dabei rausgekommen war, auch wenn man seine Ergebnisse natürlich nicht so gründlich auswerten würde wie die von seinem Schützling. Mit seiner Vergiftung wurde der ja etwas ernsthafter unter die Lupe genommen.

Professor Doktor Hülsenkorn drehte sich ebenfalls wieder dem Bildschirm zu. „Wenn ich mir das so ansehe, würde ich drauf tippen, daß Sie in Ihrer wahren Gestalt ein Minotaurus oder sowas sind. Jedenfalls irgendwas, was groß und schwer ist.“

„Ein Elasmotherium“, bestätigte Waleri nickend. „Sowas können Sie auf dem MRT erkennen?“

„Ja. Schauen Sie sich das an. Sie haben einen verdammt stabilen Körperbau. Genii, die fliegen können oder an Land etwas flinker unterwegs sein müssen, haben nicht so ein massives Skelett. Die sind kleiner und leichter gebaut, auch in ihrer menschlichen Tarngestalt. Bei Wasserwesen ist es auf den ersten Blick etwas weniger eindeutig. Die haben auch eine solide Körperstatik, um beim Tauchen dem Wasserdruck standhalten zu können, aber die haben dann dafür wieder andere, anatomische Besonderheiten. Für die sind unter Wasser der Sauerstoff und das Sehen bei trübem Licht sehr wichtig. Wären Sie ein Wasserwesen, hätten Sie zum Beispiel eine etwas größere Lunge als der Durchschnitt, und lichtempfindlichere Augen. Nicht extrem, nur ganz leicht, aber dennoch. Und an Ihren roten Blutkörperchen würde man es auch sehen, wenn man einen Bluttest machen würde. Da würde mehr Sauerstoff transportiert werden.“

„Also das heißt, wenn mir so kurzgeratene, zierliche Persönchen unterkommen, kann ich davon ausgehen, daß es irgendwas Flugfähiges ist?“, überlegte Waleri und hatte dabei akut den Vize-Boss Victor vor Augen. Der war ja auch bloß so ein laufender Meter.

„Nicht immer. Der Körperbau ist kein unfehlbarer Beweis dafür, nur ein recht gutes Indiz. Es gibt aber auch Ausnahmen, wie überall in der Natur.“ Professor Doktor Hülsenkorn scrollte weiter in Waleris MRT-Bildern herum. „Sie hatten eine schwere Zeit, oder? Der Arm hier war schon mehrmals gebrochen. Die Rippen da auch. Und die Schulter dort drüben sieht mir auch ein wenig rampuniert aus. Oh Gott, und die Nase! Bringt sich Ihr Schützling häufiger mal in Schwierigkeiten, daß sie zu seinem Schutz so oft in körperliche Auseinandersetzungen geraten?“

Waleri schnaufte amüsiert. „Nein. Ich war früher Schwergewichts-Boxer. Die Verletzungen stammen noch aus dieser Zeit. Seit ich meinen Schützling habe, ist mein Leben eigentlich recht ruhig geworden, was Schlägereien angeht.“

„Ich zeige Ihnen mal was Cooles!“, kündigte der kahlköpfige Professor plötzlich gut gelaunt an und änderte irgendwelche Filter und Einstellungen im Analsye-Programm des MRT´s. Daraufhin wurde ein 3D-Längsschnitt von Waleris Brustkorb angezeigt. Vermutlich war es eine computersimulierte Rekonstruktion, denn das MRT zeichnete ja eigentlich nur scheibchenweise Querschnitte auf. Das Bild war in rot, orange und gelb gehalten, wie ein Foto von einer Wärmebildkamera. Und mitten über dem Herzen prangte ein weißer, ausgefranster Fleck, der wie kleine Äderchen über die Brust auslief. Dort strömte ein nebulöser, halbdurchsichtiger Strahl aus. Er führte also vom Körper weg und versickerte im Raum. Auch wenn auf dem Monitor nur ein Standbild angezeigt wurde, sah man dem Ding an, daß es eigentlich im Fluss war.

„Aha?“, machte Waleri nur ratlos. Er konnte es noch nicht recht deuten. War das gut oder schlecht? Hatte er etwa einen unkontrollierten Energieverlust?

„Und das hier ist von Ihrem Schützling“, meinte der Wissenschaftler und zeigte ihm als nächstes ein vergleichbares Bild von Vladislav. Auch auf seinem Oberkörper ließen sich mit den richtigen Filtern dieser weiße, fransige Fleck und der Energiestrom sichtbar machen, der vom Körper weg in die Ferne führte.

Vladislav, der auch mit im Computerzimmer herumgestanden hatte, sich aber bisher bedeckt hielt, kam nun ebenfalls fasziniert näher. „Woah, ich weiß was das ist! Das silberne Band, das magisch begabte Menschen mit ihrem Genius Intimus verbindet! Sie können das sichtbar machen?“

Der Professor grinste stolz und lehnte sich zufrieden zurück, um den beiden Zeit zum Staunen zu lassen.

„Ich wusste gar nicht, daß das Band am Herzen angesetzt ist. Da hab ich mir nie Gedanken drüber gemacht“, gab Vladislav zu. Er fühlte sich seinem Genius plötzlich mal wieder unglaublich verbunden. Auch wenn sie als harte, kriminelle Kerle manchmal etwas derb miteinander umgingen, betrachtete Vladislav seinen Schutzgeist doch eindeutig aus dem partnerschaftlichen Blickwinkel.

Waleri nickt nachdenklich. Da es eine mentale Verbindung war, hätte er auch eher vermutet, daß man es sich wie einen Energiebogen vorstellen musste, der eine Brücke von Kopf zu Kopf schlug. Schien aber nicht so zu sein.

„Naja, ansonsten ist an Ihrem MRT nichts Auffälliges zu finden“, warf der Professor schließlich ein. Er brachte sich wieder in eine aufrechte Sitzhaltung. „Alles bestens. Sie sind ein robuster Bursche. So, jetzt will ich aber mal das MRT von Ihrem giftigen Schützling auswerten. Das ist schließlich wichtiger.“

Doktor Bürstenbein kam herein geschneit und schob sich die Hornbrille zurecht. Entweder saß das Ding nicht richtig, oder das war so eine Angewohnheit von ihm. „Na, wie geht es Ihnen inzwischen?“

„Ich habe ein bisschen Kopfschmerzen bekommen“, gab Vladislav wahrheitsgemäß Auskunft über seinen Zustand.

Doktor Bürstenbein kräuselte besorgt die Nase. „Ich habe Ihnen eine Kammer leer geräumt und ein paar Luftmatratzen und Decken reingelegt. Da können Sie in Ruhe übernachten. Mit dieser Vergiftung werden Sie uns heute nicht mehr verlassen.“

„Ganz ausgezeichnet mitgedacht, Herr Kollege Doktor Bürstenbein!“, lobte der Professor am Computer.

„Danke vielmals, geschätzter Herr Kollege Professor Doktor Hülsenkorn!“

Waleris verständnisloses Seufzen rundete die gegenseitige Beschleimerei ab.
 

Vladislav kam gemächlich in das Hauptlabor geschlendert. Langsam fühlte er sich in diesem unterirdischen Bunker ohne Tageslicht und Blick nach draußen richtiggehend eingesperrt und klaustrophobisch. Er begann jetzt schon, ruhelos herum zu tigern. Im Labor fand er Professor Doktor Hülsenkorn am Mikroskop arbeitend vor. Der machte wohl auch nie Pause. „Professor?“,

Der Mann mit der Stirnglatze und dem Haarkranz schaute grüßend hoch. „Hey. Was machen die Kopfschmerzen?“

„Halten sich hartnäckig“, berichtete Vladislav.

„Werden sie stärker?“

„Nein.“

„Ist Übelkeit dazu gekommen? Oder frieren Sie?“

Vladislav schüttelte den Kopf.

„Gut, dann ist es nicht so dramatisch. Kein Grund zur Sorge. Einfach fleißig das Gegenmittel weiter einnehmen. Soll ich Ihnen Kopfschmerztabletten geben?“

„Ja, das wäre toll. Langsam wird der brummende Schädel lästig.“

„Sofort ...“, versprach der Professor und notierte erst noch seine Testergebnisse zu Ende, die er mit dem Mikroskop gewonnen hatte.

„Ich hätte eine Frage. Ihr sagt, ihr wisst etwas über das Volk aus den Bergen?“

Das Gesicht von Professor Doktor Hülsenkorn wurde schlagartig etwas verkniffen. „Sie interessieren sich für die? Sie sind doch nicht etwa ein Bulle, oder?“

Vladislav lachte leise. „Nein. Ich bin von einer privaten ... naja ... Stiftung könnte man es nennen. Wir haben uns den Schutz der Menschen vor gefährlichen Genii auf die Fahnen geschrieben. Und diese Dinger sind ja wohl ganz eindeutig gefährlich.“

Der Laborkittelträger juckte sich etwas überfordert an der Nase. „Also, ich kann Ihnen wahrscheinlich gar nicht so viel darüber erzählen, wie Sie vielleicht hoffen.“

„Ich wäre ja schon froh, wenn mir überhaupt mal irgendjemand irgendwas erzählen würde. Auf der ganzen Insel herrscht Schweigen zu dem Thema, wie mir scheint.“

„Na schön ...“ Er setzte sich auf seinen Computer-Drehstuhl, drehte sich ein wenig hin und her und durchforschte sichtlich sein Gedächtnis. „Es begann vor etwa einem Jahr. ... Ich meine, die Wälder im Norden von Okinawa waren noch nie so recht sicher. Hier sind schon häufiger mal Leute überfallen und ausgeraubt worden. Aber vor einem Jahr ging zum ersten Mal das Gerücht um, Monster würden in den Wäldern hausen und arglosen Passanten auflauern. Natürlich hat zunächst keiner was drauf gegeben, aber die Berichte haben sich gehäuft. Als irgendwann keiner mehr in den Wald gegangen ist, sind diese Dinger schließlich zu uns raus gekommen und haben Dörfer überfallen. Auch das war am Anfang noch harmlos. Sie haben halt im Vorbeirennen Lebensmittel und Sake geschnappt und sind damit abgehauen. Oder Wertgegenstände, wenn ihnen zufällig irgendwas vor die Füße gefallen ist. Aber mit der Zeit und mit zunehmender Gegenwehr der Einwohner wurden diese Dinger immer brutaler. Sie haben Leute verletzt, Häuser gewaltsam aufgebrochen, zum Teil sogar Feuer gelegt und alles abgefackelt, um an Beute zu kommen. Und die Mengen an Beute, die sie weggeschleppt haben, wurden von Mal zu Mal größer. Dann haben sie auch angefangen, Leute mitzunehmen und zu entführen. Bei den letzten Überfällen gab es dann sogar die ersten Toten unter denen, die sich gewehrt haben. ... So hieß es jedenfalls, nach allem was ich gehört habe.“

„Ist diese Forschungsstation hier auch schonmal überfallen worden?“, hakte Vladislav wissbegierig nach.

„Nein. Die Bann-Magie hier hält sie fern, vermute ich.“

„Was sind das für Dinger?“

Der Professor zuckte hilflos mit den Schultern. „Das würden wir auch gerne wissen. Sie sehen jedes Mal anders aus. Und es sind immer unterschiedlich viele. Es ist kein Muster zu erkennen.“

„Hat denn noch nie jemand versucht, in den Wald zu gehen und sie zu finden?“

„Himmel, nein! Wir alle hier hängen an unserem Leben.“

Vladislav grübelte einen Moment vor sich hin. Aber auch er hatte keine akute Idee dazu. Hier war guter Rat teuer. „Wir haben auf dem Weg hierher gesehen, wie zwei Mädchen aus Kunigami im Wald angekettet wurden.“

Professor Doktor Hülsenkorn verzog das Gesicht. „Fragen Sie einfach nicht nach den seltsamen Sitten, die in Kunigami herrschen. Es ist gesünder für Sie.“

„Aber diese Dinger haben die Mädchen geholt und mitgenommen, bevor sie dann auch hinter uns her waren!“ Vladislav versuchte den bedauernd gesenkten Blick des Forschers zu deuten. Der wusste eindeutig von diesen Ereignissen. „Mein Gott!“, ging ihm dann endlich ein Licht auf. „Diese Mädchen wurden geopfert. Die waren eine Art Schutzgeld-Zahlung, damit das Dorf in Ruhe gelassen wird!“

Der Wissenschaftler wandte sich mit einem leisen Seufzen ab. „Ich hatte Ihnen eine Kopfschmerztablette versprochen“, versuchte er das Thema zu wechseln und konzentrierte sich demonstrativ auf das Medizin-Schränkchen mit den eingelagerten Arzneien.

Aber der Motus-Boss ließ sich nicht abwimmeln. „Woher wisst ihr, daß es immer die gleichen sind?“

„Na, sie kommen immer zur gleichen Zeit. Und sie klauen immer die gleichen Sachen.“

„Und woher kommen sie?“

„Aus den Bergen. Darum heißen sie ja so.“

„Also vom Yonaha-san? Dann muss ich dort hin!“, legte Vladislav fest.

Professor Doktor Hülsenkorn drückte ihm humorlos eine Palette voll handelsüblicher Schmerztabletten in die Hand. „Sie gehen nirgendwo hin, solange Sie noch dieses Gift im Blut haben.“

ungewöhnlicher Meister

jetzt, Ogimi auf Okinawa, Wald
 

Ein bisschen erleichtert war Victor schon, als er seine Gegenwehr einstellte und er nur weg gezerrt und gefesselt wurde. Sie hätten ihn immerhin auch gleich totschlagen können, wenn sie gewollt hätten. Die seltsamen Tengu-Verschnitte schleppten ihn ein Stück weit in den Wald hinein und übergaben ihn dort an ein paar zerlumpte Kerle. Zusammen mit den beiden heulenden Mädchen und den Leinensäcken voll Geld und Lebensmitteln. Dann verschwanden sie wie die Geister und es wurde ruhig. Die Männer waren nur gewöhnliche Halunken ohne jeden Bezug zur Magie. Wäre auch nur ein einziger Magi oder Genius darunter gewesen, hätte Victor das mitbekommen. Um so seltsamer fand er es, daß die mit dem Trupp Tengu etwas zu schaffen hatten.

Ein zotteliger Japaner mit Zahnlücke musterte die lebende Beute. „o namae wa?“, wollte er von einem der Mädchen wissen.

Sie gab eine Antwort.

majishan desu ka?

hai ...

soshite anata wa?

Das andere Mädchen gab ebenfalls kleinlaut Antwort.

hogo no seishin ka?

uhm.“ Sie nickte zaghaft.

donna sainō o motte imasu ka?

wakaranai

wakaranai ka?“, wollte er irritiert wissen. Dann wandte er sich nach kurzem Überlegen schulterzuckend an Victor, der das Gespräch mit etwas verkniffenem Gesicht mitverfolgte. „anata wa?

„Ich versteh kein Wort, Kumpel“, erwiderte der Russe trocken.

Der Mann mit der Zahnlücke musterte ihn von oben bis unten. „nihonjin dewa arimasen."

Natürlich verstand Victor auch das nicht. „Spricht hier zufällig jemand Russisch? Wohl eher nicht, oder?“

doko kara kimashita ka?

Victor sah ihn fragend an und enthielt sich einer weiteren Antwort.

igirisujin desu ka?“, versuchte er es noch einmal, dann gab er es auf, als sein Gefangener weiter unwissend die Klappe hielt.

Schöner Mist, dachte Victor still. Nun war er der Quelle dieses ganzen Spuks zwar ein gutes Stück näher, aber dafür hatte er Vladislav und Waleri verloren, wodurch ihm dieser Fortschritt rein gar nichts brachte. Waleri war der einzige von ihnen, der Japanisch konnte. Ohne Waleri war hier Hopfen und Malz verloren.

Die verlotterten Kerle, die aussahen, als würden sie seit Jahren im Wald hausen, berieten sich noch eine Weile hin und her, häufiger mit einem Seitenblick auf den Ausländer, mit dem man sich nicht verständigen konnte, dann machte man irgendwann einfach Aufbruchstimmung. Victor wurde mitgenommen, aber man schleppte ihn in eine andere Richtung davon als die zwei Mädchen. Die Gruppe teilte sich auf. Sah so aus, als würde sich jemand anderes um dieses Sprachproblem kümmern. Während er bereitwillig mitging, fragte er sich, was nun mit diesen Tengu-Dingern war.
 

Im dichten Wald kamen sie nicht sonderlich schnell voran. Als sie endlich das Lager am Hang des Berges Yonaha erreichten, war es schon Nacht. Victor trat aus dem Wald heraus auf das freie Bergplateau und blieb erstmal stehen. Von hier hatte man einen ziemlich tollen Ausblick über die Wälder von Nord-Okinawa. Über ihnen erstreckte sich ein wolkenfreier Sternenhimmel und – was Victor eigentlich zum Stehen gebracht hatte – ein großer, runder, knochenbleicher Vollmond, der den ganzen Landstrich erhellte wie ein riesiger Scheinwerfer. „Shit ...“, war das Letzte, was er noch bewusst denken konnte, dann versank die Welt um ihn herum im Vergessen und in seinem Kopf setzte eine gnadenlose Leere ein, gegen die er machtlos war.
 

Chippy stiefelte um den Gefangenen herum und beaugenscheinigte ihn von allen Seiten. Er war vielleicht sogar noch einen Zentimeter kleiner als sie selbst, dem Aussehen nach nicht asiatischer Herkunft, und mit seinen feinkonturigen Gesichtszügen und der schlanken Statur derwegen ein recht süßes Kerlchen. Hier in Japan hatte man ja was für androgyne Typen übrig. Und wie sie schon aus der Ferne mitbekommen hatte, konnte er mit Bann-Magie arbeiten. Ein ungebundener Genius. Nur war er gerade zur Marmorstatue erstarrt und zuckte mit keiner Wimper mehr. „Was habt ihr mit ihm gemacht?“, wollte Chippy von ihren Männern wissen und wedelte prüfend mit der offenen Handfläche vor Victors Gesicht herum. Es zeigte keine Wirkung. Sein Blick blieb weiter starr geradeaus gerichtet, die Augen folgten der Handbewegung nicht.

„Wir haben nichts mit ihm gemacht“, gab Yagi verwirrt zurück und schubbste seine Geisel vorsichtig an. Ebenfalls ohne Erfolg.

Chippy drehte sich halb um und folgte Victors ausdruckslosem Blick. Aber in der Ferne waren nur Wald und weiter Nachthimmel zu sehen. Nichts, was diese seltsame Starre erklären könnte.

„Er scheint übrigens kein Japanisch zu verstehen. Ich habe es jedenfalls nicht geschafft, ihm irgendein Wort in unserer Sprache aus der Nase zu ziehen.“

„Was spricht er dann, wenn nicht Japanisch?“, hakte Chippy interessiert nach und musterte wieder das unbekannte Kerlchen, das gerade tot wie eine Schaufensterpuppe in der Landschaft herumstand.

„Keine Ahnung. Vielleicht kann Lori dir das sagen“, schlug der schmuddelige Räuber mit der Zahnlücke vor.

Obwohl inzwischen ein Jahr vergangen war und die Vagabunden im Laufe der Zeit in Sachen Magie und magisch begabter Personen um einiges schlauer geworden waren, hatte sich hier nicht viel verändert. Lord-Lady Chippy war nach wie vor die Anführerin dieser Räuberbande. Das einzige, was sich an ihr verändert hatte, war die Tatsache, daß ihre ursprünglich lila gefärbten Haarspitzen nach einem Jahr nun inzwischen herausgewachsen waren und sie komplett schwarze Haare hatte. Wo sollte sie hier draußen in der Wildnis auch Haarfarbe hernehmen? Sie war als Chefin konsequent und berechenbar und die Männer gehorchten ihr gern, denn seither ging es ihnen besser als jemals zuvor. Sie hatten immer witterungsgerechte Kleider, zu Essen und genug Alkohol zum Feiern. Und mehr brauchte man hier draußen auch nicht, um glücklich zu sein. Es gab eben keinen Strom, und warmes Wasser nur dann, wenn sich jemand die Mühe machte, einen Kessel über das Feuer zu hängen. Aber sonst ließ es sich hier draußen schon leben. Okinawa war allerdings eine sehr südliche Insel, richtig kalt wurde es hier ohnehin nie.

Ihr Begleiter Loriel wurde von den Wegelagerern weitestgehend in Ruhe gelassen. Nur selten wechselte mal jemand ein paar Worte mit ihm. Man wusste, daß Lord-Lady Chippy ihn eigentlich nicht recht leiden konnte und es auch nicht gern sah, wenn andere sich zu sehr mit ihm anfreundeten. Abgesehen davon führte aber auch Loriel in den Wäldern ein halbwegs kummerfreies Leben, solange er sich still verhielt. Seine magischen Fähigkeiten sicherten ihm ausreichend Respekt, um in diesem Haufen Halunken nicht gänzlich unter zu gehen. Er wurde nur ab und zu von Chippy herbei zitiert, wenn sie irgendwas von ihm wissen oder haben wollte. Oder wenn er etwas verbockt hatte, was Chippy aus unerfindlichen Gründen nicht in den Kram passte, und er sich die ungewöhnlich harten Strafen abholen durfte, die sie ihm dafür angedeihen ließ. Die Räuberbande war klug genug, nicht danach zu fragen. Aber solange es ihnen an nichts mangelte, stellten sie ohnehin keine dummen Fragen.
 

Victor kam erst am nächsten Morgen wieder zu Bewusstsein, als der Mond endlich hinter irgendwelchen Tannenwipfeln verschwand und seinen Verstand nicht mehr offline hielt. Stöhnend griff er sich an den Kopf und versuchte mit vorsichtigen Bewegungen seinen steifen Nacken wieder zu lockern. Er fühlte sich ein wenig benebelt. Seine Mondsucht war wirklich eine barbarische Schwäche. In den Stunden, die er in Trance gewesen war, hätte sonstwas mit ihm passieren können. Sporadisch klopfte er von außen die Taschen seiner Kleidung ab. Es schien alles noch da zu sein, was er dabei gehabt hatte. Abgesehen vom Geld natürlich. Das hätte ihn auch sehr gewundert, wenn sie ihm das gelassen hätten. Victor schaute sich um. Er fand sich in einem profanen Käfig aus Ästen wieder, die man zu Gittern zusammengebunden hatte. Das Lager war still. Es schienen alle noch zu schlafen. Neben seinem Käfig lehnte auch so ein verlotterter Kerl, der im Sitzen mit verschränkten Armen eingepennt war. Falls der Victor hatte bewachen sollen, machte er seinen Job nicht sonderlich gut.

Der Vize-Boss beschloss, sich ein wenig im Lager umzusehen, um sich die Zeit zu vertreiben. Er nahm die Gestalt eines kleineren Wesens an, das durch die Holzstäbe passte, und verließ den Käfig. Draußen wechselte er wieder in seine menschliche Form zurück. So, wohin sollte es zuerst gehen? Er war noch keine drei Schritte weit gekommen, da wurde er bereits von einem unguten Gefühl gestoppt und ließ suchend den Blick umher wandern. Er fühlte sich beobachtet.

Und tatsächlich, mit der Schulter an einem Baumstamm lehnend, stand dort ein Mädchen mit plüschigen Wuschelhaaren, jeder Menge Goldschmuck und einem erstaunlich feinen Kleid und sah ihm gelassen bei seiner Flucht zu. Ihre Mimik war eine runde Mischung aus allem möglichen. Sie schien beeindruckt von der Art, wie er einfach aus dem Käfig heraus marschiert war, aber wiederrum nicht beeindruckt genug um ihm ernsthafte Flucht-Chancen zuzutrauen. Ihr Grinsen war überlegen, siegessicher und für Victor lesbar wie ein offenes Buch. Diese junge Dame war sich sicher, ihn problemlos wieder einfangen zu können. Sie machte ihm nur falsche Hoffnungen, indem sie ihn kurz gewähren ließ. Weil sie interessiert war, was er als nächstes tun würde.

Victors Augenbrauen zogen sich verspannt ein wenig zusammen. Von dem Mädchen ging eine ungute Aura aus, die ihm zwar nicht angenehm aber sehr vertraut vorkam. Er hätte wetten können, daß er bei ihr einen aktiven Fluch oder eine Verwünschung finden würde, wenn er genauer suchen würde. Er konnte bloß auf diese Entfernung die Quelle nicht gleich finden und die Wirkung nicht genau bestimmen.

yoku dekimashita.“, kommentierte sie mit diesem überheblichen Grinsen. „anata ga me o samashite iru no ga wakarimasu.

„Jjjjjjjjaaaaaa ... du mich auch“, gab Victor zynisch zurück. Er verstand ihre Sprache nicht, und er wusste schon jetzt ganz genau, daß sie seine auch nicht verstehen würde. „Aber ich freu mich, dich kennen zu lernen. Ich bin Victor, und du?“, quasselte er trotzdem weiter, um sie irgendwie bei Laune zu halten. Er sah nämlich in ihren Augen sehr deutlich, daß sie auf eine Konfrontation aus war. Sie war eindeutig magisch begabt. Und es war doof, mit Magie gegen Magie zu kämpfen, ohne das Geringste von seinem Gegner zu wissen. Um genau zu sein war es IMMER doof, zu kämpfen, ohne das Geringste von seinem Gegner zu wissen.

Von irgendwo kam ein dicker, gemütlicher Rocker-Typ mit grauem Schnauzbart angehechtet, stellte sich schräg hinter dem Mädchen auf und schaute fragend zwischen ihr und Victor hin und her.

Victor kräuselte die Lippen zu einer Flunsch. Das war ihr Schutzgeist, der natürlich sofort zur Stelle war, wenn sie einen Kampf eröffnete. Sie machte also wirklich ernst. Innerlich bereitete er sich schon auf einen Angriff vor. Dieser sah jedoch völlig anders aus als gedacht, denn den übernahmen für sie vier dieser Tengu-Dinger, die – aus jeder Richtung einer – auf ihn zurasten und sich im Kreis um ihn herum postierten. „Scheiße. ne snova ...“ [Nicht schon wieder ...], murrte der Russe leise in sich hinein. Die hatten ihm jetzt gerade noch gefehlt. Was war das nur für eine Magie? War dieses Mädchen in der Lage, alle möglichen Kreaturen herbei zu rufen und zu kontrollieren? Hatte sie deshalb immer andere Handlanger, die für sie die Dörfer plünderten? Victor hatte jedenfalls keinen Zweifel daran, daß sie als einzige Magierin unter diesem Haufen wilder Hunde die Strippenzieherin war. Nur hatte er in der Universität ja wirklich viel gelernt, aber selbst er konnte sich spontan auf keine magische Gabe besinnen, die einem solche Fähigkeiten gegeben hätte.
 

Victor kam nicht dazu, sich recht lange den Kopf zu zerbrechen. Die Tengu stürzten sich ohne viel Gefackel auf ihn. Der Russe erzeugte eine tellerförmige, waagerechte Bann-Scheibe vor sich und drehte sich damit einmal um seine eigene Achse, wie ein Diskus-Werfer. Die magische Platte ging gleich einem Kreissägenblatt glatt durch alle vier Angreifer hindurch. Aber – wer hätte das gedacht – sie materialisierten sich auf der Stelle neu, wie schon gestern Abend im Wald. Der große Schlagabtausch begann.

Loriel verfolgte den Kampf, den sich der Gefangene mit Chippys Illusionen lieferte, und schüttelte leicht den Kopf. Ob der nun versehentlich entkommen war oder ob Chippy ihn absichtlich rausgelassen hatte, konnte er nicht sagen. Aber es war auch egal. Was Chippy hier mit ihm abzog, war Irrsinn. „Warum spielst du so mit ihm?“

„Warum nicht?“

„Musst du immer mit einer Gegenfrage antworten?“

„Und musst du immer dein vorlautes Maul so aufreißen, Bierwampe? Wer hat dir überhaupt erlaubt, zu reden? Juckt es dich mal wieder nach einer ordentlichen Tracht Prügel, oder was?“, hielt Chippy in gleichmütigem Tonfall dagegen, ohne ihren Blick von dem Kampf abzuwenden. „Gut, wenn du es wissen willst: der Mann fasziniert mich. Er scheint verdammt gut kämpfen zu können. Ich will wissen, was er drauf hat.“ Sie schaute noch ein bisschen weiter zu. „Er ist besser als du, das ist Fakt.“

Als ob das ihrer Einschätzung nach eine Leistung wäre! Wenn es nach Chippy ging, war JEDER besser als er, dachte Loriel verbittert. Aber aussprechen tat er das natürlich nicht. Er wollte ja schließlich keine Schläge beziehen. Er musste zugeben, daß dieser kurz geratene Ausländer ein ganz schön breites Repertoire an Magie hatte. Er probierte alle erdenklichen Schilde und Angriffe aus Bann-Magie durch, auf Basis der unterschiedlichsten Faktoren, in der Hoffnung, daß irgend etwas davon endlich Wirkung zeigte. Sehr erfolgreich war er damit allerdings nicht. Gegen Illusionen zeigte nichts Wirkung, deshalb waren es ja Illusionen. Wenn man sich nicht gerade vor sinnesverändernden Zaubern abschotten konnte, dann hatte man nur die Chance, den Magier auszuschalten, der die Illusionen erschaffen hatte. Aber auf diesen Trichter schien das Kerlchen bisher noch nicht gekommen zu sein. Und Loriel hoffte auch inständig, daß ihm diese Idee nicht noch in den Kopf schoss, denn er hatte wahrlich keine Lust, sich als Chippys Schutzgeist mit so einem wehrhaften Typen anlegen zu müssen.

Das Lager wurde zunehmend voller und belebter. Die Ganoven wurden von dem Lärm des Kampfes nach und nach munter und kamen schaulustig herbei, um zu sehen, was denn los war.

„Beachtlich“, diagnostizierte Chippy beeindruckt. „Naja, genug für den Moment. Lassen wir ihn leben.“

Victor wurde unvorgewarnt von einem Tengu am Kragen gepackt und rücklings zurück in den Käfig geschleift. Er quietschte auf, weil der Angreifer auch ein paar der schulterlangen Haare mit erwischt hatte. Das Ziehen an den Haaren war ein so blöder und unangenehmer Schmerz, daß er erstmal jegliche Gegenwehr vergaß und hellauf damit beschäftigt war, der Zugrichtung zu folgen. Trotz des Protestes wurde er radikal durch die Reihen der Räuber gezerrt, die schaulustig herumstanden, wurde unsanft in den Verschlag aus Ästen befördert und wieder weggesperrt.

„Pass auf, daß er nicht nochmal abhaut“, trug Chippy Loriel auf und ging dann weiter, als hätte sie spontan das Interesse an der ganzen Szene verloren.

moderne Technik

Kunigami auf Okinawa, Forschungsstation
 

Waleri kam forschen Schrittes von draußen ins Hauptlabor herein geplatzt. Es war der nächste Morgen und nach Aussage von Doktor Bürstenbein war es inzwischen wieder sicher im Wald. Diese Tengu-Dinger, oder was auch immer sie waren, waren angeblich nur abends nach Sonnenuntergang aktiv. Also hatte Waleri sich zumindest mal kurz vor die Tür getraut, um eine zu rauchen. Sein Schützling saß am Computer und spielte darauf ein Kartenspiel. Die Forscher hatten ihm erlaubt, den PC zu nutzen, um sich die Langeweile zu vertreiben. Der plüschige Dackel-Hybrid mit der Rüssel-Nase lag zusammengerollt neben dem Stuhl und schlief. Wenn Vladislav nicht aufpasste und ungeschickt mit dem Computerstuhl herumrollte, würde er das Tierchen am Ende noch überfahren, oder sowas. Waleris Blick blieb auf Vladislavs Ellenbeuge haften, wo ein sehr verräterisches Pflaster klebte. Diesmal am anderen Arm. „Haben sie dir wieder Blut abgenommen?“, wollte er erschrocken wissen.

Vladislav nickte leicht und drehte sich dabei zu ihm um. Ja, hatten sie. Und das auch noch vor dem Frühstück. Damit er essenstechnisch nüchtern und die Werte unverfälscht waren, hatten sie gesagt.

„Du bist echt abgebrüht.“

„Wieso?“, wollte der Motus-Boss feixend wissen.

„Ich hab das gar nicht mitbekommen. Dir macht es wohl absolut nichts aus, mit Nadeln gepiesackt zu werden, oder? Sonst hätte ich deine Nervosität ja auch gespürt.“ Waleri machte eine kurze Sprechpause und musterte Vladislav vielsagend. „Aber deine jetzige spüre ich!“, fügte er dann an. Deswegen war er ja überhaupt auf direktestem Wege zurück gekommen, um zu sehen, was mit Vladislav los war. Ihn fröhlich Spiele spielend am PC sitzen zu sehen, passt irgendwie gar nicht so recht zu der Stimmung, die gerade in ihm kochte. „Was ist passiert?“

Vladislav konnte ein etwas besorgtes Gesicht nun doch nicht mehr verbergen. „Dem Professor gefallen meine Blutwerte nicht. Er hat mein Blut gerade mit einem Schnelltest geprüft. Die toxikologischen Parameter sind zu hoch, sagt er. Also scheint die Vergiftung doch haariger zu werden als gehofft. Wahrscheinlich spreche ich auf das Gegenmittel nicht so gut an. Warum auch immer.“

Der Genius Intimus nickte zwischen verstehend und bedauernd, aber tun konnte er da auch nichts. „Wird schon gutgehen. Lass uns erstmal was frühstücken. Die beiden haben endlich Kaffee aufgesetzt.“
 

„So, wie geht es jetzt weiter?“, wollte Vladislav am Esstisch wissen. Er schob sich ein Stück Brot in den Mund. „Wird die Dosis meines Gegenmittels erhöht, wenn die jetzige nicht ausreicht?“

Professor Doktor Hülsenkorn nippte entspannt an einem Labor-Messzylinder aus Glas, der ihm als Kaffeetasse diente. Damit sah er aus, als würde er irgendwelche dubiosen Pharmazeutika-Cocktails in sich hinein schütten, die er sich vorher auf zwielichtige Weise in seinem Labor zusammen gebraut hatte. „Nein. Die Dosis ist hoch genug. Daran liegt es nicht. Ihr Körper setzt die Eiweise des Gegenmittels nur nicht so richtig um. Ich nehme an, das liegt an einer jahrelangen Ernährung mit Kuhmilch und Milchprodukten, die Ihren Stoffwechsel konditioniert hat. Bei uns in Japan trinkt keiner Milch, daher ticken die biologischen Uhren hier ein wenig anders.“ Der Professor ließ das kurz sacken, bevor er mit den Schultern zuckte. „Naja, ist nicht zu ändern. Aber wir werden parallel eine Magnetfeld-Behandlung machen. Das sollte helfen.“

„Magnet?“ Vladislav zog ein ziemlich dummes Gesicht. „Was hat denn Magnet jetzt damit zu tun?“

„Na, die kleinen Impulse, die auf den Nervenbahnen hin und her schießen, erzeugen ein schwaches Elektromagnetfeld um den ganzen Körper“, meldete sich Doktor Bürstenbein auch mal zu Wort und zeichnete dabei mit der Fingerspitze eine Linie auf seinem Unterarm nach, als müsse er dem ahnungslosen Dödel erklären, wo diese mysteriösen Nerven entlang liefen. „Wenn man die elektromagnetischen Impulse richtig manipuliert, bewirken sie ganz raffinierte Dinge, aus medizinischer Sicht.“

„Tadellos kombiniert, Herr Kollege Doktor Bürstenbein!“, lobte sein Mitstreiter.

„Ich habe zu danken, verehrter Herr Professor Doktor Hülsenkorn!“, kam direkt die euphorische Antwort retour.

„Wollen Sie so liebenswürdig sein, den Magneten für mich zu kalibrieren?“

„Aber für Sie doch jederzeit, geschätzter Herr Kollege!“

„Dann habe nun ich meinerseits vielmals zu danken, Herr Doktor! Es ist doch stets ein gutes Arbeiten mit Ihnen.“

Doktor Bürstenbein lächelte geschmeichelt. „Es ist mir eine Ehre, Herr Kollege Professor Doktor Hülsenkorn!“

Vladislav und Waleri schossen sich nur vielsagende Blicke zu. Diese beiden Schleimer waren ja wirklich nicht auszuhalten, wie sie die ganze Zeit nur damit beschäftigt waren, sich gegenseitig lauwarm anzupinkeln.

Dennoch ... Magnetfelder gegen Vergiftungen. Das kam Vladislav schon irgendwie etwas weit hergeholt vor. Aber der Motus-Boss war kein Arzt, er hatte da keine Ahnung davon. Wenn die beiden das sagten, dann würde es wohl so sein. Er selbst war immerhin ein Magier, er wusste besser als jeder andere, daß zwischen Himmel und Erde vieles möglich war.
 

„Soll ich stehen?“, wollte Vladislav rückversichernd wissen und schlich einmal um die Metallkonstruktion herum, die man mitten im Raum aufgebaut hatte. Sie erinnerte irgendwie ein wenig an einen großen Brustkorb aus Stahl. Es gab hinten eine Säule, ähnlich einem Rückrad, von der zu beiden Seiten waagerecht vier Halbbögen abgingen. Das waren die Rippen. Vorn war das Gebilde offen, damit man hineintreten konnte. Das Ganze war mit viel Elektronik versehen.

„Ja, im Stehen verteilen sich die Energien am besten“, beantwortete Professor Doktor Hülsenkorn die Frage. Er stelle irgendwelche Dinge an einem Computer ein, der auf einem Rolltisch heran gefahren worden war.

„Wird das weh tun?“

„Nein. Es kann nur sein, daß Sie da drin ein Hitzegefühl verspüren, so als ob Sie unter einer Rotlichtlampe stehen.“ Der kahlköpfige Professor wandte sich an seinen Kollegen, um zu sehen, ob der auch schon so weit war. „Sind die Energiepuffer aufgeladen?“

„Ja.“

„Die Frequenzen angepasst?“

„Alles bereit.“

„Ausgezeichnet. Vielen Dank, geschätzter Herr Kollege Doktor Bürstenbein. Dann jetzt bitte den Vorgang initiieren.“

„Sehr wohl, verehrter Herr Professor Doktor Hülsenkorn.“

Der Professor schaute Vladislav auffordernd an. „Wir sind bereit, wenn Sie es sind.“

Der Russe nickte und schaute nochmal fragend zu seinem Genius Intimus.

Waleri stand am Rand – er war gebeten worden, Abstand zu halten – und beobachtete mit verschränkten Armen alles aus der Ferne. Aber auch er gab mit einem Kopfnicken grünes Licht.

Vladislav stellte sich also zwischen die Rippenbögen der Maschine. Von hier drinnen hatte es was von einem Käfig. Auch wenn die Ringe nach vorn offen waren und es eigentlich genug Platz gab, hatten sie etwas einengendes.

„Okay. Es geht los.“ Professor Doktor Hülsenkorn startete die Apparatur. Ein elektrisches Summen erfüllte den Raum.

Vladislav merkte auf. Hier waren Schwingungen am Werk, die ihm als Magier etwas zu seltsam erschienen. „Äh ... Moment mal!“, meinte er noch alarmiert, aber es war schon zu spät. Um ihn herum baute sich für zwei oder drei Sekunden ein diffus schimmernder Ring auf, durchsichtig und undeutbar wie heiß flirrende Luft, der von oben nach unten alle Metallbögen des Gerätes abwanderte. Vladislav klappte in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden durchschnitt. Er blieb noch kurz röchelnd und nach Atem schnappend am Boden liegen, unfähig sich zu bewegen. In seinem Kopf baute sich ein monströser Druck auf, der ihm schier die Sinne nahm, bis er binnen weniger Augenblicke schließlich ganz das Bewusstsein verlor.

Auch Waleri am anderen Ende des Raumes brach keuchend in die Knie, kurz schwarz vor Augen. Er musste der akuten Übelkeit nachgeben und erbrach sein Frühstück direkt auf den Boden. Ein würgendes Husten. Er spürte, wie er ungewollt ein paar Mal zwischen seiner Fabelwesengestalt und seiner menschlichen Tarngestalt hin und her switchte, und bemühte sich, das wieder in den Griff zu kriegen. Langsam kam das Sichtfeld zurück, dafür stellte sich ein Ohrensausen ein, das ihm die Orientierung nahm. Trotzdem kämpfte er sich verbissen wieder hoch. Ein eiskalter Schauer überlief ihn und bescherte ihm Gänsehaut am ganzen Körper. Sofort zitterte er. Das war eindeutig ein weggesackter Kreislauf. Der Genius fühlte sich wie Wackelpudding, schwach und unkoordiniert. Was in aller Welt war das? Noch mit leicht verschwommenem Blick schaute er sich nach seinem Schützling um und sah ihn ohnmächtig da liegen. Waleri war gerade noch geistesgegenwärtig genug, in seiner Panik nicht Vladislavs Namen zu rufen. Der hatte sich den Forschern schließlich nicht als Vladislav vorgestellt.

„Hoppla“, kommentierte Professor Doktor Hülsenkorn.

schwierige Kommunikation

Berg Yonaha auf Okinawa
 

Frustriert rappelte sich Victor in seinem Holzkäfig wieder in eine sitzende Position auf. Das hatte ja keine Punkte gebracht. Mist, verdammter. Jetzt postierte sich auch noch dieser Genius Intimus draußen und passte auf, daß er nicht wieder stiften ging. Victor verschränkte mürrisch die Arme. „Eh, du sprichst nicht zufällig Russisch, oder? Ich müsste echt mal mit dir reden, Kumpel.“

Keine Reaktion. Der tätowierte, bierbäuchige Rocker-Verschnitt stand neben dem Käfig und starrte in die Ferne.

„What about English?“, versuchte Victor es als nächstes. Damit kam man doch überall auf der Welt weiter, oder? „Do you speak English at least?“

Abermals keine Regung.

„Na toll, nichtmal Englisch verstehst du?“ Okay, er war hier mitten unter Räubern, die obdachlos im Wald hausten. Welches Bildungsniveau konnte er von denen schon erwarten? Die würden wohl kaum Fremdsprachen gelernt haben. Aber die Art, wie der Kerl ihn keines Blickes würdigte, besagt mehr. Der Schutzgeist WOLLTE ihn gar nicht verstehen, begriff Victor. Der ignorierte seinen Gefangenen einfach. Suchend begann Victor wieder seine Taschen zu durchwühlen. Da diese Kerle ihm die meisten seiner Habseligkeiten gelassen hatten, würde sich sicher irgendwas magietaugliches finden. Er zog einen billigen Plastikkugelschreiber, Marke Werbegeschenk, und ein paar herausgerissene Seiten von einem Notizblock aus seiner Hosentasche. Nachdem er sich die langen, schwarzen Haare auf einer Seite hinter das Ohr geklemmt hatte, um etwas zu sehen, legte er das Papier vor sich auf den blanken Boden und zeichnete. Es musste doch mit Bann-Magie möglich sein, ein Sprachverständnis zu erzeugen, und wenn es nur kurz war. Er stückelte sich ein paar Komponenten zusammen, mit denen es seiner Meinung nach funktionieren müsste.

Loriel beobachtete das Treiben einen Moment argwöhnisch erst aus dem Augenwinkel, irgendwann wandte er sich dem Käfig ganz zu, um zu erfahren, was der Magier da drin anstellte. Er wollte schließlich keine Probleme mit dem kriegen, sonst würde Chippy ihm den Hintern bis zu den Ohren aufreißen. „ne, soko de nani o shite imasu ka? nansensu shinaide!“ [Eh, was treibst du da drin? Stell keinen Blödsinn an!]

Victor hob den Blick, lächelte leicht und drehte ihm das fertige Stück Papier hin. „Du wirst jetzt bitte mal Russisch mit mir reden, damit ich dich verstehe.“

„Egal was passiert, ich werde es bald zurückstellen“, gab der Schutzgeist daraufhin drohend und tatsächlich in Russisch zurück.

Victor zog ratlos die Augenbrauen hoch und grübelte über dem Sinn dieser Worte. Zurückstellen? Hä? Mit dieser Aussage konnte er absolut nichts anfangen.

„Wenn Sie es verlassen“, fuhr der Mann fort, „werden Sie hier wirklich nicht freiwillig rein geraten.“

„Wenn ich was verlasse?“, hakte Victor verwirrt nach.

Der graue Schutzgeist zeigte auf den Zettel. „Wofür ist eine Note gut?“

„Note? Was für eine Note? Das ist ein Blatt Papier.“ Victor war inzwischen restlos überfordert. Was der Kerl von sich gab, klang wie mit dem Google-Übersetzer zusammen gepuzzelt. Sein Dolmetcher-Bann wirkte nicht richtig. Eine Sprache war wohl doch zu komplex, um sie mit Magie simulieren zu können. Man konnte scheinbar nur die Worte imitieren, aber nicht den Sinn. Es kam nur wirres Geplapper dabei heraus. Enttäuscht hob Victor seine Bann-Magie wieder auf, indem er das Symbole-Konstrukt kräftig mit dem Kugelschreiber durchstrich. Verdammt, das war sein letzter Hoffnungsschimmer gewesen, ohne Waleris Hilfe in Japan zu überleben.

stop that!“, verlangte Loriel nochmals drohend, dann wandte er sich wieder ab.

Victor horchte auf. „Ach, jetzt sprichst du also doch Englisch, oder was?“ Er wechselte selbst wieder ins Englische, in der Hoffnung, der Kerl würde ihn zwangsweise verstehen müssen, auch wenn er nicht mit ihm reden wollte. „Hör zu, auf deinem Schützling liegt ein Fluch. Den sollte sich vielleicht mal jemand ansehen und was dagegen tun.“

Tatsächlich widmete Loriel ihm daraufhin wieder ein wenig Aufmerksamkeit. „a curse? really?

„Ein Fluch, ja.“ Oder eine Verwünschung, das war auch möglich. Aber Victor kannte das englische Wort dafür nicht, also versuchte er das gar nicht erst auseinander zu klamüsern, ob das Mädchen nun verflucht oder verwunschen war. Im Zweifelsfall kannte der Schutzgeist den Unterschied sowieso nicht. Stattdessen deutete Victor auf das einzige Zelt hier. Chippys Zelt. „Auf deinem partner.“

„Welche Art von Fluch?“

„Weiß ich noch nicht. Dafür muss ich mir das erst näher ansehen.“

„LORIEL!“, dröhnte da eine weibliche Stimme böse über das ganze Bergplateau.

Loriel sah sich genervt um. Was denn nun? Sollte er auf den Gefangenen aufpassen oder nicht? Er konnte sich doch nicht zerteilen. Nach kurzem Hadern entschied er sich, dem Ruf Folge zu leisten und Victor im Käfig sich selbst zu überlassen.
 

„Da bin ich! Du hast gerufen?“

„Ja. Wie ich sehe, kannst du mit dem Fremden reden?“, hakte Chippy in völlig undeutbarem Tonfall nach. Die Stimmlage konnte zwischen drohend und begeistert alles sein, das war echt gruselig.

„Naja ... er ... versteht ein bisschen Englisch. Nicht viel, aber immerhin“, gab Loriel verwirrt zurück. Er fragte sich, wie zur Hölle sie das so schnell erfahren hatte.

„Hab ich dir erlaubt, mit ihm zu reden?“

„Du hast es mir jedenfalls nicht ausdrücklich verboten.“

„Was hast du ihm erzählt?“, bohrte sie unbarmherzig weiter.

Das hatte schon fast etwas von einem Verhör, dachte Loriel sauer. „Nichts von Belang. Ich hab ihn nur gefragt, ob er Hunger hat, oder irgendwelche anderen Befindlichkeiten. Immerhin hältst du ihn schon ganz schön lange fest“, log er.

Chippy gab einen geringschätzigen Ton von sich. „Nun, wenn du dich mit ihm verständigen kannst, bist du ja vielleicht doch endlich mal zu irgendwas nütze. Wenn ich mit ihm reden will, wirst du dolmetschen.“

„Ach du grüne Neune ...“, äußerte der Schutzengel. „Mach dir da mal keine falschen Hoffnungen. So gut ist das Englisch von diesem Kerl nun auch wieder nicht.“

„Versuch ein paar Infos aus ihm raus zu kriegen, wer er ist und woher er kommt“, trug das Mädchen ihm auf und wollte sich schon wieder anderen Dingen widmen. Loriel war kommentarlos abgeschrieben.

„Du?“, druckste der Engel dennoch etwas herum. Er wusste nicht so genau, wie Chippy darauf reagieren würde. Wenn sie sich von dem, was er zu sagen hatte, beleidigt fühlte, hagelte es bloß wieder Strafen. „Er sagt, auf dir würde ein ... äh ... ein Fluch liegen. Er kann ihn spüren. Und wohl auch was dagegen machen, so wie es klang.“

Sein Schützling schaute ihn mit völlig uninterpretierbarer Mimik an. Ernst, aber auch ein wenig unsicher. In ihr arbeitete es. Sie wusste im ersten Moment wirklich nicht, ob sie ihm glauben oder ihn für die Unverschämtheit prügeln sollte. Ihr Schwäche zu unterstellen, oder auch nur Unwissenheit, war schon arg dreist. Sie selbst bemerkte an sich schließlich keine Einschränkungen, die für einen Fluch sprachen. Also war die Wahrscheinlichkeit denkbar gering. Aber über den silbernen Faden, der sie mit Loriel verband, spürte sie intuitiv sehr wohl, daß er nicht log.

„Könntest du vielleicht mal mit ihm reden, oder so?“, legte Loriel vorsichtig nach. Besorgt, daß ihre unschlüssige Stimmung doch noch in die falsche Richtung umschlug.

„Wenn ich Zeit habe, vielleicht. Jetzt geh wieder aufpassen, daß er nicht abhaut“, trug sie ihrem Schutzgeist auf und konzentrierte sich endlich auf andere Dinge.

Dieser Aufforderung kam Loriel nur zu gern nach und trollte sich auf der Stelle.
 

Als Loriel zurück kam, saß Victor gelassen auf dem blanken Boden seines Käfigs, die ausgestreckten Beine übereinander gekreuzt, die Hände im Genick, und tat nichts. Er machte den Eindruck, daß er nur noch aus gutem Willen hier in diesem Holzverschlag saß und artig wartete. Er hätte auch einfach gehen können, wenn er gewollt hätte. Das die paar zu Gittern zusammengeschnürten Äste ihn nicht aufhielten, hatte er ja schon einmal bewiesen.

„Also ...“ Loriel versuchte das etwas verkorkst verlaufene Gespräch von vorhin nochmal neu und besser aufzuziehen. „Wie heißt du?“, wollte er auf Englisch wissen.

„Die meisten nennen mich Victor.“

„Du bist Russe, ja?“

Er nickte leicht. „Und du?“

„Loriel.“

„Loriel, so.“ Victor ließ den Blick abschätzend über sein gesamtes Erscheinungsbild schweifen, selbstsicher, als wären keine Käfigstäbe zwischen ihnen. „Du bist aber auch kein Japaner. Loriel ist ja nichtmal ein japanischer Name. Wie haben sie dich vorhin genannt? Ro-ri-e-ru?“

„Rorieru ist die japanische Art, meinen Namen auszusprechen, ja. Im Japanischen gibt es ja eigentlich kein 'L' in dem Sinne. Ich stamme ursprünglich aus Europa. Aber mein letzter Schützling war schon Japaner, und nachdem der gestorben ist, bin ich in Japan geblieben. Chippy habe ich nun auch wieder hier in Japan gefunden.“

„Chippy heißt sie also. Wer zur Hölle ist dieses verdammte Gör? Sie hat hier das Sagen, oder? Die Halunken hier hören doch auf ihr Kommando, habe ich den Eindruck.“

Der Engel seufzte zustimmend. „Sie ist halt eine Magierin und damit hat sie in dieser Truppe hier alle Ässer auf ihrer Seite. Wenn ich ehrlich sein darf, ich verstehe auch nicht, was sie hier will. Aber sie scheint dieses Leben zu mögen. Als ihr Schutzgeist habe ich da nur wenig Mitspracherecht.“

Victor schüttelte verständnislos den Kopf.

„Und was hat dich hier her verschlagen, Russe?“, wollte Loriel wissen.

„Ich suche das 'Volk aus den Bergen'.“

Loriel kicherte. Das erste Mal seit über einem Jahr, daß er wieder lachen konnte. „Du hast es gefunden, schätze ich.“
 

Es dauerte gar nicht mal so lange, bis Chippy sich dazu gesellte. Die Sache mit dem angeblichen Fluch ließ ihr doch keine Ruhe. „ne, nani o itta nodesu ka?“ [Und, was hat er gesagt?], warf sie als Begrüßung in die Runde?

bikutoru desu. roshia-jin desu.“ [Das ist Victor, er ist Russe.], berichtete Loriel, und setzte dabei gewohnheitsmäßig konsequent alles in die japanische Aussprache um. Auch den Namen.

noroi wa dōiu imi desu ka?“ [Und was hat es nun mit diesem Fluch auf sich?]

Loriel richtete sich wieder an den Gefangenen. „Sie fragt nach dem Fluch, den du bei ihr gespürt hast.“

Victor schaute sie suchend von oben bis unten an und analysierte, was ihm dabei so für Schwingungen entgegen sprangen. Ja, das Mädchen hatte sich eindeutig einen Fluch eingehandelt. Es war ein ziemlich starker, vergleichsweise langanhaltender Fluch, der aber keine sehr offensichtlichen Auswirkungen hatte. Nun hatten Flüche die Eigenart, auf einem Gegenstand zu sitzen, der selber nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde, sondern nur dessen Besitzer gängelte. Sie musste also irgendwas bei sich tragen, worauf der Fluch lag. Ziemlich schnell fand er auch die Quelle der tückischen Magie. Er stand betont langsam und ächzend auf, um selbstsicherer zu wirken, und zeigte ruhig auf Chippys Hosentasche. „Sie hat irgendwas in der Tasche da. Das hätte ich gern.“

Bereitwillig holte sie die drei Dinge heraus, die sie bei sich hatte, ohne daß Loriel extra für sie hätte übersetzen müssen. Es handelte sich um eine Münze, einen Schlüsselanhänger aus Metall und eine Kastanie, die schon alt und ziemlich vertrocknet war. Diese drei Sachen hielt sie Victor abwartend hin.

Er ließ einen Moment die Hand darüber schweben und entschied sich für den kaputten Schlüsselanhänger, den sie wohl nur wegen des coolen, ägyptischen Motives darauf behalten hatte. „Ah ja“, meinte er verstehend und machte die Fluchmagie sichtbar. Eher, um sie selbst besser beurteilen zu können, weniger um Chippy einen sichtbaren Beweis vor die Nase zu halten. Sie schwebte wie ein blau glühendes Spinnennetz um den Anhänger und Victors Hand herum. „Dieser Fluch verändert langsam aber sicher den Charakter seines Opfers. Er macht größenwahnsinnig und rücksichtslos, wenn ich mir das so ansehe“, stellte er fest.

Loriel musste sich hart zurückhalten, um nicht zu grinsen. Ja, einhundert Punkte. Das würde er dem Russen so unterschreiben. Was der hier sagte, hätte Chippy nicht besser charakterisieren können. „doko kara kitano desu ka?“ [Woher hast du das?], wollte er von seinem Schützling wissen.

gakkō de nusunda“ [Das hab ich damals in der Schule geklaut.]

Tja, dumm gelaufen. Warum hatte sie auch immer so viel Mist verzapfen müssen? Zur Strafe hatte sie demnach noch einen Fluch gratis dazu bekommen. Und dieser Fluch machte also größenwahnsinnig. Schöner Murks. Loriel machte sich daran, ihr auf Japanisch und äußerst diplomatisch zu erklären, was genau los war. Besser machte es das aber auch erstmal nicht. Auch in dem Wissen, daß ihr garstiges Verhalten all die Zeit nur die Folge eines Fluches gewesen war, konnte er ihr nur schwer verzeihen, wie sie ihn behandelt hatte. Oder allgemein, wie das ganze letzte Jahr hier im Kreise dieser Vagabunden gelaufen war. Die kriminellen Machenschaften, die sie zusammen mit diesen Kerlen betrieb, waren inzwischen schon mehr als nur Bagatell.

Nach einigem Herumprobieren schaffte Victor es, den Fluch zu beheben. Der löste sich in einem Strudel auf, als würde er von einem schwarzen Loch eingesogen werden, und dann war er weg. Zurück blieb nur ein alter, kaputter, billiger Schlüsselanhänger aus Metall, den er Chippy auffordernd wieder hinhielt.

Sie nahm ihn dankend an. Dankend wohlbemerkt! Das hatte Loriel schon sehr lange nicht mehr bei ihr erlebt. Nachdem sie nachdenklich auf den Anhänger gestarrt hatte, und überlegt hatte, wie das Leben nun vorläufig weitergehen sollte, gab sie ihrem Schutzgeist einen Wink. „kaihō suru.“ [Lass ihn frei.]

jähes Ende

Kunigami auf Okinawa, Forschungsstation
 

„Ist unsere Testperson immer noch bewusstlos?“

„Ja.“

„Hat es funktioniert?“

„Das weiß ich nicht. Das werden wir erst sehen, wenn er wieder aufwacht.“

„WENN er wieder aufwacht“, betonte Doktor Bürstenbein.

„Nun, er hat doch überlebt, oder nicht?“

„Die meisten anderen Versuchsobjekte haben auch noch eine Weile überlebt. Aber sie sind alle früher oder später doch noch gestorben.“

„Aber der hier hält schon dreimal solange durch wie die bisherigen. Die Chancen, daß er sich wieder stabilisiert, steigen immer weiter, Herr Doktor Bürstenbein“, hielt Professor Doktor Hülsenkorn überzeugt dagegen. Würde schon gut gehen. Scheinbar hatten sie jetzt endlich das richtige Verfahren gefunden. Es mussten nur noch die Feinheiten ausgefeilt und dem Vorgang die Kinderkrankheiten ausgetrieben werden.

Der Doktor lachte leise. „Was glauben Sie, wie lange wir ihn noch hinhalten können, bis er merkt, daß das Knuddelz gar nicht giftig ist, verehrter Herr Kollege?“

„Bis jetzt spielt er bei den ganzen Tests ja gut mit. Ich rede ihm immer ein, daß ich seine Vitalfunktionen im Auge behalten muss, damit sich das Gift nicht auf irgendwas auswirkt. Mit dieser Ausrede lässt er jede Untersuchung mit sich machen.“

„Ja, aber so blöd ist er nun auch wieder nicht. Kein Mensch glaubt Ihnen, daß man drei Tage lang völlig symptomfrei mit Gift im Körper vor sich hin leben kann“, gab Doktor Bürstenbein zu bedenken. „Was haben Sie ihm für Medikamente gegeben?“

„Gar keine. Nur reines Placebo.“

„Vielleicht sollten Sie ihm Abführmittel untermischen, damit er wenigstens mal ein paar Symptome bekommt und noch eine Weile an das Gift in seinem Körper glaubt.“

Von unten kam ein verstopftes Trompeten-Tröten. Professor Doktor Hülsenkorn beugte sich lächelnd herunter und wuschelte dem Knuddelz über den Kopf, daß die langen Schlappohren nur so herumflogen. Der Hybrid trötete nochmal begeistert und rüsselte mit seiner beweglichen Nase in der Luft herum.
 

Waleri rollte im Hauptlabor ruhelos auf dem Computerdrehstuhl hin und her. Er war irgendwie zappelig, weil er mit seiner Mischung unterschiedlichster Gefühle nicht umzugehen wusste. Vladislav war jetzt schon seit über 5 Stunden ohnmächtig und wachte einfach nicht wieder auf. Sie hatten ihn im Hauptlabor in stabiler Seitenlage auf die Liege gepackt, denn das war die geeignetste Liegemöglichkeit hier. Waleri machte sich Sorgen um ihn. Außerdem war er stinksauer auf diese Pfuscher von Forschern, die ihm das angetan hatten. Und nebenbei ging es ihm nach seinem eigenen Zusammenbruch auch selber noch nicht wieder sonderlich gut. Die Wissenschaftler konnten noch nichtmal sagen, was nun so richtig schiefgelaufen war. Sie vertrösteten Waleri auf später, wenn sein Schützling wieder wach war. Dann könne man angeblich mehr sagen. Die Magnetfeld-Maschine hätte jedenfalls einwandfrei funktioniert. Langsam teilte Waleri die Skepsis, die Vladislav gegenüber diesen Laborkittelträgern gepflegt hatte, ebenfalls. Der Genius raffte sich seufzend von seinem Drehstuhl hoch, ging die zwei Schritte zu Vladislav hinüber und setzte sich mit der halben Po-Backe zu ihm auf den Rand der Liege. Den anderen Fuß ließ er unten auf dem Boden stehen. Prüfend legte er ihm eine Hand auf den Unterarm. Irgendwas hatte sich verändert. Vladislav war beim Training schon mehr als einmal K.O. gegangen. Aber das hier fühlte sich über die mentale Verbindung anders an.

Professor Doktor Hülsenkorn kam ins Labor, lud einige Sachen ab, die für seine Arbeit benötigt wurden, und schaute dann auch mal nach dem Patienten. „Na, wie geht es ihm inzwischen?“, wollte er von Waleri wissen, prüfte dabei schon den Puls an Vladislavs Handgelenk und zog ihm danach ein Augenlid auf, um zu schauen, ob sich an den Pupillenreflexen irgendwas getan hatte.

„Ich finde, er ist ziemlich kalt geworden“, bemerkte der Genius Intimus.

Professor Doktor Hülsenkorn legte seine Fingerknöchel auf Vladislavs Schläfen und auf seine Wange, um die Körpertemperatur zu prüfen. „Naja, er liegt ja auch schon seit ein paar Stunden bewegungslos hier rum. Da kühlt der Körper natürlich oberflächlich ein wenig aus, wenn er nicht zugedeckt wird. Aber das ist kein Grund zur Sorge. In unserem Labor ist es warm genug.“

Waleri brummte nur unzufrieden.

„Und wie geht es Ihnen inzwischen?“, erkundigte sich der Professor. Immerhin war auch Waleri vorhin zusammengeklappt wie ein Kartenhaus.

„Wenn du mich das allen Ernstes nochmal fragst, hast du meine Faust im Gesicht.“

Der Professor hob ergeben die Hände. „Schon gut, jetzt seien Sie doch nicht mehr böse. Wir wollen ja nur helfen.“

„Dann sag mir endlich, was hier passiert ist!“, blaffte Waleri ihn an.

„Nun ... in die Magnetfeld-Apparatur ist Bann-Magie mit eingewoben. Ihr Schützling ist auch ein Bann-Magier. Vielleicht hat er sich selber mit irgendwelchen Schutz-Bannzaubern belegt, die sich mit der Maschine nicht vertragen haben. Das ist die plausibelste Theorie, die ich derzeit habe.“

Der Schutzgeist schaute nur schlecht gelaunt weg. Wenn Vladislav irgendwelche Schäden davon trug, oder Schlimmeres, würde er die Forscher wahrscheinlich in der Luft zerreißen. Aber das sagte er erstmal nicht laut. Er wollte keine Drohungen äußern, die er dann vielleicht doch nicht wahr machte. Er war kein Mann großer Worte. Er tat lieber Dinge, die er vorher nicht angekündigt hatte.

„Ich bringe Ihnen einen Kaffee“, schlug der Professor versöhnlich vor.

„Ja, gern.“
 

Es dauerte noch eine weitere dreiviertel Stunde, dann öffnete Vladislav tatsächlich endlich müde die Augen einen Spalt weit. Er fühlte sich furchtbar und musste erstmal einordnen, wo er überhaupt war. „Waleri ...“, hauchte er heiser, als er seinen Genius Intimus auf der Kante der Liege sitzen sah.

„Hey! Gott sei Dank, du bist endlich wieder wach.“

„Was ist passiert?“, raunte Vladislav mit kratziger Stimme. Er versuchte vorsichtig, seine Glieder zu bewegen, die sich steif und taub anfühlten.

„Das wissen wir noch nicht so genau. Mit dem Magnet-Dings ist irgendwas schief gelaufen. Aber die zwei Pappenheimer können noch nicht sagen, was.“

Der Motus-Boss fröstelte sichtlich. „Mir ist kalt ...“

„Ich hol dir eine Decke.“

„Nein.“ Vladislavs Hand zuckte vor, und legte sich stoppend auf das Bein seines Schutzgeistes, bevor ihm die Augen wieder zufielen. „Nein ... geh nicht weg ... irgendwas stimmt nicht.“

„Ja, den Eindruck hab ich auch“, stimmte Waleri ruhig zu und blieb eben sitzen. Und als er versuchte, über das silberne Band zu erspüren, wie es seinem Schützling ging, fiel ihm auch endlich auf, was es war. Ihm sackte das Herz in den Magen. „Vladislav!?“

„Hm?“

„Wir sind getrennt worden!“

„Was?“ Vladislav blinzelte fragend die Augen wieder auf.

„Unsere mentale Verbindung, sie ist weg! Ich spüre dich nicht mehr!“

Er horchte nachdenklich in sich hinein, ob es ihm genauso ging.

„Ich habe es bisher auf deine Bewusstlosigkeit geschoben, daß ich keine Verbindung mehr zu dir hatte. Aber jetzt, wo du wach bist ...!?“

„Tatsächlich“, meinte Vladislav besorgt. Die mentale Verbindung zu Waleri war stets wie ein unterschwelliges Summen tief in seinem Inneren gewesen. Wenn er es ignorierte, bekam er es kaum noch mit. Je konkreter er sich darauf konzentrierte, desto stärker und deutlicher vernahm er es. Dann konnte er anhand dieses 'Summens' ablesen, wie seinem Schutzgeist gerade zu Mute war. Es veränderte sich. Und Vladislav konnte ihm sogar bis zu einem gewissen Grad seine eigenen Emotionen gewollt und absichtlich mitteilen. Zum Beispiel konnte er Waleri mittels dieser Verbindung zu sich rufen, oder ihn finden, wenn er ihn suchte. Nur, egal wie stark Vladislav diese mentale Brücke beachtete oder ignorierte, sie war nie ganz weg. Sie konnte in den Hintergrund treten, aber nie zum Schweigen gebracht werden. Aber jetzt ... !? „Ich fühle die mentale Verbindung auch nicht mehr. Wo du bisher immer gewesen bist, ist alles tot. Da ist nur noch Stille.“

dermo ...“ [Scheiße], murmelte der Genius Intimus fassungslos. „Wo sind wir hier gelandet, Vadim? Wer sind diese Kerle, und was machen sie mit uns?“

Vladislav konnte sich ein unterschwelliges Schmunzeln nicht verkneifen, auch wenn er vor Müdigkeit und Schwäche kaum wach bleiben konnte. Waleri hatte ihn schon ewig nicht mehr mit 'Vadim' betitelt. Das war ein Zeichen dafür, daß er sich Schwäche eingestand und das auch zugab. Diesen Spitznamen benutzte er für Vladislav nur, wenn er so aufgekratzt war, daß er wirklich nicht mehr ein noch aus wusste. Und das war bei diesem ochsigen Kerl selten der Fall. „Waleri?“

„Ja.“

„Ich glaube, es ist Zeit, meine Pistole raus zu kramen.“

„Dein erster sinnvoller Vorschlag, seit wir in Japan sind.“

„Eh, nicht frech werden, towarisch!“

„Nein. Würde ich mir doch niemals erlauben“, konterte Waleri hämisch.
 

Professor Doktor Hülsenkorn lehnte sich von seinem Mikroskop zurück und streckte erstmal seinen verspannten Rücken durch. „Die Werte sehen gut aus. Ich denke, wir sollten ihn nochmal ins MRT schieben, um zu sehen, was es nun tatsächlich bewirkt hat. Wenn wir erfolgreich waren, wird nichts mehr zu finden sein.“ Er schaute nebenbei auf seine Armbanduhr. „Ich hab schon seit 2 Stunden nicht mehr nach ihm gesehen.“

„Nicht so dramatisch“, meinte Doktor Bürstenbein. „Wenn sich irgendwas getan hätte, wäre sein Genius Intimus Ihnen schon auf´s Dach gestiegen, Herr Professor Doktor Hülsenkorn.“

„Ich geh trotzdem mal schauen.“

„Nicht nötig, macht euch keine Umstände“, meldete sich eine Stimme von der Tür her.

Die zwei Wissenschaftler fuhren herum. Keiner der beiden konnte es fassen, den breitschultrigen, blonden Strubbelkopf putzmunter da stehen zu sehen.

Doktor Bürstenbein entdeckte auch sofort die Pistole in der locker herunterhängenden Hand des Magiers. „Äh ... äh ... wir können das erklären!“, beeilte sich der Doktor zu versichern.

„Na, da bin ich aber mal ganz Ohr“, schoss Vladislav bittersüß lächelnd zurück, ohne zu spezifizieren, was genau er denn überhaupt erklärt haben wollte. Die zwei würden sich schon von selber um Kopf und Kragen reden, da war er sicher. Er hatte, nachdem er aufgewacht war, noch eine Stunde gebraucht, um sich halbwegs zu erholen, aber jetzt war er wieder fit genug, um sich mit den beiden Kerlen zu befassen.

„Okay, Sie haben es bestimmt schon selbst bemerkt. Das Knuddelz hat gar keinen giftigen Rüssel. Wir haben gelogen.“

Vladislav bemühte sich, seine Mimik unter Kontrolle zu halten. Hatte es nicht? Diese verdammten Halunken! Aber er spielte weiter den Informierten, der das natürlich schon längst durchschaut hatte. „Und wozu dann der ganze Aufriss?“

Doktor Bürstenbein schaute hilfesuchend zu seinem Kollegen hinüber.

„Nun ja ... wir ...“, druckste Professor Doktor Hülsenkorn herum. „Wir brauchten eine magisch begabte ... also ... quasi eine Testperson.“

Der Motus-Boss atmete tief durch. Magisch begabte Testpersonen. Hätten die für ihn gearbeitet, hätte er denen mehr magisch begabtes Experimentiermaterial geliefert, als sie jemals hätten verdauen können. Im Zusammenhang mit diesem Gedanken reifte in ihm aber gleich noch eine ganz andere Idee. „Für welche Art von Tests?“

„Wir forschen an einem Verfahren, um das silberne Band zwischen Magi und ihren Genii zu kappen.“

„Also doch“, murmelte Waleri leise von hinten.

Vladislav stemmte die freie Hand in die Hüften. „Na, das müsst ihr aber noch gehörig ausfeilen, wenn es solche Nebenwirkungen hat“, stellte er nur in den Raum, ohne zu verraten wie erfolgreich dieses Vorhaben der beiden Forscher verlaufen war. „Also, ich weiß nicht, für wen ihr bisher gearbeitet habt, aber ab jetzt arbeitet ihr für mich. Das hier ist mit sofortiger Wirkung eine Außenstelle der Motus!“, legte er fest und hob bekräftigend seine Pistole, um etwaige Widerworte zu unterbinden. Eine so gut ausgestattete Forschungsabteilung, besetzt mit einer top ausgebildeten, russisch-sprachigen Crew, die kein Problem damit hatten, illegale Projekte zu betreiben – konnte ihm denn etwas Besseres passieren? Für diese Knaben würde er gute Verwendung haben, auch wenn sie keine Magier waren.

Professor Doktor Hülsenkorn bekam vor Belustigung weiche Gesichtszüge. „Dafür müssen Sie uns nicht bedrohen, verehrter Landsmann. Wenn Sie uns bezahlen, arbeiten wir schon ganz freiwillig für Sie.“

Sein Kollege nickte zustimmend. „Ja. Sagen Sie uns doch einfach, was Sie wollen und brauchen, und wir legen los. Kein Grund, hier die guten Manieren über Bord zu werfen.“

zweifelhafte Erfolge

Berg Yonaha auf Okinawa
 

Dem Grad der Trockenheit und Härte nach zu urteilen war dieses Brötchen, das er bekommen hatte, schon mindestens 3 Tage alt. Aber das war ihm egal. Hauptsache sein Magen hörte erstmal für eine Weile auf zu knurren. Victor hatte vor Hunger schon fast Bauchschmerzen. Er saß im Schatten eines Baumes und überschaute das Treiben auf dem Bergplateau.

Loriel tauchte fröhlich grinsend vor ihm auf. „Ich wollte dir sagen, daß wir bald los können. Chippy hat nur noch was zu klären“, berichtete er auf Englisch.

„Los können? Wohin denn?“, erwiderte Victor verdutzt. Er wusste von gar nichts.

„Auf der anderen Seite des Yonaha-san gibt es eine Forschungsstation. Die haben ein Telefon. Dort kannst du dich von irgendjemandem abholen und wieder in die Zivilisation zurückbringen lassen.“

Von 'irgendjemandem'? Da war Victor jetzt kein Fan davon. Am Ende kamen bloß noch blöde Fragen zu seiner Identität, seinem Einreisestatus und dem Grund seines Aufenthalts in Japan auf. Ihm war sehr daran gelegen, erstmal Vladislav und Waleri wieder zu finden, und das wusste Loriel eigentlich auch. Er hatte dem Engel davon erzählt, daß er im Gefecht mit den Tengu von seinen beiden Begleitern getrennt worden war. Eigentlich hoffte er, daß die zwei sich inzwischen schon wieder bis zum Hotel durchgeschlagen hatten und er sie dort wiederfand. „Könnt ihr mich denn nicht nach Kunigami bringen?“

„Das liegt auch auf der anderen Seite des Berges. Aber das ist zu weit weg, um es zu erlaufen. Die Forschungsstation ist etwa auf halber Strecke, und das ist schon weit genug, glaub mir.“

„Dann werde ich fliegen und Kunigami von der Luft aus suchen. Das sollte ja nun nicht das Problem sein“, entschied der Russe einfach. Außerdem war er ja auch von Kunigami aus hier her gelaufen. Wie viel schlimmer konnte der Rückweg schon werden?

Loriel schüttelte – immer noch manisch grinsend – den Kopf. „Deine zwei Gefährten, die du suchst, sind mit ziemlicher Sicherheit auch in der Station gestrandet. Wenn sie noch leben, dann sind sie dort.“

„Na, davon geh ich mal schwer aus, daß die noch leben.“ Also gut, dann auf zu diesem ominösen Labor. Einen Versuch war es wert. Wenn es nichts brachte, konnte er von dort immer noch in seiner Greifengestalt nach Kunigami weiter fliegen. „Und was beschert dir so gute Laune?“, wechselte er das Thema.

„Ach, ich bin einfach glücklich. Chippy ist wie ausgewechselt. So freundlich und human habe ich sie noch nie erlebt. Wer weiß, was aus ihr geworden wäre, wenn du den Fluch auf ihrem Anhänger nicht gelöst hättest.“

„Gern geschehen“, meinte Victor salopp. „Wenn sie jetzt noch diese Räuberbande hier durch den Schornsteig jagt, und aufhört Dörfer zu überfallen, zu brandschatzen und Leute zu erschlagen, dann kann ich Japan beruhigt wieder verlassen.“

„Das wird sie. Sie überlegt sogar schon, ob sie die Magie-Ausbildung an der Nord-Schule fortsetzt. Eigentlich ist es ja egal, welche Schule es wird. Aber wenn sie die Ausbildung wirklich ernsthaft weitermachen will, geht für mich die Sonne auf.“

„Ist mir jedenfalls lieber, als wenn wir gegen sie vorgehen müssen. Aber sag mal, was genau tut sie eigentlich? Was ist ihre magische Fähigkeit? Kann sie andere Wesen kontrollieren?“

Loriel ließ sich bei ihm auf dem Fußboden nieder. Das Gespräch schien ja länger zu dauern. „Nein. Sie ist eine Illusionistin. Sie ruft diese Dinger nicht herbei, sondern erschafft sie selber. Ihr Talent ist vor allem das Erschaffen von Illusionen von Lebewesen, je nach Motivation und Tagesform bis zu zehn Kopien auf einmal. In den paar Monaten Ausbildung, die sie bisher genossen hat, hat sie sogar gelernt, diese Illusionen über größere Entfernungen zu dirigieren, selbst außerhalb ihrer Sichtweite. Sie kann ihre Illusionen bis zu einem Kilometer weit weg schicken, und immer noch agieren lassen.“

Victor hatte ein wenig Probleme, diesem Redeschwall zu folgen, da sein Englisch langsam ausgelotet war. Aber nach allem, was er verstand, waren diese Tengu-Dinger dann auch nur Illusionen. Das erklärte vieles. „Sieht und hört sie dann durch ihre Illusionen?“, wollte Victor wissen. Wie sonst wollte das Mädchen diese Dinger noch gezielt handeln lassen, ohne überhaupt zu sehen, wo sie waren oder auf welche Hindernisse sie stießen?

„Nein, ich glaube nicht. Sie gibt den Illusionen ihre Instruktionen mit, und dann handeln die aus eigenem Antrieb. Zwar nicht sonderlich intelligent, aber eigenständig. Chippy muss sich nur darauf konzentrieren, daß ihre Magie nicht verpufft und die Illusionen sich nicht einfach mitten über der Handlung in Luft auflösen.“

Der Vize-Boss der Motus zog ein anerkennendes Gesicht. Nicht von schlechten Eltern, dieses Mädchen.

„Sie kann hauptsächlich aus dem Nichts etwas Neues erschaffen. Witzigerweise bekommt sie komplexe, bewegte Illusionen wie Lebewesen, die rumrennen, oder auch mal einen sprudelnden Geysir, ganz gut hin. Aber zu einfachen, unbelebten Gegenständen, die tot in der Gegend rumliegen, reicht es kaum. Sie kann dir keine Kleidungsstücke oder Gebrauchsgegenstände vorgaukeln. Bestenfalls noch simple, geometrische Formen. Und vorhandene Objekte zu verändern oder verschwinden zu lassen, dafür fehlt ihr auch das Talent. Sie hat es bisher nur ein einziges Mal geschafft, aus einem 1'000-Yen-Schein einen 10'000´er zu machen. Und das war ein ungewolltes Versehen. Bewusst kann sie sowas nicht.“

„Beruhigend, daß ihre Fähigkeiten auch Grenzen haben“, murmelte Victor weniger euphorisch. Er hatte nämlich in der Tat kein einziges Ass gegen Illusionen im Ärmel, selbst wenn er wusste, daß es welche waren. „Sieht sie, was sie tut? Kann sie ihre eigenen Illusionen wahrnehmen? Die meisten Illusionisten können sich doch nicht selber verarschen, oder?“

Loriel überlegte. „Von Natur aus eigentlich nicht, das stimmt. Aber es gibt ein paar Tricks, die einem Illusionisten da helfen. Chippy hat während ihrer Ausbildung gelernt, zumindest Schemen dessen zu sehen, was andere als Realität vorgegaukelt bekommen.“
 

Der schwarze Greif kreiste einige Male über der bezeichneten Stelle in der Luft. Einerseits, um überhaupt erstmal zu entdecken, weswegen sie hier waren. Es war schon eine gute Idee gewesen, zu fliegen, um Zeit, Kraft und Nerven zu sparen, aber dieser winzige Beton-Quarter war so gut unter den dichten Baumkronen versteckt, daß man ihn von oben gar nicht wirklich sah. Victor hätte dieses Ding nie im Leben alleine gefunden. Und zum anderen musste er sich auch was einfallen lassen, wie er mit seiner Größe und Gestalt da jetzt am besten runter kam. Er konnte als Greif kaum zwischen die Bäume tauchen und landen, ohne sich an irgendwelchen Ästen aufzuspießen, oder haltlos nach unten durch zu sacken, weil die Baumwimpfel sein Gewicht nicht trugen. Er wollte es aber auch nicht riskieren, mitten im Flug seine Gestalt zu ändern. Die Sekunden, die er dafür brauchte, würden ausreichen, um ihn gnadenlos abstürzen zu lassen. Er entschied sich unter den möglichen Lücken im Baumbestand für das geringste Übel, brach etwas radikaler als beabsichtigt durch das Holz und tropfte ungelenk zu Boden. Dort nahm er wieder seine menschliche Gestalt an.

Loriel landete sehr viel eleganter neben ihm, setzte seinen Schützling Chippy ab, und ließ seine ergrauten Engelsflügel ebenfalls verschwinden, um mehr Platz zu haben. Da wären sie also.

Victor beäugte den vier mal vier Meter messenden Bau belustigt. „Ich hatte mir eure Forschungsstation etwas größer vorgestellt“, spöttelte er.

Der Engel zog eine tadelnden Miene. „Das ist nur der Eingang.“

„Ist mir schon klar. Geh du mal vor! Hier ist Magie am Werk. Ich werde da sicher nicht als erster meinen Fuß rein setzen.“

Schulterzuckend zog Loriel die Tür auf und verschwand im Inneren. Chippy folgte ihm ohne zu zögern. Victor schlussfolgerte daraus, daß die beiden schon mal hier waren und wussten, was sie da drin erwartete. Also traute auch er sich letztlich hinein und stieg die geräumige Treppe hinunter.
 

Unten erstreckte sich ein etwas längerer Gang, auf dem ihnen auch direkt eine Person im weißen Laborkittel entgegen kam. Chippy verwickelte den Mann auf Japanisch in ein Gespräch, das Victor nicht verstand. Aber da immer wieder auf ihn gezeigt wurde, oder man in seine Richtung schaute, war klar, daß es um ihn ging. Er hoffte, das Mädchen erzählte dem Kerl nichts Unvorteilhaftes.

Der Wissenschaftler löste sich schließlich von der Illusionistin und ihrem Genius und kam lächelnd herüber. „Ich grüße Sie. Willkommen in unserem Labor“, begann er in feinstem Russisch und machte Victor damit derwegen etwas sprachlos. „Ich bin Professor Doktor Hülsenkorn. Sie suchen ein paar Ihrer Kollegen, wie ich höre?“

Der Vize-Boss der Motus nickte nur mit ziemlich dummem Gesichtsausdruck. Er war immer noch zu baff, daß der Mann offensichtlich ein Russe war.

„Hier sind zufällig zwei Herren auf Grund gelaufen. Ich nehme wohl an, das sind Ihre vermissten Freunde. Der eine hat sich uns als Mika vorgestellt.“ Der Professor grinste, als würde er das lustig finden.

Victor verstand sofort, was daran so entsetzlich witzig war. „Inzwischen ist ihm 'Vladislav' lieber, oder?“, vermutete er einfach mal.

„So ist es“, kicherte der Mann gut gelaunt. „Kommen Sie, ich bring Sie zu ihm.“

„Geht es den beiden gut?“

„Natürlich, bestens.“

„Wenigstens das“, seufzte Victor erleichtert. Dem Boss hätte er ja durchaus zugetraut, sich richtig saftig in Schwierigkeiten zu bringen. Ach, was hieß 'zugetraut'? 'Voraussetzen' wäre ein treffenderes Wort gewesen.
 

Vladislav wertete mit Waleri ein interessantes, verkrüppeltes Präparat aus. Man konnte gar nicht richtig deuten, was es mal war oder was es hätte werden sollen. Der in Formaldehyd eingelegte Embryo sah entfernt wie ein missgestaltetes Raubvogelküken aus, hatte aber Fischschuppen. Sicher eines von den genmanipulierten Experimenten der beiden Forscher, das schiefgegangen war. Die Tür ging auf und ließ Vladislav aufschauen. Er traute seinen Augen kaum, als er die schulterlangen, schwarzen Haare und den Körperbau einer halben Portion erkannte. „Na, hey!? Wie hast du mich denn hier gefunden?“

„Zufall. Jemand war so freundlich, mir die Station hier zu zeigen“, lächelte Victor zufrieden zurück. Er hatte sich noch nie so gefreut, den Boss zu sehen. Endlich wieder ein vertrautes Gesicht in all diesem Situations-Chaos hier. Endlich wieder jemand, mit dem er sich problemlos unterhalten konnte.

„Wo bist du gewesen?“, hakte Vladislav neugierig nach.

„Ich habe das 'Volk aus den Bergen' gejagt. Übrigens erfolgreich. Und du?“

„Ich habe eine Motus-Außenstelle gegründet. Auch erfolgreich. Das hier ist jetzt unser japanischer Cluster.“ Vladislav deutete raumfüllend in die Runde. Dann begann er von der angeblichen Vergiftung zu erzählen.

Und Victor berichtete im Gegenzug, was er all die Zeit getrieben hatte. Davon, daß hinter dem 'Volk aus den Bergen' nur eine ganz gewöhnliche Gaunerbande steckte, mit einem fluchbeladenen Mädchen als Anführerin. Und natürlich davon, daß der Fall nun geklärt war und alles wieder seine Ordnung hatte.

„Dann gibt es also für die Motus hier vorläufig nichts mehr zu tun?“, übersetzte Vladislav.

Der Vize-Boss nickte. „Wir können zurück nach Moskau.“
 

„Der Langhaarige ist auch magisch begabt. Der ist doch ein Genius, oder?“, murmelte Doktor Bürstenbein leise. Vorsichtshalber auf Japanisch, damit er nicht versehentlich verstanden wurde. „Jetzt haben wir schon drei von denen hier.“ Er lehnte mit verschränkten Armen rücklings an einem gekachelten Labortisch und beobachtete das Zusammentreffen der drei russischen Gäste. Sein Kollege Professor Doktor Hülsenkorn, stand daneben und tat es ihm gleich. Keiner der beiden sah sehr begeistert aus. Verständlich, denn immerhin waren sie inzwischen Vladislavs Geiseln und offiziell in ein Verbrecher-Kartell mit eingebunden. Vladislav hatte ihnen unmissverständlich zu verstehen gegeben, wie groß, organisiert und gefährlich die Motus war, und was hier los gehen würde, wenn man sich den Befehlen, die künftig aus Moskau kommen würden, widersetzte. Nachdem sie Vladislavs mentale Verbindung zu seinem Schutzgeist zertrümmert hatten, hatten sie nun auch nicht gerade einen Stein bei ihm im Brett. Entsprechend wenig Geduld oder Verständnis hatten sie von ihm zu erwarten, wenn irgendwas nicht planmäßig laufen sollte. Und daß dieser Victor zu dem ganzen Gefüge mit dazu gehörte, war schwerlich zu übersehen.

böses Erwachen

„Nagut“, entschied Victor zufrieden. „Wenn hier jetzt alles in Butter ist, können wir uns ja zurück zu unserem Hotel durchschlagen und sehen, wann wir 'nen Flug nach Hause kriegen.“

„Sagt wer?“, wollte Vladislav tonlos wissen.

Sein Vize warf ihm einen lustlosen, aber unnachgiebigen Blick zu. Er hatte jetzt wirklich keine Lust mehr auf Streit oder Diskussionen.

„Seit wann hast du hier was zu melden? Ob und wann wir nach Moskau zurück fliegen, bestimme ja wohl immer noch ich.“

„Meinetwegen. Aber ich geh jetzt trotzdem ins Hotel. Ich will mir was anderes anziehen und mich verdammt nochmal endlich auf´s Ohr hauen.“

„Also ... ich wäre aber auch dafür, daß wir uns vom Acker machen“, streute Waleri von der Seite ein. „Echtes Tageslicht wäre schon mal wieder schön.“

Das leise, japanische Gespräch im Hintergrund, das zumindest Waleri hätte verstehen können, wenn er zugehört hätte, nahm keiner der drei für voll, solange bis um sie herum plötzlich Kappa aus dem Boden schossen und sie umkreisten.

Victor schloss genervt die Augen und stöhnte. Allein die Art und Weise, wie diese lästigen, normalerweise im Wasser lebenden Kobold-Dinger aus dem puren Nichts auftauchten, sagte ihm sofort, daß das nur welche von Chippys Illusionen sein konnten. Tatsächlich sah er beim nächsten Blick in die Runde Chippy mit schadenfrohem Blick bei den Wissenschaftlern stehen. Diese grinsten sich ebenfalls einen. Nur ihr Schutzgeist Loriel wirkte arg überrumpelt.

heddo-san, hai taimu datta.“ [Wird auch Zeit, Chef.], kommentierte Professor Doktor Hülsenkorn, fast lachend.

hai. i shigoto desu, o-bosu-san“ [Genau, hervorragende Arbeit, verehrter Boss.], stieg auch Doktor Bürstenbein direkt mit ein.

Victor verstand zwar nicht die Worte, aber aus dem Tonfall konnte er sehr wohl den Inhalt heraus interpretieren. Er verschränkte die Arme. „Was wird'n das jetzt!? Die zwei Typen arbeiten für dich?“

Doktor Bürstenbein schob sich seine Brille zurecht und lachte. „Ja, wir stehen in den Diensten von Lord-Lady Chippy“, antwortete er an Chippys Stelle, da er wusste, daß sie kein Russisch konnte.

Victor verengte hasserfüllt die Augen. „Loriel, du bist ein Arschloch, mich hier her zu schleppen, echt mal“, grummelte er ihren Schutzengel an. Der musste das doch gewusst haben, und hatte ihm trotzdem vorgeschlagen, hier her zu kommen? Das nahm Victor ihm jetzt aber übel.

Loriel hob hilflos die Hände. „Ich wusste das nicht, wirklich! Ich dachte, sie meint es ernst, nachdem du den Fluch aufgehoben hast!“

Chippy kicherte irgend etwas auf Japanisch. Auch wenn Waleri und Vladislav hinter ihm nicht gerade begonnen hätten, sich mit den Kappa in die Haare zu kriegen und dabei das halbe Labor zu zerlegen, hätte Victor folglich kein Wort verstanden.

„Sie sagt, sie hätte dich so oder so in diese Forschungsstation bringen müssen. Es war ihr lieber, du kommst freiwillig her. Das hat ihr viel Arbeit erspart“, übersetzte Loriel.

kēji ni nagete“ [Werft sie in den Käfig.], trug Chippy ihren Handlangern auf. Ihrem gehässigen Gesichtsausdruck sah man an, daß sie hier einen riesigen Bluff inszeniert hatte. Sie hatte nie aufgehört, Räuberhäuptling zu sein. Sie hatte nie vorgehabt, ihre Magie-Ausbildung fortzusetzen und an ihrem Leben irgendwas zu ändern. Sie hatte das alles hier nur aufgezogen, um Victor in Sicherheit zu wiegen und ihn – warum auch immer – hier her zu bekommen.

„Vladislav, spar dir die Mühe, gegen diese Dinger zu kämpfen, wenn du keinen verdammt guten Zauber gegen Illusionen drauf hast“, seufzte Victor resignierend und versuchte selber gar nicht erst, sich zu wehren.

„Das sind Illusionen!?“, quietschte Vladislav fassungslos.

„Ja. Genauso wie die Tengu gestern im Wald.“

„Aber ...“ Weiter kam er nicht, da wurde er von den Kappa an beiden Handgelenken und beiden Fußgelenken gepackt und trotz allen Gestrampels, Gezappels und Sträubens einfach weggetragen.

Professor Doktor Hülsenkorn ging mit einem Schlüsselbund voraus. „Sie wollten doch wissen, warum wir verschlossene Türen in unserem Labor haben. Ich zeige Ihnen gern mal, was in den abgesperrten Räumen drin ist“, lächelte er dabei.

„Vladislav!“, jaulte es von hinten hysterisch. Auch Waleri wehrte sich nach Kräften. Nur leider kein Stück erfolgreicher. „Ich kann mich nicht mehr verwandeln!“, zeterte er. Die Panik hörte man unmissverständlich aus seiner Stimme heraus. Solche Einschränkungen machten ihm wirklich Angst. Und Waleri war sonst kein Typ, der sich so schnell ins Boxhorn jagen ließ.
 

„Chippy ...“

Lord-Lady Chippy!“, korrigierte die junge Frau ihren Schutzgeist streng. „Und du hast Redeverbot! Ich kann mich nicht erinnern, das aufgehoben zu haben.“ Sie deutete drohend auf einen Stuhl. „Setz dich da hin, halt einfach die Klappe und geh mir nicht auf den Zünder, Bier-Wampe!“

„Ich würde es vorziehen, mal nach draußen zu verschwinden, um dir nicht auf den Zünder zu gehen.“

„Meinetwegen auch das. Dann verzieh dich.“

„Ihr seid doch immer noch ganz die Alte, verehrte Chefin“, bemerkte Doktor Bürstenbein von der Seite und nahm selbst am Tisch Platz, an den sie eben noch ihren Schutzgeist hatte hinan befehligen wollen. „Ihr habt euch lange nicht mehr hier sehen lassen.“

„Habe ich denn was verpasst?“

„Nein. Aber Ihr kommt gerade rechtzeitig zurück, meine Liebe. Eure Bestellung ist endlich eingetroffen.“

„Endlich. Dann ist mein Timing ja super.“

„In der Tat. Zumal unsere Tests gestern auch zum ersten Mal geglückt zu sein scheinen.“

Chippy merkte auf. „Oh, wirklich?“

Professor Doktor Hülsenkorn nickte stolz. „Die beiden, die Sie gerade weggesperrt haben, verehrte Lord-Lady Chippy. Bei ihnen hat es funktioniert. Wir müssen das Verfahren nur noch ein wenig optimieren. Es hat noch ein paar unschöne Nebenwirkungen.“

„Wenn ich mir die beiden so ansehe, kann es so schlimm nicht sein“, entschied Chippy überaus euphorisch.

„Also, wie sehen denn Ihre weiteren Pläne aus, Lord-Lady Chippy? Wie geht es jetzt als nächstes weiter? Und warum haben Sie den herrenlosen Russen mitgebracht?“

Chippy lachte. „Herrenlos?“

„Na, er hat doch keinen Herrn, oder? Er ist ein ungebundener Genius.“
 

Der Raum war ziemlich düster beleuchtet. Hier gab es, wie überall in dieser unterirdischen Forschungseinrichtung, keine Fenster. Aber auch mit künstlichem Licht war man recht sparsam umgegangen. Es hatte was von einem Verließ. Rings um den Raum, an den Wänden entlang, gab es fünf mehr oder weniger große Kerkerzellen aus massiven Eisengittern. Victor war in eine davon gesperrt worden, Vladislav und Waleri zusammen in die zweite direkt daneben. Die stritten gerade angeheizt. Bei ihnen lagen die Nerven echt blank, das merkte man. Sie waren beide furchtbar aufgekratzt, weil plötzlich keiner von ihnen mehr irgendeine Art von Magie wirken konnte. Waleri konnte, wie er festgestellt hatte, nicht mal mehr in seine Elasmotherium-Form wechseln, und das machte ihn fast wahnsinnig. Vielleicht hätte man sie besser in getrennte Käfige gesperrt, damit sie sich nicht noch prügelten.

Drüben auf der anderen Seite des Raumes lag außerdem noch eine Frau mit langen, schwarzen Haaren verdreht auf dem Boden und rührte sich nicht. Victor konnte auf diese Entfernung nicht sagen, ob das eines von den beiden Mädchen aus Kunigami war, die im Wald angekettet worden waren, oder ob sie überhaupt noch lebte. Aber helfen konnte er ja so oder so nicht. Die übrigen beiden Zellen waren leer. Soweit Victor das aus den Gesprächen heraus gehört hatte, gab es in dieser Station noch mehr abgesperrte Räume. In denen existierten vielleicht noch weitere solcher Käfige, wer wusste das schon. „Ich hätte die Klappe nicht so aufreißen sollen, daß alles bestens ist“, seufzte er.

Der Motus-Boss in der Nachbar-Zelle nahm den Aufhänger begeistert an und wandte sich von seinem Schutzgeist ab und Victor zu. „Der Fall ist also geklärt und es ist alles in Butter, ja?“, nörgelte er zynisch.

„Und diese beiden Wissenschaftler arbeiten für dich? Hab ich das vorhin richtig verstanden?“, konterte Victor auf der Stelle biestig. „Und das hier ist der japanische Cluster der Motus, der unter deinem Befehl steht, hast du gesagt?“

„Schon gut ...“, grummelte Vladislav zähneknirschend. Er stand selbst nicht besser oder erfolgreicher da, das konnte er wohl nicht leugnen. Dann herrschte Stille. Endlich. Der Zoff mit Waleri war vorläufig unterbrochen. Die Schimpfworte, die sich die beiden am Ende um die Ohren gehauen hatten, waren wirklich nicht mehr schön gewesen. Waleri begann seine Wut an den Eisenstäben abzureagieren, aber aufbrechen konnte er sie trotz aller Anstrengung nicht. Die hielten was sie versprachen.
 

Victor stand mit verschränkten Armen in seinem Käfig herum und tat nicht viel mehr, als vor sich hin zu schmollen. Es war echt unglaublich, was diese Illusionistin für Fähigkeiten hatte. Sie hatte ihnen allen glaubhaft gemacht, sie könnten keinerlei Magie mehr einsetzen. Genauso wie Vladislav und Waleri war Victor gerade zu einem gewöhnlichen, nicht-magischen Menschen degradiert. Obwohl er genau wusste, daß es nur eine Illusion war, konnte er tatsächlich nichts mehr tun. Er konnte sich nicht verwandeln, keine Bann-Magie wirken, nichts. Er schaffte es einfach nicht, diese Illusion abzuschütteln. Er schaute lustlos auf, als die Tür, die nur angelehnt war, sich langsam einen Spalt breit öffnete. Er wusste erst nicht, ob er hoffen oder bangen sollte, wer da wohl herein kam. Aber es war nur dieses seltsame, wuselige Ding mit den Dackel-Ohren und dem kurzen Rüssel, das neugierig herein getrabt kam. Es steckte seine herumrüsselnde Nase zuerst zwischen die Gitterstäbe von Vladislavs Zelle. Der knurrte den Hybriden gereizt an. Also verduftete es schnell und versuchte sein Glück lieber bei Victor. Da der das Tierchen ziemlich süß fand, ging er lächelnd in die Hocke und kraulte es ein bisschen, soweit er das durch die Eisenstäbe hindurch konnte. Dabei versuchte er, herauszufinden, was genau das nun für ein Tier war. Sowas hatte er ja noch nie gesehen. Nichtmal davon gelesen. Das okkerfarbene Fell war so weich.

Die Tür ging indess noch etwas weiter auf und der pelzigen Vorhut folgte der eigentliche Besuch. Loriel kam vorsichtig hereingeschlichen, fast als hätte er Angst, gesehen zu werden. Er wirkte nervös. „hey. I brought something to eat for you“ [Ich hab dir was zu essen mitgebracht], meinte er auf English.

Victor stand wieder auf und sah einige Momente lang nur ausdruckslos auf das Zuckerbrötchen, das er durch die Gitterstäbe hindurch hingehalten bekam, rührte aber keinen Finger. Kurz spielte er mit dem Gedanken, statt des Brötchens Loriels Handgelenk zu packen und ihn festzuhalten. Aber was hätte es gebracht? Der Shogu Tenshi konnte hier weder etwas ausrichten, um ihn zu befreien, noch taugte er als Geisel. Also nahm Victor irgendwann mit einem knappen 'thanks' das Brötchen an, denn Hunger hatte er wirklich. Hoffentlich war es nicht so alt und hart wie das letzte. Obwohl, dann hätte er es zumindest noch verwenden können, um es nach jemandem zu werfen. „Ist das Teil wenigstens vergiftet, damit ich das alles hier schnell hinter mir habe?“

„Bedaure, nein“, schmunzelte Loriel.

„Schade ...“

„Hör zu. Ich wollte dir sagen, daß es mir leid tut, was hier gerade läuft. Das hier hätte dir nicht passieren dürfen“, erklärte der Engel mit einem Deut auf die Käfigstäbe.

Victor zog ein etwas verbittertes Gesicht. Jetzt behauptete der auch noch, es täte ihm leid! Was für eine Frechheit. Chippy hatte ihn getäuscht. Sie hatte so getan, als sei nach der Aufhebung des Fluchs wieder alles in Butter, um ihn in falscher Sicherheit zu wiegen. Aber in Wirklichkeit hatte sie heimlich ihre Pläne weiter verfolgt und ihn gnadenlos ins Messer geliefert. Victor verstand ja nicht viel davon, ein gebundener Schutzgeist zu sein, der mit seinem Schützling mental verbunden war, aber er unterstellte Loriel, daß er zumindest das hätte wissen und merken müssen. Loriel hätte ihm ruhig mal einen dezenten Hinweis unterschieben können. „Nichts für ungut, Junge. Du hättest dieses Gör echt mal etwas besser erziehen können.“

Loriel seufzte zustimmend. „Wem sagst du das ...“

„Was genau habt ihr mit uns vor?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher, was Chippy mit dir vor hat. Ich erfahre auch nicht alles. Aber ich bin mir recht sicher, daß es mit ihrem Plan zu tun hat, mich abzustoßen.“

„Wie, 'abzustoßen'?“, fragte Victor dumm nach.

„Genau so, wie ich es sage. Sie will mich loswerden.“

„Was!?“, machte Victor schockiert. Er hatte sich also doch nicht verhört. „Du bist ihr Genius Intimus! Ihr seid über ein silbernes Band verbunden. Sie kann dich gar nicht loswerden, selbst wenn sie wollte.“

„Da bin ich mir inzwischen nicht mehr so sicher. Ich glaube, die zwei Wissenschaftler haben tatsächlich einen Weg gefunden, dieses Band zu trennen. Nicht, daß ich da böse drüber wäre. Deine Freunde scheinen der lebende Beweis zu sein.“ Er deutete vielsagend in die Nachbar-Zelle hinein. „Bei ihnen hat es ja offenbar geklappt, auch wenn der handfeste, medizinische Beweis sicher noch einige Untersuchungen erfordert und etwas dauern wird.“

Victor glotzte den alten, bierbäuchigen Rocker an wie das erste Auto. Das war so unglaublich, daß er es einfach nicht fassen konnte. Wenn sowas wirklich möglich war, dann musste das aber richtig rabenschwarze Magie sein und wäre garantiert strengstens verboten. Er konnte sich aber beim besten Willen nicht vorstellen, daß das tatsächlich irgendjemand hinbekam. „vy mne etogo ne skazali“ [Das hast du mir gar nicht erzählt], kommentierte er dann Richtung Vladislav.

„Natürlich nicht. Das ist eine viel zu gefährliche Schwäche. Ein schutzloser Magi, der keinen Genius Intimus mehr hat; was denkst du was passiert, wenn das einer mitbekommt? Ich werde Freiwild.“

„Ja, und einem Genius Intimus, der die Verbindung zu seinem Schützling verloren hat, wird es nicht besser gehen ...“

„Normalerweise ist Chippy nur hinter gebundenen Genii und ihren Schützlingen her. Was sie allerdings mit dir will ...!?“, fuhr Loriel auf Englisch fort und zog die Schultern hoch, um zu signalisieren, daß er keine Ahnung hatte. Immerhin war Victor keiner, der einen Schützling gehabt hätte.

„LORIEL!“, hallte eine drohende, weibliche Stimme durch das ganze Gebäude und ließ den Shogu Tenshi erschrocken zusammenzucken. „doko desu ka!? dan! sa! koko ni kitte!

„Ich muss weg!“, raunte Loriel in bedauerndem Tonfall und nahm die Beine in die Hand, um dem Ruf Folge zu leisten.

„Warte! Loriel!“, rief Victor ihm hinterher. „Wo sind die anderen Gefangenen alle? Was ist aus ihnen geworden? Loriel!“ Er bekam keine Antwort mehr. „dermo ...“, fluchte er leise und fuhr sich überfordert mit der Hand durch die Haare. Obwohl, eigentlich war es ja sonnenklar. Sie saßen hier in einer Forschungseinrichtung. Und diese Chippy wollte einen Weg finden, die angeborene Verbindung zwischen Magi und ihren Genii zu trennen. Es lag auf der Hand, was aus den anderen Gefangenen geworden war. Die hatten wohl als Testobjekte für entsprechende Versuche hergehalten, was höchstwahrscheinlich nicht gut ausgegangen war. Plötzlich passten auch die beiden Mädchen aus Kunigami hervorragend mit ins Bild, die man in den Wald geschleppt und angekettet hatte. Die zwei waren auch Schutzgeist und Schützling und folglich ebenfalls Versuchskaninchen gewesen. Mit deutlich weniger Hunger als zuvor biss er endlich in das Zuckerbrötchen, das er immer noch in den Fingern hatte. „Wie haben sie das geschafft?“, wollte er dabei düster von Vladislav wissen.

„Mit Bann-Magie. Ich weiß nicht ganz genau, wie es funktioniert hat, aber ich habe bei der angeblichen Behandlung ganz deutlich gespürt, daß ich einer starken Bann-Magie ausgesetzt wurde. Leider konnte ich nicht mehr schnell genug reagieren.“

Da hier momentan sämtliche Magie blockiert war, konnte Victor der Sache nicht nachgehen und an Vladislav herum analysieren. Sonst hätte er da sicher irgendwas dazu sagen können. „Hast du deine Spielzeug-Knarre noch?“, wollte er nur wissen.

„Ja. Die haben sie zum Glück vergessen, mir abzunehmen“, stimmte Vladislav zu und durchkramte seine Jackentasche nach der Pistole, die er am Flughafen bequem durch die Metalldetektoren bekommen hatte, weil sie aus Plastik war.

Victor ließ sie sich durch die Gitterstäbe hindurch reichen, prüfte den Füllstand des Magazins und überpeilte kurz den Lauf, um zu sehen, ob er gerade oder in irgendeine Richtung verzogen war. Eine alte Angewohnheit von ihm, wann immer er eine unbekannte Waffe in die Hand bekam.

„Uh, cool!“, fand Waleri, der akut aus seinem eingeschnappten Schweigen erwachte. „Gib her! Wenn diese blöde Ziege das nächste Mal aufkreuzt, knall ich sie ab!“

„Bitte, ich drängel mich nicht vor“, meinte Vladislav.

„Das werdet ihr schön bleiben lassen, wenn ihr nicht völlig bescheuert seid. Sie steht unter dem Schutz eines Schutzengels“, bremste Victor die beiden. Er schob sich die Pistole hinten in den Hosenbund, statt sie Vladislav zurück zu geben, damit keiner der beiden etwas Blödes damit anstellte. „Wenn ihr diese Chippy über den Haufen schießt, wird der zu einem Racheengel und jagt euch für den Rest eures Lebens! Und bei dem wirkt Munition nicht, das könnt ihr mir glauben.“

erschreckende Machtlosigkeit

„Du hast mich gerufen“, grüßte der Shogu Tenshi bei seiner Rückkehr zu der kleinen Wissenschafts-Konferenz.

„Ja.“

Loriel wartete vergeblich auf weitere Äußerungen. Zum Beispiel, warum sie ihn denn nun herbei befehligt hatte. „Na, und was willst du?“

„Gar nichts. Ich will dich bloß im Auge behalten. Du strolchst bei den Gefangenen rum. Das gefällt mir nicht.“

Diesem verdammten Gör entging aber auch nichts. „Was hast du mit denen vor?“, hakte Loriel also nach, weil sich die Frage einfach notgedrungen aufzwang. Er bekam keine Antwort. Chippy las weiter konzentriert den Text, den sie vor sich liegen hatte. Vermutlich ein Laborbericht der beiden Forscher. Oder eine Beschreibung des was-auch-immer-sich-in-der-kleinen-Pappschachtel-neben-ihr-befinden-mochte. Loriel fragte lieber gar nicht erst nach, was da drin war. „Chippy, das sind Touristen!“

„Das sind nie im Leben Touristen“, hielt das Mädchen überzeugt dagegen. „Touristen laufen nicht mit metalldetektor-sicheren Knarren am Arsch der Welt rum und schnüffeln irgendwelchen ungeklärten Verbrechen hinterher.“ Die beiden Laboranten hatten ihr erzählt, daß Vladislav mit einer Pistole versucht hatte, sie zu bedrohen.

„Schonmal drüber nachgedacht, daß sie dann im Ernstfall vielleicht sogar Polizisten sein könnten!?“

„Keine Sorge. Wenn sie das wären, wüssten wir es inzwischen. Ich denke eher, die sind sowas wie wir.“

„Sind sie. Der Blonde ist der Chef einer Organisation, die sich Motus nennt“, gab Professor Doktor Hülsenkorn seinen neunmalklugen Senf dazu. Vladislav hatte sie im Rahmen seiner vorübergehenden Geiselnahme ja ausführlich über die Machenschaften seines Kartells aufgeklärt.

„Dann sind sie Kriminelle? Ist ja noch schlimmer! Willst du etwa solche Leute zum Feind haben und dich mit denen anlegen?“, diskutierte Loriel weiter. Die russische Mafia war ja fast noch krasser als die Yakuza, die sie hier hatten. „Wie auch immer, jedenfalls gehören sie nicht nach Japan. Was glaubst du, was passiert, wenn die verschwinden? Denkst du, es wird keiner nach denen suchen, dort wo die herkommen? Erst recht wenn einer davon der Boss ist! Man wird sie irgendwann zurückerwarten!“

„Nicht mein Problem.“

„NOCH nicht!“

Chippy sah endlich auf und starrte ihn vorwurfsvoll an. „Hör jetzt auf, rumzudiskutieren, Mann! Ich will dein Geleier nicht hören! Setz dich irgendwo hin, wo ich dich sehen kann, und halt deinen verdammten Rand! Sonst lasse ich dich mit Medikamenten außer Gefecht setzen!“

Der Engel pflanzte sich auf einen Stuhl und tat, was sie sagte. Er wusste nur zu gut, daß sowas keine leeren Drohungen waren.
 

Chippy benötigte noch eine halbe Stunde, um sich durch den Text zu kämpfen, obwohl der objektiv betrachtet gar nicht so lang war. Hin und wieder fragte sie die Wissenschaftler nach einem Kanji, das sie nicht kannte. Das Lesen fiel ihr echt schwer, weil sie es ihr Leben lang nie sonderlich geübt hatte. In den paar Monaten in der Nord-Schule war es zwar zwangsläufig etwas besser geworden, aber anspruchsvolle Texte stellten sie nach wie vor vor echte Herausforderungen.

Als sie glaubte, dem Blatt Papier genug Informationen entlockt zu haben, legte sie es weg und öffnete endlich die kleine Schachtel, die neben ihr auf dem Tisch lag. Es kam ein gänzlich undefinierbares Objekt zum Vorschein. Eine Art unförmiger Edelstein mit ein paar eingravierten Unebenheiten, Ecken und Kanten. Er war von einem unnatürlich intensiven Dunkelblau. Selbst Lapislazuli hatte keine so kräftige Farbe. Von der Größe her konnte man das Ding gut in einer Hand halten. Da es wohl nicht bloß dazu da war, schick auszusehen, oder es jemandem an den Kopf zu werfen, konnte es nur einen magischen Zweck erfüllen. Chippy lächelte leicht, pappte den Deckel wieder auf die Schachtel und stand auf, um damit den Raum zu verlassen.

Loriel schloss sich ihr kommentarlos an.

Die junge Frau warf ihm einen bösen Blick zu, als sie merkte, daß ihr Schutzgeist hinter ihr her trottete. „Was willst du?“

„Irgendwo bleiben, wo du mich sehen kannst. Wie du es wolltest“, brummte der Shogu Tenshi mürrisch zurück.

„Hm. Auch wieder wahr. Aber steh mir ja nicht im Weg rum!“

„Ich bin ja nicht lebensmüde.“

Chippy marschierte weiter. Ihrer Richtung nach zu urteilen wollte sie direkterweise zu den Zellen, in denen die Versuchsobjekte und neuerdings auch russische Gäste weggesperrt wurden, solange man sie nicht brauchte. „Weißt du, was das ist?“ Sie hielt vielsagend ihre Schachtel hoch. Ihre Laune hob sich zusehens.

„Ich bin sicher, du verrätst es mir.“

„Dieses Artefakt habe ich von einem afrikanischen Voodoo-Meister zugeschickt bekommen. Es erzwingt eine mentale Verbindung zwischen zwei Individuen.“

Loriel überlegte, ob er das gerade richtig verstanden hatte. „Also es stellt künstlich ein silbernes Band her? Wie zwischen einem Schutzgeist und seinem Schützling?“

„Korrekt.“

„Sowas geht!?“, wollte Loriel fassungslos wissen. Das hatte er ja noch nie gehört. Aber nagut, er hatte auch nie zuvor gehört, daß sich dieses Band kappen ließ. Und doch schienen die zwei Forscher es geschafft zu haben. „Und was willst du damit? Du hast doch einen Schutzgeist! Auch wenn du mich los werden willst, bin ich immer noch dein Genius Intimus.“

Chippy lachte. „Ich will dich nicht einfach nur loswerden, Bier-Wampe. Ich will einen BESSEREN Schutzgeist. Einen, der mal richtig was drauf hat. Und dieses Artefakt hier wird mir dabei helfen.“

„Dann hast du zwei Schutzgeister?“

„Nein.“ Die Illusionistin schüttelte fröhlich den Kopf. Wie gesprächig sie gerade gegenüber Loriel war, zeugte mehr als deutlich davon, wie gut ihre Laune gerade war. Sonst sprach sie nie so viel mit ihm. „Nein. Wenn dieses Ding so funktioniert, wie es sollte, dann wird die alte mentale Verbindung überschrieben. Das silberne Band zu dir wird gelöscht und durch eins ersetzt, das mich mit jemand anderem verbindet. So als würde man am Computer Steckplätze umstecken.“

Dem tätowierten, alten Rocker wurde schlecht, als er das hörte. „Bist du auch über die Nebenwirkungen aufgeklärt worden?“, keuchte er schockiert. Chippy machte jetzt verdammt nochmal wirklich ernst!? Sie wollte ihn mit aller Macht absägen. Ob nun mit der radikalen Methode der beiden Forscher, oder mit diesem dunkelblauen Stein da, egal. Mit dem Ziel so unmittelbar vor Augen war ihr jetzt offensichtlich alles Schnuppe.

Sein Schützling schmunzelte ihn gehässig an. „Umbringen wird es dich jedenfalls nicht, wenn der Beipackzettel die Wahrheit sagt. Also keine Sorge.“ Dann schob sie die Tür auf, vor der sie inzwischen angelangt waren, und trat ins Verließ ein.
 

Die Illusionistin schaute sich interessiert in der Kammer um, die an den Wänden ringsherum mit fünf Käfigen gesäumt war. Es war dunkel, kühl und sogar ein wenig muffig hier drin. Eigentlich kein angemessener Ort für ihren zukünftigen Schutzgeist. Aber wenn sie Erfolg hatte, würde er ja nicht mehr lange hier bleiben müssen. Sie kontrollierte nochmal, ob ihre Illusionen noch einwandfrei intakt waren, die den drei Russen den Einsatz jeglicher Magie versagten. Dann galt ihr erstes Interesse Vladislav und Waleri. Die beiden lebten noch und sahen gesund und munter aus. Scheinbar hatte diese neue Methode der Forscher zur Trennung des silbernen Bandes tatsächlich Früchte getragen, ohne die Probanden umzubringen oder dauerhaft zu schädigen.

baishunpu, watashi o hanashite, soshite chippy o korosu to chikatte imasu!“ [Lass mich hier raus, du Hure, und ich schwöre, ich werde dich umbringen!], zischte Waleri sie aggressiv an. Er ließ ganz bewusst die respektvolle 'san'-Endung an ihrem Namen weg, die unter normalen Umständen üblich und grammatisch korrekt gewesen wäre.

„Sieh an, ich wusste gar nicht, daß du Japanisch sprichst“, gab Chippy amüsiert zurück, ohne diese Drohung zu werten. Natürlich hatte sie nicht vor, ihn raus zu lassen, so oder so nicht. „Wenn du so starke Sprüche klopfen kannst, kann es dir ja nicht schlecht gehen. Das freut mich.“

majo!“ [Hexe], fluchte er.

„Mh“, machte Chippy nachdenklich, als müsse sie überlegen, ob man das so gelten lassen konnte. „Ich glaube, die korrekte Bezeichnung wäre 'Magi', oder wenigstens 'Magier' oder 'magisch Begabter', oder sowas in der Art“, zog sie den Gefangenen auf und ergötzte sich an seinem stinksauren Gesicht. Er hätte sie am liebsten erwürgt, das sah man ihm an. Aber machen konnte er nichts. In seinem Käfig war er machtlos. Als sie seiner bösen Schimpf-Kanonaden überdrüssig wurde, warf sie ihn mit einer Detonations-Illusion an die Rückwand des Käfigs.

Waleri krachte schwungvoll mit dem Rücken gegen die Ziegelmauer und knickte in den Beinen ein. Er rutschte an der Wand herunter, bis er auf dem Boden zu sitzen kam. Dann hielt er allerdings einsichtig die Klappe.

Vladislav saß in einer Ecke der Zelle, die Beine lang ausgestreckt, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und verdrehte genervt die Augen. Musste Waleri sich denn selbst in so einer Situation noch mit der jungen Dame anlegen?

Chippy schlenderte weiter zur nächsten Zelle und schaute, was Victor derweile so trieb. Der hatte sich ebenfalls auf dem blanken Boden niedergelassen und harrte geduldig der Dinge, die da kommen mochten. Lächelnd zückte Chippy den Schlüssel und schloss die Zelle auf. Sie hielt ihm einladend die Tür auf. „dete kudasai“ [Raus mit dir.]

Er musterte argwöhnisch die offene Käfigtür und rührte sich erstmal nicht von der Stelle. War das gut oder schlecht? „Du willst, daß ich mitkomme?“

„Victor, geh da nicht mit!“, riet Vladislav ihm von nebenan.

„Was hab ich denn für eine Wahl?“, konterte der Vize-Boss, kämpfte sich ächzend auf die Beine und klopfte sich die Hose sauber.

Aus der Mitte des Raumes schossen Ranken aus dem Boden. Eindeutig Chippys Werk. Die Dinger konnten nur Illusionen sein. Das machte sie aber leider nicht weniger wirkungsvoll. Sie peitschten zielstrebig in Victors offen stehenden Verschlag hinein, umwickelten ihn blitzschnell wie Fesseln, und zerrten ihn ruckartig aus dem Käfig heraus. Vladislav keuchte ebenso schockiert auf wie Victor selbst, der sich für einen Moment im freien Flug befand und die Umgebung wild um sich herum wirbeln sah, um dann hart in der Mitte des Raumes auf die Erde zu klatschen. Die Ranken wendeten ihn auf den Rücken herum wie ein Schnitzel in der Pfanne, und zurrten ihn auf dem Rücken liegend bewegungsunfähig fest. Sowohl die Handgelenke wurden ihm links und rechts auf den Boden getackert, als auch die Beine. Um seine Taille schlang sich ebenfalls noch eine Liane, um ihn festzuhalten. Victor stöhnte schmerzlich auf und musste sich erstmal räumlich neu orientieren. Die unkontrollierte Ladung hatte ganz schön weh getan. Himmel, hatte die mächtige Fähigkeiten. Mit einer gescheiten Ausbildung hätte aus ihr mal eine richtig starke Magierin werden können. „Sag doch, wenn´s dir nicht schnell genug geht, Mann!“, beschwerte er sich bei Chippy.

Während Victor noch systematisch alle Schlingpflanzen durchtestete, die ihn auf dem Boden festgenagelt hielten, zog die junge Illusionistin ein abschreckend langes Messer aus ihrer Beintasche. Sie drehte die Klinge in der Hand nach unten, kniete sich neben ihn und setzte ihm die Spitze direkt auf die Brust. Victor gab seine Entfesselungsversuche sofort auf.

rorieru ni sayonara o iu“, meinte Chippy mit einem herablassenden Grinsen.

„Dir ist schon klar, daß ich dich nicht verstehe, oder?“, maulte er unbeeindruckt.

„Sie sagt, sie wird sich von mir trennen“, gab Loriel ihm zu verstehen. Auf Englisch, denn da waren die Verständigungs-Chancen größer.

Ach ja. 'ro-ri-e-ru' war die japanische Art, 'Loriel' auszusprechen, erinnerte sich der Vize-Boss der Motus. „Wie ihr meint.“

Chippy quasselte weiter auf Japanisch auf ihn ein.

„Chippy findet dich beeindruckend. Du bist nützlicher als ich. Du bist wesentlich mächtiger“, übersetzte ihr Schutzgeist sinngemäß und hörbar humorlos mit. „Du hast die gewinnbringenderen Fähigkeiten. Und nebenbei bist du auch um einiges cooler.“

Victor schaute ungläubig zwischen ihr und Loriel hin und her. Cooler, ja? Das sollte sie wirklich geäußert haben? Schlimmer noch, das sollte wirklich ein Kriterium sein, nach dem sie vorging? „Was will sie mir damit jetzt sagen?“

sore wa dōiu imi desu ka?, übersetzte Loriel diesmal in die andere Richtung und hörte sich die Antwort seines Schützlings missmutig an. Er war nicht begeistert davon, daß Chippy ihn loswerden wollte. Trotzdem dolmetchte er artig weiter. „Du sollst ihr neuer Genius Intimus werden. Sie wird dich an sich binden. Du wirst mich ersetzen. ... Und sie will wissen, was du dazu sagst.“

Dem Motus-Vize schlief das Gesicht ein. Das war der reinste Albtraum. Und was sollte er dazu schon sagen? Es war ja nicht so, als ob er die Wahl gehabt hätte, diesen Vorschlag abzulehnen, wenn er die Klinge des Buschmessers nicht eine Handbreit tiefer in seinem Herzen sehen wollte. Er konnte nur zustimmen und mitspielen und geduldig auf eine Gelegenheit warten, sich zu befreien. Früher oder später würde sie ihn ja wohl wieder loslassen müssen. Ihre magischen Fähigkeiten mussten doch irgendwann mal erschöpft sein. Sie konnte ihre Illusionen nicht tagelang aufrecht erhalten.

widerwillige Hilfe

Chippy wartete nicht auf Antwort. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, daß ihre Ranken-Illusionen hielten, und Victor ihr nicht abhauen würde, legte sie ihr Buschmesser beiseite und griff stattdessen nach der Pappschachtel. Sie öffnete die Verpackung und griff den dunkelblauen Stein mit der bloßen Hand heraus. Sofort begann der leicht aufzuglimmen, wie in dem Halbdunkel, das hier herrschte, schön zu beobachten war. Wie versprochen. So hatte es in dem beiliegenden Schreiben gestanden. Mit dem ersten Hautkontakt wurde die Magie des Artefaktes aktiviert. Um den Stein und Chippys Hand herum bauten sich einige magische Energiefelder auf, versehen mit afrikanisch anmutenden Symbolen und Mustern.

Victor kniff die Lider etwas zusammen. Das penetrante Blau tat regelrecht in den Augen weh, jetzt wo es auch noch leuchtete. Und die Magie darin war mit nichts vergleichbar, was er jemals gesehen oder in der Universität gelernt hatte. Er konnte beim besten Willen nicht einschätzen, was das war, obwohl er sich einbildete, wirklich sehr viel Wissen gesammelt zu haben.

„Chippy ... bitte ... lass es doch“, bat Loriel aus dem Hintergrund beunruhigt. „Das hier kann nicht mit natürlichen Dingen zugehen.“

„Deine Meinung interessiert mich nicht“, gab die junge Frau zu Protokoll. Sie zog Victors festgeschnürtes T-Shirt unter der Schlingpflanze heraus, die um seinen Taille gewickelt war, und legte seinen Bauch bloß.

Victor kam kaum noch dazu, ein erschrockenes njet einzuwerfen, da hatte sie ihm das elende, blaue Ding auch schon auf den Oberkörper gelegt. Für den ersten Moment fühlte es sich an, als hätte man ihm pures Eis in den Körper getrieben. Die Berührung des Steins war so kalt, daß ihm fast der Atem wegblieb. „Woar!“, keuchte er und versuchte sich reflexartig unter ihren Händen heraus zu winden. Aber er kam natürlich nicht weg. Die Fesseln hielten ihn zuverlässig. Ihre Hand blieb obenauf liegen und hielt den Stein an Ort und Stelle. Dann durchzuckte ein scharfer Schmerz seinen ganzen Rumpf, als das bloße, lähmende Kältegefühl zu etwas noch Schlimmerem wurde. „shit, that hurts! what are you doing to me?“ [Scheiße, tut das weh! Was tust du mit mir?], würgte er abgerissen hervor. Er hatte alle Mühe damit, überhaupt noch zu atmen. Sein ganzer Körper verkrampfte. Sein Herzschlag wurde langsamer und so schwer, daß er fast glaubte, es würde ihm ganz stehen bleiben. Ihm wurde erst so schwindelig, daß er sich wie in einer Achterbahn vorkam, dann verengte sich langsam sein Sichtfeld, und kalter Schweiß brach ihm aus. Alles überschattet von immer stärker werdenden, wirklich qualvollen Schmerzen, die es ihm unmöglich machten, ruhig zu halten. Sein Körper bäumte sich unkoordiniert gegen die Fesseln und schrie danach, sich endlich losreißen zu können.

Waleri und Vladislav warfen sich synchron gegen das Gitter ihrer Gefängniszelle und riefen seinen Namen. Natürlich brachte das nichts. Es diente nur dem Ausdruck ihrer eigenen Machtlosigkeit und Verzweiflung.

„She´s trying to weave a silver line“ [Sie versucht ein silbernes Band zu weben], machte Loriel Victor von der Seite auf Englisch klar.

chto!?“ [Was!?], keuchte der, vor Schmerzen mit Pressatmung unterlegt, und auf Russisch, weil er zum Übersetzen einfach nicht mehr die Nerven hatte. Sein Magen krampfte sich so fest zusammen, daß er nicht mal mehr in der Lage war, irgendwas von seinem Inhalt zu erbrechen. „eto ne rabotayet! eto nevozmozhno!“ [Sowas funktioniert nicht! Das ist nicht realisierbar!]

Loriel kniete sich daneben und ließ seine Hände ebenfalls über dem Körper des gefesselten und verschnürten Russen schweben, jedoch wohlweislich ohne ihn zu berühren. Von dieser verfluchten Magie wollte er nicht versehentlich mit erfasst werden. Nach allem, was Chippy gesagt hatte, würde sie sowieso schon mehr als genug Effekt auf ihn haben.

Chippy warf Loriel einen etwas drohenden Blick zu. „Komm mir ja nicht in die Quere!“

„Ich dämme nur seine Schmerzen ein, damit er sich nicht mehr so wehrt“, klärte der Schutzengel sie säuerlich auf.

Tatsächlich drehte und wandt sich Victor daraufhin nicht mehr ganz so qualvoll herum wie zuvor, auch wenn er immer noch schwer um Atem rang und krampfte. Von seiner Umgebung schien er jedenfalls nichts mehr bewusst mitzubekommen.

Die Prozedur dauerte lange, folterartige Minuten. Loriel fragte sich irgendwann schon, ob das überhaupt mal wieder ein Ende nehmen würde. Er konnte es gar nicht mehr mit ansehen. Schon das bloße Zuschauen tat ihm körperlich weh. „Chippy, du solltest aufhören ...“, riet Loriel ihr irgendwann besorgt.

„Halt die Klappe.“

„Ich meine das ernst. Tot nützt er dir nichts mehr“, ließ er sich aber nicht beirren und deutete auf Victors Gesicht, dem dünne Blutrinnsale aus den Augen, der Nase und dem Mundwinkel liefen.

Als Chippy das sah, nahm sie das Artefakt doch einsichtig weg und musterte den Russen eingehend, der augenblicklich in sich zusammenfiel wie ein Bewusstloser und keine Regung mehr von sich gab. Der Stein stellte eine Verbindung zwischen zwei Leuten her, die ihn gleichzeitig berührten. Deshalb hatte sie ihre Hand auch obenauf liegen lassen. Und ja, das dauerte einige Zeit. Aber die Nebenwirkungen waren doch etwas heftiger als Chippy angenommen hatte. Sie selbst fühlte sich ebenfalls nicht mehr ganz wohl. Ihr war gleichfalls schwindelig und unglaublich warm. Das sollte laut Beschreibung normal sein. Doch das war ja harmlos im Gegensatz zu dem, was mit dem Genius passierte. Auf ihn schien das wesentlich mehr Effekt zu haben. Wahrscheinlich weil er noch kein silbernes Band zu irgendjemandem hatte, sondern dieses erst komplett neu aufgebaut werden musste. Bei Chippy war ja grundsätzlich schon eines vorhanden. Es wurde nur umgepolt. Auf jeden Fall war der Prozess noch lange nicht abgeschlossen. Sie wusste, wie sich die mentale Verbindung zu Loriel anfühlte. Und zu diesem Russen hier hatte sie noch keinen vergleichbaren Draht gewonnen.

„Das sieht ja gefährlich aus“, kommentierte Loriel nervös. „Glaubst du, dein Stein funktioniert so wie er sollte?“

„Ja, tut er.“

„Dann gönn deinem Auserwählten lieber mal eine Pause.“

Mit einem ungeduldigen Stöhnen stand Chippy auf. „Du bist doch ein Heiler. Mach ihn wieder fit, damit ich weitermachen kann!“, befahl sie und schlenderte davon, um sich inzwischen etwas zu trinken zu holen.

„Na ... könntest du ihn dann vielleicht mal loslassen, damit ich arbeiten kann?“, rief der Schutzengel ihr nach. Daraufhin lösten sich die Fessel-Illusionen, die Victor auf dem Rücken hielten, auch wirklich auf.

Vladislav und Waleri merkten alle beide hellhörig auf. Etwas veränderte sich. Etwas, das sich nicht nur auf ihren Vize-Boss bezog. Vladislav rüttelte abermals an den Gitterstäben. Aber die blieben stur.

Kopfschüttelnd machte sich Loriel ans Werk und zog den russischen Genius zunächst einmal in eine stabile Seitenlage herum. Um ihn gründlich genug durchzuheilen, würde er ihm nämlich eine Hand auf die Brust und eine auf den Rücken legen müssen, damit seine genesende Magie den ganzen Körper durchfluten konnte. Zum Kämpfen hatte Loriel noch nie getaugt. Aber heilen konnte er wie ein Weltmeister. Das war sein magisches Talent. Ein magisches Talent, das ihm draußen in den Wäldern zum Glück den Respekt der Räuberbande gesichert hatte, denn die zogen sich bei ihren Überfällen häufiger mal irgendwelche Blessuren zu und hatten keinen Arzt zur Stelle.
 

Victor musste sich bewusst dazu zwingen, ein erleichtertes Stöhnen zu unterdrücken. Die heilenden Kräfte des alten, dicken Schutzengels schwappten in Wellen durch seinen ganzen Körper wie Balsam. Sie linderten die Schmerzen, entspannten die verkrampften Muskeln, beruhigten den explodierten Puls, der jetzt raste, als würde er versuchen die vergessenen Herzschläge von eben wieder aufzuholen. Das Blut rauschte in seinen Ohren, aber wenigstens nahmen das Schwindelgefühl und die jetzt ebenfalls hochkochende Übelkeit wieder ab.

Loriel beobachtete abwechselnd Victors Gesicht und Atmung, während er heilte und heilte und wartete. „Na Mensch, dich hat es aber ganz schön erledigt ...“, murmelte er leise, als es ihm langsam zu lange dauerte. Was hatte Chippys dämlicher Stein denn im Körper dieses armen Teufels angerichtet, wenn der nicht wenigstens wieder aufwachen wollte? Das Bewusstsein war doch eigentlich eines der ersten Dinge, die wieder einsetzten. Geduldig heilte Loriel ihn weiter. Manchmal wünschte er, er hätte auch sagen können, was genau er eigentlich behandelte. Aber Diagnostik-Fähigkeiten hatte er leider nicht. Er konnte nur seine Allheilmittel-Magie durch den Körper schicken wie einen Stromstoß, und der Rest regelte sich von alleine. Sogar wann es genug war, mussten seine Patienten ihm selber sagen. Auch das spürte er nicht. „come on, now open your eyes ...“ [Na komm, nun mach schon die Augen auf], redete Loriel eher mit sich selbst als mit Victor.

großer Fehler

Loriel pumpte unablässig weiter Heilmagie in Victors Körper hinein. Irgendwann musste der doch mal wieder aufwachen.

Plötzlich, aus dem sprichwörtlichen Nichts, fuhr der Russe mit einer kraftvollen Körperdrehung direkt aus der stabilen Seitenlage herum und trat Loriel mit einem seiner derben Schuhe vor den Kopf.

Der Tritt saß. Loriel prallte getroffen zurück und schlang mit einem Aufschrei die Arme um den Schädel. Ehe er den Schmerz verdaut hatte, oder gar erfassen konnte, was passiert war, war Victor schon aufgesprungen. Aber der Engel reagierte erstaunlich schnell, warf sich nach vorn, umschlang Victors Unterschenkel mit beiden Armen und brachte ihn damit wieder zu Fall, bevor er auf und davon war.

Victor drehte sich strampelnd auf den Rücken herum, sah noch wie Loriel nach dem Buschmesser langte, das Chippy vorhin hatte liegen lassen, und damit weit ausholte. Victors Augen weiteten sich erschrocken. Das Messer sauste mit Wucht auf ihn herunter. Und dann ... blieb Loriel auf einmal wie ein Standbild unbewegt mitten in der Bewegung hängen, der Mund noch zum Schrei geöffnet, aber es kam kein Laut heraus, die Augen weit aufgerissen, starr und ohne zu blinzeln. Victor glotzte ihn perplex an.

„Victor, tu irgendwas! Ich geb dir 15 Sekunden!“, rief eine etwas angestrengt klingende Stimme von der Seite.

Victor schaute zu den Käfigen entlang der Wand. Waleri hatte eine Hand in seine Richtung ausgestreckt, als wolle er nach ihm greifen. Seine Augen waren so milchig eingetrübt, daß sie wie blind und beinahe weiß wirkten. Der setzte irgendeine Magie ein. Victor schaute erneut in Loriels Gesicht, der immer noch mitten in der Bewegung eingefroren über ihm hing, rappelte sich endlich eiligst auf und rannte.
 

Victor sprintete den erstbesten Gang hinunter, um zwei, drei Ecken, bis er wenigstens außer Sicht war, dann musste er sich erstmal gegen eine Wand lehnen, Luft holen und gegen das neu explodierende Schwindelgefühl ankämpfen. Der Flur drehte sich einen Moment lang vor seinen Augen wie ein Glücksrad, und ein Schmerzimpuls zuckte durch seinen Magen, als hätte ihm jemand ein Messer in den Bauch gerammt. Er versuchte, sich nicht gleich hier zu übergeben. Trotz all dieser wohltuenden Effekte, die Loriels Heilermagie ihm beschert hatte, hatte er sich lange Zeit weiter tot gestellt, damit Loriel nicht aufhörte. Vielleicht war er mit seinem Befreiungsschlag doch zu voreilig gewesen. Aber er hatte nicht länger warten können, sonst hätte der Engel am Ende noch selber gemerkt, daß hier irgendwas faul war. Er konnte sich gut vorstellen, daß Loriel nur versucht hatte, ihn wieder wach zu bekommen. Der Shogu Tenshi hätte seinen Gefangenen wohl kaum freiwillig komplett fit gemacht und damit riskiert, daß der wieder stark genug wurde, sich zu befreien.

Als sich sein Kreislauf nach einem Moment etwas beruhigt hatte, hetzte Victor weiter und sah zu, daß er Land gewann. Auch wenn er kraftlos und zittrig war und sich nur schwer auf den Beinen halten konnte, konnte er hier nicht bleiben. Seine Verfolger würden ihm keinen Vorsprung schenken.
 

Loriel stach ins Leere. Ein Wimpernschlag und Victor war plötzlich weg. Irritiert blinzelte er nochmal und schaute sich suchend um. Es war ihm, als hätte er den schwarzhaarigen Russen wie einen Blitz davonschießen sehen, aber er war sich nicht mehr sicher, ob er das wirklich gesehen hatte. Ohne Eile rappelte sich der Shogu Tenshi wieder hoch. Pflichtgemäß gab er ein leises Fluchen von sich, machte aber keine Anstalten, Victor zu folgen. Einerseits würde er den vermutlich eh nicht einholen und zum anderen gönnte er dem Russen die Chance tatsächlich. Denn was Chippy hier tat, war einfach falsch und moralisch unhaltbar. Loriel hatte echte Gewissensprobleme mit diesem ganzen Vorhaben, von der Erfolgswahrscheinlichkeit mal ganz abgesehen. Er hoffte fast, daß Chippy diesen Victor nicht wieder eingefangen bekam.

Waleri in seinem Käfig atmete so schwer, als wäre er gerade eine ziemliche Strecke gerannt, aber er grinste Loriel dabei selbstgefällig an.

Der Schutzengel kam in Ruhe näher. „waleri-san wa sore o shimashita ka?“ [Bist du das gewesen?], wollte er wissen. Er wusste nicht, ob dieser Waleri Englisch verstand. Er hatte aber sehr wohl mitbekommen, daß der Japanisch sprach.

„Ja, war ich.“, gab der überaus zufrieden zurück und lachte auch noch schadenfroh dazu. Das hatte er super hinbekommen, wie er fand. „Deine Chippy hat nicht nur die Fessel-Illusionen gelöst, sie hat SÄMTLICHE Illusionen aufgehoben. Auch die, die uns daran gehindert haben, Magie einzusetzen. Wir sind wieder im Spiel, Kumpel!“

Loriel atmete unglücklich durch. Schöner Mist. Aber nagut, da war Chippy ja quasi selber Schuld dran.

„Kannst du dich auch wieder verwandeln?“, wollte Vladislav von Waleri wissen. Er hatte zwar genau so wenig mitbekommen wie Loriel, störte sich aber nicht daran. Er kannte seinen Genius Intimus und dessen magische Fähigkeiten schließlich bestens.

„Ja, ich denke schon. Das sollte ich in diesem engen Käfig aber lieber nicht ausprobieren. Ich würde dich an den Gitterstäben gnadenlos zerquetschen.“

Vladislav rüttelte erneut prüfend an den Eisenstangen. „Schade. In deiner Einhorn-Gestalt hättest du uns sicher hier raus bekommen.“
 

Chippy schlief das Gesicht ein, als sie herein platzte und sich umsah. Loriel stand vor einem Käfig und plauderte in aller Ruhe mit Vladislav und Waleri, statt wie befohlen ihren neuen Schutzgeist zu heilen. Von diesem fehlte übrigens jede Spur. „Lori!? Wo ist Victor hin?“, verlangte sie in drohendem Tonfall zu erfahren. Sie war so außer sich, daß sie sogar vergaß, ihn mit einem der üblichen, beleidigenden Spitznamen zu betiteln.

Professor Doktor Hülsenkorn, der hinter ihr stand und nicht herein konnte, weil sie wie angewurzelt in der Tür stehen geblieben war, schaute fragend über ihre Schulter. „Ist er etwa weg?“

„Äääääh~“ Loriel überlegte fieberhaft, wie er das erklären sollte. Die Welle an Wut und Entrüstung, die von seinem Schützling über die mentale Verbindung zu ihm herüber schwappte, reichte bereits, um ihn etwas einzuschüchtern, obwohl es ja eigentlich nur bedingt seine Schuld war. „Mit deinen Illusionen ist da was schiefge-“

„Du hast ihn laufen lassen!?“, pflaumte Chippy ihn hysterisch an, noch ehe er wirklich irgendwas sagen konnte. Wie eine Furie rauschte sie herein. „Das wirst du büßen! Das war dein Todesurteil, Freundchen!“ Sie griff grob in Loriels Haare, um ihn daran in eine der freien Zellen zu zerren. Hinter ihm warf sie die Tür zu und er war eingesperrt.

Loriel stöhnte schmerzlich und rieb sich die malträtierte Kopfhaut. Dabei sah er sich in der Zelle um. Sie hatte ihn ernsthaft eingesperrt? Ihren eigenen Genius Intimus?

„Wenn ich wieder da bin, werde ich mich um dich kümmern. Ich werde dich brechen, du nichtsnutziger Versager! Mein Wort darauf! Ich werde dein gottverdammtes Selbstbewusstsein so in Scherben schlagen, daß du nie wieder ungefragt ein Widerwort von dir geben wirst! ... Und bis dahin überlasse ich dich den Wissenschaftlern!“

Der Schutzengel bekam riesige Augen. „Was!?“

„Uh, echt!?“, wollte Professor Doktor Hülsenkorn begeistert wissen. Sofort zuckte es ihm in den Fingern. Er wollte schon so lange mal einen echten Shogu Tenshi erforschen. Dazu bekam man nur extrem selten Gelegenheit.

„Macht mit ihm, was ihr wollt. Lori gehört euch“, bestätigte die junge Magierin. Sie wandte sich ab und ging. Der lästige Schutzengel, oder was mit ihm passierte, war ihr vollkommen gleichgültig. Hätte sie gekonnt, wäre sie ihn schon viel eher los geworden. „Nur, wenn die Trennung des silbernen Bandes wirklich mit kurzweiliger Bewusstlosigkeit einher geht, dann lasst das bleiben, bis ich wieder da bin. Ich will da draußen nicht mitten im Gefecht plötzlich umkippen, wenn ich diesen Victor wieder einfange.“

„Was!? Nein! Chippy!“ Loriel warf sich gegen das Gitter und umklammerte die Stäbe mit beiden Händen. „Du kannst da nicht alleine raus! Du kannst nicht ohne Schutzgeist draußen rumrennen! Chippy! Nimm mich mit! Das ist gefährlich! Geh nicht alleine!!!“ Seine Stimme wurde immer lauter und panischer, je mehr sie sich entfernte. „Komm zurück! Neeeiiiinnn!“ Er riss abermals wie ein Wahnsinniger an den Eisenstäben.

„Hör auf, rumzuspektakeln! Du gehörst jetzt mir!“, verlangte Professor Doktor Hülsenkorn und hackte mit der Kante einer Klemm-Mappe auf Loriels Finger, damit er die Gitter losließ.

chto sluchilos'?“ [Was ist passiert?], wollte Vladislav leise von Waleri wissen, da er das japanische Gezoffe nicht hatte mitverfolgen können.

„Was wohl? Die Zicke ist angepisst, daß Victor entkommen ist.“

„Schon klar. Aber warum ging hier gerade so ein riesen Terz los? Hat sie Loriel an die Forscher verkauft?“

„Das auch. Aber in erster Linie wird Chippy die Forschungsstation verlassen, um Victor zu jagen. ALLEINE, wenn du verstehst, was ich damit sagen will.“

Vladislav blies überrumpelt seine Wangen auf. „Das wird Probleme geben.“

„Ja. Nicht nur für Chippy, fürchte ich.“

gemeinsame Vergangenheit

Waleri ließ sich neben seinem Schützling wieder zu Boden plumpsen, um sich auszuruhen. Der Einsatz seiner Fähigkeit, so kurz er auch gewesen sein mochte, hatte ihn ganz schön geschlaucht. Wie immer. Darum nutzte er sein magisches Talent auch so ungern in vollem Umfang. „Super. Victor ist weg und wir sitzen immer noch hier fest. Der hat uns einfach im Stich gelassen, der Sack. So dankt er mir das also.“

„Nein-nein, keine Sorge“, gab Vladislav gelassen zurück. „Der wird schon wiederkommen und uns noch helfen.“

„Du vertraust diesem Kerl viel zu sehr.“

„Warum nicht?“ Der Boss warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, bevor er wieder wegschaute.

„Wie lange kennst du ihn schon? Ein paar Monate? Ein Jahr?“

„Du untertreibst. Und ich habe auch keinen Grund, ihm nicht zu trauen.“

Waleri zog die Stirn in Falten. Na, HATTE Vladislav denn einen Grund, ihm zu vertrauen? Hatte er irgendwas Gutes gegen ihn in der Hand, oder so? Irgendwas, was ihm seine Loyalität sicherte? „Du weißt ja bis heute nichtmal, was er überhaupt ist! Hat er dir jemals seine wahre Gestalt gezeigt?“, hielt er dagegen.

„Victor ist ein Gestaltwandler. Selbst wenn er mir irgendwas zeigen würde, was er angeblich ist, könnte ich nie ganz sicher sein. Also ist es auch egal.“

Waleri gab es auf und diskutierte nicht weiter.

Vladislav warf ihm abermals einen Blick aus dem Augenwinkel zu.

„Warum guckst du mich denn dauernd so schief von der Seite an?“, wollte Waleri wissen, weil ihn das langsam aber sicher nervte.

mne zhal'. [Tut mir leid.] Es ist so ungewohnt, nicht über die mentale Brücke zu spüren, was du empfindest, oder was du von einer Sache hältst. Ich muss dir ins Gesicht schauen, um wenigstens anhand deiner Mimik das Nötigste zu erraten.“

Diese Aussage stimmte den Genius wieder milde. Das ging ihm auch so, selbst wenn er solche Gefühlsduseleien niemals offen zugegeben hätte. „Glaubst du, das silberne Band zwischen uns ist wirklich gekappt?“

„Zumindest fühlt es sich so an. Ich spüre es nicht mehr. Ich fühl mich innerlich irgendwie halb tot. Da fehlt was.“ Es herrschte Ruhe, da Vladislav vergeblich auf eine Antwort wartete. Nur untermalt von Loriels Toben in der Nachbar-Zelle. Vladislav schaute wieder kurz herüber. „Wenn diese Verbindung wirklich weg ist, Waleri ... Wirst du dann jetzt eigene Wege gehen? Oder wirst du bleiben?“

„Was ist das denn für ´ne bescheuerte Frage!?“, begehrte Waleri beleidigt auf.

„Ich frag ja nur.“

„Was wäre dir denn lieber? Willst du mich gern los haben!?“

„Nein. Das wollte ich damit nicht sagen“, versuchte Vladislav ihm betont ruhig zu erklären. Er hörte sich regelrecht deprimiert an. „Aber dieses Leben, das wir führen ... die Leitung eines Verbrecher-Kartells wie der Motus, mit all dem Waffenschmuggel, Sklavenhandel, Mord und Totschlag ... vielleicht gefällt dir das ja nicht. Vielleicht würdest du lieber nichts mehr damit zu tun haben wollen. Ich wäre dir jedenfalls nicht böse, wenn es so wäre. Ich könnte es verstehen.“

Waleri lachte trocken und, ja, sehr humorlos. „Wenn ich dich mal dran erinnern dürfte, dann war ich derjenige, der dich überhaupt da hin gebracht hat, Kumpel.“ Er kannte Vladislav schon so lange. Seit der 12 Jahre alt war, war Waleri nicht von seiner Seite gewichen und hatte Vladislavs ganzes seitheriges Leben mit ihm geteilt. Er war der, der Rache für Vladislavs erschlagenen Sohn gewollt hatte. Und Vladislav durfte ihm glauben, daß er an Wolodja gehangen hatte, auch wenn es Vladislavs Sohn gewesen war, und nicht sein eigener. Er hatte den Hass gegen die Rotkappen in Vladislav gesät, und gegen alles andere, was noch so da draußen rumkroch. Er hatte Vladislav klar gemacht, daß Kreaturen auf Erden wandelten, die es nicht geben dürfte, und daß die Staatlichen nichts dagegen taten. Er hatte Vladislav die Jagd auf gefährliche Genii zur Aufgabe gegeben, damit sein Leben nach dem Tod seines Sohnes wieder einen Sinn bekam, weil er schon kurz davor gewesen war, sich selber wegzuräumen. ER, Waleri, war das gewesen! Er hatte Vladislav dazu gebracht, seine Knarre lieber auf andere zu richten, statt sich die Mündung an den eigenen Kopf zu halten. Eigentlich war Waleri der, der die Motus ins Leben gerufen hatte und am Laufen hielt, auch wenn er sich offiziell im Hintergrund hielt. Vladislav als Boss der Motus war da ein wenig sein Strohmann, einfach nur weil es blöd ausgesehen hätte, wenn ein Typ, der mit Waffengewalt Genii jagte, sich von einem Genius herumbefehligen ließ. Aber der Einfluss, den er auf Vladislav ausübte, war maßgeblich. Und Waleri war schon ein Schlitzohr gewesen, lange bevor es Vladislav in seiner Welt überhaupt gegeben hatte. Mit einem redlichen, braven Spießer-Leben wäre er totunglücklich.

„Meine Frau hätte das sicherlich nicht gewollt, daß sowas aus uns wird.“

„Deine Frau!“, betonte Waleri anklagend, „... ist abgehauen und hat dich verlassen, weil sie den Tod eures Sohnes nicht richtig verkraftet hat!“ Vladislav wusste nicht mal, wo sie inzwischen hin war, wo sie jetzt lebte oder was sie gerade machte. „Sie ist nun wirklich die letzte, die noch ein Recht darauf hat, über dein Leben mit zu bestimmen.“

„Ach, das sagst du jetzt nur, weil du sie nicht mochtest.“

„Ich? Sie war es, die MICH nicht mochte. Weil sie wusste, daß ich ein Gauner bin und es mit Recht und Ordnung nicht so eng sehe.“

„Darum habe ich dich ja auch gebeten, es zu unterlassen.“

„Und ich HABE es ja auch unterlassen, solange sie da war. Und? Hat das deinen Wolodja gerettet? Oder hat es deine Ehe gerettet?“

Vladislav seufzte leise. Inzwischen musste er seinem Genius Intimus nicht mal mehr ins Gesicht sehen. Er hörte schon am Tonfall deutlich genug, wie er drauf war. Seine Frau, selbst nicht magisch begabt, war einfach nicht gut damit klar gekommen, daß sie ihn nie für sich alleine gehabt hatte, und da konnte er sie sogar ein bisschen verstehen. Sie musste ihn immer mit Waleri teilen. Man konnte es 'Eifersucht' nennen, wenn man wollte. Aber Fakt war, daß seine Frau und Waleri sich gegenseitig nie ausstehen konnten. Wie sie vor allem direkt nach Wolodjas Tod mit Waleri umgesprungen war, war schon mehr als nur Trauer-Biestigkeit gewesen. Sie hatte Waleri förmlich die Schuld am Tod ihres Sohnes gegeben, einfach nur weil er ein Genius war. Dabei waren Vladislav und Waleri nichtmal in der Nähe gewesen, als es passiert war. Glaubte sie denn, Waleri hätte es nicht verhindert, wenn er gekonnt hätte? Vladislav kratzte sich unglücklich im Genick und sagte nichts mehr. Dieser Diskussion war er ohnehin nicht gewachsen. Wie auch? Waleri hatte ja Recht.

Loriel in der Nachbar-Zelle war unterdessen zusammengebrochen und heulte. Vladislav fragte sich, ob Waleri auch so ausgeflippt wäre, wenn man ihn von ihm getrennt hätte. Schutzgeister hingen doch sehr viel extremer an ihren Schützlingen, als sie gemeinhin zugeben wollten. Auch so ein Nebeneffekt der mentalen Bindung.

Was hätte wohl seine Schwester dazu gesagt, wenn sie das alles noch erfahren hätte? Leider bestand ja auch zu ihr kein Kontakt mehr. Der liebe, kleine Sonnenschein, Klassensprecherin, immer vorzeigbar gekleidet, immer artig, in der Schule gute Noten, dann eine steile Karriere in einem ehrbaren Beruf. Seine Schwester war das perfekte Kind, wie Eltern es sich wünschten. Entsprechend war sie auch meistens mit mehr Aufmerksamkeit gesegnet gewesen. Mit Vladislav als einzigem Magier in der ganzen Familie hatte man nicht so recht umgehen können, und noch weniger mit dem zwielichtigen Waleri, der aus dem Nichts aufgetaucht und quasi über Nacht einfach in das Haus der Familie mit eingezogen war. Natürlich war auch seine jüngere Schwester nicht perfekt. Aber sie war gut darin, es jedem glaubhaft zu machen. Darum hatte sie inzwischen auch keinen Kontakt mehr zu Vladislav. Der passte nicht in die perfekte Fassade ihres Lebens.

Waleri, der nun seinerseits vergeblich auf weitere Diskussionsbeiträge wartete, holte Luft und trieb das Thema eben selber weiter voran. „Also wenn du mich nicht mehr willst, dann schick mich weg. Wenn nicht, dann lebe damit, daß ich bleibe.“

Vladislavs Blick ruckte erschrocken herum. „Bist du etwa beleidigt?“, wollte der Motus-Boss wissen und sah seinem Genius Intimus nun doch wieder ins Gesicht, um ihn einschätzen zu können. Was sollte diese Wortwahl? Das hätte man jetzt durchaus netter formulieren können.

„Du fragst mich ernsthaft, ob ich eigene Wege gehen will! Nach allem, was wir gemeinsam erlebt und durchlebt haben. Ja, verdammt, natürlich bin ich beleidigt! Denkst du, ich hau jetzt einfach ab? Als Magier ohne Schutzgeist bist du doch so gut wie tot. Magier haben nicht grundlos Schutzgeister! Und du hast Magie nichtmal studiert. Du hast bloß eine stupide Ausbildung.“

„Was willst du damit jetzt sagen?“, verlangte er in drohendem Tonfall zu erfahren. Vladislav wusste zwar sehr genau, was sein Genius Intimus damit sagen wollte, aber es nochmal aus seinem Mund bestätigt zu hören, machte einfach mehr Spaß, wenn man sich gepflegt streiten wollte.

„Gib es zu: Du bist mittelmäßig!“, motzte Waleri aber ungebremst weiter. „Du hast nichts auf dem Kasten! Jedenfalls nicht genug, um alleine zu überleben! Du kriegst ja mit deiner Bann-Magie nichtmal solche schnöden Türschlösser hier auf, um uns zu befreien! Deinem verehrten Victor wäre das nicht passiert. Der hätte den Käfig garantiert im Null Komma Nichts auf gehabt!“

„Jetzt krieg dich wieder ein, Mann“, nörgelte Vladislav langsam gefrustet. Nebenbei bemerkt hatte Waleri selbst nicht studiert. Er hatte nichtmal eine Ausbildung vorzuweisen. Er hatte gar nichts! Er hatte immer nur geboxt, das war das Einzige, was er konnte. Weil er in Russland als Boxer nichts geworden war, hatte er sein Glück irgendwann in Japan versucht, bei den Sumo-Ringern. Und daß auch das nicht erfolgreicher verlaufen war, hatte nur bedingt damit zu tun, daß die nationalstolzen Japaner sich in ihrem eigenen Land nicht von Ausländern übertrumpfen lassen wollten. Jedenfalls durfte Waleri sich ja wohl als letzter über unzureichende Ausbildung beschweren. „Ich wollte mit dieser Frage doch nicht sagen, daß du gehen sollst. Ich wollte dir bloß klar machen, daß ich dich nicht dazu zwingen würde, zu bleiben, falls du es nicht willst. Du bist nicht mein Eigentum und ich kette dich nicht an. Ich respektiere dich als eigenständiges Individuum mit einem eigenen Willen und mit eigenen Freiheiten. Als jemanden mit einem eigenen Leben. Ist das denn so schlimm für dich?“

„Allein, daß du in Betracht ziehst, ich könnte gehen wollen ... Du machst mich fassungslos, echt.“

„Waleri“, seufzte sein Schützling um Vernunft bittend. „Du bist alles, was mir noch geblieben ist. Das einzige, was ich noch habe. Ich würde dich niemals wegschicken. Bitte missversteh mich nicht, wenn ich dir in so einer Situation hier Freiheiten lassen will und mich für deine Wünsche interessiere.“ Dabei deutete er vielsagend auf die Gitterstäbe, um das Wort 'Situation' zu konkretisieren. „Es kam in unserem Leben immerhin selten genug vor, daß wir wirklich mal bei irgendwas eine Wahl hatten.“

Der Genius Intimus schnaufte leise. „Schon gut, ich hab überreagiert, tut mir leid. Ist gerade eine sehr extreme Lage, in der wir hier stecken.“

„Ja, ist es. Wir sind beide ganz schön am Ende. Also lass uns nicht streiten, okay?“

hartes Gefecht

Victor Akomowarov fand die Treppe nach oben, stürzte förmlich aus dem wenige Quadratmeter messenden Betonklotz hinaus, der hier den Ein- und Ausgang darstellte, und türmte Hals über den Kopf in den Wald. Er war selber ein wenig erstaunt, daß er ohne jedes Hindernis aus der Forschungsstation heraus kam. Er begegnete niemandem, der ihn hätte aufhalten können, und er wurde auch nicht von irgendwelchen magischen Fallen an der Flucht gehindert. Obwohl es hier tatsächlich Gefangene gab, nahmen die Forscher wohl nicht an, daß aus diesem Komplex jemand ungefragt verschwinden könnte. Aber selbst, wenn die sich ihrer Sache so sicher waren, hätte Victor doch zumindest eine Quarantäne-Schleuse in einem medizinischen Labor schon für sinnvoll erachtet. Zum Glück hatten die sein Verschwinden nicht schnell genug bemerkt. Loriel würde einige Momente Zeit brauchen, um Alarm zu schlagen.

Er rannte ein Stück weit planlos durch den Wald, darauf achtend, möglichst eine andere Richtung einzuschlagen als die, in die die Tür ausgerichtet war, aber irgendwann musste er sich erschöpft auf einen Felsen setzen und Pause machen. Sein Magen hatte sich wieder beruhigt, aber die Kopfschmerzen waren nervig. Und er fühlte sich absolut nicht fit. Seine Kondition war in Mitleidenschaft gezogen. Er war aus der Puste und seine Beine waren so schwer, als wäre er schon etliche Kilometer gerannt. Was auch immer Chippys blöder Stein mit ihm angestellt hatte, gesund war das nicht.

Victor schaute zurück und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Dabei ließ er die letzten paar Minuten in der Forschungsstation revue passieren. Es war alles so schnell gegangen. Zu fliehen statt zu kämpfen war ein purer Reflex gewesen. Das bedeutete aber auch, daß er wieder zurück musste, um Vladislav und Waleri zu retten. Wer weiß, was mit den beiden jetzt angestellt wurde, wenn Victor weg war. Was hatte Waleri getan, um den Shogu Tenshi mitten in der Bewegung einzufrieren? Das war nicht einfach nur ein Paralyse-Zauber gewesen. Denn selbst wenn Loriel sich nicht mehr hätte bewegen können, hätten die Schwerkraft und sein eigener Schwung ihn nach vorn umfallen lassen müssen. Aber der hatte förmlich frei in der Luft gehangen. War Waleri etwa ein Tempomat? Konnte er die Zeit anhalten? Von solchen Wesen hatte er in der Tat gehört, aber die waren heutzutage verdammt selten. Das war eine aussterbende Begabung, sehr alte Schule. Das fand man inzwischen eigentlich gar nicht mehr. Er konnte sich kaum vorstellen, daß Waleri ausgerechnet so einer sein sollte.
 

Der Vize-Boss testete kurz ein paar Bann-Schilde durch, um zu sehen, ob seine magischen Fähigkeiten unter Chippys Prozedur gelitten hatten. Er fluchte ungeniert auf, als er gleich darauf eine Rotte Tengu in gelben Gewändern durch die Bäume hindurch heran rauschen sah. Chippys lllusionen. Er war also bereits gefunden worden. Das ging schnell. Als hätte sein Einsatz von Magie diese Dinger angelockt wie ein Leuchtsignal. Er zog Vladislavs Pistole, die er immer noch hinten im rückwärtigen Hosenbund stecken hatte, und schoss die Dinger ab. Aber wie schon letztes Mal zerpulverten sie zu Sand und manifestierten sich gleich darauf neu. Mit gewöhnlicher Munition wurde man die nicht los. Und Victor hatte auf die Schnelle auch keinen hilfreichen Bann auf Lager, den er auf die Munition hätte legen können. Der einzige, der eventuell mit sehr viel Glück etwas hätte ausrichten können, dauerte jetzt zu lange. Er ärgerte sich ein wenig, daß Chippy sich nicht selber zeigte. Hätte er die über den Haufen geschossen, wäre Ruhe gewesen. Er hätte Loriel fragen sollen, was man gegen ihre Illusionen tun konnte, als der dafür noch gesprächig genug gewesen war.

Eine Druckwelle aus Wind-Magie, wie sie für Tengu typisch war, traf ihn und schleuderte ihn rückwärts von den Füßen. Victor schaffte es noch, im Flug drei schnelle Schüsse abzugeben. Aber ob er dabei irgendwas getroffen hatte, bekam er nicht mehr mit, da er in diesem Moment schon hart mit dem Rücken auf den Boden krachte. Schon wieder. Als hätte die artgleiche Bruchlandung im Labor nicht schon gereicht. Den Kopf hatte er reflexartig auf die Brust gezogen, so daß er zumindest nicht mit dem Hinterkopf aufschlug, aber durch seine leicht gedrehte Landung knallte er mit der rechten Schulter am wuchtigsten auf. Victor brauchte eine Sekunde, um erstmal schmerzhaft zu stöhnen und wieder Luft zu holen. Dann nahm er sich aber sofort wieder zusammen und sah sich nach seinen Gegnern um. Der Kampf war immerhin noch nicht zu Ende. Weitere Tengu segelten auf ihn zu. Er sprang auf und rannte. Schießeisen brachten hier nichts, solange Chippy nicht selber auftauchte. Loriel hatte gesagt, sie könne ihre Illusionen etwa einen Kilometer weit weg schicken. Vielleicht schaffte er es ja, ihrem Aktionsradius zu entkommen und nicht wiedergefunden zu werden.
 

Nach einer relativ kurzen Strecke brach er unvermutet aus dem Wald und fand sich vor einem langgezogenen See wieder. Er glaubte sofort zu wissen, wo er war. Wenn er die Karte von Okinawa richtig in Erinnerung hatte, lag dieser See östlich vom Berg Yonaha. Er hatte keine Ahnung, wie das Gewässer hieß, aber er begrüßte die Lücke im Wald sehr. Endlich genug Platz, um sich zu verwandeln. In seiner Greifengestalt wäre er mit den mächtigen Schwingen ja nicht durch die Baumkronen gekommen.

Victor warf die Pistole weg, versuchte sich noch zu merken, wohin er sie geschmissen hatte um sie später wieder einsammeln zu können, wandelte seine Gestalt und schraubte sich mit einigen, kräftigen Flügelschlägen in die Luft. Aber er war noch gar nicht ganz auf den kaum 100 Meter breiten See hinaus geflogen, da musste er schon einsehen, daß es eine blöde Idee gewesen war. Tengu konnten immerhin auch fliegen. Ohne viel Federlesen nahmen sie die Verfolgung auf und jagten ihn eben in der Luft weiter. Einer der Tengu schnitt ihm den Weg ab und zwang ihn zu einem harten Ausweichmanöver. Victor verlor den Aufwind und klatschte trudelnd ins Wasser, ohne sich noch abfangen zu können. Seine Reflexe und seine Flugkünste waren für solche anspruchsvollen Nummern einfach nicht trainiert genug. Auch wenn er grundsätzlich fliegen konnte, sofern er die richtige Gestalt annahm, verbrachte er doch 99 Prozent der Zeit am Boden.

Mit dem Wasser kam Victor klar. Es war zwar kühl, aber bei weitem nicht so eisig und lähmend wie der blaue Stein, den Chippy ihm angetan hatte. Nur die plötzliche Ruhe war etwas irritierend. Unter Wasser herrschte eine gänzlich andere, viel gedämpftere Akkustik. Hier unten war es unglaublich still. Um so deutlicher hörte Victor um sich herum mehrere große Objekte wie Projektile durch die Oberfläche schießen und ins Wasser eintauchen. Er öffnete die Augen, was unter Wasser nicht gerade angenehm war, und sah drei Tengu auf sich zu tauchen. Ihre weiten Gewänder bauschten sich geisterhaft auf. Tengu unter Wasser. Jetzt übertrieb Chippy mit ihren Illusionen aber wirklich, dachte Victor genervt. Er strampelte sich an die Oberfläche hinauf, um Luft zu holen, und verwandelte sich aus seiner Greifen-Gestalt heraus in irgendeinen großen Fantasie-Fisch ohne reales Vorbild, denn für solche Feinheiten fehlten ihm gerade die Nerven. Hauptsache er konnte schwimmen. Dann sah er zu, daß er weg kam. Gestaltwandlung war schon eine praktische Sache. Auch wenn er spürte, daß es ihm langsam an die Substanz ging. Die Magie fiel ihm zunehmend schwerer. Er hatte in den letzten 24 Stunden nicht geschlafen und kaum etwas gegessen. Genauso wie auf die körperliche Verfassung wirkten sich Übermüdung und Unterzuckerung auch auf die magische Kondition aus.
 

Er hatte sich gerade zurück ans Ufer gerettet und wieder seine menschliche Gestalt angenommen, da hatte er die blöden Dinger schon wieder am Hacken. Die waren echt lästig. Kämpfen konnte man gegen sie nicht, aber weglaufen konnte man auch nicht. Langsam gingen Victor die Kraft und die Ideen aus. Er hatte sich noch nie dermaßen hilflos und aufgeschmissen gefühlt. Sonst war er eigentlich immer ein recht starker und souveräner Kämpfer, der sich nicht so leicht unterbuttern ließ. Aber Illusionen waren genau die eine magische Fähigkeit, gegen die er mit seinen magischen Begabungen absolut nichts ausrichten konnte. Und das sollte was heißen, immerhin hatte er drei Stück davon. Ein Tengu rauschte im Tiefflug frontal auf ihn zu. Der Russe gab es auf, weiter davonlaufen zu wollen. Damit spielte er sich nur selber tot. Stattdessen zog er seinen allerletzten Trumpf, einen elementaren Erd-Schild. Der Tengu, obwohl er nur eine Illusion war, prallte gegen den magischen Schild wie ein Rammbock und wuchtete Victor damit rustikal zu Boden. Er landete halb im Wasser, zwischen einigen Felsen. Dieser Schild blockte wirklich alles. Der Schild hielt auf jeden Fall. Die Frage war nur, ob man als Magier auch den Schild halten konnte. Die Wucht der Schläge, oder das Gewicht, das auf einen herunter donnerte, wurde durch den Schild nicht im mindesten gemindert. Wenn der Gegner einen ungespitzt in den Boden rammte, dann eben zur Not auch mitsamt dem Schild. Man konnte sich ausrechnen, wie hilfreich dieser elementare Erd-Schild für Victor war, bei seiner schmächtigen Statur. Er ließ die Magie des Schildes verpuffen, rollte sich auf der Seite zusammen und schlang schutzsuchend die Arme um den Kopf. Er hatte verspielt, schlicht und einfach. Gegen ein junges Straßenmädchen, das, soweit er wusste, nichtmal eine richtige Ausbildung absolviert hatte. Unfassbar. Und das alles nur, dachte er verbittert, weil Vladislav ihm den ganzen Schlachtplan über den Haufen geworfen hatte. Victor wäre von vorn herein ganz anders an diese Sache heran gegangen, wenn der Boss nicht dabei gewesen wäre. Und er hätte sich Chippy und ihrer Bande auch nie im Leben gezeigt, sondern hätte seine Beobachtungen und Aktionen aus sicherer Entfernung betrieben. Wäre alles nach Plan verlaufen, hätte Chippy bis heute nicht gewusst, daß Vladislav und Victor überhaupt existierten. Und sie wären auch alle miteinander nie in dieser dämlichen Forschungsstation gestrandet, wenn Vladislav wenigstens auf ihn gehört hätte und mit in das Räuberlager gekommen wäre, statt zu flüchten. Die Tengu umkreisten ihn wie ein Schwarm Geier. ... und dann verschwanden sie.
 

Der Vize-Boss der Motus sah vorsichtig und argwöhnisch auf und fragte sich, was das sollte. Er traute dem Frieden nicht.

Zwischen den Bäumen kam Chippy mit einem siegessicheren Lächeln heraus geschlendert, wie auf einem Stadtbummel. „ne, akiramete imasu ka?“ [Na, gibst du auf?], wollte sie honigsüß wissen.

Victor ließ den Kopf erschöpft wieder auf einen der Felsen fallen. Hatte es noch Sinn, weiter zu kämpfen? Selbst wenn er nicht so ziemlich am Ende gewesen wäre? Verzweifelt suchte er nach einem Grund, weiter zu machen. Wofür eigentlich? Er hatte ja inzwischen gar nichts mehr, wofür er lebte oder wofür es sich zu kämpfen lohnte. Seit er in die Motus mit hineingezogen worden war, war er Vollzeit-Verbrecher ohne ein eigenes Privatleben, ohne Freunde, ohne Familie, ohne Interessen. Ob er nun für Vladislav arbeitete, oder für diese Chippy, sofern ihr blaues Stein-Artefakt ihn nicht umbrachte, was machte das schon für einen Unterschied?

Chippy spazierte über das kurze Stück Uferwiese und hob dabei eine Hand, um eine weitere ihrer Illusionen loszulassen.

andere Ebenen

See östlich vom Berg Yonaha
 

Victor rappelte sich wieder auf, als er Chippy geruhsam näher kommen sah. Innerlich zwar etwas schwerfällig, aber äußerlich nahm er Haltung an und fuhr seinen Chef-Modus auf. Der Rücken aufrecht durchgestreckt, die Schultern angespannt, das Kinn selbstbewusst etwas auf die Brust gezogen, lauernd, aber nicht so sehr, daß es arrogant wirkte. In seine Augen legte er eine gute Ladung Überlegenheit und in seine Mimik wohldosierte Beherrschtheit. Die Handbewegungen, als er seine Körperachse neu zu Chippy ausrichtete, wurden sparsamer und langsamer, wodurch unterbewusst eine hoheitliche Macht suggeriert wurde, wie von jemandem der es nicht nötig hatte, selber einen Finger zu rühren, außer um würdevoll seine Untergebenen damit herum zu befehligen. Seine Körpersprache hatte er inzwischen derart psychologisch ausgefeilt, daß ihm keiner mehr irgendeine Art von Schwäche abkaufen würde. Gegenüber den dusseligen Motus-Handlangern zog diese Masche, wenn er sein viel zu harmloses, kleingeratenes Erscheinungsbild kompensieren musste. Vielleicht ließ sich Chippy davon ja nicht beeindrucken, aber wenn er schon unterlag, dann wollte er wenigstens aufrecht stehend verlieren, und nicht im Matsch liegend wie ein echter Versager. So würdelos wollte er den Kampf dann auch wieder nicht beenden. Er ärgerte sich zu Dreck, die Pistole weggeworfen zu haben. Jetzt hätte er sie brauchen können. Nagut, wenn er sie bei der Verwandlung nicht sowieso verloren hätte, wäre sie spätestens nach dem Tauchgang im See nicht mehr zu gebrauchen gewesen, aber trotzdem ... Ob er mit seiner Bann-Magie etwas gegen sie ausrichten konnte, jetzt wo sie sich endlich persönlich zeigte und sich dem Kampf selber stellte?

Als die junge Dame in ihrem festlichen Kleid, das irgendwie so gar nicht für den Wald zu taugen schien, eine Hand hob, um Magie einzusetzen, blitzte um sie herum ein wolkenhaftes Gebilde auf. Nur einige verschwommene Schlieren in der Luft, etwa so wie ein Hitzeflirren, gerade am Rande der Wahrnehmung. In diesem fast unsichtbaren Dunst, der um Chippy herum einige Kubikmeter Raum einnahm, tauchten mehrere undefinierbare Wesen auf. Undefinierbar, weil sie nicht wesentlich sichtbarer waren als die schummrige Masse von Magienebel, in dem sie hausten. Man erahnte eher ihre Bewegungen als ihre konkrete Gestalt.

Victor starrte sich fast die Augen aus dem Kopf, bei dem Versuch, von diesen geisterhaften Phänomen Genaueres zu erkennen. Aber erst als die Dinger sich auf Chippy stürzten und Chippy aufschrie, wurde ihm so richtig klar, daß das gar keine ihrer eigenen Illusionen war. Ihre Magie hatte hier nur irgend etwas ausgelöst. Eine Falle wahrscheinlich. Aber die Tatsache, daß diese magische Falle nahezu unsichtbar war, irritierte Victor ungemein. Er war sich sogar halbwegs sicher, daß er sie auch nur deshalb ausmachen konnte, weil er zu einer Art Genii gehörte, der solche Wahrnehmungsspektren hatte. Für Menschen waren die sicher komplett unerfassbar. Sowas hatte er noch nie erlebt. Ratlos schaute er zu, wie die Illusionistin in Windeseile von diesen Dingern eingewoben wurde, und war insgeheim froh, daß er vorhin mit seinem elemantaren Erd-Schild nicht näher an der Stelle gestanden hatte. Sonst wäre er am Ende noch selber in die Falle gegangen. In ihm kam unwillkürlich das Bild von einem Spinnennetz auf, in das Chippy hinein geraten war, und wo sie sich nun mit einem ganzen Nest voll Spinnen herumschlug, die natürlich sofort über sie herfielen. Aus seinen Recherchen über japanische Yokai in der Bibliothek fielen ihm spontan nur die Jorôgumo und die Tsuchigumo ein. Beides waren Arten garstiger, asiatischer Spinnen-Dämonen, die Menschen anfielen und fraßen. Jorôgumo traten aber eigentlich einzeln und in der Gestalt schöner Frauen auf, und nicht wie hier als Pulk. Ein ganz anderer Gedankenblitz schoss ihm in diesem Zusammenhang auch noch in den Kopf.
 

Schutzgeist: Der Schutzgeist, auch Genius genannt, ist ein Geisterwesen, welches Magiern, Schamanen oder Hellsehern hilfreich zur Seite steht und diese vor Gefahren der anderen Ebene, auch als Astralebene oder Geisterwelt u.ä. bezeichnet, schützt.
 

Oberste Regel: Jeder Genius, ob gebunden oder nicht, ist verpflichtet einem Begabten (Magier, Schamane, Hellseher, o. ä.) in Not zu helfen, sofern dies nicht mit den Pflichten gegenüber dem eigenen Schützling in Konflikt gerät. Bei Zuwiderhandlung ist der betreffende Schutzgeist zu bannen.
 

Auszug aus dem Codex Geniorum, herausgegeben vom Amt für Genii und Magi *
 

Victor kannte den Codex auswändig. Jeder Genius, der auch nur ansatzweise mal mit dem Bildungssystem Bekanntschaft gemacht hatte, kannte ihn auswändig. Den bekamen Genii vom Kindergarten an eingebläut, bis in die Universität hinauf. Victor hatte sich nie viel darauf versprochen, denn er fand dieses Gesetz ziemlich ungerecht. Der Schutz der Menschen vor Genii; darauf waren sämtliche Regelwerke der zivilisierten Welt ausgelegt. Als ob das alles wäre. Wer schützte denn bitte die Genii vor den Menschen? Seit Victor in der Motus aktiv war, die auf Genii im großen Stil Jagd machten, stand er mit dem Codex Geniorum noch viel mehr auf Kriegsfuß, denn hier erlebte er ja hautnah, wozu magisch begabte Menschen Willens und in der Lage waren.

Wie dem auch sei, jedenfalls ging Victor auf, daß er es hier gerade mit dieser besagten „anderen Ebene“ zu tun hatte. Es gab Wesen, die zwischen der irdischen Welt und der Astralebene hin und her wechseln konnten und sich auf der Astralebene verbergen konnten wie hinter einem Tarnumhang. Dann sah man sie als irdisches Wesen nicht mehr. Manche lebten komplett dort und kamen gar nicht mehr auf die stoffliche Ebene zurück. Tsuchigumo gehörten auf jeden Fall zu den Kreaturen, die zwischen den Ebenen wechseln konnten, aber Victor war sich nicht so sicher, ob das hier solche Viecher waren. Es gab immerhin auch Magie, die auf der Astralebene wirkte. Man konnte, die nötige magische Begabung vorausgesetzt, Fallen auf der Astralebene stellen, die auch auf die irdische Welt Effekt hatten, wenn sie ausgelöst wurden. Vielleicht hatte Chippys Magie auch einfach bloß so eine Falle auf der Astralebene getriggert. Victor fragte sich, wo ihr Schutzgeist Loriel eigentlich hin war. Der hätte sie doch jetzt retten können, wenn er hier gewesen wäre. Oder vielleicht hätte sogar seine bloße Anwesenheit schon verhindert, daß sich irgendwelche anderen Wesen an ihr vergriffen. Es gab durchaus Genii, die Menschen vorsätzlich übel mitspielten, oder auch nur scherzkeksmäßig ihren Schabernack trieben. Bei Magiern, die einen Schutzgeist bei sich hatten, waren solche Witzbolde aber wesentlich vorsichtiger, weil das in der Regel schlecht für sie ausging. Dafür hatten Magier schließlich Schutzgeister, und deshalb hießen Schutzgeister so.

spektakuläres Ende

Forschungsstation
 

Professor Doktor Hülsenkorn kam mit einem Arsenal medizinischer Instrumente herein. Er wollte endlich einen Engel erforschen, wie es ihm versprochen worden war. Das waren unglaublich lehrreiche Wesen mit wahnsinnig faszinierenden, magischen Fähigkeiten. Jeder Forscher leckte sich die Finger nach sowas. Leider waren Shogu Tenshi genauso stark wie selten. Und die, die es gab, stellten sich verständlicherweise nicht freiwillig als Versuchskaninchen zur Verfügung. Die beiden Wissenschaftler hatten quasi einen Deal mit Chippy ausgehandelt. Wenn sie ein Verfahren fanden, Loriel von ihr zu trennen, durften sie ihn behalten. Darauf waren sie natürlich nur zu gern eingegangen. Chippy lieferte ihnen immerhin genug Versuchskaninchen ins Labor, damit sie nach Herzenslust all ihre Forschungen betreiben konnten. Und das silberne Band zu kappen war ganz sicher nicht das einzige, was die beiden Genetiker interessierte.

Loriel, der in seinem Käfig schon seit einer ganzen Weile reglos auf der Seite gelegen hatte, rührte sich auch nicht, als der Professor aufschloss und herein kam.

Professor Doktor Hülsenkorn rempelte ihn grob an und sagte irgend etwas auf Japanisch, entlockte dem tätowierten Rocker damit aber ebenfalls keine Reaktion. Also zog er sich einen Arm seines Probanden heran, zückte eine schon vorbereitete Einwegspritze und versuchte, ihm zunächst erstmal eine Ladung Blut abzunehmen. Loriel ließ es widerstandslos mit sich geschehen. Wie jemand mit einem gebrochenen Willen. Von Chippy eigenhändig hier eingesperrt und absichtlich zurückgelassen worden zu sein, hatte ihn wohl gründlich fertig gemacht.

„Diese Memme ...“, maulte Waleri in der Nachbar-Zelle leise. „Ich hätte dem Kerl den Schädel eingeschlagen, wenn der mir mit einer Nadel in den Käfig reingekommen wäre. So eine super Chance, und Lori nutzt sie nicht.“

„Sei still da drüben. Du bist der Nächste, versprochen“, kommentierte Professor Doktor Hülsenkorn nur schmunzelnd.

„Komm nur her, towarisch. Ich warte.“

„Waleri!“, mischte sich sein Schützling Vladislav bittend von der Seite ein. „Du bist gerade nicht in der Position, so die große Klappe zu haben.“

„Nur, weil ich hier drin nicht meine wahre Gestalt annehmen kann, ohne dich zu erdrücken! Sonst wäre dieses Kapitel schon längst abgehakt!“

„Dann mecker nicht, wenn du auch keine besseren Ideen hast.“

„Du bist´n Penner“, fand Waleri und brachte seinen Schützling damit zum Schmunzeln. Solche freundlichen Worte waren zwischen ihnen zwar nicht an der Tagesordnung, aber doch geläufig genug, damit sie wechselseitig wussten, wie sie das zu verstehen hatten. Sie nahmen sich kühle Betitelungen gegenseitig nicht übel, weil sie wussten, daß es nicht ernst gemeint war. Zwischen zwei kriminellen, gestandenen Kerlen wie ihnen durfte der Umgangston ruhig mal etwas rauer werden.

Manchmal fragte sich Vladislav allerdings schon, wer von ihnen beiden eigentlich das Sagen hatte. Als Magi war Vladislav an sich der, der bestimmte, was zu tun war und wo es lang ging. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit waren Schutzgeister noch das persönliche Eigentum ihrer Schützlinge gewesen, nicht besser als Sklaven. Der gesellschaftliche Status der Genii Intimi hatte sich in den letzten Jahrzehnten zwar etwas gewandelt und es gab immer mehr Magier, die ihren Schutzgeist als ebenbürtigen Partner betrachteten und ihm einen eigenen Willen zugestanden, aber vom Grundsatz her hatten sie als Magier immer noch die Befehlsgewalt inne. Bei Vladislav und Waleri war diese Grenze von Anfang an arg verschwommen. Vladislav, damals erst 12 Jahre alt, hatte natürlich nicht die Kraft gehabt, den wesentlich älteren Waleri irgendwie großartig zu maßregeln. Und da er als einziger Magier in seinem Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis auch keinerlei Vergleiche zu anderen magisch begabten Menschen hatte, hatte sich ihm diese Rollenverteilung auch nie aufgedrängt. Er als kleiner, naiver Junge, ließ sich gern von dem erwachsenen, durchsetzungsfähigen, draufgängerischen Schutzgeist beeinflussen, der ihm, im Gegensatz zu seinen Eltern, so viel Zeit und Aufmerksamkeit widmete und ganz allein für ihn auf der Welt war.

Als Vladislav später erwachsen geworden war, seine eigene Familie gegründet und einen Sohn gehabt hatte, hatte sich daran natürlich auch nicht mehr viel geändert. Waleri war einfach nur ein ständiger, wenn auch etwas zweifelhafter und zwielichtiger Begleiter und Freund geblieben, der halt immer da war, und der Vladislav seine Meinung im Zweifelsfall durchaus auch ungefragt sagte. Nachdem sein Sohn Wolodja von einer Rotkappe erschlagen wurde und seine Frau in ihrer Verzweiflung die Sachen gepackt hatte und abgehauen war, war Vladislav in ein so tiefes Loch gefallen, daß er für jede Art von äußerer Beeinflussung empfänglich gewesen war. In dieser Zeit hatte Waleri ihm sehr viele von seinen richtungsweisenden Meinungen und Plänen eingetrichtert, um ihn irgendwie am Laufen zu halten und zum Weiterleben zu bewegen. Von dieser Linie, die Waleri ihm vorgegeben hatte, war er auch nicht mehr abgewichen, nachdem sein Selbstbewusstsein zurückkehrt und stärker als je zuvor war. Aber auch, wenn die Idee der Motus ursprünglich von Waleri gekommen war, war Vladislav heute mit Leib und Seele Chef dieses Verbrecherkartells. Er war sich in dieser Beziehung absolut mit seinem Schutzgeist einig. Er stand völlig hinter dem, was sie beide taten, und hatte auch keinerlei Gewissensbisse dabei. Er jagte gefährliche Genii aus Überzeugung. Und das hätte er nicht getan, auch nicht auf Waleris Drängen hin, wenn es nicht seinem Wesen und seiner Natur entsprochen hätte. Waleri mochte sehr viel eigene Initiative mit einbringen und den Kurs maßgeblich mitbestimmen, teilweise sogar indem er Vladislav einfach überstimmte, aber Vladislav fühlte sich nie gegen seinen Willen zu irgendwas gezwungen, was er grundsätzlich gar nicht hätte verantworten können. Er war nur manchmal etwas grummelig, wenn Waleris Wortwahl gar zu herrisch wurde. Vladislav war der Meinung, daß man auch in Ruhe über alles reden konnte. Aber manchmal schoss das Ego seines Schutzgeistes, der sein Leben lang immer nur gekämpft und im Ring Gegner vermöbelt hatte, eben über.

Loriel drehte sich unvermutet auf den Rücken herum, so daß Professor Doktor Hülsenkorn mit einem erschrockenen Laut versuchte, der Bewegung zu folgen, um die Kanüle im Arm nicht abzubrechen. Der Shogu Tenshi sah sich konzentriert um, als würde er auf etwas lauschen, was nur er hören konnte. Die Nadel in seiner Ellbeuge nahm er scheinbar gar nicht für voll.

nan' desu ka?“ [Was ist denn?], wollte Professor Doktor Hülsenkorn wissen, insgeheim am Überlegen, ob er lieber den Rückzug aus dem Käfig antreten sollte, wenn Loriel plötzlich wieder so putzmunter war.

„Chippy steckt in Schwierigkeiten“, stellte der Schutzengel wie eine Tatsache in den Raum und lauschte weiter in die Ferne.

„Spürst du die mentale Verbindung zu ihr?“

Loriel nickte.

„Wahrscheinlich ist sie wieder mit ihrem Artefakt zugange.“

„Nein. Das ist was anderes. Sie wird schwächer. Und sie hat Panik.“

„Hätte ich an ihrer Stelle auch, wenn ich mit solcher Magie rumspielen würde wie mit diesem Voodoo-Stein, den sie da hat. Logisch, daß die Verbindung zu dir schwächer wird, wenn sie ihn wieder im Einsatz hat. Los, jetzt lass mich das Blut fertig ziehen!“

Loriel blieb ungerührt weiter auf dem Rücken liegen und starrte zur Decke hinauf. Sein Atem wurde tiefer und schneller. Seine Gesichtszüge wurden weicher, bis irgendwann erst ein Lächeln und dann regelrechte Vorfreude daraus wurde. Loriels Augen begannen zu strahlen wie die von Kindern zu Weihnachten.

Der Professor zog kopfschüttelnd die Nadel aus seinem Arm und fuhr mit seinen Untersuchungen fort.

„Es ist vollbracht“, raunte der Shogu Tenshi heiser. „Sie hat mich losgelassen.“ Mit diesen Worten erhob er sich und stand auf. Professor Doktor Hülsenkorn ging überrascht in Deckung. Loriel wechselte in seine wahre Gestalt. Die des in die Jahre gekommenen, dickbäuchigen Schutzengels mit dem struppigen Schnurrbart und den vom Alter ergrauten Flügeln. Ein heller werdender, gleißend weißer Schein umgab ihn, in dessen Licht er sich zu verändern begann. Seine zwei Flügel wurden noch größer, pompöser und schneeweiß, und es erschienen noch zwei Paar weitere dazu. Das graue, schulterlange Sauerkraut, das er auf dem Kopf hatte, wuchs sich zu wunderschönen, langen, kupferroten Haaren aus. Die unrasierte Haut wurde wieder jung, rein und glatt. Die in der Tat schon etwas schlechten Zähne wurden wieder perfekt. Die Tattoos verschwanden spurlos von einem inzwischen makellosen, schlanken Körper. Dann war das Licht, das ihn einschloss, indess so hell geworden, daß es blendete und man von Loriel nichts mehr erkannte. Er verschwand in dem Licht, zugegeben ein wenig unspektakulärer als gedacht. Der ursprungslose Lichtschein verschwand, und Loriel mit ihm. Zurück blieb nur Professor Doktor Hülsenkorn in einer ansonsten leeren Käfigzelle.

„Neid erregend“, kommentierte Vladislav trocken. „Hast du schonmal von Engeln mit 6 Flügeln gehört?“

Waleri nickte leicht. „Cheruben. Er hat gerade auf Japanisch gesagt, das silberne Band zu Chippy wäre weg. Seine aktive Dienstzeit als Schutzengel ist demnach jetzt vorbei. Lori ist zu was Höherem geworden und auf die Astralebene gewechselt. Daher auch das Licht.“

„Weil die Verbindung zu seinem Schützling weggefallen ist?“

„Wer weiß!? Schon möglich.“

„Er hätte wenigstens 'tschüss' sagen können.“ Vladislav und Waleri schauten sich gegenseitig ratlos an. Tja, weg war er. Ein seltsamer Sinneswandel, den Loriel da hingelegt hatte. Vor einer halben Stunde hatte er noch geschrien und getobt, weil Chippy ihn nicht mitgenommen hatte, und jetzt hatte er sich offenkundig über das gelöste, silberne Band gefreut. Und was jetzt? „Also, wenn die Verbindung zwischen Loriel und Chippy weg ist ...“, überlegte Vladislav laut, „... ist das gut oder schlecht für Victor?“

Ehe Waleri dazu eine Vermutung äußern konnte, brach die Hölle los. Alle Käfige sprangen gleichzeitig auf, die Türen wurden regelrecht aus den Schlössern gesprengt. Ein Erdbeben schüttelte die ganze Forschungsstation. In anderen Räumen ging hörbar sehr viel Glas und Technik zu Bruch. Das Licht flackerte und die Belüftungsanlage bekam hörbare Aussetzer. Von den Wänden bröckelte der Putz so bedrohlich herunter, daß man dachte, der gesamte unterirdische Komplex würde jeden Moment in sich zusammenstürzen. „Raus hier!“, entschied Waleri gedankenschnell, schnappte seinen Schützling an der Schulterpartie seines T-Shirts und schob ihn durch die offen stehende Käfigtür nach draußen. Auch wenn der schwankende, bebende Boden die Flucht zu einem Tanz auf Eiern machte, mussten sie hier weg, bevor die Wissenschaftler einschreiten konnten oder der ganze verdammte Bau über ihnen zusammenbrach. So eine Chance bot sich mit Sicherheit kein zweites Mal. Von der Decke rieselten ganze Gesteinsbrocken herunter. Auf ihrem Weg durch andere Räume sahen sie, daß die Käfigtüren nicht die einzigen waren, die sich geöffnet hatten. Sämtliche Schränke, an denen sie vorbei kamen, standen sperrangelweit offen und der Inhalt lag zumeist wild verstreut davor auf dem Boden.

„Ist das Lori?“, wollte Vladislav keuchend wissen und torkelte auf dem bebenden Boden mit eingezogenem Kopf neben seinem Genius Intimus her. „Legt der hier gerade die ganze Station in Schutt und Asche?“

„Die Macht dazu hätte er als Cherube durchaus“, stimmte Waleri zu, wobei er suchend den Gang hinauf und hinunter schaute.

„Der Ausgang ist links rum!“

„Echt? Ich hätte schwören können: rechts!“

„Du und dein super Orientierungs-Sinn! Du würdest hier nie mehr raus finden!“, zog Vladislav ihn ungeduldig auf und lief einfach los. Nach links, wie er angekündigt hatte, und vorbei an einem funkensprühenden, gerissenen Starkstromkabel.

gebändigte Zeit

See östlich vom Berg Yonaha
 

Chippy schrie Victors Namen und rief um Hilfe. Auch wenn er kein Japanisch verstand, war ihr Tonfall doch eindeutig genug. Und vom Codex Geniorum her wäre Victor eigentlich sogar dazu verpflichtet gewesen, ihr zu helfen. Das Problem war nur, daß Victor selbst keiner war, der auf die Astralebene hätte wechseln oder darauf hätte Einfluss nehmen können. Er konnte hier nichts tun, selbst wenn er gewollt hätte – ob er wirklich gewollt hätte, mal dahin gestellt. Er konnte nur machtlos zusehen, wie Chippy binnen weniger Sekunden verblasste, durchscheinend wie ein Geist wurde, und von diesen Wesen langsam aber sicher auf die andere Seite gezogen wurde. Für einen Menschen hieß das im Klartext, die Seele verließ den Körper. Chippy würde sterben, zumindest auf der irdischen Ebene. Dann verschwand auch die gesamte, halb-unsichtbare Spinnennetz-Wolke wieder, samt der Kreaturen, die darin hausten.
 

Victor atmete durch und sackte erstmal erschöpft in eine kniende Haltung hinunter. Gott, diese Dinger waren wie ein Sechser im Lotto gewesen. Die hatten ihm das Leben gerettet, mindestens aber seine Freiheit. Ohne die hätte es für ihn verdammt schlecht ausgesehen. Er hatte noch nie so dermaßen in der Tinte gesessen. Diesmal war der Fall aber wirklich und endgültig geklärt, hoffte er. Diese junge Dame würde ihm keine Probleme mehr machen. Und ihr Schutzgeist wohl auch nicht. Victor hatte Chippy ja nicht selber umgebracht, also musste er eigentlich keine Bedenken haben, Loriel jetzt als Racheengel an der Backe zu haben. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht, die von seinem ungeplanten Tauchgang im See noch klatschnass waren. Er war auch viel zu erleichtert, Chippys elenden Illusionen und ihren wahnwitzigen Plänen entkommen zu sein, um ihr Verschwinden als Verlust anzusehen. Der blaue Stein, mit dem Chippy ihn an sich hatte binden wollen, lag dekorativ in der Wiese. Der russische Genius beschloss, das verfluchte Ding mal lieber mitzunehmen, um es zu analysieren und dann zu zerstören, wenn er konnte. Nicht, daß irgendwelchen arglosen Passanten noch Unfälle damit passierten. Während er seine Taschen nach irgendwas durchwühlte, womit er den Stein aufheben konnte ohne ihn mit bloßen Händen anfassen zu müssen, erinnerte er sich selbst daran, auch Vladislavs Pistole wieder einzusammeln. Regel Nummer eins: niemals Beweismittel rumliegen lassen. Als Victor nicht fündig wurde – seit seine Kleidung die Verwandlung in eine andere Gestalt mitvollzogen hatte, war in seinen Taschen nichts mehr drin – zog er seine Jacke aus, kämpfte sich wieder auf die Beine und wickelte das Artefakt eben darin ein.
 

„Mann, siehst du scheiße aus!“, konnte sich Vladislav nicht verkneifen, als sie sich einige Zeit später im Wald wiedertrafen. Victor hatte vom See aus den Rückweg zum Labor angetreten, aber aus dem waren Vladislav und Waleri ja inzwischen geflüchtet. Die zwei waren immer noch in der unmittelbaren Umgebung der Station unterwegs, wo Victor sie eher zufällig aufgriff.

„Halt bloß die Klappe!“, maulte Victor zurück. Seine Haare, inzwischen wieder etwas angetrocknet, sahen sicher aus wie ein Vogelnest. Und seine Klamotten waren nach dem unfreiwilligen Bad im See auch nicht besser dran. Außerdem schlurkste er sehr kraft- und lustlos vor sich hin. „Aber freut mich, euch wohlauf und auf freiem Fuß zu sehen.“

Waleri grinste schief. „Hast du vielleicht eine Ahnung, wo wir hier sind? Wir haben uns wohl ein bisschen verirrt, nachdem wir aus der Forschungseinrichtung geflüchtet sind.“

„Ah ja. Und ich dachte schon, ihr hättet mich gesucht, um mir zu helfen.“

„Wie denn bitte? Du hast doch keinen eingebauten Peilsender“, meinte Vladislav.

Victor winkte ab und deutete dann in die Richtung, in die er sowieso unterwegs gewesen war. „Nach Kunigami zu unserem Hotel geht´s da lang. Und morgen will ich im Flieger nach Moskau sitzen, daß das klar ist!“ Er stiefelte schwerfällig und etwas grummelig weiter, wobei er nichtmal sagen konnte, woher die schlechte Laune so richtig rührte. Vermutlich von der Gesamtsituation, Vladislavs überaus taktvoller Begrüßung, seiner Übermüdung und seiner sonstigen, augenblicklichen Verfassung. Seine Nerven waren im Moment einfach nicht mehr die besten.

Vladislav und Waleri schlossen sich ihm an. „Darf ich daraus schließen, daß Chippy jetzt endlich unschädlich ist?“, wollte der Boss wissen.

„Totsicher.“

„Das Labor ist übrigens auch Geschichte“, streute Waleri ein.

„Wie schade. Ist wohl doch nix aus eurer Motus-Außenstelle geworden, was?“, erwiderte Victor zynisch und warf ihm einen abschätzenden Seitenblick zu. Sollte er nett zu dem Kerl sein, oder weiter seiner schlechten Laune frönen? „Ich kam noch gar nicht dazu, dir zu danken, daß du mich vor Lori gerettet hast“, wechselte er das Thema. „Du bist ein Tempomat?“

„Nicht ganz. Ich bin nur ein Zeitpuffer. Ich kann mich nicht selber frei in der Zeit vor oder zurück bewegen wie ein Springer. Und ich kann ihre Geschwindigkeit auch nicht ändern, wie ein richtiger Tempomat es könnte. Ich kann sie nur komplett anhalten und einen kurzen Stillstand erzwingen. Das können Tempomaten wiederrum nicht. Und was mir echt schwer fällt, ist, konkrete Einzelpersonen von dem Zeitstop auszuschließen oder den Zeitstop auf Einzelpersonen zu beschränken. Sowas wie im Labor, Lori einzufrieren und dich nicht, war für meine Verhältnisse eine echte Meisterleistung, auf die ich auch derwegen etwas stolz bin.“

Victors Laune hob sich langsam wieder, als die Neugier hoch kam. „Diese Fähigkeit ist wahnsinnig selten! Wie lange schaffst du das?“

„Nicht lange. Vielleicht 20 Sekunden, wenn ich richtig fit bin.“

„Das ist ne Menge Zeit. In 20 Sekunden kann man viel regeln.“

„Sicher. Aber in alten Tagen hat es Wesen gegeben, die mächtig genug waren, die Zeit für eine Viertelstunde anzuhalten. Da sind meine 20 Sekunden schon sehr lächerlich. Und wenn ich diese Fähigkeit einmal eingesetzt habe, braucht sie auch ewig, um sich wieder voll zu regenerieren. Daher nutze ich sie nur sehr ungern, weil ich danach erstmal ne ganze Weile machtlos bin.“

„Was genau passiert, wenn man diese Fähigkeit einsetzt? Wie weit reicht sie?“, bohrte Victor wissbegierig nach. Diese Begabung fand er unglaublich cool und faszinierend. Ein bisschen neidisch war er darauf schon.

„Wie groß der Radius werden kann und wie lange man die Zeit anhalten kann, bestimmt sich nach dem Talent und der individuellen Stärke. Der Zeit-Stop wirkt nur im Umkreis von ein paar Metern. Ich kann nicht die ganze Welt anhalten“, grinste Waleri. Die Aufregung machte ihn ungewohnt redselig. „Ich erzeuge im Prinzip eine Zeitblase. Innen drin steht die Zeit still, draußen läuft sie normal weiter. Also wenn einer draußen steht und reinguckt, sieht es für ihn aus, als hätte jemand bei einem Video die Stop-Taste gedrückt. Wenn man von draußen in die Zeitblase rein springt, wird man sofort mit in der Zeit eingefroren. Und wenn diese Zeitblase wieder aufgehoben wird, gibt es im Inneren einen Zeitraffer-Effekt, weil der Zeitunterschied zwischen innen und außen sich notgedrungen wieder anzugleichen versucht“, erzählte er bereitwillig. „Wenn ich die Zeit anhalte, fühlt sich das an wie so ein Gummiband, das immer mehr in die Länge gezogen wird. Je länger es schon gezogen wurde, um so schwerer wird es für mich, es weiter festzuhalten oder gar noch länger zu ziehen. Und irgendwann schnippst es mir dann weg, weil ich es nicht mehr halten kann, und peitscht in seine Ursprungsposition zurück, wo es hingehört. Genau das passiert mit der Zeit, die ich angehalten habe. Sie schnippst als Zeitraffer schlagartig dorthin, wo sie eigentlich hingehört, und holt die Verzögerung damit wieder auf.“

„Trotzdem eine sehr verführerische Fähigkeit. Ich würde die vermutlich am laufenden Band nutzen.“

„Ja. Darum hat meine Karriere als Profi-Boxer damals auch so ein klägliches Ende gefunden. Ich bin ein paar Mal zu oft wegen Betrugs disqualifiziert worden. Im Ring ist diese Zeitpuffer-Fähigkeit Gold wert. Man braucht beim Boxen ja auch keine 20 Sekunden. Ein Wimpernschlag Zeitverschleppung reicht schon, um dem Gegner gehörig in die Eier zu treten. Es hat auch lange gedauert, bis es jemandem aufgefallen ist, was ich tue. Aber irgendwann IST es halt leider aufgefallen.“
 

Victor hatte Wort gehalten. An diesem Abend saßen sie wieder geduscht und ausgeruht im Speisesaal ihres Hotels in Kunigami und stopften gierig ihr Abendessen in sich hinein. Sie alle waren am Verhungern.

Vladislav schaute seinen Schutzgeist ein wenig traurig an. „Was meinst du, wie das Leben jetzt weiter geht, wenn das silberne Band zwischen uns beiden gekappt ist?“

„Ist es nicht. Lass mich mal“, mischte sich Victor ein, kramte einen Stift aus der Innentasche seiner Jacke, klaubte eine Papierserviette vom Tisch und begann darauf eine Bann-Marke vorzuzeichnen, damit er sie dann später mit Magie auf eine Person übertragen konnte.

„Was wird das?“

„Die mentale Verbindung zwischen euch ist nicht getrennt. Die ist nur mit Bann-Magie unterdrückt, so daß ihr sie nicht mehr spürt. Das hätte mich übrigens auch sehr gewundert. Das silberne Band kann man nicht zerstören. Genau so wenig wie man ein neues weben kann. Ich löse den Bann wieder, damit ihr euch gegenseitig wieder wahrnehmen könnt. Gib mir ne Sekunde.“ Victor schaute seinen Boss immer wieder abschätzend an, dann kritzelte er weiter auf der Serviette herum. Vladislav hatte schon fast den gehässigen Verdacht, daß Victor ein Portrait von ihm zu zeichnen versuchte, so wie er ständig die prüfende Gesichtskontrolle machte. Nach einer Weile gab Victor einen genervten Laut von sich und knüllte die Serviette zusammen. „So ein Rotz. Eine einfache Bann-Marke reicht da nicht. Das wird auf Ritual-Magie hinaus laufen. Ich hasse das. Die ist immer so scheiße aufwändig.“

„Tja ...“, meinte Vladislav nachdenklich. „Das muss auch ziemlich umfangreiche und komplexe Magie sein, wenn sie sowas bewerkstelligen kann wie eine mentale Verbindung zwischen Genius und Schützling außer Gefecht zu setzen. Klar, daß dann auch die Gegenmaßnahmen entsprechend gepfeffert sein müssen.“

Rituale waren in der Tat sehr lästig, weil sie die haarkleine Einhaltung eines konkreten Ablaufplans erforderten. Man musste sich sklavisch an irgendwelche Materialvorgaben, Orts- und Datumsvorschriften, Zeitpläne und Handlungsabfolgen halten. Die Magie war dabei von eher untergeordneter Rolle. Es kam vorrangig darauf an, am richtigen Ort im richtigen Moment mit der richtigen Requisite die richtige Handlung auszuführen, die richtigen Worte dabei zu sprechen, und einfach nicht zu hinterfragen, was das alles sollte. Wenn ein Ritual vorsah, daß man sich dreimal auf einem Bein hüpfend im Kreis drehen und sich dabei an die Nase fassen musste, dann war es eben so, egal wie dämlich man sich dabei vorkam oder ob es objektiv irgendeinen Sinn ergab. Ein Ritual war sowas wie ein festgelegter Code für ein Zahlenschloss. Die Zahlenkombination ergab in der Regel keinerlei Sinn. Aber nur wenn man die richtige Kombination anwendete, ging das Schloss wieder auf. Wenn auch nur eine Zahl nicht stimmte, tat sich überhaupt nichts.

„Ich kümmere mich in Moskau in Ruhe darum, einverstanden?“, schlug Victor vor. „Zu Hause habe ich Bücher zum Thema und kann nachlesen. Das geht schneller als wenn ich so lange rumprobieren muss, bis es klappt.“

Epilog

Etwas später an diesem Abend klopfte Victor nochmal am Hotelzimmer des Motus-Chefs, um zu erfahren, wie es morgen eigentlich weitergehen sollte. Die Abendbrot-Runde hatte sich sehr spontan aufgelöst und alle waren ohne weitere Absprachen auseinander gerannt, als Vladislav von seinem Natto schlecht geworden war und er sich schleunigst eine Toilette hatte suchen müssen.

Vladislav öffnete die Tür und grinste ihn dümmlich an. „Vicky! Das' ja schön, dassu mich nochma' besuchen kommst!“, lallte er.

Im Hintergrund hob Waleri grüßend eine Bierflasche.

Victor schob sich mit zusammengezogenen Augenbrauen an Vladislav vorbei in das Hotelzimmer hinein, um diese skurrile Situation nicht weiter auf dem Gang auszuwerten. Der Boss schloss auch artig die Tür hinter ihm, dann verschwand er auffallend eilig in die Badparzelle. Victor war etwas mürrisch. Was fiel dem Kerl überhaupt ein, ihn mit 'Vicky' zu betiteln? „Ist Vladislav beschwippst?“

„Beschwippst???“ Waleri lachte aus vollem Herzen. „Das wäre arg untertrieben. Der ist voll wie ein Amtsmann!“ Er nippte an seiner Flasche, während er gleich im Sitzen mit der anderen Hand in den Bierkasten neben dem Sessel langte und ihm ebenfalls auffordernd eine hinhielt.

„Wieviel habt ihr zwei denn intus?“

Waleri zuckte mit den Schultern. „Es hat keiner mitgezählt.“

„Und warum hat er sich so volllaufen lassen?“ Im Gegensatz zu Waleri, der noch einen sehr nüchternen Eindruck machte, merkte man Vladislav den Alkoholpegel deutlich an. Entweder vertrug er nichts, oder er hatte wesentlich mehr auf der Lampe. Der Vize kam herüber, um die angebotene Bierflasche anzunehmen.

„Vladislav ist gerne sternhagelvoll. Ich schätze, das lässt ihn gewisse Dinge aus seinem Leben vergessen.“

Victor zog ein ratloses Gesicht. „Er hat doch kein Alkoholproblem, oder? Also kein ernsthaftes, meine ich?“

„Nein. Er macht das nicht jede Woche, wenn du das meinst. Aber er feiert gern. Und wenn er zuviel trinkt, holt ihn irgendwas aus der Vergangenheit wieder ein. Dann trinkt er noch mehr, um es wieder mundtot zu machen.“

„Und was hatte er heute zu feiern?“

„Die Tatsache, daß wir diese Mission überlebt haben?“, schlug Waleri vor.

„Gott!“ Victor rollte verständnislos mit den Augen. „Wenn ich das jedes Mal groß feiern würde, wäre ich ständig rattel-dattel-dicht.“ Er sah sich nach einem Bieröffner um. Weit konnte das Ding ja nicht sein, wenn die zwei Kerle schon die ganze Zeit fleißig am Kippen waren.

Vladislav kehrte unterdessen aus dem Bad zurück, hob den Zeigefinger, um auf sich aufmerksam zu machen, und zog dabei mit der anderen Hand ein Stück Papier aus der Gesäßtasche. Ein Computerausdruck. Den hielt er seinem Vize auffordernd hin. „Wir fliegen als nächstes nach Peru!“, lallte er, zwar mit träger Aussprache, sich seiner Worte aber inhaltlich sehr wohl bewusst. „Da sin' Dinger gesichtet worden, die man für lebende Leichen hält.“

Victor zog die Stirn in Falten, als er die ausgedruckte Pressemitteilung überflog. Eigentlich hätte er sich vom Boss eher die Daten für den Rückflug nach Moskau gewünscht. „Was meinst du damit: WIR fliegen da hin?“

„Na, ich komm mit!“

„Bist du bekloppt!? Das kannst du knicken!“, quietschte Victor fassungslos auf. „Dich nehm ich nie wieder mit auf eine Mission! Du bringst mich in Teufels Küche!“


Nachwort zu diesem Kapitel:
PS: Natürlich haben die russischen Forscher russische Namen. Aber auf Deutsch klangen die einfach spaßiger. :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich glaube an den letzten paar Zeilen ahnt man es schon: Nicht zu früh freuen. :D
Die Story ist noch nicht zu Ende. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
* Zitat aus der FF "Schutzbestie" von Salix, deren geistiges Eigentum dieses ganze Universum hier ja ist. Komplett anzeigen

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