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Distant Stars

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Warnungen: Diese Fanfiction behandelt sensible Themen und könnte für einige Leser sogenannte Trigger auslösen. Bitte lest sie auf eigene Gefahr und behandelt Hinweise und Zuordnungen mit gewissenhafter Selbsteinschätzung eurer Lesewünsche und eures Wohlbefindens.
Die Handlung setzt sich u.a. mit Thematiken wie Essstörungen, Posttraumatischer Belastung (PTBS) bzw. Traumata, Kindeswohlgefährdung, Mord an anderen Lebewesen und häuslicher Gewalt auseinander.

In Ermangelung grafischer Beschreibung dieser Thematiken sehe ich von einem Adult-Rating ab.

Diese Fanfiction ist in sich abgeschlossen und ich habe sie bereits an anderer Stelle online veröffentlicht. Allerdings habe ich festgestellt, dass sie ein kleines Make-over an Formatierung und Korrektur benötigt und in diesem Zuge beschlossen, sie auch auf Animexx zu veröffentlichen.
Es sind nur vier Kapitel, die mich allerdings Monate gekostet haben, sie zu schreiben. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um den Versuch einer Charakter- bzw. einer Familienanalyse.
Ich habe schon Schlechteres geschrieben, bin zumindest insofern zufrieden, als dass ich mich traue, sie hier zu veröffentlichen. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!

Widmung: Für meinen Bruder und meine beste Freundin Sarracenia.

Disclaimer:
Charaktere, Namen, Schauplätze und Handlungsstränge, zu denen ich möglicherweise Bezug nehme, sind Eigentum ihrer geistigen Verfasser; ich leihe sie mir nur in tiefster Ergebenheit aus und verdiene mit meinem Geschreibsel kein Geld. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich habe heute die Benachrichtigung erhalten, dass diese FF für YUAL vorgeschlagen wurde.
Das hat mich unheimlich gefreut und deshalb wollte ich unbedingt das nächste Kapitel hochladen.
Ich wünsche viel Spaß beim Lesen und vielen Dank für die Nominierung!

Dieses Kapitel hat mir beim Schreiben übrigens die größte Herausforderung beschert. Komplett anzeigen

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Disziplin

1970

 

Die Hände des Kindermädchens zitterten, als es fahrig den Kamm durch Sirius‘ schulterlange Locken zog. Es ziepte ganz schön und Sirius gab sich alle Mühe, die Kontrolle über sein Gesicht zu wahren.

Eisern sah er seinem Spiegelbild in die grauen Augen, die verräterisch schimmerten, aber seine Konzentration hinderte sie am Überlaufen. Bis auf diesen winzigen, emotionalen Makel war der starre Ausdruck nahezu perfekt, das Resultat jahrelanger Arbeit, um Mutter nicht zu – 

Von unten hörten sie entferntes schrilles Keifen. Das Mädchen zuckte verängstigt zusammen und riss den Kamm aus einer Strähne, an dessen Zinken einige verknotete Haare hängen blieben. Sirius sog scharf die Luft ein und wischte sich unauffällig mit dem Ärmel die Träne von der Wange, die er nun doch nicht hatte halten können.

„Sei keine Memme!“, trällerte der Spiegel und das Kindermädchen zuckte abermals zusammen.

„M-master Sirius, vielleicht solltet Ihr nach oben …?“, stammelte es und klang, als wäre es von seinem Vorschlag alles andere als überzeugt. Sirius seufzte und sprang, ohne sein Kindermädchen weiter zu beachten, von dem Schemel herunter, auf dem es ihn eingekleidet und frisiert hatte. Mit Magie, wäre es nach seiner Mutter gegangen.

In diesem Haus herrschte Magie über alles, genauso wie die eiserne Matriarchin, die es bewohnte. Wenn die Haushelfen die schweren Teppiche ausklopften, stoben Funken mit dem Staub heraus, so sehr war die Luft überladen mit Zauberei, Überbleibseln vergangener Flüche und uraltem Groll. Doch seine Mutter tobte unten (über seinen Vater oder die Haushelfen oder den Zaubereiminister) und bekam nicht mit, dass ihre Angestellte zu verängstigt war, um mit dem Zauberstab zu handtieren. Sirius war dankbar, dass sie es gar nicht erst probiert hatte.

„Ich geh‘ schon“, sagte er düster, mehr zu sich selbst, als zum Spiegel oder dem Mädchen.

Letzteres ließ er bleich und zitternd in seinem Kinderzimmer hinter sich zurück.

 

Sirius fürchtete seine Mutter nicht. Er kannte sie schließlich nicht anders. Nichtsdestotrotz hatte er Respekt vor ihr und insbesondere ihren Ausbrüchen, die in regelmäßigen Abständen auf ihn niederprasselten, wenn er sein Zimmer nicht aufräumte, sich in der Muggelwelt herumtrieb, den Teller nicht leer aß, zu nett zu den Hauselfen war oder mit seinem Bruder rangelte. Regulus war zwei Jahre jünger und Walburgas Liebling, was nicht bedeutete, dass er nicht gehörig Ärger bekam, wenn er etwas tat, was sich in ihren Augen nicht schickte. Seinem Bruder zuliebe nahm Sirius eine Menge auf sich. Er war der einzige Gefährte inmitten der verängstigten magischen Dienerschaft, der einzige Freund in diesem bedrohlichen Haus.

Geübt schlich Sirius die mit schweren Teppichen ausgelegten Stufen nach unten, ließ die aus, die knarrten und horchte einen Moment. Es dauerte nicht lange bis er begriff, was diesmal den Zorn seiner Mutter erregt hatte.

 

Sirius war zehn Jahre alt und im Hause Black bedeutete dies, dass er in die magische Gemeinschaft einzuführen war. Bislang hatte niemand Zweifel daran gehegt, dass Sirius magische Kräfte besaß, immerhin nutzte er sie, so oft es nur ging, um den Menschen, mit denen er zusammenleben musste, eins auszuwischen.

„Warum ist es so wichtig, den Brief abzuwarten?“, fragte Orion Black in diesem Moment. Seine sonst harte, klare Stimme klang schleppend, als sei er des Gesprächs mehr als überdrüssig.

„Wenn er nicht aufgenommen wird, schicken wir ihn eben nach Durmstrang. Eine sehr gute Schule, wenn du mich fragst.“

„Um deine Meinung geht es hier nicht! Unsere Familie war seit Jahrhunderten in Hogwarts und daran wird sich auch nichts ändern, nur weil dein Nichtsnutz von Sohn sich gegen jedwede Disziplin sträubt!“

Seine Eltern waren wie Feuer und Eis. Glücklicherweise schaffte es Orion bisweilen, das Temperament seiner Frau etwas abzukühlen. Diese Tatsache machte ihn jedoch keineswegs milder oder gar liebenswürdig. Seine Worte trafen manchmal tiefer, als Walburgas heftige Ausbrüche.

„Mein Sohnwird eine ausgezeichnete Schule besuchen“, sagte er langsam. „Ob nun in Durmstrang oder in Slytherin – man wird ihn schon zurechtzubiegen wissen. Vertrauen wir darauf, dass er ein Black ist.“ Er verlieh seinen Worten so viel Nachdruck, dass die Unterhaltung beendet sein musste. Nun, vielleicht, wenn seine Gesprächspartnerin nicht seine Ehefrau gewesen wäre.

„Er wird unseren Namen nicht in den Schmutz ziehen! Wir müssen dafür sorgen, dass er uns Ehre macht. Das Blut allein reicht in diesen Zeiten nicht aus. Von Hogwarts abgelehnt zu werden, ist beinahe so, als hätten wir einen – einen Squib!“ Sie spie das letzte Wort nahezu vor ihm aus.

 

Sirius entschied, genug gehört zu haben und klopfte laut gegen das schwere, glänzende Holz. Durch Zauberhand schwang die Tür nach innen und gab den Blick auf den eleganten, wenngleich seltsam düsteren Salon frei. Der kleine Saal hatte eine verschachtelte Form mit ungewöhnlich niedriger Zimmerdecke. Orion Black saß vor dem Kamin in seinem bevorzugten, schweren Ohrensessel aus schwarzem Leder. Das Feuer spiegelte sich in seinen farblosen Augen und ließ den bernsteinfarbenen Scotch in dem geschliffenen Kristallglas in seiner Hand sanft glühen. Das lange, schneeweiße Haar hatte er streng zurückgebunden. Alles an diesem Mann, der sich in steifes Schwarz kleidete, wirkte zu bleich. Nicht einmal der Alkohol, farblich die einzige Wärme innerhalb seines Dunstkreises, trieb ihm etwas Farbe ins Gesicht.

Sirius wagte den Schritt über die Schwelle in den Raum hinein und sein Blick wanderte zu Walburga. Seine Mutter, eine sehr große, schlanke Frau, hielt ihren polierten Zauberstab in der rechten Hand, die sich klauenartig um ihn verkrampfte, wie immer, wenn sie erregt war.

Als er noch kleiner gewesen war, hatte sie ihm schaurige Märchen aus der Muggelwelt vorgelesen, Geschichten von Hexenverbrennung und der grausamen Verfolgung magischer Wesen. Walburga war der festen Überzeugung, damit die Abscheu ihrer Kinder gegen Muggel zu schüren. Sie ahnte nicht, dass Sirius die unheimlichen, unbeweglichen Illustrationen der Hexen mit seiner Mutter verglich. Walburga hatte weder eine krumme Nase, noch Warzen oder einen Buckel –  und die erste Katze, die sich auf ihrer Schulter niederließ, würde dies sicher mit all ihren neun Leben auf einmal bezahlen. Trotzdem konnte Sirius nicht anders, als eine große Ähnlichkeit zwischen den gefürchteten Muggelhexen und seiner unheilvollen Mutter zu entdecken. Ebenso hellhäutig wie ihr Mann, waren ihre Augen jedoch von einem stechenden Veilchenblau und ihre schwarzen Locken trug sie stets in einer dramatischen Hochsteckfrisur gebändigt.

„Mutter, Vater“, begann Sirius behutsam. Aus den Augenwinkeln fixierte er den Zauberstab seiner Mutter und den verkniffenen Mund seines Vaters.

„Endlich lässt du dich blicken.“ Für ihren gerade erst verklingenden Ausbruch klang Walburga überraschend freundlich.

„Wir müssen dich neu einkleiden. In drei Wochen ist dein Geburtstag, du brauchst neue Roben!“

In drei Wochen würde er elf Jahre alt sein und es würde ein riesige Feier mit allen bedeutenderen Mitgliedern der Familie Black und jedem der magischen Gesellschaft, der etwas auf sich hielt, stattfinden. Vorausgesetzt, er bekam bis dahin seine Einladung für Hogwarts.

Die Briefe kamen, wie Sirius wusste, normalerweise Anfang Juli. Sie galten den Kindern mit magischen Fähigkeiten, die im selben Jahr bis zum Monat September elf Jahre alt wurden. Sirius hatte Anfang November Geburtstag und war somit für den derzeitigen Jahrgang zu jung. Offenbar hatten seine Eltern es sich in den Kopf gesetzt, seine Bewährung als vorzeigbaren Sohn an einem Stück Pergament festzumachen und den Schulleiter um eine deutlich frühere Aufnahmebestätigung gebeten.

„Wie siehst du überhaupt aus? Mary sollte dich herrichten!“ Mit wenigen, großen Schritten war Walburga bei ihm und zog ihn näher in das Licht des Kaminfeuers. Mit dem Zauberstab und ihrer freien Klauenhand machte sie sich an seinen Haaren zu schaffen; weit schmerzhafter, als es das nervtötende Kämmen des apathischen Mädchens gewesen war. Mit brennender Kopfhaut, fein sortierten, glänzenden Locken und um eine großzügige Menge Haare erleichtert, stand er am Ende unter dem prüfenden Blick seiner Mutter, die endlich einmal mit ihm zufrieden schien.

 

 

Madame Malkin besuchte das fürnehme und gar alte Haus der Familie Black höchstpersönlich. Sie kam in Begleitung eines menschlichen und eines elfischen Mitarbeiters. Die Schneiderin übernahm die taktvolle Aufgabe, Mrs Black von allem anderen abzulenken und besprach mit ihr Schnitte und Stoffe, während der Hauself an Sirius und Regulus Maße nahm, die der kleine, ältliche Zauberer mit pfeifendem Atem notierte. Gemeinsam begruben sie die Brüder unter Bahnen magischer Stoffe und steckten sie ab, um der wählerischen Mutter Beispiele für die fertigen Umhänge zu liefern. Regulus war alles andere als begeistert, dass man ihn ebenfalls in Festtagsumhänge zwängte, obwohl er mit den bevorstehenden Feierlichkeiten im Haus nichts zu tun hatte.

„Reiß dich zusammen!“, zischte Sirius aus dem Mundwinkel, den Moment ausnutzend, als Walburga einen Streit mit Madame Malkin beginnen wollte, welche sich glücklicherweise nicht darauf einließ. Mit unzufriedenem Gesicht zupfte Regulus an einem provisorischen Ärmel herum.

„Ich mag kein Grün.“

„Doch, tust du!“

„Tu‘ ich nicht!“

„Versuch‘ es!“

„Aber –“

„PSST!“

„Es fehlen noch Schwarz und silberne Elemente“, drang Walburgas scharfe Stimme in die geflüsterte Auseinandersetzung ihrer Söhne. Der Hauself offenbarte demütig seinen Nacken zwischen den schlackernden Ohren, als er die Länge des Saumes abmaß. Offenbar war er nicht an Walburgas außergewöhnlichem Wandschmuck vorbeigekommen, da er sich mit dieser Freizügigkeit sicher zu fühlen schien.

„Es wird immer schlimmer, Sirius!“ Sirius verdrehte die Augen über den jammernden Tonfall seines kleinen Bruders. Wenn man ihn fragte, bekam Regulus den Spagat zwischen Lieblingssohn und Opfer seiner wahnsinnigen Eltern nur unzulänglich hin. Aber niemand fragte Sirius.

„Niemand wird auf dich achten, Reg. Wenn dir der Umhang nicht gefällt, zieh‘ einfach einen anderen an.“

„Stimmt, ist ja dein Fest.“

Regulus‘ dankbares Lächeln machte die Spitze seiner Worte fast wieder ein wenig wett.

„Master Sirius sind schon wieder gewachsen“, stellte der Schneidergehilfe mit einem zahnlosen Lächeln fest.

„Zweieinhalb Größen mehr als beim letzten Mal!“ So, wie er es sagte, klang es nach etwas, auf das man stolz sein konnte, wie eine Errungenschaft, die Anerkennung verdiente. Sirius lächelte unbeholfen von seinem Stuhl herunter.

„Uhm, ja …“

„Ganze zweieinhalb Größen!“, äffte Regulus nach und kicherte verhalten, etwas, das umgehend die Aufmerksamkeit ihrer Mutter weckte. Plötzlich stand sie sehr nah vor Sirius, der sich mit ihr, dank der erhöhten Position, auf Augenhöhe befand. „Gewachsen.“ Er fühlte sich winzig. „So. Um zweieinhalb Größen.“

Ihr Lächeln war ehrlich, doch es gefiel ihm nicht.

„Nun, wenigstens eins macht der Junge richtig.“ Walburgas Lächeln wanderte zwischen Sirius und Madame Malkin hin und her. Es war seltsam, Empfänger dieses Lächelns zu sein.

„Essen kann er jedenfalls anständig.“ Und sie bedachte Regulus mit einem liebevollen Seufzen; ihren kleinen Engel, schoss es Sirius gehässig durch den Kopf. Er betrachtete seinen kleinen Bruder, der verdutzt und, ob der plötzlich geschlossenen Aufmerksamkeit um seine Person, leicht beschämt neben ihm auf dem Hocker von einem Bein aufs andere trat. Die Brüder sahen sich, abgesehen von dem Größenunterschied einer knappen Kopfeslänge, so ähnlich, sie hätten Zwillinge sein können. Sirius wusste nicht, was es war, das seinem Bruder die Gunst der Mutter einbrachte und womit er ihren Zorn immer und immer wieder auf sich zog. Anständig essen. Was bedeutete das? Und wieso bekam Sirius dafür Anerkennung, etwas zu tun, was Regulus anscheinend nicht tat, wofür dieser aber nur umso mehr belohnt wurde? Es war seltsam, sich manchmal zu wünschen, wie sein kleiner Bruder zu sein. Sirius zog, von sich selbst ganz und gar angewidert, die Nase kraus, als ihm klar wurde, wie sehr ihm gefallen würde, seine Mutter stolz auf sich zu machen.

 

Das Abendessen an jenem Tag war seltsam. Nein, es schmeckte hervorragend. Nur für Sirius war es seltsam. Polka und Kreacher hatten sich wirklich ins Zeug gelegt, um ihre Herrschaften zufrieden zu stellen. Kein Wunder: Polkas Schwester, Dot, hatte den letzten Ausbruch an Missfallen seitens Mrs Black nicht überlebt. Sie war eine niedliche Elfe gewesen, Sirius hatte sie gut leiden können. Ihre Tollpatschigkeit hatte sie jedoch ihren Kopf gekostet. Der hing nun ausgestopft in Mutters dekorativer Sammlung an der Wand. Kreacher, ein verhältnismäßig junger Hauself, hatte den Rest des Leichnams entsorgen müssen und dabei bitterlich geweint. Polka selbst hatte sich in die Arbeit gestürzt, zu keiner Regung über den Verlust seiner Schwester fähig.

Walburga war nach dem erfolgreichen Besuch der Schneiderin friedfertig und guter Dinge und so hielt auch Orion seine Kälte etwas zurück. Das nahezu angenehme Klima regte Regulus zu gesittetem Geplapper an, wie es Walburga gern von ihm hörte. Er erzählte vom Hausunterricht und von seinen neuen Freunden im Quidditchverein für unter Zehnjährige, in den ihn seine Eltern seit kurzem schickten. Etwas, was er Sirius zu verdanken hatte, der sich dafür eingesetzt hatte, dass sein kleiner Bruder gelegentlich an die frische Luft käme (und aus der giftigen Reichweite ihrer Eltern), noch bevor Regulus selbst nach Hogwarts ging. Sirius starrte auf seinen Teller. Die schaumige, gute gewürzte Kürbissuppe duftete verführerisch und sein Magen grollte in freudiger Erwartung. Das leuchtende Orange der Suppe brannte ihm fast in den Augen, doch er konnte auch nicht wegsehen.

Mit halbem Ohr lauschte Sirius Regulus‘ Monolog: „… und Crouch hat gesagt, dass meine Trefferquote seit dem Anfang schon deutlich gestiegen ist, so dass ich vielleicht in drei Jahren, wenn ich in der zweiten Klasse bin …“

Sirius schloss die Augen. Reggie, sei still, dachte er. Die kindliche Stimme seines geliebten Bruders bohrte sich in seinen Kopf wie ein Klatscher. Du weißt nicht, wovon du da redest. Erfolg bringt dir gar nichts. 

Unauffällig atmete er tief ein, so tief er nur irgend konnte. Der Sauerstoff schien seinem Kopf gut zu tun, denn der seltsame Tunnelblick legte sich ein wenig.

„… nächsten Sonntag besuchen wir vielleicht sogar das Stadion, aber wir brauchen dafür die Erlaubnis unserer Eltern.“

Als er die Augen öffnete, tauchte vor ihm erneut sein Teller auf, bis zum Rand gefüllt mit cremiger, würziger Wärme, garniert mit Rahm und feinen Kräutern. Ihm war plötzlich schrecklich flau.

„… deshalb, Vater – darf ich? …“

Sirius‘ Kopf, der in den letzten Minuten unmerklich immer weiter gen Teller gesunken war, fuhr ruckartig hoch, um seinen Vater anzusehen.

„Sirius, sitz gerade!“, erreichte ihn die spitze Stimme seiner Mutter.

„Ja, Mutter“, murmelte er entschuldigend, doch sein Blick blieb an seinem Vater haften, obgleich ihn Walburga für sein Nuscheln erneut tadelte.

„Natürlich, mein Sohn. Ich werde sogar sehen, dass ich dich begleiten kann.“

Regulus war nicht weniger sprachlos als Sirius. Bei Orion wusste man nie genau, ob es sich bei solch einer Ankündigung um Geschenk oder Strafe handelte. Auf jeden Fall war es ein denkwürdiges Ereignis, dass ihr Vater sich für die nichtigen Wochenendaktivitäten seiner Kinder interessierte, ja, ihnen sogar beiwohnen wollte.

„D-danke, Vater!“, platzte es aus Regulus, der vor Aufregung zitterte. Seinen Teller Suppe hatte er bis auf den letzten Löffel geleert.

Dieser Moment hatte etwas von einem Déjà-Vu. Sirius erinnerte sich urplötzlich an die Zeit, als Regulus noch keine zwei Jahre alt gewesen war und nur geschrien hatte. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, denn im Hause Black war man Geschrei gewöhnt. Schlimm war nur, dass Walburga darauf reagierte. Vor allem, wie. Sie kümmerte sich selbst um den weinenden Regulus, ihren kostbaren Sohn, und ließ keinen der Bediensteten an ihn heran, die viel zu verängstigt ob der unberechenbaren Mutter waren, als dass es ihnen gelänge, das Kind zu beruhigen. Regulus schrie, sobald sich ihm jemand anders als seine Mutter näherte. In Form eines gewaltigen, bohrenden Stechens lernte Sirius Black im Alter von vier Jahren die Eifersucht kennen.

D-danke, Vater!

D-danke, Vater!

D-danke, Vater!

Mehrfach hallten die Worte seines kleinen Bruders in Sirius‘ Kopf wider, mit jedem Mal verzerrter, quäkiger, höhnischer. Wieder verspürte er das Stechen. Mit einem Löffel nun fast kalter Suppe versuchte er, es hinunterzuschlucken. Es gelang nicht, vielmehr fühlte es sich an, als würde die Suppe zusammen mit einer bisher unbekannten Wut einen Kloß in seinem Hals bilden. Ein bitterer, pelziger Geschmack legte sich auf seine Zunge. Sirius griff hastig nach seinem Becher und schüttete Wasser hinterher, in der Hoffnung, den Wutkloß hinunterzuspülen.

„Sirius! Sauf nicht wie ein Vieh! Schämst du dich nicht!“ Er spürte die Zornesfalte zwischen seinen Brauen und dachte an seine jahrelange Übung der Ausdruckslosigkeit. Disziplin, Sirius … Er versuchte im Geiste, seine Stirn glatt zu bügeln.

„Ja … Mutter …“

„Du hast deine Suppe kaum angerührt! Sieh nur, selbst dein Bruder hat heute gut gegessen.“

Der Zorn war zu groß, das Stechen unerträglich, die Übelkeit kämpfte sich tief aus seinen Eingeweiden nach oben und er erbrach sich in seinen Teller. Suppe und Erbrochenes spritzte zu beiden Seiten auf das Tischtuch. Für einen Moment blieb die Zeit stehen. Im Geiste sah Sirius sich selbst, fast sechs Jahre jünger, wie er vor dem magisch wiegenden Gitterbettchen seines kleinen Bruders stand. Dessen Kopf war tief rot angelaufen, die verheulten Augen geschwollen, die Nase lief. Regulus hatte sich selbst in den Schlaf geschrien; dieses eine Mal hatte Walburga ihn nicht umarmt, ihm keinen Trost geschenkt, wie Sirius es schon viel zu oft beobachtet hatte. Seine eigenen kleinen Hände ballten sich zu Fäusten, entspannten sich, verkrampften sich erneut, bis die Knöchel weiß hervortraten und sich kleine, halbmondförmige Abdrücke seiner Nägel in den Handflächen gebildet hatten. Regulus‘ Kopf lag auf der Matratze, das Kissen knapp verfehlend, die kurzen Beinchen in seiner Kinderdecke verheddert. Eine unwahrscheinliche Hitze loderte in Sirius auf und seine Fäuste schnellten hervor, um nach dem Kissen zu greifen. An einem Ende war es durchnässt von Tränen und der Rotznase Regulus‘, doch das bemerkte er kaum. Er knüllte es zusammen, so fest es nur ging, drückte es sich selbst in den Magen, mit aller Macht. Er wandte seine gesamte Kraft auf, die ganze Gewalt, mit der er Regulus das Kopfkissen ins Gesicht drücken wollte. Bis er selbst würgen musste, weil er sich den Atem aus dem eigenen Leib quetschte. In diesem Moment schlug Regulus die verklebten Augen auf, gerötet zwar, aber genau so grau, wie seine eigenen. Das Kind starrte ihn an, regungslos, hellwach. Die Hitze, die zuvor aus seinem Innersten gebrannt hatte, wich einer Kälte, die wie von außen in seine Glieder kroch. Seine Lippen wurden taub, das Kissen fiel ihm aus der Hand und landete fast lautlos neben ihm auf dem flauschigen Teppich. Plötzlich verspürte Sirius Angst, eine schreckliche Furcht vor sich selbst und auch vor seinem Bruder, mit dem ihm zum ersten Mal, seit dessen Geburt, so etwas wie Zuneigung verband. Er wollte Regulus nicht wehtun. Denn Regulus sah ihn an und lächelte.

 

Die Zeit raste wieder. Das Abendessen brachte Sirius mehr als eine Ohrfeige ein. In Momenten wie diesen war seine Mutter sich für muggelwürdige Methoden nicht zu schade, auch wenn sie ihn mit ihrem blanken Zauberstab verdrosch. Bei jedem Hieb stoben Funken, die sich durch seine Kleidung schmerzhaft in die Haut fraßen.

Bitte zerbrich doch einfach, verdammt, zerbrich, zerbrich, ZERBRICH!

Der Zauberstab seiner Mutter wollte ihm nicht gehorchen.

„Disziplin, Sirius!“, hörte er vom Boden aus irgendwo über sich die eisige Stimme seines Vaters, aus der deutlich Ekel sprach. Regulus musste längst verschwunden sein; er wusste, wann es an der Zeit war, sich zu verziehen. Die Schläge hielten für einen Moment inne, das Prasseln der sich entladenden Magie hallte länger nach.

„POLKA!“ Sirius hielt sich die Ohren zu, nutzte die Gelegenheit, kurz außerhalb der Aufmerksamkeit seiner tobenden Mutter zu stehen.

Unter der Tischdecke hindurch konnte er die knubbeligen Knie des Hauselfen sehen, als dieser herein schlurfte und eine Verbeugung andeutete.

„Ja, Herrin?“, piepste Polka heiser, ausdruckslos. „Sirius ist krank! Offenbar stimmt etwas mit dem Essen nicht!“

„Nein, Herrin. Es wurde mit Sorgfalt und nach euren Wünschen zubereitet.“ Sirius stöhnte innerlich. Widerworte aus dem Munde eines Hauselfen kamen einem Todeswunsch gleich.

„WIE KANNST DU ES WAGEN!“, kreischte Walburga. „DU WOLLTEST UNS VERGIFTEN! DRECKIGE BRUT! DEINE SCHANDE VON FAMILIE MUSS ENDGÜLTIG AUSGEMERZT WERDEN, DAMIT IHR KEINEN SCHADEN MEHR ANRICHTEN KÖNNT!“

Sirius hörte Polkas Antwort nicht mehr; er spürte nur noch, wie sein Vater ihn am Kragen packte, um ihn auf die Beine zu zerren. Halb gezogen, halb selbst stolpernd wurde er aus dem Esszimmer geschleift; die Treppe nach oben schaffte er kaum.

„Schäm dich, Sohn. Du bist fast kein Kind mehr, übernimm gegenüber deinem Bruder endlich Verantwortung und sei ihm ein Vorbild.“

Sein Vater blieb stehen und gab Sirius einen kurzen Moment Zeit, bis er sicher auf eigenen Beinen stand.

„Geh auf dein Zimmer. Vor morgen früh will ich dich nicht mehr sehen.“

 

Man konnte sich einreden, dass es zu seinem Schutz war. Dass sein Vater ihn aus dem Esszimmer fernhalten wollte, in dem in diesem Moment die grausige Hinrichtung eines unschuldigen, gebrochenen Wesens stattfand. Schmerzerfüllt sah er Orion nach, als dieser die Treppe hinunter und in Richtung seines Arbeitszimmers verschwand. Auf seine eigene Art wirkte er gewaltig, breitschultrig, stählern. Er hat dich vor Mutter beschützt. Es war leicht, das zu denken. Ungleich schwerer, es zu glauben. Das Bild eines feigen, geprügelten Hundes erschien vor seinem geistigen Auge, als Sirius sich an der Wand entlang zu seinem Zimmer vortastete. An Regulus‘ Tür blieb er stehen – sie war nur angelehnt. Von drinnen hörte er Schluchzen. Reggie war allein, genau wie er. Vielleicht brauchte er jetzt einfach seinen Bruder. Er hob die Hand, um behutsam anzuklopfen, doch bevor seine Knöchel das Holz berührten, vernahm er eine piepsig-knarztende Stimme: „Es ist schon gut, Master Regulus. Kreacher ist ja da …“ Sirius hielt in der Bewegung inne. Sein Magen war leer, doch fühlte er sich, als müsse er sich erneut übergeben. Er zwang das Gefühl hinunter, straffte seinen geschundenen Körper und stampfte geräuschvoll in sein eigenes Zimmer.

Hunger

Die Anweisung seines Vaters, Sirius nicht mehr sehen zu wollen, hatte dieser sehr ernst genommen und erst am folgenden Nachmittag sein Zimmer verlassen. Sein Magen fühlte sich zu diesem Zeitpunkt wie umgekrempelt an und schmerzte, doch Hunger verspürte er keinen.

Der Haushalt wurde jetzt nur noch von einem einzigen Hauselfen geführt, was Kreacher jede Menge zu tun gab, doch es stand außer Frage, dass Mrs Black ohne Schwierigkeiten an weitere herankäme, sollte auch Kreacher – oder zumindest ein Teil von ihm – sein Ende an Walburgas grausiger Trophäenwand finden.

 

Es war der Sonntag, den Orion mit Regulus verbrachte. Reg schien vor unterdrücktem Stolz förmlich zu glühen. Ihr Vater hatte noch nie einen von ihnen zu ihrem Vergnügen begleitet und dafür seine kostbare Zeit geopfert. Die Frage, ob er ebenfalls mitkönne, brannte auf Sirius‘ Zunge, doch er hielt sie eisern hinter seinen zusammengebissenen Zähnen gefangen. Die ganze Woche war er sehr still gewesen, hatte den Hauslehrer ausnahmsweise nicht mit Bemerkungen und Fragen in den Wahnsinn getrieben, die seine Eltern als ‚unwürdig‘ und ‚eines Reinblüters nicht angemessen‘ erachteten.

Es fühlte sich beinahe so an, als würde Sirius all das schlucken, was so dringlich aus ihm herauswollte. Ganz zuunterst begrub er das Schuldgefühl, das ihm im Halbschlaf zuflüsterte, er sei der Grund für Polkas Tod, weil er sich nur nicht hatte zusammenreißen können.

An nächster Stelle schichtete er seinen namenlosen Hunger nach Wärme und Geborgenheit. Von beidem glaubte er, sein Bruder erführe es, zumindest gelegentlich, weshalb direkt dazu die Eifersucht kam und eine stechende Portion Hass auf sich selbst. Eifersucht fühlte sich wie das verbotenste all seiner Gefühle an und es war dringend notwendig, sie loszuwerden. Oberflächlich bedeckte er alles mit Fragmenten der letzten Zeit, die ihm zu denken gegeben hatten. Dinge, zum Beispiel, von denen er glaubte, dass Regulus sie ihm voraus hatte. Der Frage, was eigentlich falsch lief. Hatte er verdient, dass er der Sohn zweiter Klasse in dieser Familie war?

Regulus hatte im Juni Geburtstag. Wenn er seinen Hogwartsbrief bekam, dann rechtzeitig und im selben Jahr, in dem er die Schule besuchte.

Seine Eltern hatten inzwischen die Antwort des Schulleiters erhalten, dass Sirius seine Einladung im nächsten Jahr mit allen anderen künftigen Erstklässlern bekäme. Nicht mehr und nicht weniger hatte er erwartet, doch seine Eltern nahmen dies als erlösende Bestätigung für die Frage nach seiner magischen Ehre.

 

Ungemütlich war kaum der richtige Ausdruck für das Gefühl, allein mit seiner Mutter bei Tisch zu sitzen.

Regulus war noch mit Mr Black unterwegs und so hatte Kreacher für sie beide allein das Mittagessen gerichtet.

Sitz gerade, iss langsam, tupf den Mund ab, bevor du trinkst, kau gründlich, sei kein Vieh, DISZIPLIN, SIRIUS!

Gedanklich setzte er hinter jeden Punkt auf der Liste einen Haken und senkte den Blick mit steifen Schultern auf seinen Teller. Kartoffeln, Roastbeef, Karotten, Erbsen und Soße. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen und erst jetzt fiel ihm auf, wie wenig er seit Tagen zu sich genommen hatte. Sein Magen gab ein lautes Röhren von sich, das seltsam schmerzte. Den angewiderten, missbilligenden Blick als Reaktion seiner Mutter darauf, ignorierte er. Behutsam schnitt er das kleinstmögliche Stück Fleisch ab, steckte es sich in den Mund und kaute so langsam und gründlich, wie es bei dieser Menge nur irgend möglich war. Verwirrt stellte er fest, dass das Gefühl von Nahrung in seinen Eingeweiden fast noch mehr weh tat, als der bislang ignorierte Hunger.

Hier saßen sie nun und füllten ihre Mägen, an dem Tisch, in dem Raum, in dem vor wenigen Tagen ein unschuldiger Hauself –
 

„Nun, was hast du gestern bei Mister Fitzgerald gelernt?“, fragte seine Mutter desinteressiert.

Samstags war Geschichts- und Kreativunterricht bei dem betagten, schüchternen Magier, den seine Eltern dafür bezahlten, das nötige Allgemeinwissen vor dem Besuch einer Zauberschule in ihn hineinzuzwängen. Selbstverständlich basierend auf einem ganz und gar reinblütigen, muggelverachtenden Weltbild.

„Gestern …“, wiederholte Sirius und spießte eine Babymöhre auf seine Gabel, um etwas Zeit zu gewinnen. Er tunkte sie in Soße und schob sie auf seinem Teller hin und her, so als wäre er voll und ganz mit seinem Essen beschäftigt.

„Gestern hatte ich Geschichte, Mutter. Und danach Kunst mit Regulus. Mr Fitzgerald hat vorgeschlagen, dass wir ein Instrument lernen.“

Beiläufig, so, als sei sie just in seinem Mund verschwunden, streifte er die Karotte von seiner Gabel und widmete sich nun einer Kartoffel, die er von allen Seiten in Soße ertränkte, ohne sie auch nur in die Nähe seiner Lippen zu führen. So entging ihm, dass Walburgas Augen sich gefährlich zu Schlitzen verengten.

„Was für ein Instrument?“, fragte sie spitz.

„Keine Ahnung“, antwortete Sirius und schob sich schnell ein Stück Karotte in den Mund, das er lange und bedächtig kaute. „Du sollst nicht ‚keine Ahnung‘ sagen, du weißt ganz genau, dass ich das nicht leiden kann!“

Sirius verzog keine Miene, auch wenn er innerlich zusammenfuhr. Ach ja. Eine Lücke auf seiner Liste. Er musste es sich merken – fürs nächste Mal.

„Sag es nur, wenn du auch wirklich keine Ahnung hast! Worüber habt ihr gesprochen?“

Das nächste keine Ahnung zusammen mit seinem Bissen Karotte hinunterschluckend, tupfte er sich schnell den Mund mit seiner Serviette ab, bevor er sich wieder einen Fehltritt leisten konnte. Vielleicht hatte Polka seine Schwester so sehr vermisst, dass er absichtlich –?

„Vielleicht etwas Klassisches, Mutter.“

„Klassisch in welchem Sinne? Schon wieder diese Ausartungen! Was hast du in Geschichte gelernt? Etwa“,  – sie rümpfte die Nase – „Muggelgeschichte?“

Sirius unterdrückte ein Seufzen.

Disziplin.

„Nein, Mutter. Ich sollte etwas über die Notwendigkeit von magischen Schulen lesen. Was passiert, wenn Hexen und Zauberer nicht in Magie unterrichtet werden und sie unterdrücken müssen und was das mit der Gründung von Hogwarts zu tun hat.“ Walburga wirkte zufrieden. Kein Grund, Mr Fitzgeralds Kopf mit ihren ausgedienten Hauselfen bekannt zu machen. Die Mahlzeit näherte sich dem Ende. Sirius hatte ganze Arbeit geleistet und es geschafft, das Essen auf seinem Teller so zu zerlegen und zu sortieren, dass es aussah, als habe er zumindest die Hälfte davon gegessen. Tatsächlich waren es nicht mehr als wenige Bissen gewesen. Walburga ließ den nicht geleerten Teller unkommentiert und erlaubte ihm, sich auf sein Zimmer zurück zu ziehen.

 

Am Abend kehrte Regulus mit seinem ersten eigenen Besen und einem Strahlen zurück, das viel zu groß für sein Gesicht schien.

„Der Junge ist nicht schlecht und muss an sich arbeiten. Dafür braucht er einen eigenen Besen“, erklärte Orion auf die schnippische Frage Walburgas, ob Regulus nicht zu jung dafür sei. Sirius ging an jenem Abend früh und mit noch größeren Magenschmerzen zu Bett. Vielleicht wäre es besser für Reggie, wenn er keinen Bruder hätte. Vielleicht wären seine Eltern dann noch viel netter zu ihm und es würde Regulus richtig gut ergehen.

„Ein reines Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen!“, summte der Spiegel schläfrig und es war das letzte, was Sirius an diesem Abend hörte, bevor er in wirre Träume sank.

 

Der Tag der Feier brach an. Gegen sechs Uhr spürte Sirius einen kalten Luftzug an seiner Wange und als er in das Dämmerlicht seines Zimmers blinzelte, sah er die großen, hervorquellenden Augen Kreachers vor sich, der sich unangenehm dicht über ihn beugte.

„Hau ab“, brachte er müde hervor und zog sich die Decke über den Kopf.

„Master Sirius muss aufstehen, Sir. Kreacher hat den Auftrag der Herrin, Master Sirius zu wecken.“

Der Elf blieb unbarmherzig, öffnete erst die schweren, grünen Samtvorhänge und anschließend das Fenster. Kühle Novemberluft drang ins Zimmer und Sirius stöhnte. Wieso ließ man ihn an seinem Geburtstag nicht wenigstens ausschlafen? Er rollte sich unter seiner Decke zusammen, die Kreacher ihm kurzer Hand vom Körper zog.

„Kreacher meint es nur gut, Master Sirius. Master Regulus ist bereits aufgestanden. Die Herrin wird verärgert sein, wenn Master Sirius nicht bald aus dem Bett kommt.“

Master Sirius riss die Augen auf. Kurz schlang er die Arme noch enger um sich, um die aufkommende Gänsehaut zu unterdrücken.

„Jajaistjaschongutichstehauf!“, knurrte er schließlich und schnellte aus seiner Körperkugel, um sich zu strecken.

„Aber gib mir die Decke wieder, die brauch ich noch!“ 

 

Tatsächlich hatte Mrs Black zwei weitere Hauselfen auftreiben können: Timber und Murray. Zusammen mit Kreacher unterlag ihnen die Aufgabe, das ohnehin blitzsaubere Haus am Grimmauldplace Nummer zwölf auf Hochglanz zu reinigen. Mary, das Kindermädchen, musste die Black’schen Brüder beim Aufräumen (Sirius) ihrer ohnehin vorzeigbaren Zimmer (Regulus) beaufsichtigen und ihnen helfen, die neuen Festumhänge anzulegen und ihre dunklen Locken richten, bis Mrs Black zufrieden war. Sie selbst beaufsichtigte gegen Mittag die Arbeiten in der Küche, derer sich die Haushelfen nach ihrem Putzmarathon widmeten. Für die Feierlichkeiten hatte Walburga eine komplizierte, mehrgängige Menüfolge zusammengestellt und bei den Vorbereitungen sollte nicht das Geringste schiefgehen.

Sirius erlebte das Geschehen als stummer Beobachter und fühlte sich wie gelähmt, bloß als Randfigur, obwohl seine Mutter das Fest ihm zu Ehren gab. Sollte er sich nicht ein wenig freuen? All dieser Aufwand, nur für ihn – man sollte meinen, seine Mutter mache sich etwas aus ihm. Zumindest mehr, als sie ihn wissen ließ.

Regulus‘ neuer Umhang saß perfekt und mit seinem Seitenscheitel sah er nahezu niedlich aus. Sirius unterdrückte den seltsamen Drang, die ordentliche Frisur seines kleinen Bruders gründlich zu verwuscheln. Oder ihm in die Wange zu kneifen. Beides nichts, was Mutters Wohlwollen erregen würde. Ebenso wie Sirius‘ Umhang, der nicht perfekt saß. Er war –

„Viel zu weit! Wie konnte das bitte passieren? Madame Malkin war persönlich hier und hat die Maße überwacht!“

Sirius schluckte die Bemerkung hinunter, dass er nichts dafür konnte, dass ihm ein maßgefertigter Umhang nicht passte. Schließlich hatte er sich beim Vermessen nicht extra breiter gemacht.

Also keine zweieinhalb Größen, Reggie!, schoss es ihm stattdessen plötzlich gehässig durch den Kopf, ohne, dass er sich erklären konnte, was er damit eigentlich meinte.

Mrs Black wollte keinen Schrumpfzauber der Robe riskieren, bei dem die Kleidung nicht nur enger, sondern auch kürzer wurde. Sie ließ Sirius vor vollendeten Tatsachen und in zu weitem Umhang stehen, um sich wieder ihrer Organisation zu widmen.

Zuerst fühlte sich Sirius hilflos. Ihm war klar, wenn er nachher, beim Eintreffen der Gäste, nicht absolut vorzeigbar war, würde man ihn dafür verantwortlich machen. Er starrte wieder einmal seinem Spiegelbild entgegen, das plötzlich in der Nase bohrte und ihm schelmisch zuzwinkerte.

„Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg zuerst den and’ren zu!“, flötete der Spiegel und ließ die Reflektion einen Diener machen. Sirius lachte, zuerst ein zurückhaltendes Kichern, doch schließlich wurde es lauter. Befreiend.

„Du hast absolut recht, mein Freund!“, sagte er bestimmt.  Und vielleicht war ein magischer, dummschwätzender Spiegel wirklich das, was einem Freund in diesem Haus am nächsten kam.

 

Walburga hatte sich in die elterlichen Gemächer zurückgezogen, um sich selbst für die Geburtstagsfeier anzukleiden. Von Regulus und seinem Vater hatte Sirius schon eine Weile nichts mehr gesehen, doch er wusste, dass die Luft in der Küche rein war, war seine Mutter erst einmal außer Sicht. In dem länglichen Raum mit tiefer Decke fand er drei emsige Hauselfen, bis zu den Ellen in Arbeit versunken. Auf dem massiven Eichentisch thronte bereits eine köstlich aussehende Geburtstagstorte – Nougat und Schokolade, auf Sirius‘ Wunsch hin. Auf dem Herd köchelten bestimmt ein Dutzend Töpfe und Pfannen und im Ofen machte Sirius einen gewaltigen Braten aus.

„Master Sirius!“, piepste Timber erstaunt, als sie ihn vor dem Herd entdeckte.

„Master Sirius sollte nicht hier sein, Master Sirius ist zu herausgeputzt für die Dämpfe in der Küche – “

„Schon gut, schon gut! Ich bin ja gleich wieder weg!“ Unauffällig streifte sein Zeigefinger an der äußeren Garnierung seiner Torte entlang und ein Schokosahnehäubchen verschwand in seinem Mund. Eine eigenartige Wärme ging von dem süßen Geschmack aus und Sirius lächelte kurz.

„Master Sirius macht die Torte kaputt!“, krächzte Kreacher erschrocken.

„Darf Kreacher Master Sirius etwas anderes zu Essen anbieten, bis das Fest losgeht?“ Sirius schüttelte hastig den Kopf. Disziplin.

„Nein, ich wollte nur mal probieren. Macht weiter mit der Arbeit.“ Die Torte war wirklich unwahrscheinlich gut. Wie schade, dass er kein ganzes Stück davon haben konnte. Disziplin ließ nun einmal keine Torte zu. Er ließ die Zunge über die letzte Erinnerung des himmlischen Geschmacks gleiten und rieb den Finger an der Hose ab, die er unter dem weiten Umhang trug.

„SIRIUS!“

Ertappt zuckte er zusammen, doch die Stimme seiner Mutter gellte von oben bis in die Küche und sie konnte nicht wissen, dass er sowohl das Dessert als auch seine beste Hose geschändet hatte.

„Verratet ihr bloß nichts!“ Die Hauselfen nahmen seinen drohenden Tonfall kommentarlos hin und verbeugten sich ergeben, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit widmeten. Bevor er sich abwandte, bemerkte Sirius Murrays zitternde Ohrenspitzen und die, selbst für eine Hauselfe, weit aufgerissenen Augen Timbers. Natürlich hatten sie seit ihrem Einzug in Walburgas Refugium die gut sichtbare Trophäenwand zur Kenntnis genommen.

 

Sirius drückte sich aus der Küche und am Treppengeländer entlang nach oben. Er fand seine Mutter in seinem Kinderzimmer vor – und sie war nicht allein. Regulus und, zu Sirius‘ großer Überraschung, Madam Malkin standen neben ihr.

„Da bist du ja endlich!“ Der Tonfall Walburgas war nur um wenige Grad freundlicher, wie meistens, wenn sich Gäste in Hörweite befanden. Sirius wechselte einen raschen Blick mit seinem Bruder, doch konnte er nicht schlau daraus werden, was sie alle in seinem Zimmer zu suchen hatten. Er fühlte sich merkwürdig hilflos. Abgesehen von den Bediensteten und Hauselfen, deren Aufgabe es war, hier nach dem Rechten zu sehen und Ordnung zu halten, betrat niemand ohne seine ausdrückliche Erlaubnis das Zimmer. Seine Mutter war seit Monaten nicht mehr hier gewesen. Und nun hatte sie auch noch eine Fremde hineingelassen. In die Hilflosigkeit mischte sich Wut.

„Madam Malkin ist hier, um deine Roben zu richten!“ Der scharfe spottende Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass es sich hier um einen außergewöhnlichen Fehler handelte, doch es war nicht ganz klar, wem Walburga die Schuld zuschob, der Schneidermeisterin oder –

„Sirius ist nach seinem Wachstumsschub offenbar wieder geschrumpft. Passen Sie Ihre Arbeit an die richtigen Maße an!“ Energischen Schrittes verließ sie den Raum, da sie nun deutlich gemacht hatte, dass sie das Vergehen ihnen beiden zur Last legte. Sirius starrte noch immer zu Regulus, der verlegen kicherte und sich steif auf der Bettkante niederließ.

„Komm näher, Sirius!“ Madam Malkins Stimme klang, trotz der peinlichen Umstände, keineswegs verärgert. Wortlos folgte Sirius ihrer Anweisung und blieb mit hängenden Schultern vor ihr stehen. Er ließ zu, dass sie behutsam seine Kleidung zurechtrückte.

„Du bist schmal geworden, mein Lieber.“ Kein Vorwurf, eine Feststellung.

Behutsam schob sie den Umhang ein wenig zur Seite, um sich den Sitz der Hose anzusehen, die er darunter trug. Ihr Blick verweilte auf einem braunen Fingerabdruck, der Sirius in der Küche nicht aufgefallen war. Im grellen Licht seiner Schreibtischlampe hob er sich jedoch deutlich vom feinen und dunkleren Stoff seiner Hose ab. Madam Malkin zog ihren Zauberstab und der Fleck war verschwunden. Sirius glaubte, einen Hauch Lavendel in der Luft zu erahnen und es roch für einen kurzen Moment nach frischer, sauberer Wäsche. Diesmal versuchte er krampfhaft, nicht zu seinem Bruder hinüberzusehen. Es fehlte noch, dass der ihm dabei zuschaute, wie eine fremde Frau seine Hose säuberte. Ein weiterer Schwung von Madam Malkins Zauberstab und er spürte, wie seine Kleider sich an ihn schmiegten; alles saß urplötzlich wie angegossen.

„Geh und schau dich im Spiegel an!“, schlug Madam Malkin lächelnd vor. Achselzuckend drehte er sich zu seinem nervtötenden magischen Spiegel um, der ein Geräusch von sich gab, als sei er soeben aus dem Tiefschlaf erwacht, sobald Sirius‘ Spiegelbild in ihm auftauchte. Es musterte ihn prüfend und sah, dass er in einem schlichten, aber eleganten, schwarzen Festumhang mit smaragdgrünen Aufschlägen steckte. An Brust und Ärmeln war dezent, aber noch gut sichtbar, das Wappen der Familie Black aufgestickt. Der Umhang wurde von der Brust bis zur Taille mit silbernen Ösen verschlossen. Er sah gut aus. Sirius fühlte sich wie in einem Kostüm, das ihm viel zu gut stand. Er war eine wandelnde Reklametafel seiner Familie.

„Du siehst hervorragend aus, mein Lieber“, bestätigte die Schneiderhexe mit einem zufriedenen Kopfnicken. Dann wandte sie sich seinem Bruder zu.

„Da ich schon einmal hier bin, lass mich sehen, ob es an deiner Robe auch noch etwas zu verbessern gibt.“

Eskalation

Im Salon und im, für den Anlass offenen, Korridor dahinter drängten sich am frühen Abend knapp dreißig der angesehensten Mitglieder der magischen Gemeinschaft. Angeregtes Raunen lag über der Festgesellschaft, hie und da hörte man sogar höflich verhaltenes Lachen.

Bei seinem Erscheinen hatte jeder Gast einen Händedruck und einen schweren Umschlag für Sirius übrig gehabt. Von Walburga war er damit in sein Zimmer geschickt worden und nun, da er die mit Galeonen ausgestatteten Karten losgeworden war, beachtete ihn niemand mehr.

„Tolles Fest, Sirius!“ Regulus war mit einem mit Torte beladenen Teller neben ihm aufgetaucht und grinste ihn mit verschmiertem Mund an.

Sirius widerstand dem Bedürfnis, das Gesicht seines Bruders vornüber in die Schokosahne zu drücken und grinste freudlos zurück.

„Du bist viel zu klein für Ironie, Reggie!“

„Nenn mich nicht Reggie und ich bin eh klüger als du!“

Ein spitzer Ellenbogen landete in Regulus‘ Rippen, der Mühe hatte, seine Torte nicht fallen zu lassen.

„Na, na, ihr beiden!“

Ein sehr dünner, sehr großer älterer Zauberer mit wirrem, schütterem Haar stand plötzlich vor ihnen. Er trug einen tief violetten Umhang und stach damit deutlich aus der Masse der anderen Gäste hervor.

„Onkel Alphard!“

„Gut zu hören, dass du mich noch kennst!“ Er legte eine große, knöcherne Hand auf Sirius‘ Schulter und drückte mit erstaunlich viel Kraft zu.

„Himmel, eure Mutter hat sich da aber wieder was einfallen lassen … Bisschen früh für Hogwarts, was?“

„Die woll’n ihn da gar nicht!“, frotzelte Regulus und fing sich noch einen Rippenstüber durch Sirius ein. Diesmal rutschte das Stück Torte über den Tellerrand hinaus und landete mit einem leisen „Matsch!“ auf dem Perserteppich.

Die Brüder wurden beide kreidebleich, Regulus ließ Teller und Gabel fallen, Alphard nahm die Hand von Sirius‘ Schulter. Mit wirbelndem Umhang drehte er sich zu den anderen Gästen um und verdeckte die Sicht auf seine Neffen und das kleine Missgeschick auf dem teuren Vorleger, der den Fall des Porzellans gedämpft hatte. Niemand hatte etwas bemerkt. Regulus warf einen hilflosen Blick zu Sirius.

„Das ist deine Schuld!“, jammerte er.

„Klappe! Wir müssen das wegmachen, bevor es einer merkt!“

„Kreacher, er kann –“

„Nein!“ Sirius wurde wütend. Sein Bruder hatte offenbar immer noch nicht verstanden, dass es zu den Aufgaben von Hauselfen zählte, unbemerkt zu bleiben, nur im Hintergrund zu wirken. Für seinen Geschmack gab Regulus sich viel zu viel mit ihnen ab. Man sollte sich nicht zu sehr auf etwas verlassen, das derartig unter Walburgas Einfluss stand.

„Wenn Mutter das mitkriegt, ist Kreacher tot!“, fauchte Sirius daher.

Ein Räuspern vor ihnen ließ sie zusammenfahren.

„Ich unterbrech‘ euch ja nur ungern, aber meint ihr nicht, ihr solltet einfach ‘mal den Teller aufheben?“

Sirius bückte sich hastig, klaubte die verschmierte Tortengabel und den Teller, der zum Glück heil geblieben war, vom Boden und drückte beides in Regulus nervöse Hände. Als er sich wieder aufrichtete, war die Sauerei auf dem Boden restlos verschwunden.

„Onkel Al?“ Alphard schien das Aufbauschen seiner Roben wieder unter Kontrolle zu haben. Er hatte sich erneut zu ihnen umgewandt und in seinen kleinen Augen lag ein verschmitztes Funkeln.

„Gern geschehen, ihr beiden!“ Sirius seufzte erleichtert. Erst jetzt bemerkte er, dass ihm kalter Schweiß auf der Stirn geschrieben stand. Nein, er fürchtete seine Mutter nicht, oder zumindest wegen ihr nicht um sein Leben. Überraschenderweise hatte er Angst um Regulus, den er gleichermaßen dafür hasste, dass dieser einen so viel besseren Stand in den Augen seiner Eltern hatte. Außerdem war er, Sirius, streng genommen, Gastgeber dieser obskuren Party und er wollte es nicht riskieren, sich durch eine mütterliche Zurechtweisung bis auf die Knochen zu blamieren. 

Sirius‘ Blick blieb an Alphard hängen, der, trotz seiner langen, hageren Statur erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Angorakaninchen aufwies. Es musste an seinen Haaren liegen …

Alphard war der wohl einzige Zauberer in diesem Haus, der nahezu unbekümmert, ja, gut gelaunt schien. Die meisten anderen der Gäste distanzierten sich sichtlich von ihm; nicht, dass sie ihm auswichen oder sich nicht auf eine Unterhaltung mit ihm einließen, aber wenn er nicht hinsah, warfen sie ihm deutlich abschätzige Blicke zu. Erstaunlicherweise schien sich Alphard alles andere als unwohl zu fühlen, obwohl Sirius sich nicht vorstellen konnte, dass ihm die herablassende Haltung der anderen entginge. Seine Eltern nannten ihn jenseits der Familientreffen immer „Verrückt!“ und das war noch einer der harmloseren Beinamen.

 

„Wie wäre es mit ein bisschen mehr Spaß?“, fragte Onkel Al in diesem Moment und wackelte verheißungsvoll mit den Augenbrauen. Regulus wirkte, als habe er an diesem Abend schon mehr als genug Unterhaltung gehabt. Sirius wusste nicht, was er antworten sollte. Wie genau stellte sich Alphard Spaß in diesem Haus, in dieser Gesellschaft, vor?

Er hieß seinen beiden Neffen, ihm zu folgen, die sich ratlos ansahen, bevor sie zu dritt den reich gedeckten Buffettisch ansteuerten. Hübsche, kleine Terrinen mit allerlei Soßen umrundeten ihn, eine Hand breit über dem Tischtuch schwebend, Brotkörbe füllten sich von selbst wieder auf und ein beeindruckender Drache aus unschmelzbarem Eis ließ Eiswürfel aus seinem Inneren in die Gläser fallen, die ihm unter das weit geöffnete Maul gehalten wurden, in dem filigran gemeißelte Reißzähne glitzerten.

„Meine Schwester übertreibt so gern“, seufzte Alphard einen Hauch zu betroffen, griff sich einen Becher Kürbissaft und ließ den Drachen seine Arbeit verrichten. Alphard schwenkte sein Getränk, so dass die Eiswürfel darin leise klirrten, nahm einen großen Zug und setzte es schließlich schwungvoll auf dem weißen Tischtuch ab.

„Ihr solltet etwas essen“, empfahl er gut gelaunt „Aus der Torte ist ja nicht viel geworden.“ Er nahm Regulus den schmutzigen Teller samt Gabel aus der Hand und stellte ihn auf ein silbernes Tablett mit benutztem Geschirr, das sich ab einer gewissen Menge selbstständig leerte. Alphard drückte den Brüdern jeweils ein sauberes Kuchengedeck in die Hand und schaufelte ihnen mit einem Schwung seines ungewöhnlich hellen Zauberstabs Tortenstücke auf, bevor er sich selbst bediente.

„Wenigstens Geschmack hat Walburga!“ Er sagte es so laut, dass sich einige der umstehenden Hexen und Zauberer zu ihnen umdrehten. Sirius spürte, wie sich seine Nackenmuskulatur versteifte. Regulus hatte in kürzester Zeit sein halbes Stück Torte verspeist, wohl in Sorge darüber, dass es wieder anderswo als in seinem Mund landen könnte.

Der gute Sohn, der so wenig aß.

Sirius fühlte sich noch immer beobachtet; Alphard war wirklich eine exzentrische, aufmerksamkeitserregende Figur. Seltsamerweise erschien es weitaus schwieriger als gedacht, etwas zu essen, sobald mehr als nur seine Eltern darüber zu täuschen waren, wie viel er tatsächlich zu sich nahm. Als Alphard und Reg ihre Portionen bewältigt hatten, kämpfte Sirius immer noch mit seinem Stück.

Disziplin.

Sirius fühlte wiederholt Alphards festen Griff auf seiner Schulter.

„Du solltest das aufessen, Junge. Bewirkt Wunder.“

Er schluckte hart, spürte, wie dabei Luft seine Kehle mit hinab rollte. Er sah zu seinem Onkel auf und bemerkte überrascht, dass dessen Blick abwesend in die Ferne gerichtet schien. Er achtete gar nicht mehr auf Sirius, nahm die Hand von seiner Schulter und widmete sich stattdessen Regulus. Das ließ ihn sich ein wenig entspannen; Alphard würde ihm nicht dabei zuschauen, wie er das Stück Torte fertig aß.

Sirius hatte bereits mehr gegessen, als beabsichtigt. Um genau zu sein, war jeder Bissen zu viel.

„Ich habe jetzt einen eigenen Besen!“, hörte er Reg mit unverhohlenem Stolz erzählen.

Sirius riss sich zusammen und schaffte noch zwei Kuchengabeln voll. Ein widerwilliger Blick auf seinen Teller verriet ihm, dass er vielleicht drei Viertel seines Stücks gegessen hatte. Das musste genug Demonstration sein. Ein wenig enttäuscht stellte er fest, dass  es nicht einen Bruchteil so gut geschmeckt hatte, wie der Mund voll Schokosahne, den er am Morgen in der Küche stibitzt hatte. Sirius straffte die Schultern, vermied es, Alphard, Regulus oder überhaupt irgendjemanden anzusehen und stellte seinen Teller mitsamt Kuchenrest auf dem sich selbst leerenden Tablett ab.

Zufrieden sah er dabei zu, wie er mit einem leisen „Plopp!“ verschwand. Endlich war das Versagen aus seinem Blick. Sein Bauch fühlte sich seltsam hart und aufgebläht an. Der angepasste Umhang spannte sogar, zumindest bildete Sirius sich das ein. Wie wurde er jetzt nur dieses ekelhafte Gefühl wieder los?

Regulus schien seine Erzählung vom Flugunterricht beendet zu haben, denn er und Alphard wandten sich wieder dem Gastgeber der Feierlichkeiten zu. Sirius lächelte gequält. Die anderen schienen es nicht zu bemerken.

„So, und nun, da wir uns gestärkt haben, wäre es endlich an der Zeit für etwas Unterhaltung!“, fand Alphard und wippte gut gelaunt auf den Fußballen.

„Seid ihr dabei?“

Regulus und Sirius tauschten unsichere Blicke. Dass Alphard sie bei ihrem Missgeschick auf dem Perserteppich gerettet hatte, brachte dem alten Zauberer einen gewissen Vertrauensvorsprung ein. Andererseits kannten sie ihren Onkel kaum, wussten nur, dass ihre Mutter keine gute Meinung von ihm besaß, was bedeuten musste, dass seine Vorstellung von ‚Unterhaltung‘ dazu prädestiniert war, ihnen beiden gewaltigen Ärger einzuhandeln, wenn sie sich mit ihm einließen. Sirius hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Vielleich lag es am Zucker.

„Dabei!“, flüsterte er entschlossen. Sein Gesicht fühlte sich merkwürdig heiß an.

Definitiv der Zucker.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Reg ihn mit offenem Mund anstarrte. Normalerweise war sein kleiner Bruder derjenige, der sich im entferntesten Sinne an so etwas wie Rebellion traute. Alphard nickte und sah dabei hochzufrieden aus. Ohne Regulus‘ Antwort abzuwarten – vielleicht betrachtete er Sirius‘ Zustimmung auch einfach als für sie beide geltend – drehte er sich plötzlich um und ging mit großen Schritten den Buffet-Tisch entlang.

 

Möglicherweise war es nur Einbildung, immerhin war das Licht recht schummrig und seit einiger Zeit hatte Sirius Schwierigkeiten, die Sicht scharf zu stellen. Die gläsernen Karaffen mit Kürbissaft schienen allerdings plötzlich mit flüssigem Gold gefüllt zu sein, das träge in den Behältnissen schwappte. Als Alphard in der Mitte des Tisches angekommen war, blieb er einen Moment stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und beugte sich über das weiße Tischtuch, wie um die Speisen vor sich zu begutachten. Ein unverblümt diebisches Grinsen lag auf seinen schmalen Lippen, als er dem Drachen aus Eis zuzwinkerte. Dann setzte er seine Runde fort. Sirius hätte schwören können, dass der Drache … nun, dass er zurückzwinkerte. Waren dessen Augen eigentlich schon immer leuchtend rot gewesen? Alphard war die ganze Tafel abgeschritten und kehrte nun wieder zu seinen beiden verdatterten Neffen zurück.

 „Ich hoffe, dass niemand von euch beiden in der nächsten Zeit Durst hat“, sagte er gut gelaunt und kramte in den unendlichen Weiten seiner Robe herum.

„Hört zu, Jungs, es wird hier bald ziemlich bunt zugehen. Wenn der Trubel losgeht, ist es Zeit für das hier!“

Er zog zwei kleine Gegenstände aus seinem Umhang und drückte jeweils einen davon in ihre Hände. Sirius betrachtete die kleine, schwarz-rot gestreifte Schachtel. Sie besaß keinen Deckel, sondern war zum Aufschieben, einer Streichholzschachtel nicht ganz unähnlich. Ihr Inhalt rasselte dumpf, als er sie leicht schüttelte.

Ein rascher Blick über die Schulter Reggies verriet ihm, dass dieser einen kleinen Zylinder aus Pappkarton in der Hand hielt, der an beiden Enden mit silberner Folie verschlossen war. Sirius hatte selbst nie etwas Derartiges aus der Nähe gesehen, doch er hatte eine vage Ahnung, was Onkel Alphard ihnen soeben gegeben hatte.

„Schachtel aufziehen und auf dem Boden auskippen“, er zeigte auf Sirius, „Röhrchen schütteln und Folie abreißen!“, war die Anweisung für Reg.

„Sobald es losgeht. Auf keinen Fall vorher! Und jetzt weg damit – wir wollen doch keinen Ärger bekommen!“

 

Es war Onkel Cygnus, der sich als erster dem Buffet näherte. Alphard war zwischen den anderen Gästen verschwunden, um ein Schwätzchen zu halten. Sirius und Regulus blieb nichts anderes übrig, als voller Anspannung neben dem Essen zu warten und dabei nicht allzu schuldbewusst dreinzuschauen. Regulus schien vor Aufregung, was Alphard genau im Schilde führte, fast zu platzen. Sirius erging es ähnlich, war aber der Meinung, dass es eher sein Mageninhalt war, der dieses Gefühl auslöste. Mit Argusaugen beobachteten die Brüder, wie Cygnus sich ein Häppchen von einer Silberplatte nahm. Die Getränke ließ er unberührt. Der Eisdrache schüttelte kaum merklich den Kopf, oder vielleicht war auch das nur Einbildung.

Reg entwich ein tiefer Seufzer.

„Onkel Cygnus ist unheimlich“, flüsterte er Sirius ins Ohr, der ihm zustimmen musste. Walburgas und Alphards Bruder war wirklich keine angenehme Gesellschaft. Sie trafen ihn zwar ein wenig öfter, als vergleichsweise andere Verwandte, weil er drei Töchter hatte, deren Gesellschaft Walburga als guten Umgang für ihre Söhne ansah, obwohl sie deutlich älter als Regulus und Sirius waren. Von den Mädchen war heute nur die jüngste anwesend: Narcissa, ein blondes, blasses Ding, fünfzehn Jahre alt und hatte gerade ihren ZAG mit Bravour bestanden.

Abgesehen davon hatten sie auch mit diesem Teil der Familie wenig zu tun, was keiner der Brüder bedauerte.

Narcissa war es schließlich, die, kaum, dass Cygnus zurück unter den Gästen war, neben ihnen am Buffet auftauchte. Sie hatten einander bereits begrüßt, doch sie ließ sich immerhin zu einem Kopfnicken herab. Sirius konnte nicht sagen, dass er seine Cousine besonders gut leiden konnte, aber innerhalb seiner Familie gab es weitaus schlimmere Gesellschaft. Ihre Schwester, Bellatrix, zum Beispiel.

„Hey, Cissy!“, rief er halblaut zu ihr herüber, als sie gerade dabei war, die Hand nach einem sauberen Becher auszustrecken. Regulus neben ihm zappelte nervös. Er merkte plötzlich, dass es ihm leid getan hätte, würde sich Alphards Streich einzig und allein gegen Narcissa richten. Sie hielt in der Bewegung inne, drehte sich zu ihm herum.

„Ja?“, sagte sie mit erhobener Braue. So hübsch sie auch war – und seinetwegen auch klug – ihr schien seit einiger Zeit eine gewisse Hochmut anzuhaften, die Sirius nicht ausstehen konnte. Offenbar erzielte der Abstand zur Familie durch Hogwarts bei ihr nicht die Wirkung, die Sirius sich für sich selbst und seinen Bruder wünschte.

„Wo hast du deine Schwestern gelassen?“

Er spürte Regulus‘ irritierten Blick in seinem Nacken. Als ob er sich plötzlich für die Familie interessierte! Nun, zumindest Andromeda, seine Lieblingscousine, interessierte ihn tatsächlich.

„Dromeda muss für die UTZ lernen“, antwortete Narcissa langsam, „Bella hilft ihr dabei.“

„Okay, dann grüß‘ sie von mir?“, erwiderte Sirius ebenso zögerlich. Wie brachte er sie jetzt nur davon ab, sich ein Getränk zu nehmen? Narcissa sah so aus, als überlegte sie einen Moment. Dann lächelte sie plötzlich. 

„Gut für dich, dass das mit Hogwarts klappt. Ich weiß nicht, wieso deine Eltern der Meinung sind, sie bräuchten einen Beweis für deine Magie.“ Sirius starrte seine Cousine an, unfähig, zu verhindern, dass ihm der Mund offenstand. Sie klang ja nahezu … nett?

„Im Ernst, du bist schon … merkwürdig genug, kann mir nicht vorstellen, dass du deiner Familie auch noch diese Schande bereiten willst.“ Narcissas Lächeln wurde eine Spur breiter.

„Regulus kann nicht alles auffangen, was du vermasselst.“

Sirius hatte den Mund wieder geschlossen.

Also doch, natürlich.

Er spürte weder Zorn, noch war er verletzt. Eine tiefe Ruhe breitete sich plötzlich in ihm aus. Regulus neben ihm kiekste nur nervös. Er klang wie ein kleines Tier. Nicht die Traute, seiner älteren Cousine etwas entgegen zu setzen, das seinen großen Bruder vor ihr in Schutz nahm.

Nun, Sirius brauchte niemanden, der ihm half. Er erwiderte Narcissas Lächeln.

„Was immer du sagst!“, entgegnete er freundlich.

„Ich denke, ich geh‘ jetzt meine Eltern suchen. Sie daran erinnern, was für eine Enttäuschung ich bin. Kommst du, Reg?“

Er fasste nach dem Robenärmel seines kleinen Bruders und zog ihn mit sich, fort vom Buffettisch.

„Hey – was soll das?“, protestierte der halblaut, folgte aber stolpernd. „Willst du ihr nicht die Meinung sagen?“

„Nee, wozu, Reggie. Hat keinen Sinn. Lass uns einfach nur nicht zu nah am Tisch stehen. Sie wird sich gleich was zu trinken nehmen und wenn wir direkt dabei sind, wird sie sich denken können, dass wir was damit zu tun haben.“

 

Und wirklich. Kaum, dass sie die Wand auf Höhe der Salontür erreicht hatten, herrschte plötzlich ein entsetzliches Getöse. Einige der Gäste schrien überrascht auf, Gedrängel erfüllte den Raum.

„Was geht hier vor?“, hörte Sirius die gewaltige Stimme seiner Mutter donnern.

„Los, Reggie, jetzt!“, zischte er und kramte die Schachtel, die Onkel Alphard ihm gegeben hatte, aus seiner Tasche. Regulus zögerte einen Moment verwirrt, zu abgelenkt von dem Tumult um sie herum. Über die Köpfe der Gäste hinweg stob in diesem Moment eine beeindruckende, regenbogenfarbene Stichflamme. Mit fahrigen Händen schob Sirius die Schachtel auf, ging in die Hocke und schüttelte den Inhalt über dem Boden aus. Was heraus purzelte, sah auf den ersten Blick aus wie kleine, schrumpelige schwarze Bohnen. Kaum, dass sie die Schachtel verlassen und die Dielen berührt hatten, prallten sie jedoch von der Erde ab und schienen sich zu entknittern, in alle Richtungen zwischen die Beine der umher rennenden und schreienden Menschen zu hüpfen, als hätten sie Sprungfedern.

„GNOME!“, schrie Onkel Alphard irgendwo. „Sie wollen meine Zehen fressen!“

Sirius biss sich heftig auf die Lippen, um nicht laut los zu lachen. Er knuffte Regulus in die Seite.

„Los, jetzt mach schon!“

„J-ja, ist gut …“ Regulus riss mit zittrigen Fingern die Folie von seinem Zylinder ab, den er unbeholfen geschüttelt hatte. Augenblicklich drang lautes Pfeifen und Zischen daraus hervor und Regulus ließ ihn erschrocken fallen. Es war, als wäre ein ganzes Feuerwerk in dem kleinen Röhrchen gefangen gewesen, das nur darauf gewartet hatte, von ihm befreit zu werden. Es krachte, knallte und fauchte in allen Farben – Rauch stieg auf und verbreitete einen schweren Geruch von Schwefel und Schießpulver über der Menge.

Sirius konnte nicht anders, er war zu neugierig und sie schienen von ihrer Position aus den größten Spaß zu verpassen. Er fasste seinen kleinen Bruder am Handgelenk und zog ihn mit sich zurück Richtung Buffet, von wo sie sich eben noch zurückgezogen hatten. Das Risiko, erwischt zu werden, hatte sich definitiv gelohnt, denn sie erhaschten einen Blick auf den Drachen aus Eis, der wütend seine Kreise um das Essen zog und offenbar die Karaffen mit dem Kürbissaft verteidigte. Dabei brüllte er, für seine Größe beeindruckend laut, und spie gelegentlich bunte Flammen in den Raum hinein.

Die im Übrigen die Oberflächen zu färben schienen, auf die sie trafen – Narcissa rannte schluchzend und mit leuchtend grünen Haaren aus dem Salon.

 

In seinem ganzen Leben, jeden Wutausbruch Walburgas inbegriffen, hatte Sirius noch nie ein solches Durcheinander im Haus seiner Eltern erlebt: Am Boden rannten die geschrumpften Gnome, die er befreit hatte, zwickten den panischen Gästen in die Waden, bissen sie, brachten sie zum Stolpern, stahlen Taschen und warfen mit Essen und Besteck. Über den Köpfen peste ein nie enden wollendes Miniaturfeuerwerk und ein zorniger kleiner Eisdrache attackierte jeden, der ihm zu nahe kam.

Er konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal in seinem Leben so sehr gelacht zu haben. Tränen liefen ihm über die Wangen, sein Kopf war feuerrot und schien genauso zu brennen, wie die Samtvorhänge, um die ein orangerotes Feuer züngelte, als der Drache sich von Tante Druella bedroht fühlte, die am Fenster hatte Schutz suchen wollen. Regulus schien das alles weniger witzig zu finden. Seine Augen waren ungewöhnlich hell und er hatte sie weit aufgerissen; außerdem war sein Gesicht kreidebleich.

„Hey, alles okay?“, fragte Sirius atemlos, als er sich ein wenig beruhigt hatte.

„Reggie? Geht’s dir gut?“

Regulus schüttelte heftig den Kopf, offenbar unfähig, auch nur einen Ton herauszubringen. Sirius verstand seinen kleinen Bruder nicht. Endlich einmal hatten sie die Möglichkeit, sich gegen die Unbarmherzigkeit ihrer Eltern zu wehren und Regulus fand das nicht zum Schreien komisch? Sirius seufzte tief, warf einen letzten Blick auf das Spektakel, an dem er hatte teilhaben dürfen. Dann schnappte er sich Reg und brachte ihn fort von den Gästen und hinunter in die Küche.

Befreiung

September, 1971

 

Sirius hatte am Abend seiner Feier eine Menge von Onkel Alphard gelernt. Zum einen, welche Befreiung es ihm bereitete, einen Tumult zu verursachen und anschließend unschuldig daraus hervorzugehen. Endlich selbst einmal Fädenzieher und Beobachter zu sein, sich nicht unterdrücken und verbiegen zu lassen. Macht zu besitzen, der sich andere nicht entziehen konnten.

Zum anderen, dass er seinen Bruder nicht vor dem schädlichen Einfluss ihrer Eltern beschützen konnte. Sie hatten ihn bereits mit Quidditch, Süßigkeiten und Kreacher (der das vergangene Jahr erstaunlicherweise überlebt hatte) geködert. Sirius kam nicht mehr an Reggie heran. Er konnte ihm nur zugutehalten, dass er weder ihn noch Alphard an die Eltern verraten hatte. Trotz seiner Enttäuschung rechnete Sirius das seinem Bruder hoch an.

 

Ihm blieb also nichts anderes übrig, als die Einladung für seine Aufnahme in Hogwarts abzuwarten, die das führnehme und gar alte Haus der Blacks pünktlich im Juni erreichte. Diesmal hielten Orion und Walburga davon Abstand, ihm zu Ehren irgendwelche Feierlichkeiten zu veranstalten – und sie taten gut daran.

Sirius bekam regelmäßig Tadel für seine neu entdeckte Widerspenstigkeit, wie seine Eltern es nannten, doch er hatte ein interessantes Druckmittel gefunden, wenn sie ihm zu sehr zusetzten: Er weigerte sich, zu essen.

Zunächst hatte Walburga nur gehässig mit den Schultern gezuckt und gesagt: „Soll er doch. Er wird schon sehen, was er davon hat.“

Es dauerte allerdings nicht lange, bis die Leute anfingen, darüber zu reden, wie verwahrlost und krank der älteste Spross der Blacks plötzlich aussah. Seine Eltern mussten feststellen, dass sie ihn nicht, weder mit Gewalt noch Strafe, zum Essen zwingen konnten.

Das Familienleben wurde seitdem nicht unbedingt schöner, aber doch um einiges einfacher für ihn. Insgeheim glaubte Sirius, dass seine Eltern froh waren, ihn bald für einen Großteil des Jahres aus dem Haus zu haben und um ehrlich zu sein, erging es ihm selbst ja kaum anders.

Nur an Regulus‘ Verbleib dachte er gelegentlich noch mit etwas Wehmut. Doch … Mehr, als dafür zu sorgen, dass sein Bruder zu seinem Quidditchtraining kam, konnte er nicht tun.

 

Der Morgen des ersten Septembers brach an, sonnig, mit dem süßlichen Nachgeschmack von Spätsommer, aber auch mit einem frischen Hauch des nahenden Oktobers. Zu seiner Überraschung, war es nicht Kreacher, der ihn heute weckte.

„Steh auf, Siri!“

Regulus zerrte an seiner Decke. Sirius gab ein unwirsches Grunzen von sich. Er hasste diesen Spitznamen und noch mehr hasste er es, früh aufzustehen. Regulus warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf die Matratze, landete halb auf Sirius und ließ das Bett ächzen.

„Auu!“

„Hogwarts ruft!“, trällerte Regulus, die Nervensäge, und plötzlich war Sirius hellwach – fast. Er blinzelte in das Morgenlicht, das sein Bruder soeben ins Zimmer gelassen hatte, und schob ihn von sich und aus seinem Bett. Regulus landete wie eine Katze auf allen Vieren, noch barfuß und im Schlafanzug, doch breit grinsend und viel zu aufgedreht. Wieder einmal verspürte Sirius den Drang, ihm durch das – schlafzerzauste – Haar zu strubbeln, obwohl er noch immer so tat, als sei er beleidigt ob des unsanften Weckrufs.

„Hast du alle deine Sachen gepackt?“

Schon seit zwei Wochen.

„Klar, was denkst du von mir?“

„Nur das Beste, Bruderherz.“

Sirius seufzte tief.

„Jetzt hau ab, ich will mich anziehen!“

 

Orion und Regulus begleiteten ihn zum Bahnhof King’s Cross. Seltsamerweise schob sein Vater den Gepäckkarren mit seinem Koffer. Eine ungewöhnlich nette Geste für den sonst so lieblosen Mann. Eine ungewöhnlich nette Geste gegenüber Sirius. Vielleicht freuten sie sich wirklich alle, wenn sie einander für eine Weile los waren. Walburga war nicht einmal mitgekommen. Mit plötzlich gemischten Gefühlen steuerte er mit Bruder und Vater auf die Schranke zu, die Gleis 9 von Gleis 10 trennte. Sirius schluckte. Was sollten diese albernen Gedanken? War es nicht alles, was er sich gewünscht hatte? Von hier wegzukommen, endlich Abstand zu gewinnen?

Entschlossen trabte er los, verfiel in einen Laufschritt und rannte schließlich geradewegs auf die Absperrung zu. Er hörte seinen Vater hinter sich rufen, dann hatte er auch schon die magische Barriere zum Gleis 9 ¾ passiert und – KRACH.

„Mensch, pass doch auf!“, rief jemand.

Sirius sah für einen Moment Sterne; er musste blinzeln, bevor er sich vom Boden aufrappeln konnte, auf dem er gelandet war.

„Sorry, ich hab‘ dich nicht – hey. Du hättest auch aufpassen können!“, schnauzte er auf Knien zurück, als er sah, dass er mit einem Jungen zusammengestoßen war, der in etwa in seinem Alter sein musste. Der Junge blinzelte ebenfalls; die Brille hing ihm von dem Zusammenstoß schief von der Nase. Er setzte sie richtig auf, wischte sich die Hände an der Hose ab und starrte Sirius finster aus tiefbraunen Augen heraus an, die durch die Gläser etwas größer erschienen, als sie tatsächlich waren.

Das … rabenschwarze Nest auf seinem Kopf, das er wohl als seine Haare bezeichnete, ließ ihn, zusammen mit dem Blick, entfernt wie eine dürre, wütende Eule aussehen und Sirius musste kichern.

„Was lachst du denn so doof?“, fauchte er der Junge und sah noch zorniger aus. Sirius‘ Lachen wurde umso heftiger.

„Tut mir leid – du … du siehst echt bescheuert aus!“

Sirius hielt sich den Bauch vor Lachen und spürte, dass sich unheilvoll ein heftiger Schluckauf ankündigte.

„Ist nicht dein Ernst!“, zischte der Eulenjunge und merkwürdigerweise begann er plötzlich zu grinsen. Er fuhr sich durchs Haar, das dadurch nur noch schlimmer von allen Seiten ab stand.

„Du siehst auch ganz schön Scheiße aus“, behauptete er frech und reichte Sirius die Hand. Glucksend und von Schluckauf geschüttelt ergriff er sie und sie zogen sich gegenseitig aneinander hoch. Sobald sie sich gegenüberstanden, musterten sie sich, als hätten sie einander gerade erst entdeckt. Eulenjunge war ein schlaksiges Kerlchen, nicht unbedingt gutaussehend, aber doch in gewisser Weise charismatisch. Sein hitziger Blick hatte sich gelegt, nur das Grinsen war geblieben.

„Ich hätte wirklich nicht so vor der Absperrung rumstehen dürfen“, gab er zu und sah Sirius nahezu entschuldigend an.

„Hättest du!“, stimmte er zu und setzte eine todernste Miene auf.

Dann sah er sich zum ersten Mal in seinem Leben am magischen Bahngleis um. Hinter ihnen strömten, wie es schien,  zwei Großfamilien durch durch die magische Schranke. Sein Vater und Regulus waren nicht unter ihnen. Beeindruckt betrachtete Sirius die scharlachrote Dampflock, aus der schwarzer Rauch aufstieg.

Familien, Kinder, teilweise schon in ihren Schulumhängen, Haustiere und Gepäckstücke überfluteten den Bahnsteig. Es war zweifelsohne aufregend, aber auch ein wenig einschüchternd.

„Kennst du hier schon irgendjemanden?“, fragte Sirius und versuchte, möglichst selbstsicher zu klingen. Fehlte noch, dass er vor der Eule Schwäche zeigte. Immerhin hatte dieser Junge einen solchen Dickschädel, dass er ihn damit zu Boden gerammt hatte. Die große Klappe schien allerdings mit Sirius‘ Frage ein wenig in sich zusammenzuschrumpfen. Eule schüttelte nämlich nur kurz den Kopf.

„Nee. Du denn?“

„Nee.“

„Ok.“

Sein Vater und Regulus tauchten hinter ihnen auf. Eule entfuhr ein Kichern als er das finstere Gesicht des bleichen Mannes sah, das sich hektisch in ein Räuspern verwandelte, als der eisige Blick plötzlich ihm galt.

„Hier steckst du, Sirius. Deine Sachen, Junge.“

Orion beachtete Eule gar nicht weiter, sondern stellte den Gepäckkarren vor Sirius ab und betrachtete seinen Sohn einen Moment lang. Dann streckte er die Hand aus. Sirius ergriff sie zögernd und schüttelte sie.

„Schreib deiner Mutter, wenn du es nach Slytherin geschafft hast.“  

„Werd‘ ich“, murmelte Sirius und vermied den Blick in Richtung Wuschelkopf.

Sein Vater ließ seine Hand los und Reggie umarmte ihn stürmisch.

„Schreib‘ mir auch mal!“, sagte er und es klang tatsächlich so, als würde er sich über Post von seinem großen Bruder freuen.

„Mal sehen“, sagte Sirius und drückte Regulus kurz, lächelte aber. Er würde Regulus schreiben. Wenn, dann ihm.

„Auf Wiedersehen, Sohn. Du solltest zusehen, dass du einen Platz im Zug bekommst.“

Sirius nickte zum Abschied und wandte sich dann mitsamt seinem Koffer zu Eule um, der halb erstickt von einem Fuß auf den anderen trat. Aus irgendeinem Grund amüsierte sich dieser Kerl königlich. Sirius verdrehte die Augen und hieß ihn mit einem Kopfnicken, mitzukommen.

„Was ist eigentlich so lustig?“, grummelte er, als sie außer Hörweite seiner Familie waren.

„Gar nichts ist lustig – ich bin nur aufgeregt“, gab der Junge überraschenderweise zu.

„Du heißt Sirius, ja? Ich bin James.“

„Hi, James“, sagte Sirius, nicht ganz ernstgemeint. Für eine Begrüßung war es inzwischen schon etwas zu spät.

„Wartest du auf mich? Ich will mich noch von meinen Eltern verabschieden, aber danach können wir zusammen sitzen. Wenn du willst!“

Sirius wollte. James war schon in Ordnung. Zumindest für den Anfang.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Herzlichen Glückwunsch - ihr seid am Ende angelangt. Ich bedanke mich fürs Lesen! Fertig ist das Bild, das ich von Sirius' Kindheit gekritzelt habe. Es hat Spaß gemacht, ihn auf diese Weise kennenzulernen. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  YUAL-Jury
2018-07-10T20:29:36+00:00 10.07.2018 22:29
Hallo Platypusaurus!

Für deine großartige Entführung in Sirius’ Kindheit hast du dir diese Kür redlich verdient! Ehrlich, was haben wir mit ihm gelitten, wenn es wieder mal keinen Ausweg für ihn gab, aber auch gelacht, als Onkel Alphard am Zuge war. Sirius’ Ringen um Regulus und sein Aufgeben am Ende machen uns betroffen, doch mit James wird es, das wissen wir, ein großartiger Neustart in eine bessere Zeit werden. Nein, bei den Blacks wollen wir alle nicht groß werden! Wir bedanken uns für deinen sensiblen Umgang mit den heiklen Themen und fürs „greifbar Machen“ derselben, die uns sehr berührt haben.
Alles Gute zur ersten Kür!

Liebe Grüße
YUAL-Jury


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