Zum Inhalt der Seite

Zum Zuschauen verdammt

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo und willkommen zu Part 3. Dieser Part wird um einiges länger werden, als die vorigen. Ich wünsche euch viel Spaß und über Rückmeldung freue ich mich natürlich immer :) Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Prolog

Im Leben eines jeden Menschen kam einmal die Zeit, das Elternhaus zu verlassen und eigene Wege zu gehen. Schon bald sollte dieser Tag auch für Tess kommen. Morgen würde sie umziehen, in eine neue Stadt, in ein neues Leben, und ihr Studium beginnen: Archäologie in Straßburg. Davon hatte sie immer geträumt, seit sie im zarten Alter von sieben Jahren das erste Mal die Geschichte des Allosaurus Big Al im Fernsehen gesehen hatte. Von da an hatte sie als Kind im Dreck gewühlt in der Hoffnung eine Speerspitze, Tonscheibe oder vielleicht sogar prähistorischen Knochen zu finden. In den letzten Jahren hatte Tess nicht mehr in der Erde gebuddelt, sondern ihre Nase in Bücher gesteckt. Sich in weiser Voraussicht für eine Schule entschieden, an der sie Latein lernen konnte. Sogar das Graecum hatte sie gemacht, was sie mehr schlecht als recht bestanden hatte. Glücklicherweise fragte niemand mehr nach der Note, sobald man ein Graecum mal hatte.
 

Die Feldforschung machte ihr sowieso mehr Spaß. Nach mehreren Praktika war sie nun mit 25 Jahren bereit den ersten großen Schritt Richtung Traumberuf zu gehen. Ein Studium an der renommierten Universität in Straßburg, für das sie sogar vier Jahre auf der Warteliste in Kauf genommen hatte. Dinosaurier sind antiker Menschheitsgeschichte gewichen und schon bald würde sie ihren Teil zur Forschung betragen. Endlich ihr Leben beginnen; so war jedenfalls der Plan.
 

Doch noch war sie zu Hause und mitten in ihrem Zimmer unterm Dach, umringt von ihren Habseligkeiten. Das meiste hatte sie bereits gepackt und das Gröbste war bereits auf dem Weg in ihre neue Wohnung. Nun galt es sich von ihren liebsten Stücken zu trennen oder die Entscheidung zu treffen, das ein oder andere doch noch in die letzte Tasche zu packen und mitzunehmen.
 

Ihr Blick hing sofort an ihrem Lieblingsplüschtier. Eine kleine Katze mit aufgestickten, verfranzter Latzhosen die sie besaß, seit sie nur ein paar Tage alt war. Eigentlich hatte sie vor gehabt den Umzug zu nutzen, um erwachsener zu werden. Das bedeutete auch sich von der eigenen Kindheit zu distanzieren. Sie sollte es hier lassen zusammen mit den anderen bereits eingestaubten Plüschtieren, die noch vereinzelt auf ihren Regalen gelagert waren und Reststücke ihrer noch nicht allzu fernen Kindheit waren. Plüschtiere hatten kein Platz in einer Studentenwohnung.
 

Noch während sie es dachte ging ihr Griff zur abgegriffenen Katze und sie verstaute sie liebevoll in ihrer Tasche. Naja, ein Erinnerungsstück kann man sich leisten, sagte sie zu sich selbst und wendete sich bereits wieder dem Sammelsurium an Kleinkram um sie herum zu. Das meiste konnte sie mit gutem Gewissen hier lassen. Gebastelte Figuren aus der Schulzeit, die eher von ihrer Mutter als von ihr geliebt und geschätzt wurden. Ein paar Accessoires, die sie von ihren Freunden irgendwann einmal zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, eingerahmte Photos und ... Bücher. Ihre geliebten Bücher.
 

Während sie den Blick auf den wackeligen Stapel ausgewählter Bücher gerichtet hatte, fuhr sie sich über die Haare und atmete geräuschvoll aus. Die Bände vor ihr waren nur ein winzig kleiner Teil ihrer Sammlung, die sie mit Hingabe gehegt und gepflegt hatte.
 

Ihr Verstand sagte ihr, dass sie unmöglich ihren kompletten zum bersten gefüllten Bücherschrank in ihre 25 Quadratmeter Wohnung mitnehmen konnte. Dennoch erschien der Gedanke sich auch nur von einem ihrer Bücher zu trennen unerträglich. Sie liebte es in fremde Welten einzutauchen und sich von den unwirklichen Gestalten aus dem Reich der Fantasy verzaubern zu lassen. Und so liebte sie auch jedes einzelne ihrer Bücher die es geschafft haben, sie auf eine für sie unvergessliche emotionale Reise zu schicken.
 

Noch immer betrachtete sie den Stapel an bunten Büchern, der sich zwischen ihren Taschen bildete. Wehmütig ging sie in die Hocke und fuhr über den abgegriffenen Einband des obersten Buches, auf dem in großen Lettern der Name "Harry Potter" zu lesen war.
 

Mit Stolz konnte und durfte sagen, dass sie zur Generation Harry Potter gehörte. Auf jedes Buch seit dem ersten Abenteuer des Jungen mit der Blitznarbe hatte sie Jahr um Jahr gewartet und hat mit angesehen, wie mit jeder neuen Veröffentlichung die Euphorie um ihn anwuchs bis es schließlich vor elf Jahren mit einem tränenreichen nicht weniger magischen Finale schließlich ein Ende nahm. Bis heute hatte sie kein Buch gefunden, das an dieses Gefühl heranreichte, das sie verspürte als sie Harry Potter zum ersten Mal gelesen hatte. Wenn sie an diese Zeit zurückdachte wurde ihr plötzlich bewusst, wie alt sie geworden war. Sie hatte längst nichtmehr die kindliche Naivität und trug mehr als eine Sorge ständig mit sich herum. Oft ertappte sie sich dabei wie sie sich wünschte, zurück zu kehren zu jenen unbeschwerten Tagen, an denen ihre einzige Sorge war möglicherweise keinen Brief für Hogwarts zu bekommen. Der Brief war nie gekommen, die Enttäuschung überwunden und neue Sorgen bestimmten nun ihr Leben. Sorgen wir von nun an alleine leben zu müssen, in einer fremden Stadt und der Druck die nächsten Jahre erfolgreich hinter sich zu bringen, denn vom Verlauf dieses Studiums hing buchstäblich ihr Leben ab.
 

In Gedanken hörte sie nicht das Gewitter, das sich über ihr zusammen gebraut hatte. Erst die schweren Tropfen, die auf die Dachfenster zu prasseln begannen holten sie in die Wirklichkeit zurück. Ihre Mutter rief ihr bereits von irgendwo zu, sie solle die Fenster im oberen Stock schließen, damit es nicht hineinregnete. Eilig lief sie von Raum zu Raum und schloss die geöffneten Fenster. Das würde sie sicher nicht vermissen: ihr Zimmer unterm Dach. Im Winter war es viel zu kalt selbst mit Heizung und im Sommer war es schlimmer als in jeder Sauna. Jedes Jahr von Juni bis Oktober riss ihre Mutter die Fenster auf in der Hoffnung einen Durchzug zu erzeugen und damit ein wenig Abkühlung zu verschaffen. Ohne Erfolg. Denn schon ein in dieser Gegend recht häufiges Sommergewitter, wie dieses, das sich zusammen gebraut hatte, zwang sie die Fenster zu schließen, da sich sonst ein See im Haus bilden würde. Soviel zum Thema Fenster auf während einem Gewitter; das kühlte ab. Wie sie es hasste.
 

Nachdem jedes Fenster geschossen war ging sie zurück in ihr Zimmer. Die meisten ihrer Besitztümer hatte sie auf dem Boden unter dem Dachfenster verteilt, da es dort am hellsten war, weshalb nun manche Sachen ein wenig nass waren. Der erste Harry Potter Band hatte es besonders erwischt, weil er ganz oben gelegen hatte. Erneut auf die Dachschräge fluchend hob sie das nasse Buch auf und wusch mit der Hand vorsichtig die Tropfen vom Hardcover.
 

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass das Buch keinen allzu großen Wasserschaden davongetragen hatte, begann sie in dem Buch zu blättern. Unzählige Male hatte sie diese Bücher gelesen und konnte sie nun, wie viele andere ihrer Generation ebenfalls, nahezu auswendig. Nicht ohne Grund lagen sie hier vor ihr im Bereich der 'Engeren Wahl' und hatten gute Chancen nach Straßburg mitgenommen zu werden. Vermutlich die einzigen Bücher ihrer Sammlung.
 

Inzwischen wütete das Gewitter über ihr.
 

"Kapitel eins, der Junge, der überlebte", schmunzelnd überflog sie das erste Kapitel und blätterte weiter bis die ersten Briefe in das Haus der Dursley flogen. Der Hogwartsbrief. Sie hätte ihre Seele eingetauscht wenn sie dafür nur an ihrem elften Geburtstag einen Brief bekommen hätte. Den ganzen Tag hatte sie gewartet. Doch keine Eule ist erschienen. Erschrocken blickte sie auf, als das Licht in ihrem Zimmer zu flackern begann. Seltsam, das haben sie noch nie gemacht. Nicht einmal während eines Gewitters, dachte sie und schlug die nächste Seite auf. Und die nächste. Und die nächste. Währenddessen war das Gewitter nun genau über ihr und schüttete literweise Regen auf die Erde. Ein Blitz nach dem anderen erhellte den Himmel, bis schließlich einer das Haus traf und alle Sicherungen herausspringen lies. Draußen verdeckten die dicken Gewitterwolken jeden Sonnenstrahl, weshalb sie nun völlig im Dunkeln saß. Erschrocken klappte sie das Buch mit dem Finger dazwischen zu, damit sie nicht die Stelle verlor, wo sie gerade aufgehört hatte zu lesen. Sie hörte, wie ihre Mutter erneut etwas rief, aber sie konnte es dank eines weiteren Donnerschlages nicht verstehen.
 

Ohne Sicherung würde das Licht nicht angehen, das war ihr klar. Trotzdem spielte sie leise fluchen an dem Lichtschalter, der wie erwartet keine Reaktion zeigte. Frustriert schlug sie mit der flachen Hand gegen den Schalter und drückte mit der anderen den Band an die Brust. Beinahe Zeitgleich peitschte erneut ein Blitz scheinbar direkt über ihr über den Himmel, dessen Druckwelle das Haus erzittern ließ. Tess hörte den sofort darauffolgenden Donner, bevor der immer größer werdende Druck sie in die Knie zwang und ihr schwarz vor Augen wurde.

Kapitel 1 - Der Junge, der überlebt hat?

Stöhnend regte sie sich, das Gesicht gegen den Boden gedrückt. Ihr Kopf fühlte sich unnatürlich schwer an und das Blut pochte ihr in den Ohren. Ihre Sinne schienen wie benebelt zu sein und im Moment war sie völlig orientierungslos. Langsam versuchte sie sich aufzurichten und ihre schmerzenden Augen zu öffnen, nur um sie schnell wieder zu schließen. Das plötzlich helle Licht blendete und zwang sie ihre Augen vorerst geschlossen zu halten.
 

Ihr Verstand wollte noch nicht so recht arbeiten und sie schob diesen Zustand auf die vorübergehende Orientierungslosigkeit und gezwungene Blindheit. Sie atmete tief ein um wenigstens mit ihrem Geruchssinn etwas Vertrautes wahrzunehmen, doch außer Staub und Flusen in ihre Lungen zu ziehen, die sie keuchend wieder versuchte auszuhusten, erreichte sie nichts. Die Augen noch immer geschlossen fuhr sie mit den Händen über den Boden, der ihr nun zu rau und uneben vorkam im Vergleich zu ihrem glatten und eigentlich gemütlichen Korkboden. Blinzelnd versuchte sie ihre Augen an das Licht um sie herum zu gewöhnen, was nur sehr langsam geschah.
 

"Ah, verdammt, mein Schädel", murmelte sie gepresst, als sie den ersten Versuch unternahm sich aufzurichten. Die plötzliche Bewegung war ihr sofort in den Hinterkopf gefahren und hat sich dort mit pochendem Druck gemeldet. Kreisend massierte sie mit den Fingern ihre Schläfen und drehte sich auf den Rücken. Kleine Schritte, sagte sie sich. Immerhin war diese Position ein wenig angenehmer.
 

Endlich begannen sich ganze Bilder vor ihrem Auge zu formen, die nach und nach an Schärfe gewannen. Die eine Hand gegen die Stirn gepresst und die andere auf dem Bauch, wartete sie still verharrend darauf ihre Umwelt wieder wahrzunehmen.
 

Sie würde die Bücher hierlassen, beschloss sie. Vermutlich würden sie sowieso nur herumstehen, da sie von nun an kaum Zeit haben würde etwas anderes zu lesen als Sachbücher und Fachtexte. Auch wenn es weh tat würde sie sich von den Jugendbüchern trennen, immerhin hatte sie ihre Plüsch-Katze dabei, das einzige Zugeständnis auf das sie nicht verzichten wollte. Sie fuhr sich durch das dunkle Haar und gähnte, während sie ihre nächsten Schritte plante. Ihre Tasche war damit so gut wie fertig und sie könnte sich nun zurücklehnen und ihre letzten Tage zu Hause genießen. Die letzten Tage unter ihrem ... Dach?
 

Weit riss sie die Augen auf, als sie über ihr nicht die erwartete hölzerne Schräge erkannte, sondern eine hohe steinerne Decke, die stark an Altbau erinnerte und die von dunklen, schweren Balken getragen wurde. Das pochende Stechen im Hinterkopf ignorierend drehte sie den Kopf hektisch in alle Richtungen in der Hoffnung irgendetwas Vertrautes zu entdecken. Dabei drückte sie ihren Körper hoch aus ihrer liegenden Position um besser sehen zu können. Was sie sah brachte sie jedoch wieder nahe an die Ohnmacht.
 

Ungläubig betrachtete sie ihre von Staub bedeckten Finger, konnte ansonsten an sich aber keine Veränderungen feststellen. Ihr Zimmer war jedoch einer seltsamen, alten, von Holz dominierten Hütte gewichen. Direkt vor ihr, kaum eine Schrittlänge entfernt, stand ein rustikal wirkendes Himmelbett mit vergilbten Bettbezug und passenden blassen Vorhängen. Hinter sich konnte sie nun einen leichten Luftzug spüren, der ihr milde Luft ins Gesicht blies. Durch ein schmutziges, vermutlich undichtes, Fenster fiel warmes Sonnenlicht in den Raum und erhellte den aufgequollenen Holzboden, auf dem Tess noch immer geschockt saß. Die karge Einrichtung wurde von einer Kommode neben dem Bett vervollständigt, auf der ein schlichter Wassertrog stand.
 

"Das ist doch nicht normal", flüsterte Tess, während sie die Füße anzog und sie mit umschlungenen Armen an sich presste, unfähig in der fremden Umgebung aufzustehen.
 

Ihre Gedanken waren wie leer gefegt. Nichts schien zu erklären, wie sie aus ihrem Zimmer im Haus ihrer Eltern plötzlich in diesem Raum landen konnte. Stumm lauschte sie auf Geräusche. Auf was genau sie wartete, konnte sie nicht sagen, vielleicht das Schlurfen schwerer Schuhe oder das Gemurmel von sich unterhaltenden Personen. Doch alles was sie hörte, war ihr nervöser eigener Herzschlag und das Rauschen des zugigen Lüftchens durch die Ritzen des Fensters.
 

Nach einigen Minuten des fassungslosen in die Luft Starrens, beschloss Tess wenigstens aufzustehen. Leise stemmte sie sich auf die Füße und erkannte, nun zu voller Größe aufgerichtet, dass die Decke gar nicht so hoch war, wie es vom Boden aus den Anschein gehabt hatte. Das Pochen in ihrem Kopf hatte nachgelassen, stattdessen hatte sich nun in ihrem Rücken ein stechender Schmerz eingenistet. Ihr Blick fiel auf das schon fast verwittert wirkende Himmelbett. Zu gerne hätte sie sich hingelegt, egal wie unattraktiv die Matratze wirkte, die Decke über den Kopf gezogen und gehofft, wieder in ihrem Zimmer zu sein. Ihre Mutter würde ihr die Decke aus den Händen reißen und sie zwingen aufzustehen, wie sie es immer getan hatte. Doch sich nun zu verstecken würde sie auch nicht weiterbringen. Also drehte sie sich um und ging zum Fenster.
 

In der Hoffnung ein wenig Schmutz vom Fenster zu entfernen und damit ihre Sicht nach draußen ein wenig zu verbessern, wusch sie mit der Hand darüber, verschmierte die Oberfläche hingegen nur noch mehr. Durch die grauen Schlieren erkannte sie jedoch die Dächer von anderen, dicht aneinander stehender Häuser. Eine Stadt, registrierte sie innerlich und wendete sich dem Rest ihres Raumes zu, woraufhin sie mit klopfendem Herzen direkt zur Tür ging. Ihr Mund war trocken als sie nach der Klinke griff um zu prüfen, ob sie vielleicht verschlossen war, was der schlimmstmögliche Fall war. Sie verharrte mit der Hand auf dem Griff, besorgt darüber, dass er sich womöglich nicht bewegen ließ.
 

Sie begann an ihrer Unterlippe zu knabbern, eine Angewohnheit, die sich besonders in Stresssituationen zeigte. Hier zu stehend, die die Lippe blutig zu kauen und darauf zu hoffen, dass etwas passierte, würde jedoch niemandem helfen, schon gar nicht ihr. Also riss sie mit einem Ruck schließlich die Klinke nach unten und rüttelte an der Tür. Mit einem kräftigen Zug schwang sie ohne Widerstand zu leisten hinein ins Zimmer und gab den Blick auf einen Gang frei. Tess atmete erleichtert aus und hob sich den Kopf gesenkt am Türrahmen fest. Sie konnte gehen, wenn sie wollte. Niemand hatte sie eingesperrt. Dennoch bekam sie immer schlechter Luft und schloss daraufhin eilig die Tür wieder und lehnte sich mit dem Rücken Halt suchend dagegen. Auch der kurze Blick auf den düsteren Gang hatte keine Erinnerungen geweckt. Sie mochte nicht eingesperrt gewesen sein, doch innerlich fühlte sie sich, so ganz ohne Anhaltspunkt, wie im Käfig.
 

Ein Käfig mit aus nacktem Stein, ohne jegliche Verzierung oder Dekoration. Einige Stellen schienen jedoch unnatürliche Flecken zu haben, so als ob dort über sehr lange Zeit ein Objekt hing oder stand, von dem nun jedoch nur noch ein eingebrannter Schatten an der Wand übrig war.
 

Wieder betrachtete sie ihre Finger, die leicht zitterten. Hilfesuchend schaute sie sich ein weiteres Mal um, fand aber wieder nur das Bett, die Kommode mit dem Wassertrog und das schmutzige Fenster.
 

Wie in Trance ging sie zum Trog, der mit ein wenig Wasser gefüllt war. Mechanisch tränkte sie ihre Hände ins Wasser und wusch sich den Dreck von den Fingern, der das Wasser allmählich gräulich färbte.
 

Hier gab es nichts, sie musste das Zimmer verlassen und herausfinden, wo sie war. Die Tür war offen, sie konnte gehen, wohin sie wollte, sagte sie sich, während sie noch immer ihre Finger im Wasser rieb.
 

Ein Telephon, sagte sie sich. Das brauch ich auch. Herausfinden wo ich bin und ein Telephon. Sich auf diese zwei Ziele zu konzentrieren war einfacher als darüber nachzudenken, wie sie eigentlich hier gelandet war. Vor dem wie musste erst das wo geklärt sein.
 

Mit tropfenden Händen verließ sie das karge Zimmer und stand nun in dem Gang, den sie kurz zuvor nur flüchtig gesehen hatte. Ein alter Läufer, der vielleicht irgendwann mal eine identifizierbare Farbe gehabt hatte, durchzog den kompletten Gang. Er war völlig abgelaufen und an den Rändern verfranzt, sodass feine Fäden zu sehen waren. Bewohnt schien es nicht zu sein.
 

Je länger sie auf dem Gang stand, desto schwindeliger wurde ihr. Die Wände schienen nicht gerade zu sein und egal wie oft sie blinzelte, sie hätte schwören können, dass die eine Wand leicht von ihr weg lehnte. Wenigstens waren hier draußen ein paar Gemälde zu sehen; krumm und schief hingen sie, dennoch war der Anblick harmloser Stillleben beruhigend. Besser als todesprophezeiende oder apokalyptische Szenen im Stil von Rembrandt.
 

Tatsächlich hörte sie nun immer deutlicher Gemurmel, das von irgendwo herzukommen schien. Zwischendurch erhallte tiefes Lachen, das lauter wurde, je näher sie der hölzernen Treppe kam, gemischt mit dem Klirren von Geschirr. Es waren viele Leute, soviel stand fest. Tess hatte den Eindruck, als würde irgendjemand ein Fest feiern. Soviel zum Thema unbewohntes Haus.
 

"Was zum Teufel ist hier los?" Tess war nun von dem freundlich wirkenden Konversationslärm eher verstört, als panisch erregt. Die ganze Situation erschien ihr nun vollkommen abstrus. Wie sie dastand, oben am unstabilen Geländer, nur in Strümpfen mit wildem, offenem Haar und auf all die Leute unter ihr starrte, die an langen Tischen saßen, Bier tranken und sich amüsierten. Niemand achtete auf die seltsame Frau am oberen Ende der abgelaufenen Treppe, die nun vorsichtig ihren Weg nach unten suchte. Sie lief direkt auf einen von unförmigen Nischen durchzogenen Tresen zu, hinter dem sich riesige Fässer stapelten. Ihre Augen schweiften von den Fässern hin zur selbstgeschriebenen Karte an der Wand, hinüber zu den metallenen Kronleuchtern und schließlich zu den dutzenden Menschen, überwiegend Männer. Es schien, als sei sie in ein Mittelalter-Fest hineingestolpert.
 

Unten angekommen fühlte sie sich nur noch mehr verloren und in ihrer kurzen Jeans mit T-Shirt völlig deplatziert. Hinterm Tresen wuselte eine etwas ältere Frau mit üppigem Busen und Schürze hin und her, während ein fein gekleideter älterer Herr mit Glatze im Sekundentakt Gläser befüllte. Den Blick auf das seltsame Duo gerichtet suchte sie sich ihren Weg durch Tische und Stühle hinüber zum Tresen.
 

"Verzeihung?", ihre Stimme klang dünn und es fiel ihr schwer mit ihrem trockenem Mund Worte zu bilden. Der Mann sah von seinen Gläsern auf und lächelte Tess zahnlos an. "Verzeihung, wo bin ich hier?", versuchte es Tess erneut, diesmal etwas lauter. Doch der Mann schüttelte nur den Kopf und deutete auf sein Ohr.
 

"Sorry, I couldn't hear you, Miss. What did you say? Do you want something to drink?" Tess starrte ihn einige Sekunden verblüfft an, während dieser mit flinken Händen begann Geschirr zu spülen. Ihr Verstand verarbeitete gerade die fremde Sprache. Noch etwas, mit dem sie nicht gerechnet hatte.
 

"Ehm ... Yes, Sir. Excuse me but I would like to know where I am?" Nun war es an ihm sie verwirrt zu betrachten.
 

"Are you alright, Miss?", fragte er unsicher undbeugte sich weiter zu ihr her, sodass er sie besser begutachten konnte. Sein Blick wanderte an ihr herab und wieder nach oben und Tess war sich nun mehr denn je bewusst, was für ein seltsames Bild sie abzugeben schien.
 

"Actually, I don't know. Please, what is this place?"
 

Der glatzköpfige Mann wusch sich die Hände an seinem Unterrock ab und stützte sich auf den Tresen. "You're in the Leaky Cauldron, Miss", sagte er und nickte mit dem Kopf Richtung gegenüber liegende Wand. Tess spürte, wie sie jede Farbe im Gesicht verlor.
 

"I-I beg your pardon", stammelte sie tonlos und klammerte sich mit den Fingern an der Unterseite des Tresen fest. Ihr Herz klopfte nun schon beinahe schmerzhaft gegen ihre Rippen.
 

"Zum ... Tropfenden ... Kessel", wiederholte der Mann langsam und deutlich, so als ob er sich um ihre geistige Gesundheit sorgte. Da waren sie schon zwei. Erneut beschleunigte sich ihre Atmung.
 

"Sind sie sicher, dass es Ihnen gut geht", hörte sie den Mann sagen, von dem sie nun glaubte sogar den Namen zu kennen. Sie schüttelte den Kopf.
 

"Nein, nein ich glaube mir geht es gar nicht gut." Stirnrunzelnd füllte der Mann ein Glas mit Leitungswasser und stellte es ihr hin. Ohne zu überlegen kippte sie den Inhalt in einem Zug hinunter, doch besser fühlte sie sich nicht. "Tropfender Kessel. Tropfend. Natürlich", murmelte sie und japste nach jedem Wort nach Luft, kurz vor einem hysterischen Lachanfall. Sie zeigte auf den Mann und formte Worte, die sie jedoch nicht ausgesprochen bekam.
 

"Soll ich einen Heiler rufen lassen?" In der Irrenanstalt war sie besser aufgehoben, dachte Tess, während sie den Kopf schüttelte. Sie schob das leere Glas von sich und räusperte sich.
 

"Könnte ich noch etwas Wasser haben, bitte?" Der Mann nickte, behielt sie aber misstrauisch im Auge, während er ihr ein weiteres Glas reichte. Sie bemerkt aus dem Augenwinkel, wie ein Mann sich an den Tresen schob und eine Bestellung abgeben wollte. Tess sah, dass der Mann einen Zylinder trug, der irgendwie nicht zu seinem restlichen Outfit passen wollte. Der Wirt wendete sich mit einem letzten fragenden Blick ab und wurde sogleich in eine Konversation mit dem Mann mit dem Zylinder gezogen.
 

Tess drehte das leere Glas in den Händen und wagte es nicht, sich im Raum weiter umzuschauen. Noch immer bekam sie schlecht Luft, sodass sie versuchte sie auf das glänzende Holz vor ihr zu konzertieren, nicht darüber nachzudenken, was der Wirt ihr gerade gesagt hatte. War das alles ein Scherz ihrer Eltern, ein perfider Abschiedsstreich ihrer Freunde? Ungläubig fuhr sie über das Holz.

"Was passiert hier mit mir?", murmelte sie, als sie einen Schlag hörte und erschrocken zusammen fuhr. Die Tür einige Meter rechts von ihr wurde aufgerissen und zwei Gestalten kamen herein. Augenblicklich verstummte jedes Gespräch.
 

"Ah, Hagrid, heute wieder das Übliche?", hörte sie den Wirt rufen, der nun ein großes Glas schwang.
 

Tess fixierte die Fässer direkt vor sich aus Angst den Kopf zur Tür zu wenden, erwartete doch das Unausweichliche.
 

"Nein danke, heute nicht, Tom. Ich bin im Auftrag von Hogwarts unterwegs", tönte eine tiefe Bassstimme. Ein Wort reichte aus ihre Welt auf den Kopf zu stellen, ein einziges Wort, das ihre Befürchtung wahr werden ließ. Alles geschah innerhalb von Bruchteilen von Sekunden, in denen Tess versuchte panisch Sinn aus dem Gehörten zu ziehen, scheiterte jedoch kläglich und Tess verlor zum zweiten Mal in ihrem Leben das Bewusstsein.
 

________________________________________________
 

Übersetzung:
 

"Verzeihung, ich konnte Sie nicht verstehen, Miss. Was haben Sie gesagt? Möchten Sie etwas zu trinken?"
 

"Ehm ... Ja, Sir. Entschuldigen Sie bitte, aber würden sie mir sagen wo ich bin?"
 

"Geht es Ihnen gut, Miss?"
 

"Ich bin mir ehrlichgesagt nicht sicher. Bitte was ist das für ein Ort?
 

"Sie sind im Tropfenden Kessel, Miss."
 

"B-bitte was?"

Kapitel 2 - Winkelgasse

Etwas Kaltes fuhr ihre Wange entlang und lief weiter ihr Dekolleté hinein. Das Gesicht vor Kälte verziehend regte sie sich. Sie hatte das Gefühl in einem Déjà-vu zu leben. Wenigstens lag sie dieses Mal nicht auf dem nackten Boden, sondern tatsächlich auf einer weichen Matratze.
 

"Langsam, Liebes. Sie sind ganz schön unsanft gefallen."
 

Eine freundliche Frauenstimme begrüßte sie, doch es war nicht die ihrer Mutter. Gerade, als sie antworten wollte, fühlte sie wieder die Kälte. Sie riss die Augen auf und sah, wie die Kellnerin mit der üppigen Oberweite sich über sie beugte. Mit einem nassen Lappen fuhr sie Tess über Stirn und Wangen.
 

"Zugegeben, ich war auch überrascht Harry Potter leibhaftig zu sehen, deshalb aber gleich umzukippen?"
 

Tess lehnte sich ins Kissen und schloss die Augen.
 

"Ich hab' einen schwachen Magen", log sie und lächelte melancholisch.
 

Die freundliche Dame warf den Lappen zurück in eine Schale, der platschend sein Ziel fand.
 

"Bleiben Sie noch etwas liegen. Und trinken Sie das, das wird Ihnen gut tun." Ein unangenehmer Geruch wehte Tess entgegen. Widerwillig nahm sie die Schüssel entgegen und begutachtete die zähflüssige Pampe.
 

"Ist das ein Aufpäppeltrank?", fragte sie, während die Nase rümpfte. Die Dame lachte hell auf.
 

"Aber nein, Liebes, das ist Guinness Stew."
 

"Oh", war alles, was Tess erwiderte. "Danke, Madam."
 

"Margaret, Madam Margaret. Sie finden mich unten, sollte etwas sein." Sie griff nach der Schüssel und verschwand aus der Tür. Tess blieb allein in dem Bett zurück, mit Guinness Stew in der Hand und ihren wirren Gedanken im Kopf.
 

Erneut drehte sie sich zum Fenster und starrte es an. Die Dächer, die sie zuvor erkannt hatte, waren dann wohl -
 

"Die Winkelgasse", sprach sie aus, was ihr durch den Kopf ging. "Ich habe gerade Hagrid gesehen." Naja, zumindest gehört. Gesehen hatte sie nicht wirklich etwas.
 

Wie war das möglich? Abwesend nippte sie an dem stinkenden Stew, dessen Konsistenz genauso eklig war, wie es ausschaute. Wenigstens war es warm und sie brauchte wirklich Etwas im Magen. Vorsichtig kaute sie auf einem Stück Fleisch, während sie alles noch einmal reflektierte.
 

Plötzlicher Tatendrang überkam sie und sie stellte die halb volle Schüssel neben ihr Bett. Hastig schaute sie in jede Schublade der Kommode ohne sich die Mühe zu machen sie wieder zu schließen, warf die Decke des Bettes zurück und schmiss das Kissen auf den Boden. Nichts. Kurz stand sie unschlüssig da, die Hände in die Hüften gestemmt, als sie die Erkenntnis überkam. Sie kniete nieder, legte sich auf den Boden und langte unter das Bett. Zunächst bekam sie nur Staubmäuse zu fassen, doch dann fanden ihre Finger etwas Festes. Sie griff danach und zog es stöhnend hervor. Das Buch!
 

Zumindest, was davon übrig war. Die Seiten waren völlig weiß, kein Buchstabe, keine Zahl; nichts. Auch das Cover wirkte verblasst und während Tess das Buch drehte, fiel auch der letzte Rest an Farbe wie feiner Staub von der Oberfläche ab, sodass auch der Einband völlig weiß war. Sie blätterte durch, bis sie eine Unregelmäßigkeit entdeckte. Eine Seite war komplett verbrannt und hing nur noch in Fetzen da.
 

Mit dem Finger zog sie an dem verkohlten Papier, das sich ähnlich wie die Farbe auf dem Cover unter ihrer Berührung aufzulösen schien.
 

"Es ist amtlich. Du hast völlig den Verstand verloren", sagte sie zu sich, als sie das nun leere Buch auf das verwüstete Bett schmiss. Seufzend setzte sie sich in den Schneidersitz und legte ihren Kopf in die Hände.
 

"Tropfender Kessel, am 31. Juli 1991. Was mach ich denn jetzt?" Am liebsten hätte sie geheult. Eigentlich hatte sie vor gehabt zu studieren, auszuziehen, ihr Leben zu beginnen. Und nun saß sie hier ohne den geringsten Schimmer, was eigentlich um sie herum geschah. Ohne den geringsten Schimmer, was sie nun tun sollte. Sie hatte nicht einmal Schuhe. Frustriert fuhr sie sich mit beiden Händen durch die langen Haare.
 

"Tropfender Kesse, Harry Potter. Winkelgasse. Harry Potter", wiederholte sie wie ein Mantra in der Hoffnung, dass ihr das Gebet vielleicht eine Antwort auf ihre Misere geben könnte. Je länger sie nachdachte, desto mehr sackte ihre neue Realität in ihr Bewusstsein.
 

Sie war hier. Sie war wirklich hier. Nur was sollte sie nun tun? Ihr Blick ging wieder auf das Fenster. Es auskosten, das würde sie tun. Sie stand auf und klopfte sich gegen die Backen, die eine rötliche Farbe annahmen.
 

Wer wusste, wie lange es andauerte? Nun war sie hier und sie würde bestimmt nicht in einem Zimmer über dem Tropfenden Kessel sitzen, während direkt vor ihrem Fenster die Winkelgasse zu finden war. Sie zog ihre Stricksocken aus und fühlte barfuß das raue Holz.
 

Das Gewicht auf die Zehenspitze verlagert, sprang sie in großen Sprüngen hinaus auf den Gang, die Treppe hinunter, vorbei an der beschäftigten Margaret, die ihr nur einen kritischen Blick zu warf, und ab auf den Innenhof. Sobald sich die Tür hinter ihr schloss, verstummte jegliches Geräusch. Weder die Konversationen aus dem Innenraum des Pubs noch das rege Treiben auf der Einkaufsstraße hinter der Backsteinmauer drangen hier zu ihr durch.
 

Vorsichtig näherte sie sich der Mauer, den Blick auf das seltsame Loch direkt in der Mitte fixiert. Ansonsten gab es in dem kleinen Innenhof sowieso nichts; ein paar undefinierbare Kisten aus unbehandeltem Holz und einige aussortierte Stühle. Der grobe Stein unter ihren Füßen hatte sich durch die Mittagssonne aufgewärmt und tat ihren sensiblen Sohlen gut.
 

Ihr Herz raste als sie daran dachte, dass diese rote Mauer, unscheinbar und schief, das einzige war, das sie von der magischen Welt trennte. Sie strich mit der Hand über den rauen Stein, der ebenfalls die Hitze des Tages gespeichert hatte.
 

"Stellt sich nur die Frage, ob ich hier durchkomme?", sprach sie ihre Gedanken laut aus, als sie mit den Fingern das herausgeschlagene Loch erreicht hatte. Sie kannte die Sequenz, mit der man durch den Torbogen kam, doch sie bezweifelte, dass sich der Eingang einfach so für einen ... Muggel, wie sie einer war, öffnete. Sie konnte natürlich auch hier warten, bis jemand vorbei kam und den Eingang benutzte. Fragen konnte sie schlecht, denn wie würde das wohl aussehen? Eine erwachsene junge Frau, barfuß, die nicht alleine in die Winkelgasse kam? Man würde mehr rufen, als nur einen Heiler. Bevor sie sich eigenständig in die nächst beste Psychiatrie einliefern ließ, wollte sie wenigsten das Vergnügen haben zu fühlen wie es war auf der Winkelgasse zu stehen.
 

Im Weg stand ihr dabei nur diese dumme Mauer. Sanft schlug sie mit der Faust gegen das Hindernis, das leider nicht wie durch Zauberhand unter ihrer Berührung zerbröselte.
 

"Naja, probieren geht über studieren, und so." Mit rhythmischen Bewegungen schlug sie drei Steine zur Seite und zwei Steine nach oben und wartete darauf, dass etwas passierte.
 

"Komm schon", drängte sie und wiederholte den Vorgang, doch nichts geschah. Wütend klopfte sie immer wieder gegen den Schlussstein, doch die Mauer blieb unbewegt stehen.
 

"Scheiße!" Zusätzlich schlug sie, nun fester, gegen die Mauer und zuckte zurück. Mit Schmerz verzerrtem Gesicht schüttelte sie ihre pochende Hand. Doch der Frust darüber so kurz vor dem Ziel zu scheitern war schlimmer, als jeder geprellte Knöchel es je sein konnte.
 

Ihr Blick glitt die Mauer entlang nach oben zur Kante und sie fasste einen Entschluss. "Dann kommt eben der Berg zum Prophet!" Entschlossen schaute sie sich erneut auf dem Hof um bis sie fand, was sie suchte. Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Wenn die magische Variante nicht funktionierte, dann musste eben die Muggelvariante herhalten. Innerlich die Ärmel hochkrempelnd zog sie an den Kisten, die schwerer waren, als sie aussahen.
 

Leider standen sie zu weit von der Mauer weg, sodass Tess nun mit dem kompletten gegen die Kisten gestemmten Gewicht versuchte, ihr Hilfsmittel an die Mauer zu schieben. Kurz schien es, als könnte sie die Kisten keinen Millimeter bewegen, doch der Wille und der Drang die Mauer zu überwinden gab ihr Kraft sich Stück für Stück nach vorne zu drücken, bis sie spürte, wie es nicht mehr weiter ging. Sie gönnte sie eine Verschnaufpause und besah sich dann ihrer frisch gebauten Klettermöglichkeit. Stabil sah es nicht aus und mit ihrem Fuß würde nur sehr wenig Platz haben sich zu halten, doch es war ihre beste Option.
 

Sie zögerte. Im Klettern war sie noch nie gut. Dazu benötigte man Kraft in den Oberarmen und die hatte sie nicht. Ausdauer vom vielen Laufen, ja. Kraft in den Armen, nein.
 

Sie hatte sich angewöhnt wenigstens ein paar Mal die Woche joggen zu gehen um den Kopf frei zu bekommen, in Form zu bleiben und nicht ganz so aufzugehen, wie ein Hefeklops. Denn leider aß Tess sehr gerne und sehr reichhaltig, was ihr Stoffwechsel nicht mehr so wegsteckte, wie in ihren jungen Jahren.
 

Nervös ließ sie die Gelenke ihrer Finger knacken. Es war hoch und das letzte Stück, auch wenn die Kisten sie weit brachten, müsste sie sich selbst hochhieven. Zudem hatte sie nun Zeitdruck. Immer wieder drehte sie sich zur Tür hinter aus Angst, jemand könnte herauskommen und sie sehen. Das wäre ein Anblick: ein Muggel der versuchte mit Kisten über die Mauer in die Winkelgasse zu klettern. Sie musste es jetzt wagen.
 

Der erste Schritt war einfach, die erste Kiste leicht erklommen. Doch dann wurde es wackliger und Tess hatte plötzlich Zweifel, dass die Kisten sie oben tragen würden. Immer wieder hielt sie inne und prüfte ihr Gleichgewicht, schob noch einmal an der Kiste vor ihr in der Hoffnung eine bessere Treppe zu erschaffen.
 

Ihre Zehen fanden wenigstens genug Halt an den schmalen Kanten, an denen sie mit den Socken vermutlich sogar abgerutscht wäre. Dummerweise schnitten sie auch unangenehm in ihre Sohlen, aber ihre Aufmerksamkeit war zurzeit nur auf die obere Kante der Mauer gerichtete, die sie gleich errichte haben würde. Auf der letzten Kiste richtete sie sich, den Oberkörper an die Wand gedrückt, langsam auf. Ihre Finger griffen nach der Kante, dann fand ihre Hand eine Ritze, an der sie sich hochziehen konnte.
 

Hüpfen wollte sie nicht, sonst würden die Kisten unter ihr vielleicht vom Impuls umkippen und dann hing sie da, drei Meter über dem Boden. Stattdessen suchte sie mit den Füßen an der Mauer nach Vorsprüngen oder anderen Hilfen und fand sie in dem herausgeschlagenen Loch. Mit dem rechten Bein stemmte sie sich in das Loch um sich dann nach oben zu drücken. Eilig hatte sie es dabei nicht. Sie prüfte jeden Sitz mehrmals, ehe sie sich traute ihr Gewicht weg von den Kisten und nur auf ihr rechtes Bein zu verlagern. Sie schnaufte bereits vor Anstrengung und aus Panik womöglich gleich zu fallen. Ihre offenen Haare waren ihr auch im Weg. Immer wieder musste sie ihren Kopf zur Seite drehen, damit ihre Haare nirgends eingeklemmt wurden. Sie wusste schon, was dann auf ihrem Grabstein stehen würde: Tod durch zu viele Haare.
 

Irgendwann fand auch ihre zweite Hand einen Punkt über der Mauer, an dem sie sich hochziehen konnte. Das linke, recht nutzlose Bein, rutschte allerdings immer wieder von der Mauer ab. Nur mit ihrem rechten Bein drückte sie sich Mauerstein für Mauerstein nach oben, bis ihr Oberkörper auf der Kante lag, damit sie sich robbend weiter vor kämpfen konnte. Seitwärts schob sie sich hoch, sodass sie irgendwann schwer atmend alle Viere von sich gestreckt auf dem schmalen Mauerende über drei Meter vom Boden entfernt lag. Wieder hatte sie das Bedürfnis hysterisch zu lachen, als sie ihren Kopf zur Seite neigte und, wenn auch aus einem verdrehtem Blickwinkel, die lange Straße voll mit Häusern entdeckte, die in der Ferne eine Biegung machte und verschwand. Die Winkelgasse.
 

Unter ihr tummelten sich hunderte Hexen und Zauberern, gekleidet in den verschiedensten Mänteln und mal mit, mal ohne Hut. Niemand nahm jedoch Notiz von der schwer atmenden Frau auf der Mauer.
 

Tess richtete sich auf, war allerdings bedacht nicht vom schmalen Vorsprung zu rutschen und setzte sich aufrecht an die Kante. Ihre mit Moosrückständen besudelten Hände zitterten noch von dem Adrenalin und ihr Puls raste, was allerdings auch an dem bunten Anblick vor ihr lag. Ihre Augen wurden feucht und die ersten Tränen liefen ihre Wange herab. Wenn sie morgen für immer in einer Psychiatrie landen würde, so würde sie es glücklich in Kauf nehmen. Dieser Anblick und dieser Moment, würde ihr keiner mehr nehmen können.
 

Nun drangen auch die ersten Aromen zu ihr hoch. Sie roch verschiedene Gewürze und meinte Muskatnuss wahrzunehmen. Irgendwo musste es Waffeln oder ähnliches geben und sogar der frisch gemahlene Kaffee konnte sie erkennen. Rechts unter sich sah sie einige hängende Sträucher, die den Eingang zu einem winzigen Lädchen flankierten. Große Schaufenster zeigten dutzende kleine Fläschchen, Messingwaagen, ganze Körbe voll mit Puder und anderen eingelegten Sachen, die sie nicht identifizieren konnte. Das musste die Apotheke sein. Sie beobachtete, wie eine Hexe mit Kurzhaarfrisur einige Treppenstufen nach unten ging und mit einem begleitenden Klingeln die Apotheke betrat. Auf der anderen Seite stapelten sich in bedenklicher Stabilität die verschiedensten Kessel.
 

"Ich bin im Himmel", flüsterte Tess und sah nach unten, wobei ihr Lächeln erstarrte. "Ich bin zu hoch." Die Euphorie erstarb als sie sah, wie weit es unter ihr in die Tiefe ging. Sie hatte sich keine Gedanken gemacht, wie sie hier, auf der anderen Seite, runter kommen sollte. Sie fluchte. Wenn sie sprang, würde sie sich Bein, Hüfte oder schlimmeres brechen. Die ersten vorbeigehenden Zauberer betrachteten sie jedoch bereits mit einem Blick aus Verwirrung und Neugier, also musste sie schnell runter. Kurz überlegte sie sich hängen zu lassen und das letzte Stück zu fallen, doch sie würde ihr eigenes Körpergewicht kaum lange tragen können.
 

"Alles in Ordnung, Miss?", rief ein Zauberer mit giftgrünem Umhang zu ihr nach oben.
 

"Ehm, also", stammelte sie in der Hoffnung die richtigen Worte zu finden. Immer mehr Leute blieben stehen und starrten zu ihr hoch. Einige Kinder zeigten mit dem Finger auf sie, bis die Mütter sich kopfschüttelnd von ihr abwanden und ihren Nachwuchs forttrieben. Währenddessen suchte Tess nach einer Geschichte, die sie den Zauberern erzählen konnte.
 

"Ha, wirklich dumm. Man ist absolut aufgeschmissen ohne seinen Zauberstab. Nicht einmal in die Winkelgasse kommt man ohne ihn." Sie gestikulierte wild umher, vielleicht etwas zu wild, denn der Mann runzelte bereits die Stirn unter seinem Hut. "Ja, ehm", Tess räusperte sich. "Mein Bruder ist unnachgiebig. Wettschulden muss man einlösen." Sie zeigte an sich herunter. "Ein Tag als Muggel. Er hat die grausamsten Ideen und wie Sie sehen, mache ich mich nicht gerade gut." Zu ihrer Erleichterung hörte sie vereinzeltes Lachen und zustimmendes Gemurmel.
 

Der Mann begann zu grinsen. "Das ist ja wirklich grausam. Brauchen Sie vielleicht Hilfe?" Er hob ihr die Hand entgegen. "Ganz ohne Magie."
 

Tess atmete erleichtert aus. "Danke, Sir"
 

Genauso vorsichtig, wie beim Klettern, schob sie sich nach vorne und klammerte sich an die Kante. Langsam glitt sie nach unten und der freundliche Mann half ihr nach unten, mit Hilfe eines zweiten Passanten. Als sie wieder festen Boden spürte, beugte sie sich vor und stützte sich erleichtert auf den Knien ab. "Vielen Dank", sagte sie an die beiden Herren gewandt.
 

"Ich wusste gar nicht, dass Muggel keine Schuhe tragen, wirklich seltsames Völkchen", meinte der Mann im grünen Umhang, während er auf ihre Füße zeigte. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie einige Schürfungen an Zehen und Beinen hatten, die nun anfingen zu brennen. Tess war aber im Moment einfach froh auf der anderen Seite zu sein.
 

"Ich auch nicht. Um ehrlich zu sein weiß ich nicht mal, wie sie sich in diesen engen Hosen bewegen können", sagte sie und zog an ihrer Jeans. Der Mann legte lachend den Kopf in den Nacken.
 

"Na dann wünsche ich noch viel Erfolg."
 

Tess nickte. "Und vielen Dank nochmal." Damit war der Mann dessen Name sie gar nicht erfragt hatte, in der Menge verschwunden.

Kapitel 3 - Gedämpfte Stimmung

Während Tess die Straße entlang lief, kam sie aus dem Staunen nicht mehr heraus. Nur kurze Zeit vor ihr mussten auch Hagrid und Harry hier entlang gelaufen sein, dem es ganz ähnlich wie ihr ergangen sein musste. Egal wo sie hinsah, sie entdeckte unmögliche Dinge. Wie die seltsamsten Kreaturen in der Magischen Menagerie, vor dessen Eingang ein ganzer Schwarm Fledermäuse kopfüber hing und sich nicht um die Besucher scherten. Oder die schwebenden Pflanzenkübel im Schaufenster von Albins Allerlei, vor denen ein junger Zauberer staunend stand. Oder die Kessel am Eingang hinter dem Tropfenden Kessel, die sich ständig selbstständig neu gruppiert hatten. Jeder Laden hatte seinen eigenen Charme und jeder Laden war gut besucht, allerdings hielt sie gezielt nach etwas Besonderem Ausschau, das sie vor allem anderen von Innen sehen wollte.
 

Als sie Qualität für Quidditch passierte, blieb sie jedoch kurz stehen um das Schaufenster zu bewundern. Der Nimbus im Inneren strahlte in hellem Braun, die goldenen Lettern waren leicht zu lesen. Einen echten fliegenden Besen zu sehen faszinierte sie mehr als der Gedanke wirklich damit abzuheben. Nicht, dass sie etwas gegen das Fliegen hatte, doch ihr Allerwertester schmerzte allein bei dem Gedanken daran nur auf einem so dünnen Stück Holz zu sitzen. Je länger sie stand umso mehr Leute drehten sich wieder nach ihr um. Sie hätte sich vielleicht doch besser aus dem alten Bettzeug zumindest einen Mantel gebastelt, dachte sie, als sie sich bereits wieder unter die Leute mischte.
 

Ein Laden nach dem anderen ließ sie hinter sich, bis sie endlich den Eingang fand, nach dem sie gesucht hatte. Mit großen Augen stand sie vor den Schaufenstern, die sich optisch kaum von den anderen in der Straße unterschied. Das Holz und die Tür selbst waren in einem satten Rot bestrichen. Fliegende Federn und tanzende Pergamente luden ein, den Laden zu betreten.
 

Tess überwand die Treppenstufe und betrat das Reich von Flourish & Blotts, in dem jedes Buch zu finden war, von dem sie nur träumen konnte. Der vertraute Geruch nach frischen Büchern, Druckertinte und einem Hauch Vanille, der älteren Büchern oft anhaftete, strömte ihr entgegen.
 

Eine gewundene Treppe führte zu beiden Seiten einen Stock höher. Vor ihr erstreckten sich dutzende Gänge, die sich irgendwo weiter hinten verliefen und den Eindruck erweckten, als wäre dies ein Labyrinth, und kein Buchladen. Tess bestaunte die Wände voll mit Büchern, als jemand sich an ihr vorbei drängte.
 

Die Frau schubste sie unsanft mit der Schulter weg. "Nicht im Eingang stehen bleiben, andere wollen auch hinein", hörte Tess die Frau schimpfen, doch diese war bereits in einem der Gänge verschwunden. Sich die Schulter reibend beeilte sie sich weiter weg von dem Eingang zu gehen, bevor noch jemand anderes gestört wurde. Dabei versuchte sie die kleinen Schilder über den Gängen zu lesen; schlichte, weiße Plaketten mit geschwungener goldener Schrift, die die jeweiligen Bereiche kennzeichneten. Alphabetisch war nichts geordnet, soviel stand fest. Tess lass Geschichte der Antike, Rund um die Kreaturen, Zahlenlehre und Grammatika, Selbstheilung und noch viele andere Oberbegriffe, die ohne Zweifel noch weiter gegliedert waren, je weiter man hinein ging. Tess schlenderte an die nächstbeste Wand und zog einen in Leder eingebundenen, handlichen Band auf Augenhöhe heraus.
 

"Zucht und Pflege für häusliche Hallimasch: ein Handbuch für die Gartenhexe", las sie und blätterte oberflächlich darüber. Das Buch war in kleiner Schrift geschrieben, hatte aber hier und da einige Illustrationen, die an einen Pilz erinnerten. Moorgras und seine Anwendung hieß das daneben, Gezieltes züchten des Efeu ein anderes. Dies hier war ganz klar die Pflanzen-Ecke.
 

Vorsichtig stellte sie den Band zurück und ging durch einen der Gänge. Immer wieder hielt sie inne und nahm eines der Bücher zur Hand, las die ein oder andere Seite und wendete sich dann wieder dem nächsten zu. Jedes Buch hätte sie am liebsten einfach mitgenommen. Davon hatte sie geträumt. Magische Theorie zu lernen, mehr darüber zu erfahren über Dinge, über die in Harrys Geschichte nie gesprochen wurde ganz einfach deshalb, weil Harry kein Interesse daran zeigte, das war immer ihr Traum gewesen. Selbst Die Entdeckung des Saturn-Staubs, ein Magazin aus der Astronomie Abteilung, hätte sie mit Freuden gelesen.
 

Doch leider war sie zurzeit ärmer als die Weasleys.
 

Ihr Blick fiel auf den nächsten Gang über dem deutlich Gebräue aller Art zu lesen war. Tess atmete scharf ein und schlug die Hand vor den Mund. Das war es, das war ihre Leidenschaft! Tränke, Elixiere, Tinkturen und alles, was zum Brauen dazugehörte. Oh, wie oft hatte sie sich vorgestellt wie ein Trank zubereitet wurde. Wie man mit einem einfachen Trank gefährlichere Wirkungen erzielen konnte, als mit einem gesprochenen Zauber.
 

Sie überflog die Titel und unterdrückte ein euphorisches Quietschen. Einmal eins der Elixiere, Messing, Milch und Made; Sekundentränke, Tinkturen aus Tinte oder Tränkemeister der Jahrhunderte waren nur einige, die ihr dabei sofort ins Auge sprangen. Da noch andere Kunden hier einkauften und auch der Gang für Zaubertränke gut besucht war, versuchte Tess ihre Aufregung nicht zu sehr nach außen hin zu zeigen.
 

Stattdessen glitt sie ein Regal nach dem anderen ab und fand dutzende weitere Bücher, die sie am liebsten jetzt sofort studiert hätte. Doch anders als in den Läden zu Hause schien es hier wohl nicht üblich zu sein ein wenig zu schmökern. Alle hatten kleine Körbe unter dem Arm geklemmt, in dem sie sammelten, was sie kaufen wollten. Zum Lesen kam hier niemand. Also widerstand Tess der Versuchung und begnügte sich mir den Titeln der einzelnen Ausgaben. Doch irgendwann war auch dieser Bereich zu Ende und Tess fand sich in einer kreisrunden Leere mitten im Laden. Um sie herum fand sie das geballte Wissen der Zaubererwelt, doch ohne Geld würde sie keine Möglichkeit haben mehr als nur ein paar Seiten aus vereinzelten Büchern zu lesen. Tess spürte wie ihre Aufregung verflog. Dieser Ort war magisch, im mehrfachen Sinn, doch er war genauso unerreichbar wie zuvor. Mit langsamen Schritten suchte sie den Ausgang, denn trotz ihrer Faszination sah sie keinen Grund länger hier zu bleiben.
 

Um sie herum ging das Treiben weiter, Eltern zogen ihre Kinder von einem Geschäft zum nächsten, Frauen tratschten mit gefüllten Einkaufskörben in der Hand und ältere Zauberer hielten sich etwas abseits, scheinbar in ungeduldiger Erwartung, bis die Frauen fertig geredet hatten. Tess lächelte bei dem Anblick. So verschieden waren Muggel und Zauberer gar nicht.
 

Mit weniger Elan als zuvor schlenderte sie die Straße entlang und blieb hin und wieder stehen, um sich etwas näher anzuschauen. Darunter war auch die Kollektion von Madam Malkin, die im Anbetracht des nahenden Schulbeginns eine Hogwarts Garnitur ausgestellt hatte. Ein Mannequin bewegte sich in sanftem Wiegen im Schaufenster und präsentierte die Garnitur von allen Seiten. Der Stoff fiel in großen Wellen bis nach unten und umschmiegte den Körper. Auf der Brust prangte das leuchtende Hogwartswappen, das nach der Einschulung irgendwie zum jeweiligen Hauswappen werden würde. Die Puppe streifte sich auch hin und wieder verschiedene Handschuhe und Schals über, immer wie ein professionelles Model posierend.
 

Irgendwann hatte sich Tess auch von diesem Laden weggerissen und ging nun auf das große, hell strahlende Gebäude am Ende der Straße zu. Die gläserne Kuppel thronte über allen umliegenden Häusern, wie eine erhabene Krone. Die breiten Säulen, wenn auch ein wenig schief, verrieten jedem, der es noch nicht verstanden hatte, dass dies ein wichtiges, bürokratisches Gebäude war: Gringotts.
 

Tess schloss nicht aus, dass es sich bei dem weißen Stein tatsächlich um Marmor handelte. Dass die eitlen Kobolde ihre Bank nicht auch noch vergoldet hatten, wunderte sie sogar. Auch wenn es eines der wichtigsten Gebäude Englands war, so hatte Tess kaum Lust es zu betreten. Noch hatte sie, außer bunten Katzen in der Magischen Menagerie, keine magischen Geschöpfe gesehen und die glaubte den Anblick echter Kobolde noch nicht ganz zu verkraften. Stattdessen begnügte sie sich mit dem Blick von außen, der nicht minder beeindruckend war.
 

Neben dem Eingang stand eine Gruppe fein angezogener Herren, die sich mit Pfeife im Mund locker unterhielten. Der süße Rauch des Tabaks wehte bis zu ihr herüber und hüllte sie ein. Ihr Mund wurde trocken.
 

Sie hatte in ihrer Jugend geraucht, hatte es vor zwei Jahren jedoch geschafft aufzuhören. Meistens hatte sie keinen Drang nach einer Zigarette zu greifen, doch wenn ihr der Geruch von Pfeife, Zigarre oder ähnlichem so direkt in die Nase kam, entflammte ihre Nikotinsucht, wenn auch nur kurz.
 

Sie schluckte mehrmals und entfernte sich von der rauchenden Gesellschaft. Ihre Aufmerksamkeit glitt zu einem schlichten Laden mit dunklen Schaufenstern und beinahe verblasster Schrift über der Tür. In ihren Augen glitzerte es verdächtig, als sie die Buchstaben entzifferte. Sie stand vor Ollivanders. Neugierig lugte sie durch die getönten Scheiben, sah jedoch nicht, ob sich gerade ein Kunde im Inneren befand. Unschlüssig trat sie von einem Fuß auf den anderen, die nun schon seit längerem stark brannten. Sie hätte sich vermutlich darum kümmern müssen die Schürfwunden wenigstens vom gröbsten Dreck zu befreien.
 

Den Gedanken an ihre geschundenen Füße zurück schiebend, drückte sie die Tür auf, was von einem schiefem Glockenklang begleitet wurde, und trat ein. Innen war es karg und schmutzig. Der eigentlich dunkle Boden war beinahe weißlich vom Staub, der nur im einem Pfad zwischen Tür und Verkaufstresen fein säuberlich geputzt war. Dutzende Umhänge sorgten täglich dafür, dass diese eine Schneise frei von Schmutz blieb. Der Rest jedoch schien schon beinahe wie Schnee auf allem zu liegen. Ein paar verschmierte Fußabdrücke hier und da verrieten, dass der Eigentümer durchaus lebendig und geschäftstätig war und es sich nicht um ein verlassenes Gebäude handelte.
 

Den Blick vom Boden hebend sah sie die hunderten und aberhunderten bunten Schachteln, die jeden Winkel des kleinen Lädchens einzunehmen schienen und von eng gewobenen Spinnenweben überzogen waren. Jede einzelne Schachtel hatte eine mit Hand beschriebene Plakette. Außer dem Tresen, dem Staub und der tausenden an Zauberstäben, gab es nur eine schwache Kerze und ein vertrockneter Busch, der irgendwann einmal als Dekoration gedacht war. Trotz der Enge fröstelte sie. Hier war es kalt, so als ob keine Heizung oder ... naja ... Feuer brennen würde um den Laden zu heizen.
 

"Ja, wie kann ich Ihnen helfen?", hörte sie eine tiefe und ruhige Stimme. Sie sah, dass ein kleiner, magerer Mann zwischen den Schachteln erschienen war und sie mit hinterm Rücken gefalteten Händen musterte.
 

"Hallo, ich, Verzeihung, ich wollte Sie nicht stören", stammelte Tess und fuhr sich nervös durchs Haar. Mr Ollivander legte seinen Kopf schief, sodass seine dünnen grauen Haare ihm zum Teil ins Gesicht fielen.
 

Er trug eine flache, schlichte Mütze, die zu seinem einfachen Hemd und Hosenrock passten. Um seine Hüfte war ein Gestell geschnürt, das seltsame Werkzeuge trug. Einige waren Tess jedoch vertraut, was sie innerlich schmunzelnd zur Kenntnis nahm. Scheinbar wurde auch Zauberstäbe mit einer ganz normalen Holzfeile beschliffen.
 

Ollivander ging die kurze Treppe hinab und gemächlich auf sie zu. "Sie stören nicht", war alles, was er sagte. Scheinbar wartete er auf einen Auftrag. Plötzlich schien es ihr eine verdammt dumme Idee gewesen zu sein, ausgerechnet hier herein zu kommen. Was hatte sie sich erhofft? Hier gab es nichts für sie. Seinem Blick ausweichend ging sie rückwärts Richtung Ausgang.
 

"Ich war nur neugierig, Sir", gestand sie den Blick noch immer nach unten gerichtet. "Jeder kennt die Zauberstäbe von dem großen Zauberstabmacher Ollivander und ich wollte sie nur einmal mit eigenen Augen sehen." Die Wahrheit kam ihr seltsamerweise schwerer über die Lippen als die Lügen, die sie heute schon zu Hauf erzählt hatte.
 

Noch immer beäugte Ollivander Tess, blieb jedoch stehen. "Wenn Sie schon einmal hier sind, könnte ich Ihnen ein paar meiner Werke zeigen", durchschnitt seine Stimme die peinliche Stille. Tess konnte sich ein trockenes Lachen nicht verkneifen, war sich jedoch bewusst, dass diese Geste von ihr nicht gerade höflich war. Des Anstands halber zwang sie sich nun Ollivander in die Augen zu schauen. Er hatte glänzende, helle, ja schon fast weiße Augen. Eine solche Augenfarbe sollte unmöglich sein, bemerkte sie.
 

"Dürfte ich Ihren Namen erfahren?", sagte er, während er sie von oben bis unten musterte.
 

Name? Tess wurde panisch. Ihren Namen zu nennen, würde mehr als dämlich sein, dämlicher als es war hier überhaupt erst hineinzugehen. Ollivander kannte jeden! Die gesamte Zaubererschaft! Jeder hatte seinen Stab bei Ollivander gekauft. "M-mein Name. Ich heiße Eh-Evelyn. Evelyn Harris, Sir."
 

Das wird er mir nie abkaufen, dachte Tess, als sie sah, wie er seine Augenbrauen zusammenzog. Harris? Sie scholt sich innerlich. Da hatte sie sich wohl etwas zu sehr von Harry leiten lassen. Na, nun war es zu spät etwas zu ändern. Verfluchtes Unterbewusstsein.
 

"Harris?", hörte sie ihn skeptisch fragen. Sie spürte, wie sie rot wurde. Plötzlich war ihr gar nicht mehr kalt.
 

"Hören Sie, ich wollte wirklich nicht hereinplatzen. Ich habe gesehen was ich sehen wollte. Einen schönen Tag noch", sagte sie, nickte kurz zum Abschied und drehte sich auf dem Absatz. Als sie die Tür erreichte, ließ die sich jedoch nicht mehr öffnen, egal wie sehr sie daran zog und rüttelte. Kalter Schweiß ran ihr ihre Schulterblätter hinab.
 

"Nie hat jemand ohne einen Zauberstab meinen Laden verlassen." Sie drehte sich um und starrte Ollivander ins Gesicht, der direkt hinter ihr stand. Seine Worte hätten bedrohlich klingen können, wenn er nicht ein feines Lächeln um die Lippen gehabt hätte.
 

Er griff sie am Oberarm und führte sie sanft, wenn auch bestimmt, weiter hinein an den Tresen.
 

"Was hatten Sie bisher für einen Zauberstab?", fragte er sie von der Seite. Tess Puls erhöhte sich. Wenn das so weiterging, würde sie vor Ende des Tages noch einen Herzinfarkt bekommen.
 

Was sollte sie darauf nur antworten? "Ich, ich fürchte, ich hatte nie die Gelegenheit mir einen Stab zu kaufen." Halbwahrheiten. Halbwahrheiten waren gut. Ollivander schaute sie nun mit großen Augen an.
 

"Nie einen Stab gehabt? Wie außergewöhnlich. Ohne Sie zu sehr bedrängen zu wollen, aber dürfte ich fragen, wieso eine junge Frau wie Sie nie einen Zauberstab besaß?" Während er sprach hatte er aus seinem Werkzeuggürtel ein Band herausgezogen und maß nun ihre Arme.
 

Am liebsten hätte Tess nichts gesagt, doch das wäre wohl auffallender gewesen, als jede erfundene Geschichte. "Ich habe bei meinen Großeltern gelebt. Meine Eltern starben während Vol – Sie wissen schon-wessen erstet Schreckensherrschaft." Ollivander sah sie mitfühlend an, setzte seine Messung jedoch ungehindert fort. "Meine Großeltern zogen fort, nahmen mich mit und seitdem hatten wir uns versteckt. Ich bin in einem Muggelumfeld aufgewachsen. Keine Zeit für Magie und naja, irgendwann war ein Zauberstab nicht mehr nötig."
 

"Sie beherrschen zauberstablose Magie?"
 

Tess lachte auf. "Nein, oh Gott nein. So meinte ich das nicht. Ich brauchte keinen Zauberstab, da ich nie zauberte. Habe es nie gelernt und jetzt, ist es sowieso zu spät." Sie entzog sich seines Griffes und machte erneut einen Schritt zur Tür.
 

"Ich wüsste also nicht einmal, was ich mit einem Stab anfangen sollte. Daher verschwende ich nur Ihre Zeit, Mr Ollivander." Sie zuckte die Schultern und gab sich geschlagen. Nicht so Ollivander. Entschlossen schüttelte er den Kopf.
 

"Magie ist keine Frage des Alters. Tatsächlich lernt jeder Zeit seines Lebens neue Dinge dazu." Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand im Gang. Tess starrte ihm mit offenem Mund nach, war jedoch froh darüber endlich gehen zu können. So dachte sie zumindest, bis er wieder in ihrem Gesichtsfeld erschien, mit einem Karton in der Hand, den er nun vorsichtig öffnete. Tess blieben die Worte im Hals stecken, als er ihr tatsächlich den Griff eines Zauberstabs entgegen hob. Tess müsste nur zupacken.
 

Wie in Trance hob sie die Hand und umschloss den Stab mit ihren Fingern. Kaum hatte sie den Stab berührt, schoss dieser jedoch in die entgegengesetzte Richtung und landete klirrend irgendwo auf dem Boden. Der Schlag hatte auch Tess kurzzeitig aus dem Gleichgewicht gebracht, sodass sie sich fangen musste um nicht zu fallen. Ollivander starrte dem Stab hinterher, der mit einer heftigen Reaktion einfach verschwunden war.
 

"Nunja, der erste Stab ist selten der Richtige", sagte er mit einem Lächeln und machte sich auf, den nächsten zu suchen. Tess musste gestehen, dass Ollivander eine unglaubliche innere Ruhe zu haben schien. Und einen unglaublichen Dickkopf. Er hatte die Herausforderung angenommen ihr einen Stab zu finden. Und Tess hatte die Herausforderung angenommen sein erster Kunde zu werden, an dem er scheitern würde.

Kapitel 4 - Mögen die Spiele beginnen

Erschöpft ließ sie sich auf den Stuhl fallen, den Ollivander ihr gnädigerweise etwa nach dem zehnten Fehlversuch beschworen hatte. Sie war durch den Raum geschleudert, verbrannt, gestochen, gepeitscht und ignoriert worden. Ja, ein Zauberstab konnte den Zauberer auch einfach ignorieren. Um sie herum stapelten sich die Kisten, in denen misslungene Stäbe lagen. Sie hatte das Gefühl einen halben Wald in Händen gehalten zu haben. Alles war dabei gewesen; Ashe, Eibe, Buche, Mahagoni und alles in jeder Kern-Kombination, die in Ollivanders Sortiment zu finden war.
 

Spätestens als ein besonders feindseliger Zedern-Stab ihren Zeigefinger versengt hatte, war Tess der Spaß vergangen. Inzwischen war sie derart lange hier und blockierte damit jeden weiteren Einkauf, dass sie befürchtete bereits etwas zu ändern. Was, wenn jemand heute nicht seinen Zauberstab bekam und das eine Kettenreaktion auslöste - mit fatalen Folgen? Sie kannte den Butterfly-Effekt nur zu gut ... Ihre Gedanken schweiften ab, während Ollivander Tee zubereitete.
 

Beide waren sich einig gewesen, dass ihnen eine Pause gut tun würde. Ollivander murmelte nun ständig vor sich hin, dass er nicht verstehen konnte wieso sich jeder seiner Stäbe bei der geringsten Berührung derart sträubten und nutzte die Pause den Kopf frei zu bekommen. Tess wusste genau, weshalb die magischen Objekte sich ihr entzogen, aber sie würde sich hüten das laut zu sagen. Im Moment war sie froh einfach ausschnaufen zu können.
 

"Ich habe Ihnen auch frisches Wasser gebracht, Miss Harris", sagte Ollivander, der mit einer schwebenden Kanne und einem Eimer Wasser angeschlurft kam. Tess starrte auf die schwebenden Objekte und war fasziniert echte, wahre Magie zu sehen; so selbstverständlich eingesetzt.
 

"Danke, Mr Ollivander, aber wieso ein Eimer?" Sie griff nach der Tasse in der Luft, stutzte jedoch, als sich der Eimer neben ihr niederließ. Ollivander zeigte auf ihre Füße.
 

"Die sollten nicht so bleiben." Peinlich berührt schob sie ihre Füße ein wenig aus dem Blickfeld. Da sie hier herumgelaufen waren, waren sie zusätzlich zum Straßendreck nun vollkommen schwarz vor Staub. Sie hing schließlich beide Beine ins kühle Wasser und atmete auf. Das Wasser tat ihren zerkratzen Zehen gut.
 

Ollivander ließ sich ihr gegenüber nieder, beseitigte jedoch zuerst mit einer Handbewegung das Chaos. Jeder Stab flog zurück in seine persönliche Kiste, die wiederum langsam in die Höhe stiegen und sich im Laden verteilten. Alle fanden ihren Platz im Regal.
 

Nun goss sich auch Ollivander einen Tee - Schwarztee, wie Tess vermutete. Auch das ironischerweise völlig unspektakulär. "So bin ich in meiner Zeit als Verkäufer noch nie gefordert worden."
 

Tess drehte ihre Tasse und beobachtete das Wellenspiel ihres Tees. "Ich sagte doch, ich verschwende Ihre Zeit." Auf ihre Worte hin hob er mahnend den Finger.
 

"Das Leben besteht aus Herausforderungen. Wer die schweren nicht annimmt, hat die leichten Aufgaben nicht verdient."
 

"Haben Sie auf alles eine Antwort?"
 

Ollivander erwiderte mit einem sanften Lächeln und trank von seinem Tee.
 

Besorgt sah sie zur Tür. Sie erwartete Kunden zu sehen, doch jedes Mal, wenn sie sich zur Tür drehte, stand niemand davor.
 

"Erwarten Sie jemanden?", fragte Ollivander. Tess schüttelte den Kopf.
 

"Nein, es ist nur, seit ich hier bin kam niemand herein."
 

"Natürlich nicht, ich betreue nur einen Kunden."
 

Ihr Kopf fuhr herum, sodass sie beinahe Tee verschüttet hätte. "Was meinen Sie mit nur einen Kunden?"
 

Ohne Eile stellte er seine Tasse ab. "Die Wahl eines Zauberstabs ist etwas sehr persönliches. Ich betreibe hier keine Massenabfertigung, sondern betreue jeden Kunden individuell. Egal, wie lange es dauert", fügte er hinzu und lehnte sich zurück.
 

Tess verstand noch immer nicht. "Aber, wieso kommt niemand hinein?"
 

"Aus demselben Grund, weshalb sie nicht einfach gehen konnten. Sie suchen einen Zauberstab. Ich werde Ihnen helfen den zu finden. Solange bin ich beschäftigt und so zeigt es auch der Laden."
 

Langsam realisierte Tess, weshalb sie niemanden vor der Tür sah. "An der Tür hängt ein Geschlossen-Schild?!"
 

Ollivander hob die Arme. "Wenn Sie es so ausdrücken möchten ..."
 

Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut. Sie blockierte hier den Zeitfluss! Mit Sicherheit hatte sie Zeit in Anspruch genommen, die eigentlich jemand anderem zugestanden hätte.
 

"War Harry Potter heute schon da?", platzte es unbedacht aus ihr heraus. Nun schaute Ollivander sie distanziert und abschätzend an.
 

"Harry Potter? Wie kommen Sie denn jetzt auf den jungen Mr Potter?"
 

"Ich habe ihn gesehen", wich sie aus. "Im Tropfenden Kessel, heute Morgen. Er war in Begleitung eines Mannes, daher vermute ich, er wird in die Winkelgasse gegangen sein." Wenn sie Harry abhielt seinen Stab zu bekommen, könnte das fatale Folgen haben. Gerade weil die Wahl des Stabes in seinem Fall so wichtig war.
 

Ollivander legte seine Hand ans Kinn, was eine Angewohnheit sein musste. "Er war hier, ja. Einige Zeit, bevor Sie aufgetaucht sind." Tess atmete erleichtert aus und lächelte Ollivander dankend an, ehe sie erneut an ihrem Tee trank. Das löste zwar nicht ihr Problem, aber wenigstens hatte sie seinen Zeitfluss nicht durcheinander gebracht.
 

"Wissen Sie, Miss Harris, ich könnte Ihnen noch weitere Stunden Stäbe reichen", begann Ollivander. Tess erstarrte in Erwartung dessen, was gleich folgen würde. Er hatte erkannt was sie war, dass es sinnlos war weiter zu machen, dass sie nur Zeit verschwendeten.
 

"Ich verstehe", sagte sie trocken und stellte die Tasse zurück. Ollivander lehnte sich in seinem Stuhl ein wenig nach hinten und verschränkte die Arme.
 

"Gut, denn mit ein wenig mehr Information ist es für mich wirklich einfacher."
 

Tess runzelte die Stirn. "Und welche Information meinen sie genau?"
 

"Was immer Sie erzählen wollen, nur sollten Sie etwas mehr über sich erzählen, damit würden Sie es mir einfacher machen." Tess beobachtete ihn, wie er an seinem Tee roch, bevor er davon einen kräftigen Zug nahm. Eine peinliche Stille entstand, die nur von seinem Schlürfen unterbrochen wurde.
 

"Sie sind bei ihren Großeltern aufgewachsen, sagten Sie", half er nach. "Haben Sie eine schöne Erinnerung, die Sie mit mir teilen möchten?"
 

Erneut fehlten Tess die Worte. Es war einfach absurd, dass Mr Ollivander seine Energie opferte um ihr einen Stab zu finden und das mit Hilfe einer Persönlichkeit, die sie vor ein paar Stunden erfunden hatte.
 

Beschämt sah sie auf ihre Finger. "Erinnerungen? Mh, nicht unbedingt ein spezifisches Ereignis", begann sie. Ollivander bedeutete ihr mit einer Handgeste fortzufahren. Er verdiente wenigstens ein wenig Wahrheit. "Ich liebte die Nachmittage, wenn meine Oma uns etwas kochte. Sie war eine unglaubliche Köchin, müssen Sie wissen. Morgens durfte ich mir wünschen, was ich essen möchte. Opa würde mir zusehen, wie ich esse. Später würde er sein Akkordeon auspacken und mir etwas vorsingen." Ein leichtes Lächeln formte sich um ihre Lippen bei der Erinnerung ihrem Großvater beim Singen zuzuhören. "Er hatte eine furchtbare Stimme. Keinen Ton konnte er halten. Aber ich habe es geliebt." Sie schaute auf. "Sie erinnern mich ein wenig an ihn. Wenn er auch ein wenig stämmiger war, bitte verzeihen Sie den Ausdruck." Zur Antwort nickte er mit einem warmherzigen Funkeln in den Augen.
 

"Wie standen Sie zur Magie?", fragte er schließlich. Das Lächeln in ihrem Gesicht erstarb.
 

"Magie? Die war immer in weiter Ferne. Ich lebte ohne sie, doch", sie atmete schwer ein, "ich würde lügen wenn ich sagen würde, ich hätte mir nicht gewünscht ... naja ... Sie wissen schon." Ollivander blieb ruhig und wartete darauf, dass Tess sich entschloss weiter zu erzählen. "Die Praxis war für mich unerreichbar, also habe ich mich mit der Theorie beschäftigt. Keine Fachbücher", fügte sie schnell hinzu und schüttelte abwehrend die Hände, "nur meine eigenen Gedanken. Ich denke, innerlich habe ich immer Magie angewendet, wenn ich sie auch nie ausgeführt habe." Die letzten Worte hatte sie nicht laut aussprechen wollen, dennoch haben ihre sarkastischen Gedanken den Weg in ihren Mund gefunden.
 

"Sehen Sie, Miss Harris, nun waren Sie zum ersten mal ehrlich." Peinlich berührt wendete sie sich erneut ab. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er sich seufzend erhob und erneut verschwand. Tess nutzte die Gelegenheit um sich mit den Händen übers Gesicht zu fahren. Sie verlor gerade jede Kontrolle, wenn sie je auch nur einen Funken Kontrolle hier besaß. Die Situation wuchs ihr über den Kopf und im Moment wünschte sie sich, in ihrem Zimmer über dem Tropfenden Kessel geblieben zu sein, allein mit der Erkenntnis keine Tassen mehr im Schrank zu haben. Stattdessen musste sie ja ihren Träumereien nachjagen.
 

Resigniert massierte sie ihre Augen, die nun immer schwerer wurden. Sie musste wirklich schon lange hier sitzen, vielleicht war es aber auch der köstliche Tee ...
 

Ein Geräusch ließ sie hochfahren. Ollivander war erneut erschienen und hatte - Tess seufzte stumm - ein weiteres Kästchen dabei.
 

"Ich entschuldige mich im Vorfeld für die plumpe Erscheinung", sagte er, während er hineingriff. "Ich hätte nie gedacht, diesen Stab auch nur zum Verkauf in Erwägung zu ziehen, aber wie sage ich so schön: der Zauberer hat keine Wahl." Er kicherte über seine eigene Weisheit, doch Tess begutachtete den Stab, den er ihr nun erwartungsvoll anbot.
 

Hässlich war das erste Wort, das ihr in den Sinn kam. Er wirkte grob und unpoliert, mit Resten von Astansätzen und dem Versuch einer Verzierung in Form von konzentrischen Kreisen. Ungewollt rümpfte sie die Nase. Das war kein Zauberstab, das war ein gemeiner Ast eines Baumes.
 

"Wie gesagt, bitte sehen Sie über die äußere Erscheinung hinweg", betonte er erneut und ermutigte sie den Stab zu berühren, der noch nicht einmal einen klar definierten Griff hatte.
 

Um es hinter sich zu bringen schnappte sie sich den Stab in Erwartung ihn durch den Laden fliegen zu sehen, doch nichts dergleichen geschah. Tatsächlich, passierte überhaupt nichts. Zusammen mit Ollivander wartete sie einige Herzschläge stumm auf eine Reaktion, die jedoch ausblieb. Tess traute sich nicht, sich zu bewegen und genoss das Gefühl einen Zauberstab, wenn auch nur in grober Andeutung, in Händen zu halten. Ollivander nickte, war jedoch noch nicht zufrieden.
 

"Vielversprechend." Erneut wartete sie still, bis Ollivander mit einem Mal die Arme hob. "Nun sitzen Sie nicht da wie eine Statue, schwingen Sie, kommunizieren Sie." Wäre sie nicht geschockt darüber eine magische Waffe zu halten, hätte sie bei der Aufforderung mit einem Stab zu reden laut aufgelacht.
 

Es dauerte ein wenig, bis Tess auch nur einen Finger um den Stab bewegte. Sie änderte ihren Griff, sodass er ihr besser in der Hand lag. Ohne ihr Glück strapazieren zu wollen, wedelte sie nur einmal in einer weit ausholenden Geste.
 

Sofort reagierte der Stab mit einem grellen Leuchten. Tess zuckte zusammen und erwartete den Schmerz verbrannt oder geschnitten zu werden, doch die Abwehrreaktion blieb aus. Stattdessen wurde das Leuchten heller, drang durch ihre Lider und blendete sie. Die Wärme des Stabes kroch ihre Glieder entlang, hinab zu ihren kalten Zehen und sammelte sich schließlich in ihrem Brustkorn. Sie hatte das Gefühl jemand hätte sie in eine Decke gehüllt.
 

Mit einem Mal verschwand das Licht und hinterließ den kargen Innenraum im Dunkeln. Die Wärme blieb jedoch.
 

Blinzelnd versuchte sie die Lichtpunkte vor ihren Augen loszuwerden, während sie auf eine Reaktion des Zauberstabmachers wartete. Dieser hatte sich wieder im Stuhl niedergelassen.
 

Der Stab war noch immer in ihrer Hand, sodass Tess wagen durfte zu hoffen, dass dies womöglich ...
 

"Ihr Stab hat gewählt. Äußerst kurios, ja wirklich äußerst kurios." Sanft nahm er ihr den Stab aus der Hand, die sich nun so ohne Holz zwischen ihren Fingern nackt anfühlte. Sie wollte protestieren bis sie sah, wie er den Stab vorsichtig betastete, ja schon fast liebkoste.
 

"Was ist das für ein Stab?", wollte Tess mit heiserer Stimme wissen.
 

"Diesen Stab hat meine Tochter gemacht. Ihr erster", sein Lächeln wurde zu dem eines stolzen Vaters. "Halb so jung wie Sie, war sie gewesen, als sie mir helfen wollte und ihren ersten Stab anfertigte." Liebevoll legte er den Stab zurück in die Verpackung, wobei jede Bewegung von Tess verfolgt wurde. "Sie müssen wissen, ein Zauberstabmacher stellt nicht einfach Zauberstäbe her, wie es ihm passt. Er fühlt, was er herstellen muss. Nein, das ist nicht ganz richtig", in Gedanken versunken zog er seine Mütze ab und fuhr sich durch das dünne Haar. "Das Holz ruft uns. Das Holz weiß, was es will, wir sind nur die Diener." Er sah ihren fragenden Blick und setzte eilig seine Mütze wieder auf. "Für einen Zauberstabmacher, macht das alles perfekt Sinn." Höflich nickte sie, hatte aber eher das Verlangen den Stab noch einmal zu berühren und die Wärme zu spüren.
 

"Meine Tochter kam also eines Tages mit diesem Zweig. Ein guter Zweig, keine Frage, aber sie konnte ihn nicht behandeln, verstehen Sie?" Wieder nickte Tess, verstand aber nur Toast. "Ich werde jedoch nie vergessen, was sie zu mir gesagt hat: Vater, sagte Sie, auch Magie sucht sich den Zauberer aus, wieso gibt es sonst Genies in einem bestimmten Gebiet? Dem einen fällt zaubern leicht, dem anderen eher schwer, weil sich die Magie anders entschieden hat. Ein Zauberstab wählt also nicht nur den Zauberer, sondern auch die passende Magie, die er lenken soll. Bitte stellen Sie sich meine Sprachlosigkeit vor solche Worte aus dem Mund einer Zehnjährigen zu hören." Er schloss den Deckel und schon das Päckchen Richtung Tess.
 

"Versuchen Sie nicht die Logik eines Kindes zu verstehen", schmunzelte er angesichts ihres fragenden Blickes. "Es dürfte jedoch verständlicher sein zu sagen, dass dieser Zauberstab, erschaffen von der Hand eines Kindes, eine erwachsene Frau erwählt hat. Das ist, wenn sie die Wiederholung erlauben, äußerst kurios."
 

Innerlich versuchte Tess die letzten Minuten zu verarbeiten. Ollivander hatte es tatsächlich geschafft einen Zauberstab zu finden, der sie wählte. Er war krumm, zu dünn, farblos und seltsam verziert, doch es war ihr Stab. Den sie nie benutzen könnte, geschweige denn kaufen könnte. Wo kurz zuvor noch Wärme ihren Körper einhüllte, kroch ihr nun Kälte in alle Glieder.
 

"Mr Ollivander, ich weiß nicht, was ich sagen soll."
 

"Ein Danke ist nicht angebracht."
 

"Nein, also, doch, natürlich vielen Dank aber", erneut brach ihre Stimme und ihre Frustration ließ Tränen "Ich habe nicht, gar nichts. Ich kann Sie für ihre Mühe nicht bezahlen, und schon gar nicht den Stab!" Sie fühlte sich elend dabei ihn ausgenutzt zu haben. Ollivander war ein guter Mensch, der zahlende Kundschaft verdient hatte.
 

"Glauben Sie wirklich, ich verlange Geld für diesen Stab? Er ist hässlich, einfach und ohne Stil", erwiderte er sachlich, was Tess nur verblüfft zurück ließ.
 

"Der Stab ist von ihrer Tochter", presste sie hervor, doch Ollivander zuckte nur mit den Schultern.
 

"Er ist abscheulich. Und ich muss zugeben, ich fürchte er wird nicht zuverlässig arbeiten."
 

Tess legte fragend ihren Kopf schief. "Wie meinen sie das?"
 

"Nun, er wurde nicht von einem Meister erschaffen. Wie ich sagte, er ist sehr grob in jeder Hinsicht. Es ist fraglich, wie gut er letztendlich funktioniert." Er fuhr sich mit den Fingern über das Kinn und wirkte regelrecht besorgt, während Tess erneut beinahe laut losgelacht hätte. Der Stab, egal wie gut, hätte sowieso nicht funktioniert! Ihre Gesichtszüge wurden weicher, als sie aufstand und etwas tat, was gegen jede Etikette verstieß; sie umarmte den hageren Mann.
 

Dieser stand perplex von der plötzlichen Zuwendung starr da und wartete ab.
 

"Er ist perfekt so wie er ist, Mr Ollivander. Wie sagen sie so schön: der Zauberstab sucht sich seinen ... nunja ... Meister." Das Wort Zauberer wollte ihr dann doch nicht über die Lippen. Mit einem Schritt zurück erlöste sie den armen Ollivander, der nun peinlich berührt seine Mütze abnahm und sie in seiner Hand knetete.
 

"In der Tat, ja", er räusperte sich, "ich packe Ihnen den Stab ein, wenn Sie möchten." Eilig machte er sich daran die schlichte Kiste mit einigen Schleifen zu verzieren. Tess beobachtete ihn, war jedoch noch immer unschlüssig den Stab einfach so anzunehmen. Sie wollte es, oh wie sehr sie es wollte. Ihr erschien es jedoch nicht richtig.
 

"Oh, bevor Sie gehen gestatten Sie mir eine Frage", sagte er, als er ihr den eingepackten Stab zuschob. "Woher wissen Sie von meinem Motto?"

Kapitel 5 - ... und durch

Tess rutschte das Herz Richtung Boden, als ihr Ollivander, den Oberkörper auf beiden Armen gegen den Tresen gestützt, einen eindringlichen Blick zu warf.
 

"Motto? Welches Motto?" Sie schluckte schwer und hoffte die Situation entschärfen zu können, bevor sie in die falsche Richtung eskalierte.
 

"Der Zauberstab sucht sich seinen Meister", wiederholte er mit sanfter Stimme sein Credo, durch das Tess kurz davor stand aufzufliegen. "Das sage ich oft, keinen Zweifel. Und wie der Zufall es will habe ich genau diesen Satz vor kurzer Zeit gesagt. Zu dem jungen Harry Potter, für den Sie ebenfalls ein reges Interesse zeigten?" Er sprach vollkommen sachlich, doch die leichte Erhöhung am Ende seines Satzes machte deutlich, dass er eine Erklärung verlangte. Doch eine Erklärung war etwas, das Tess ihm schlecht geben konnte. Sie setzte ein Lächeln auf und wich seinem Blick aus.
 

"Wer zeigt kein Interesse an Harry Potter?" Ihre Gegenfrage schien nicht genug zu sein, um Ollivander vom Thema abzubringen. Seine Augen verengten sich, doch er schwieg. In dieser peinlichen Stille wagte es Tess nicht zu reden, ja noch nicht einmal laut zu atmen.
 

"Miss Harris. Ich lebe lange genug um zu erkennen, wenn ich jemanden vor mir habe, der etwas verheimlicht. Und ich lebe lange genug um zu wissen, dass man diese Leute nicht allzu sehr mit Fragen bedrängen sollte." Er stieß sich mit einem tiefen Seufzer vom Tisch ab und legte die Hände hinter den gestreckten Rücken. "Dennoch komme ich nicht umhin ... verwundert zu sein angesichts ihrer", er neigte den Kopf leicht nach unten, "Erscheinung und ihrer mehr als fragwürdigen und spärlichen Geschichte."
 

Mit jedem seiner Worte wurde Tess Miene ernster. Sie wusste es. Ihre Geschichte war zu nichts zu gebrauchen gewesen. Seufzend schloss sie die Augen, denn sie wusste auch, wenn eine Schlacht verloren war. "Ich versichere Ihnen, ich habe keine bösen Absichten." Keine Absichten, die sie in dieser Zeit und in dieser Welt womöglich mit Todessern in Verbindung brachten.
 

"Mag sein, dennoch frage ich mich, was sie hier suchen." Um Tess drehte sich alles. Die Hand an der Schläfe verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse und lachte.
 

"Das weiß ich selbst nicht genau." Ollivander hob fragend die Stirn. "Ich kann nicht zurück, zumindest wüsste ich nicht wie." Sie wusste ja nicht einmal, wie sie hier gelandet war. Zugegeben, wirklich Gedanken hatte sie nicht über ihre Heimreise gemachte, aber ...
 

"Ich glaube, ich will auch gar nicht weg", formulierte sie ihre Gedanken. Mit einem Ruck fixierte sie Ollivander und sprach mit fester Stimme weiter, wenn sich auch Kopfschmerzen bildeten. "Mein ganzes Leben über wollte ich hier sein. Jetzt bin ich es. Vielleicht sollte ich einfach neu anfangen."
 

Neu anzufangen war sowieso ihr Plan gewesen. Die Startbedingungen hier waren ein wenig schlechter, so ganz ohne Geld in der Tasche und mit nichts als den Sachen an ihrem Leib. Bedachte man aber den Ort und die Welt, so ergaben sich ganz neue Möglichkeiten.
 

"Die Wahrheit ist, ich bin einem Muggel wahrscheinlich ähnlicher, als jeder Hexe oder Zauberer in England. Aber ich weiß Dinge."
 

"Wie zum Beispiel, dass der junge Harry Potter heute hier war?"
 

"Zum Beispiel, ja", erwiderte sie nickend und zeigte auf den Stab. "Oder, dass Sie die besten Zauberstäbe herstellen."
 

"Sie sind also zufällig hier und wissen Dinge?" Ollivander hatte geduldig ihrem Vortrag gelauscht und hatte nun noch einmal den Kern ihrer Aussage zusammengefast. Aus seinem Mund klang es jedoch irgendwie merkwürdiger, als sie sich das Sekunden vorher in ihrem Kopf ausgemalt hatte. Wobei Tess zugestehen musste, dass momentan alles merkwürdig war.
 

"Wenn Sie wollen könnte man sagen, dass ich eine mittellose Wissende bin auf der Suche nach meinem Platz in der Welt." Geschlagen hab sie die Arme von sich und ließ sie sofort wieder fallen. Ollivander nickte.
 

"Der Stab könnte Ihnen womöglich helfen. Er hat sie schließlich erwählt." Tess glaubte ein Blitzen in seinen Augen zu sehen, doch ihre Gedanken schweiften schnell zu einer anderen Frage.
 

"Was genau ist es eigentlich für ein Stab, also aus was besteht er, Kern, und so", stammelte sie verlegen. Sie hoffte mit dieser Frage ein wenig von ihrer Person ablenken zu können. Mit Erfolg.
 

"Ja richtig, das hatte ich ja gar nicht erwähnt, wie nachlässig. Weißdorn mit einem Kern aus Einhornhaar, 11 Zoll", rezitierte er mit geübter Stimme.
 

"Weißdorn und Einhornhaar", wiederholte Tess ehrfürchtig und grinste schief.
 

"Nun, ich habe gewiss nicht ihr Talent Dinge zu sehen." Tess Wangen liefen leicht rosa an. "Doch ich denke, dass dieser Stab tatsächlich für jemanden gedacht war, der sucht. Eine kindliche Seele, womöglich."
 

Seine Erläuterung erinnerte sie ein wenig an die seltsamen Interpretationen der verschiedenen Zauberstabhölzer, nach denen man je nach Holz besonders abenteuerlustig sein sollte oder dazu bestimmt in der Politik zu arbeiten. Vielleicht bedeutet Weißdorn ja in ihrem Fall auch arm wie eine Kirchenmaus zu sein.
 

"Mr Ollivander, mir ist nicht wohl bei dem Gedanken Ihnen kein Geld geben zu können. Erlauben Sie mir wenigstens für Sie zu arbeiten."
 

"Ich brauche aber keine Angestellte. Ich hatte noch nie eine Angestellte, wieso auch? Ich bediene immer nur einen Kunden gleichzeitig", sagte er mit einem Schwenker Richtung geschlossener Tür.
 

"Ich könnte putzen, Tee machen, kochen, was Sie wollen", drängte Tess. Ollivander kratze sich an seinem Bartstubbeln.
 

"Der Stab ist wirklich nicht viel wert, es ist nicht nötig, da-"
 

"Bitte, meinem Gewissen zuliebe."
 

Ollivander seufzte und gab sich geschlagen. "In Ordnung. Aber viel wird es nicht zu tun geben." Tess jubelte innerlich über ihren ersten kleinen Erfolg, wenn man von ihrer Klettertour von heute Mittag absah.
 

"Danke, Mr Ollivander", brachte sie erleichtert heraus und hielt sich zurück, ihn nicht noch ein zweites Mal innerhalb kürzester Zeit zu umarmen. Angestellte bei Mr Ollivander persönlich zu sein, das war doch was!
 

"Sie werden aber nicht in dieser Erscheinung hier arbeiten", sagte er, als er sich abwandte. "Gehen Sie zu Madam Malkin und kleiden Sie sich richtig ein. Sagen Sie ihr, sie soll die Rechnung an mich schicken. Das können Sie dann gleich mit abarbeiten", setzte er schnell nach, als Tess bereits wieder protestieren wollte, um sie zu besänftigen.
 

"Ich nehme an, sie wissen, wo Madam Malkins ist?", fragte er zynisch. "Immerhin wissen Sie Dinge." Tess neigte sich ein wenig nach unten, um ein Grinsen zu verbergen, drehte sich um, wurde jedoch noch einmal zurück gerufen.

"Vergessen Sie ihren Stab nicht." Tess Augen leuchteten, als sie nach der eingepackten Schachtel griff und den Laden durch die Tür verließ, die sich nun widerstandslos öffnen ließ.
 

Die Sonne stand bereits sehr tief, doch auf der Straße war noch immer reges Treiben. Mit dem Stab in der Hand fühlte sich Tess wie ein ungestümes Kind mit dem Wunsch zu jubeln, zu hüpfen und jeden zu umarmen, der ihr begegnete. Selbst wenn das bedeutete, jeden einzelnen auf der Straße um den Hals zu fallen. Ein wenig an die steinerne Wand des Laden gedrückt ballte sie freudig die Hände und unterdrückte einen lauten Schrei. Ihre Nägel stachen dabei unangenehm in ihre Haut, was für Tess jedoch nur ein weiterer Beweis war, dass sie noch immer bei vollem Bewusstsein war. Fasziniert glitt ihr Blick nach oben zum blauen Himmel, der ihr nun noch heller und strahlender vorkam, und weiter zum weißen Gebäude Gringotts. Alles erschien ihr plötzlich anders. Selbst das Marmorgebäude begeisterte sie, sodass sie sich fragte, wie sie vor Kurzem nur müde Zucken konnte, als sie das Gebäude sah.
 

Mit neuer Energie stieß sie sich ab, packte den Stab aus, den Ollivander vor gerade einmal ein paar Minuten mühsam verschönert hatte und wiegte ihn in der Hand. Er war wirklich grob und nicht sehr ansehnlich. Doch es war ihrer!
 

Kaum hatte sie das Holz in Händen, durchströmte sie wieder diese angenehme Wärme, die scheinbar auch die Stiche ihrer kleinen Wunden zu lindern schien. Die Schachtel unterm Arm und den Stab locker in den Fingern hängend, schlenderte sie die Straße zurück zu Madam Malkins, wobei sie sich anstrengen musste nicht bei jedem zweiten Schritt zu hüpfen. Du bist 25, benimm dich auch so, ermahnte sie sich in Gedanken.
 

Sie konnte sich irren, doch ihr kam es so vor, als würden die Leute weniger starren, weil sie nun ein Zauberstab neben sich trug. Man konnte also wirklich herumlaufen, wie man wollte, Hauptsache irgendwo hatte man einen Zauberstab, vermerkte sie innerlich.
 

Madam Malkins hatte sie schnell wieder gefunden, in deren Schaufenster sich die Puppe noch weiterhin in verschiedenen Posen drapierte. Statt nur davor zu stehen, ging sie mit sicherem Schritt hinein. Auch hier begleitete ein Klingeln ihr Eintreten, wobei dieses Klingeln ein wenig höher war, als das von Ollivanders.
 

Innen trat sie sofort auf weichen Teppichboden, ein harter Kontrast zum Zauberstabladen und dessen staubigem Holzboden. Dicht an dicht tummelten sich die buntesten Gewänder auf verschiedenen Ablagen. Im Gegensatz zu Ollivanders war hier alles heller, freundlicher und einladender. Auch wuselten hier mehrere Angestellte herum, die verschiedene Gewänder oder auch Stoffbahnen herum trugen.
 

"Ja bitte?", rief eine stämmige Hexe von der Seite.
 

"Guten Abend, ich möchte gerne ein paar Arbeitskleider. Komplett", sie zeigte an sich herunter. "Wie Sie sehen, habe ich das dringend nötig." Die Hexe im malvenfarbigen Outfit lächelte routiniert und führte sie weiter nach hinten in einen abgetrennten Bereich. Mit einer Handbewegung bat sie Tess sich auf den Schemel zu stellen, der bereits eine tiefe, von tausenden Kunden eingetretene, Delle in der Mitte hatte. Ihren Stab samt Kiste legte sie vorher daneben.
 

"Arbeitskleider? Welcher Art?", fragte sie, während sie ihre Maße nahm. Tess, für die es bereits das zweite Mal an diesem Tag war, streckte artig ihre Arme aus. Die Hexe beschwörte Maßband, Pergament und Stift, die sofort die jeweiligen Zahlen niederschrieben.
 

"Hilfskraft, bei Ollivander." Die Hexe hielt inne.
 

"Bei Garrick? Der alte Kerl hatte noch nie eine Angestellte", sie trat ein wenig zurück und betrachtete sie prüfend. Tess sah, wie ihr Ausdruck neugierig wurde. Zeit einzuschreiten.
 

"Ich habe mir einen neuen Stab gekauft, wie sie sehen", sie deutete auf den Boden neben sich, "habe aber leider nicht die Mittel ihn zu bezahlen, daher hat er mir angeboten es abzuarbeiten." Ihre Worte verunsicherten die Hexe nur noch mehr. Schnell hob Tess die Hände. "Oh, er übernimmt auch die Rechnung hier. Daher würde ich Sie bitten nur etwas Schlichtes auszusuchen. Etwas Einfaches und Billiges, wenn möglich." Die Hexe schien nicht überzeugt, verabschiedete sich jedoch mit einem Nicken, nachdem sie Tess gebeten hatte kurz zu warten und sich schon mal zu entkleiden.
 

Als sie so dastand, konnte sie nicht anders als über den Gesichtsausdruck der Hexe zu kichern, die vermutlich hinter dem Vorhang die neuste Klatschgeschichte verbreitete, dass Ollivander eine junge Angestellte hatte. Sollte sie nur.
 

Stück für Stück schälte sie sich aus ihren Klamotten, bis sie nur noch in Unterwäsche und fröstelnd da stand. Es gab keine Spiegel, sondern nur ebenfalls mit Teppich gepolsterte Wände. So konnte sie nichts tun, als wippend auf dem Schemel zu stehen und zu warten, bis die Hexe wieder erschien.
 

Nach einer Weile hörte sie schließlich ihre Stimme. "Ich komme rein." Der Vorhang glitt ein wenig zur Seite und die stämmige Hexe erschien; mit einem Berg an Gewändern.
 

"Ich habe hier eine kleine Auswahl für Sie. Probieren Sie, was Ihnen gefällt." Geniert so entblößt vor einer Fremden zu stehen, bedeckte sich Tess so gut es ging. Die Hexe war höflich genug ihren Blick zu senken und sich zurück zu ziehen, sodass Tess sich den Berg an Kleidung näher anschauen konnte. Geschockt musste sie feststellen, dass sie genau das waren: Kleider.
 

Tess war noch nie von Kleidern begeistert gewesen, oder von Röcken. Kritisch hob sie eines der Modelle hoch. Ein schlichtes olivfarbenes Kleid mit hohem Ausschnitt und langen Ärmeln. Der Rest sah ähnlich aus, mit einigen wenigen Verzierungen hier und da. Glücklicherweise gab es nirgends Rüschen.
 

Neben den Kleidern gab es auch verschiedene Strumpfhosen und Umhänge, für die sich Tess weitaus mehr interessierte. Sogar Schuhe fand sie unter dem Stapel. Schlichte, niedrige schwarze Schuhe zum Schnüren.
 

Seufzend griff sie nach einer dunklen Strumpfhose und probierte sich durch einige der Exemplare, die ihr alle auf Anhieb passten. Die Hexe hatte wahrlich gute Arbeit gemacht ihre Maße aufzunehmen. Ein Kanariengelbes und Rotes mit weit ausgestelltem Ausschnitt rührte sie jedoch nicht an. Sie konzentrierte sich auf die dunkleren Farben.
 

Letztendlich entschied sie sich für das Olivfarbene, das weich auf der Haut lag, ein paar Strumpfhosen, einem Pack Unterwäsche, das sie nicht probiert hatte – wird schon passen – und einer zweiten Garnitur aus einem ähnlichen, aquamarinem Kleid mit etwas kürzeren Ärmeln. Zu beiden passten die Schnürschuhe und der schwarze mit kleinen, silbernen Sternen bestickte Umhang.
 

"Haben Sie etwas gefunden?", hörte sie erneut die Stimme der Hexe.
 

"Ja, ich würde das hier gerne gleich anlassen." Die Hexe trat ein und begutachtete die Auswahl.
 

"Sehr nett sehen Sie aus." Sie schwang ihre Hand und die mit Teppich bezogene Wand schwang beiseite, um kurz darauf einen Spiegel freizugeben.
 

Zum ersten Mal sah sich Tess in ihren neuen Kleidern. Ihr eigener Anblick erschien ihr fremd, was nicht zuletzt an dem luftigen Unterteil lag, das ihr knapp bis an die Knie ging. Ihre offenen, schwarzen Haare fielen über den Umhang sodass es aussah, als ob ihre eigenen Haare sie einhüllten. Verlegen griff sie nach einer Strähne.
 

In kurzen Bewegungen drehte sie sich, sodass der Unterrock des Kleides ein wenig flog. Damit konnte man arbeiten.
 

"Ich packe Ihnen den Rest mit Ihren Kleidern ein." Die Hexe bückte sich nach Tess' kurzer Jeans und ihrem mittlerweile verschwitzem Top, wurde jedoch von Tess unterbrochen.
 

"Nein", sagte Tess, während sie sich noch immer im Spiegel betrachtete, "die alten Kleider brauch ich nicht mehr."
 

Die Hexe nickte und verschwand mit Tess' restlicher Ausbeute. Sie selbst stieg vom Schemel und griff nach ihrem Stab, während sie ihre alten Kleider auf dem Boden ignorierte. Ohne sich umzuschauen verließ sie die Umkleide und atmete den Duft eines neuen Lebens ein.

Kapitel 6 - Unerwarteter Fortschritt

Eine Woche war es nun her, dass Tess im Tropfenden Kessel aufgewacht war. Mr Ollivander hatte recht behalten, es gab nicht viel zu tun, denn man konnte nur sooft den Boden fegen und putzen. Zusätzlich zu ihrer Arbeit bei Ollivander hatte sie sich auch um ihre Wohnlage gekümmert. Noch am selben Abend am Tag ihres Erscheinens war sie zu Tom, dem Wirt, gegangen und hatte ihn um denselben Gefallen gebeten, wie Ollivander.
 

Mit den nun weniger auffallenden Klamotten war Tom weitaus geneigter gewesen sich anzuhören, was sie zu sagen hatte. Sie brauchte einen Ort, wo sie vorerst schlafen konnte, doch Ollivander wollte sie damit nicht auch noch belästigen. Also war sie zu Tom gegangen - durch die Mauer, denn wie sich herausstellte, funktionierte der Torbogen mit Zauberstab plötzlich einwandfrei - und hatte ihn gebeten ihr ein Zimmer zu geben. Dafür würde sie ihm abends und nachts am Tresen aushelfen. Sie hatte bereits Erfahrung als Kellnerin gesammelt, als sie sich während ihrer Schulzeit eine Reise nach Asien finanzieren wollte.
 

Besonders Madam Margaret schien begeistert, da sie sich Unterstützung zu den Stoßzeiten im Pub wünschte. Tom hatte dem Druck der zwei Frauen nachgegeben und sich einverstanden erklärt ihr das Zimmer gegen Arbeit zu überlassen.
 

Nun arbeitete sie tagsüber bei Ollivander und nachts einige Stunden bei Tom als Kellnerin. Madam Margaret war so freundlich gewesen ihr Arbeitskleidung zu leihen, da sie selbst nur die zwei Garnituren besaß, die sie sich für ihre Arbeit bei Ollivander aufsparen wollte. Die Kleider waren ihr viel zu groß, besonders um das Dekolleté. Mit einem gezielten Anpassungszauber von Madam Margaret hatte sich jedoch auch dieses Problem schnell gelöst.
 

Die ersten Tage hatte sie gut wegstecken können, denn die Euphorie gab ihr genug Kraft die Nächte durchzuhalten. Doch nach vier Tagen merkte sie, dass die vielen Schichten an ihr zehrten.
 

Sie bekam nur wenige Stunden Schlaf, sodass sie nicht selten in ruhigen Mittagsstunden mit dem Besen in der Hand stehend einschlief, um kurze Zeit später von der Klingel und einem eintretenden Kunden geweckt zu werden. So kurz vor neuem Schulbeginn waren die meisten Kunden junge Schüler. Sobald die Klingel ertönte zog sie sich für gewöhnlich zurück und ließ Ollivander seine Arbeit machen. Außerdem fühlte sie sich noch nicht bereit ein Gesicht aus der Schule zu sehen. Womöglich traf sie Lavender, die ihr 20. Lebensjahr nicht erleben würde, oder eine Slytherin-Familie von der sie wusste, dass sie in wenigen Jahren morden würde. Sie wüsste nicht, wie sie reagieren würde.
 

Sie begnügte sich dann damit die Päckchen abzustauben, Tee zu kochen und abzuwarten. Ollivander selbst war ein angenehmer Chef. Meistens ordnete er still und in sich gekehrt seinen Bestand. Abends zog er sich nach hinten in seine Arbeitsstube zurück, die Tess für gewöhnlich mied. Seine Stube war in den Boden eingelassen und über eine schmale Wendeltreppe zu erreichen.
 

An ruhigen Tagen arbeitete er stundenlang im Keller, von wo der feine Holzstaub nach oben stob. In diesen Momenten hatte sich Tess nicht mehr gewundert, wieso es so staubig war. Anfang hatte sie sofort mit einem nassen Lappen über den Boden geputzt, was jedoch in einer riesigen Schmiererei endete. Nun konzentrierte sie sich eher darauf ihm etwas zu essen zu machen. Dazu hatte er, verborgen vor den Blicken seiner Kundschaft, eine kleine Kochnische, die dem Alter und dem Aussehen nach zu urteilen nie für mehr als heißes Wasser genutzt worden war. Der Gasherd war zunächst ein Problem gewesen, denn so etwas hatte sie noch nie bedienen müssen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten und ein paar Brandblasen hatte sie schließlich eine Suppe zustande gebracht.
 

Während Ollivander im Keller seines Ladens verschwand, hatte Tess also sehr viel freie Zeit sich mit absolut gar Nichts zu beschäftigen. Nun eine Woche später erschien ihr selbst die Winkelgasse langweilig und sie hätte sogar die Straße für ein paar Stunden Schlaf eingetauscht. Naja nicht die Straße, vielleicht das Eiscafé oder der Blumenladen.
 

Die Zaubererwelt war Alltag geworden und das sehr viel schneller, als Tess das je geglaubt hatte. Allerdings war ihr auch klar, dass sie noch lange nicht alles gesehen hatte. In ihren Tagen hier hatte sie kleine Beschwörungen beobachtet, als jemand einen Vogelschwarm hergerufen hatte. Sie hatte gesehen, wie jemand seinen kompletten Haushalt hinter sich schweben ließ. Sie hatte gesehen, wie jemand sich zur Belustigung der Passanten einen Schnabel und Hundeohren hat wachsen lassen.
 

Doch andere, größere Magie bekam sie hier nicht vor Augen geführt, geschweige denn etwas Anderes zu sehen, als die paar hundert Meter Einkaufsstraße. An der Abzweigung zur Nokturngasse stand sie bereits an ihrem zweiten Tag, doch ohne Magie fühlte sie sich zu schutzlos um dort entlang zu gehen, selbst am helllichten Tag. Das Schicksal sollte man nicht herausfordern.
 

Schutzlos fühlte sie sich hier zwar nicht, doch sie ertappte sich immer wieder mit ihrem Stab in der Hand und wie sie ihn hoffnungsvoll schwang. In der Theorie war alles einfach, der Zauberspruch war leicht zu sprechen, doch die Handhabung war weitaus schwieriger, als sie sich vorgestellt hatte. Allein den Stab gerade und ruhig zu halten, stellte sich als knifflig heraus. Nicht, dass sie erwartet hätte, dass wirklich etwas passierte. Sie schwang ihren Stab, versuchte das, was sie kannte, doch im Endeffekt war es nur ein Stück Holz in ihren Händen.
 

Mehr als einmal ließ sie sich frustriert auf den einsamen Stuhl im Laden falle um kurz darauf verärgert an ihrem Kleid zu ziehen. Die Dinger saßen nie da, wo sie sitzen sollten, was ein Grund war, weshalb sie bisher nie Wert darauf gelegt hatte so etwas zu tragen. Mit Recht, wie sie nun jeden Tag feststellte.
 

Seufzend schmiss sie ihren wertvollen Stab auf den Tresen, der kullernd zum Stillstand kam, und legte ihren Kopf daneben ab. Das kalte Holz fühlte sich angenehm an ihrer Stirn an.
 

"Ein nutzloser Stab in den Händen eines einfältigen Muggel", nuschelte sie ins Möbel hinein, bevor sie das Klingeln der Tür hörte. Erschrocken schoss ihr Kopf nach oben.
 

"Nun geh schon, Junge", hörte sie eine strenge Stimme, die zu einer noch strenger wirkenden Dame gehörte. Eilig schnappte sich Tess ihren Stab und stand auf.
 

"Willkommen."
 

Die alte Dame schob einen pummeligen Jungen vor sich her in den Laden. Dieser schaute schüchtern nach unten und fummelte an seinem engen Hemd herum. Seine Haare waren fein säuberlich auf die Seite gekämmt. Tess erinnerte der Junge eher an einen Konfirmaten, hätte er zusätzlich noch ein Krawatte getragen. Die Dame war ebenso elegant gekleidet, sah man von dem seltsamen Hut mit riesigen Bommeln ab, der so gar nicht zu ihrem rosefarbenen Anzug passen wollte. Tess wand ihre Augen ab und wartete, bis die zwei an den Tresen getreten waren.
 

"Wir hätten eine Frage an Mr Ollivander, Mrs – ehm?"
 

"Harris, Ma'am. Mr Ollivander ist sicherlich gleich für Sie da. Möchten Sie einen Tee?"
 

Die Dame stellte eine leuchtend rote Handtasche ab und Tess realisierte geschockt, wen sie vor sich hatte. Mit riesigen Augen drehte sie sich zu dem Jungen, der sich hinter seiner schlanken Großmutter versteckte.
 

"Nein, wir wollen nicht lang bleiben", winkte sie ab. "Ollivander?", rief sie an Tess vorbei, die bemerkte, dass sie nicht erwünscht war. Mit einem aufmunternden Lächeln zu dem pausbäckigen Neville zog sie sich zurück.
 

In dem Moment erschien Ollivander. "Augusta, meine Liebe. Und das muss der junge Mr Longbottom sein?" Ollivander bot Neville seine Hand an, doch Neville griff erst auf Mrs Longbottoms Drängen danach.
 

"Ollivander, wir sind hier um zu fragen, ob dieser Stab funktioniert." Augusta kramte aus ihrer Handtasche ein dunkles Etwas und legte es in Ollivanders Hände. Dieser studierte das Holz, wiegte es und bog es sanft.
 

"Mh, biegsam, 13 Zoll, Drachenherzfaser, Erle." Er nickte ihr zu. "Das war Frank Longbottoms Stab."
 

"Ich weiß, wem er gehört", gab Mrs Longbottom trocken zurück. "Ich will wissen, ob er funktioniert."
 

"Natürlich, er ist noch immer in passablem Zustand." Vorsichtig legte er den Stab auf den Tresen.
 

"Neville, nimm ihn in die Hand", befahl Mrs Longbottom, woraufhin Neville gehorchte. Tess wartete, doch alles blieb still.
 

"Sehen Sie? Es passiert nichts." Ollivander versank in Gedanken, während Neville den Stab wild schwang. Augusta legte ihm eine Hand auf die Schulter und sofort hörte er auf.
 

"So wie ich das sehe ist der Stab nicht für den Jungen geeignet." Er zeigte auf einen Stapel rechts an der Wand. "Vielleicht, wenn ich einen anderen Stab vorschlagen dür–"
 

"Nein", unterbrach ihn Augusta barsch. "Er wird diesen Stab nutzen. Solange mit dem Stab alles in Ordnung ist, wird es schon gehen."
 

Sie riss Neville den Stab seines Vaters aus der Hand und verpackte ihn wieder in ihrer Handtasche. Ollivander beobachtete alles still.
 

"Mehr wollten wir gar nicht wissen. Einen guten Tag noch, Ollivander", sie wandte sich zum Gehen. "Sag Auf Widersehen, Neville."
 

"A-auf Wiedersehen", flüsterte Neville, der nun seine ersten Worte gesagt hatte. Ollivander nickte ihm zu. Auch zu Tess winkte er zu Abschluss, obwohl seine Großmutter der jungen Frau keines Blickes mehr gewürdigt hatte. Tess winkte lächelnd zurück und schaute zu, wie sich die Tür hinter ihnen schloss.
 

"Wirklich ein Jammer", hörte sie Ollivander sagen.
 

"Der Stab wird nicht funktionieren." Es war nicht als Frage von ihr formuliert worden.
 

Ollivander kicherte vergnügt. "Gehört das zu den Dingen, die Sie wissen?" Verlegen vergrub Tess ihre Hände im Unterrock.
 

"Das war auch so ziemlich offensichtlich."
 

Ollivander nickte. "Augusta hat recht, der Stab wird es schon tun. Er wird sich sträuben, aber der Junge wird damit klar kommen, wenn er nur möchte."
 

"Aber Sie sagten doch selbst, ein anderer wäre vermutlich weitaus geeigneter."
 

"Wäre er auch, aber er wird damit zaubern können." Tess spürte, wie ihre Emotionen hochkochten. Sie erinnerte sich an all die Schmach die er erdulden würde, nur weil er den falschen Stab hatte. Sie riss ihren Arm nach oben und zeigte auf die Tür, wo die beiden eben verschwunden waren.
 

"Er wird sich quälen und an sich selbst zweifeln, weshalb er so schlecht ist." Ollivander schloss die Augen und ermahnte sie sich zurück zu halten.
 

"Darauf können weder Sie noch ich Einfluss nehmen. Der Stab wird es ihm schwer machen, daran besteht kein Zweifel."
 

"Aber?", harkte Tess nach, die das Gefühl hatte, dass noch etwas folgen musste.
 

"Aber der Junge hat es selbst in der Hand", Ollivander gluckste vergnügt, "buchstäblich. Der Stab spürt seinen Zweifel und selbst wenn der Zauber funktionieren sollte, so tut er es nicht, weil der Junge nicht an sich glaubt. Ein Zauberstab muss sich erst an den Zauberer binden."
 

Ollivander schritt nun durch seinen Laden und griff nach einer scheinbar wahllosen Verpackung. "Jeder Zauberstab hat seinen eigenen Kopf. Manche fügen sich sofort. Bei anderen muss man sich ihr Vertrauen erst verdienen. Das ist keine Frage des Könnens", erneut funkelte es in seinen Augen, als er nun direkt zu Tess schaute, "sondern eine Frage des Willens."
 

Tess schluckte schwer und griff stärker um ihren Stab, den sie verborgen vor den Blicken anderer hinter sich hielt. "Ein anderer Stab wäre geeigneter, weil er sich schneller für ihn fügen würde", schloss Tess beschämt.
 

"Korrekt." Ollivander legte das Päckchen in seinen Händen zurück und machte sich auf den Weg zurück in seinen Arbeitskeller. "Der Junge wird es schon schaffen", hörte sie ihn noch sagen, bevor er völlig verschwand.
 

Allein mit ihren Gedanken stand Tess nun neben Regalen voll mit unzähligen magischen Objekten; das eigene in Händen. Sie hob ihn nach oben und studierte ihn, wie sie in bereits die letzten Tage studiert hatte. Äußerlich hatte er sich nicht verändert, für Tess war er jedoch nun zu etwas anderem geworden. Er war ein Freund, den sie sich verdienen musste.
 

"OK, ich gebe zu, wir hatten einen schlechten Start", begann sie und kam nicht umhin sich ein wenig lächerlich zu fühlen. "Wenn ich ehrlich bin, weiß ich noch nicht einmal wieso du dich für mich entschieden hast. Doch weshalb auch immer, ich", sie atmete tief ein und wiegte den Stab in der offenen Hand, "ich möchte dir von ganzem Herzen dafür danken." Ihr fiel ein, wie sie ihn eben noch frustriert auf den Tresen geschmissen hatte. "Und ich möchte mich entschuldigen dich so unsanft behandelt zu haben. Es ist nicht deine Schuld, dass der Zauber nicht funktioniert, sondern meine." Sie legte ihre zweite Hand auf das Holz und umschloss es. "Das weiß ich jetzt."
 

Wie am ersten Tag durchfloss sie eine wohlige Wärme, die sich in ihren Handflächen zu sammeln schien. Plötzlich ertönte ein Zischen, woraufhin Tess erschrocken nach der Kochnische schaute. Doch der Gasherd war aus und bot keine Gefahr. Stattdessen bemerkte sie ein seltsames Licht, dass aus ihren Händen zu kommen schien. Ungläubig öffnete sie ihre zweite Hand und gab den Blick auf den Stab frei, aus dessen Spitze feiner Sprühregen aus goldenen Funken stob. Zischend flogen sie in alle Richtungen und segelten mit schwachem Licht Richtung Boden, wo sie vergingen.
 

Völlig perplex und mit pochendem Herzen schwang sie ihren Stab, der ein Nachbild dessen formte, was Tess in die Luft schrieb: M-A-G-I-E
 

Mit weit ausholender Geste unterstrich sie das Wort, das bereits zu verblassen begann. "Ich hab gezaubert", lachte sie hysterisch ohne still stehen zu können. "Ich habe wirklich gezaubert!" Laut lachend sprang sie in dem kargen Lädchen umher und wirbelte den noch immer Funken sprühenden Stab umher. Irgendwann blieb sie atemlos stehen und lehnte sich vorsichtig gegen eines der hohen Regale. Langsam verblasste das Licht des Stabes, den Tess nun sanft an ihre Lippen führte und küsste.
 

"Danke", hauchte sie, ehe sie sich nach unten rutschen ließ und auf dem Boden wieder zu Atem kam.

Kapitel 7 - Scherben bringen Glück

Die restlichen Stunden bis zu ihrem Feieraband verbrachte sie damit ihre neu entdeckte Magie an einfachen Zaubern zu testen. Doch selbst diese einfachen Zauber wollten ihr nur schwer gelingen, selbst mit ihrem erstarkten Willen. Wieso sie überhaupt in der Lage war zu zaubern, hinterfragte sie nicht. Nicht mehr. Ihre Gedanken waren auf das Wie gerichtet und nicht das Wieso.
 

Ihr erster Erfolg war ein simpler Accio gewesen, den sie an der Tee Kanne versucht hatte. Sie hatte sich nicht weit davon aufgestellt um im Zweifelsfall die Kanne fangen zu können, sollte etwas schief gehen. Der Flug verlief mehr als ruckartig und das ein oder andere Mal sackte das Objekt bedrohlich ab. Doch schließlich fand der Krug den Weg in ihre Hände.
 

Die Kanne in der Luft schweben zu sehen, hätte Tess reichen sollen, doch sie wollte ihre Fähigkeiten testen. Die Neugier packte sie und so positionierte sie sich immer wieder neu, Schritt für Schritt weiter nach hinten, sodass die Kanne nun einige Meter überwinden musste.
 

Die ganze Zeit über war Tess wachsam und sprang nach vorne, falls die Kanne zu nahe an den Boden kam, doch dann passierte es. Ein Moment der Unachtsamkeit und die Kanne rutschte ihr durch die Finger, ehe sie scheppernd zu Boden fiel, wo sie in tausend Teile zersprang. Kurz überkam sie Panik, sodass sie wie erstarrt an Ort und Stelle stehen blieb darauf wartend, Ollivanders erboste Stimme zu hören. Doch die Sekunden verstrichen ohne weitere Einwände. Er musste in seinem Keller nichts gehört haben.
 

Mit den Schuhen schob sie einige der Scherben, die in ihre Richtung geflogen sind, umher.
 

"Scheiße", murmelte sie geschlagen, wobei sie verwundert war, dass ihr Versuchsobjekt nicht schon vorher zu Bruch gegangen war. Sie suchte nach etwas, mit dem sie den Ausrutscher beseitigen konnte, bis sie realisierte, dass alles, was sie brauchte, bereits vorhanden war. Schelmisch drehte sie den Zauberstab umher und richtete ihn gen Boden.
 

Sie hatte Ollivander beobachtet, wie er seinen Zauberstab schwang um die Lampe zu reparieren, die von Kunden während der Anprobe mehr als einmal in Trümmern gelegt worden war. Richtig angewendet konnte damit ein komplett verwüstetes Zimmer wieder hergerichtet werden und das alles nur mit konzentrisch kreisenden Bewegungen des Zauberstabs.
 

Sie versuchte so ruhig zu atmen, wie möglich und sammelte jedes Selbstbewusstsein, das sie aufbringen konnte. Der Accio hatte, wenn auch schleppend, funktioniert, ein Reparatur-Zauber konnte wohl kaum schwerer sein.
 

Um sich besser auf den Schaden konzentrieren zu können bückte sie sich und ging vor den Scherben in die Knie, bevor sie ihre ersten Versuche sprach. Den Zauberstab führte sie gleichmäßig im Kreis dicht über den Scherben. Zunächst geschah nichts, bis schließlich einzelne Teile der Kanne zu hüpfen begannen.
 

"Komm schon", flüsterte sie, ehe sie mit fester Stimme weitersprach. "Reparo."
 

Die Bruchstücke hüpften und ordneten sich träge an, ehe sie mit einem leisen Klirren ineinander flogen und sich zur Kanne bildeten. Mit einem Triumphschrei auf den Lippen sprang sie auf und drehte den Stab um ihre Finger. Dabei stieß sie beinahe die Kanne erneut um, sprang im letzten Moment jedoch beiseite.
 

"Na, das wird doch." Erschrocken von der unerwarteten Stimme ihres Chefs fuhr sie herum. Er stand am oberen Ende der Treppe und lehnte sich gegen den Holzrahmen. Sie folgte seinem Blick zur Kanne auf dem Boden, wobei sie die Schmutzrückstände an ihren Knien bemerkte. Eilig klopfte sie ihr Kleid frei von Staub.
 

"Mr Ollivander, es tut mir leid, ich sollte nicht herumalbern." Verlegen nickte sie zu dem Objekt auf dem Boden. "Das wird nie wieder vorkommen, und eigentlich hätten Sie das gar nicht wissen sollen."
 

"Oh, keine Sorge", sagte er mit warmer Stimme und kam nach vorne um die Kanne aufzuheben. Er inspizierte sie, wie er einen seiner Stäbe inspizierte. Immer wieder wendete sich die Kanne in seinen Händen, wurde umgestülpt, zur Seite gelegt und gewiegt. Nervös wartete Tess ab, was er zu ihrer Leistung sagen würde, doch er drehte weiterhin stumm die Kanne.
 

"Einige Risse sind noch am Boden zu erkennen", murmelte er laut genug für Tess zu hören, die das ernüchternde Urteil regungslos annahm. "Und der Henkel ist ein wenig schief, ansonsten aber ein ganz passables Ergebnis." Er füllte Wasser hinein. "Sehen Sie? Dicht." Er strahlte Tess an, deren Brust vor Stolz anschwoll, wenn das fertige Produkt auch nicht ganz perfekt geworden war.
 

"Ich werde daran arbeiten", erwiderte Tess mit schief gelegtem Kopf. "Vorausgesetzt Sie sind einverstanden Ihre Kanne zertrümmert zu sehen." Ollivander gab einen vergnügten Ton von sich, beobachtete Tess jedoch ernst.
 

"Sie müssen ausgebildet werden." Tess Gesicht erstarrte.
 

Diese plötzliche Aussage verblüffte sie mehr, als sie je zeigen könnte. Mit versteinerter Miene zupfte sie an ihrem Kleid und verstaute den Zauberstab.
 

"Ausgebildet werden?", wiederholte sie heiser.
 

"Momentan sind sie Muggeln tatsächlich ähnlicher, aber da ist Potential vorhanden." Er präsentierte den vollen Krug. "Immerhin haben Sie den hier wieder Ganz bekommen." Als ob er seinen Zauberstab schwingen würde holte er aus und warf die Kanne im hohen Bogen durch den Laden. Wie zuvor zerschellte sie auf dem Holz, doch nun verteilte sich auch noch das Wasser in einer riesigen Pfütze. Was ein Kunde wohl denken würde, wenn er nun herein kam?
 

"Reparieren Sie sie", war Ollivanders einzige Bemerkung, bevor er sich mit Händen auf dem Rücken neben sie positionierte. Der plötzliche Druck beim Zaubern beobachtet zu werden, noch dazu von Ollivander, nagte an ihr. Die Situation erinnerte sie an ihre Prüfungszeit in der Schule, wo sie mehr als einmal versagte. Alleine, ohne Publikum, funktionierte alles, sobald jedoch jemand dabei war wollte nichts klappen. Der Stress ließ ihre Hände feucht anlaufen, sodass sie sie an der Seite ihres Kleides abwischen musste, ehe sie nach ihrem Zauberstab griff.
 

Mit wackligen Knien konzentrierte sie sich auf die Scherben, hatte jedoch auch die Kritik von Ollivander im Kopf, nach der die Kanne beim ersten Mal nicht vollständig repariert gewesen war. Bevor sie den Zauberspruch aussprach, machte sie mit ihrem Zauberstab ein paar Trockenübungen und Ollivander ließ sie geduldig gewähren, obwohl er vermutlich durschaute, dass Tess nur Zeit schindete.
 

"R-reparo", sagte sie schließlich, doch die Trümmerteile blieben regungslos liegen. "Reparo", versuchte sie es erneut, mit nur mäßiger Verbesserung. Tess atmete scharf aus.
 

"Ich halte Sie von der Arbeit ab, Mr Ollivander. Bitte, ich mach das hier sauber, Sie müssen nicht -"
 

"Ich sehe keinen Kunde, Sie etwa Miss Harris?", gab er ruhig zurück. "Konzentrieren Sie sich auf die Kanne. Sie haben es schon einmal geschafft. Lassen sie sich von dem Wasser nicht irritieren." Verborgen vor Ollivanders Blicken hob Tess nur unbeeindruckt die Augenbrauen. Das Wasser ist nicht mein Problem, dachte sie, konzentrierte sich aber dennoch auf die Scherben vor ihr, wie Ollivander es ihr gesagt hatte.
 

Es war Zeit, etwas anderes zu probieren. Sie visualisierte sich die Kanne, wie sie einmal ausgesehen hatte. Eine hohe Porzellan-Kanne mit leichter Ausbeulung und feinen Blumenlinien in blauer Farbe. Absolut altmodisch. Der Henkel führte über die gesamte Länge und bog sich weiter unten nach innen ein; ohne Haarrisse, in einem Stück. Einzelne Scherben, die größer waren und auf denen genug Mister zu sehen war, konnte sie sogar zuordnen. Sie wusste wo rein theoretisch die einzelnen Bruchstücke zusammengesetzt waren. Wie ein Puzzel, stellte sie fest. Nur der feine Staub, der mit dem Wasser über den Boden floss, konnte sie nicht zuordnen. Das Bild in ihrem Kopf musste jedoch genügen.
 

Ollivander stand noch immer stumm neben ihr, was sie versuchte auszublenden. "Reparo", sagte sie und ein feiner Lufthauch strömte aus ihrem Stab, der die Scherben in einem durch ihre Bewegungen erzeugtem Wirbel einhüllte, anhob und schließlich zusammenschloss.
 

Ollivander schlug in die Hände. "Ausgezeichnet." Mit großen Schritten holte er die Kanne ein und präsentierte sie Tess. "Das üben Sie nun solange, bis sie die Kanne mit Inhalt reparieren können." Tess bemerkte die große Wasserlache am Boden. Die Kanne war repariert, doch das Wasser war immer noch überall verteilt. Allerdings wusste sie nicht, wie sie Wasser reparieren sollte.
 

"Wie soll das gehen?", fragte sie stirnrunzelnd. "Wie kann ich etwas Flüssiges zusammenfügen?" Sie dachte an ihren Vergleich mit dem Puzzel, mit dem sie es geschafft hatte die Kanne zu einem Ganzen zusammen zu bauen, doch die Scherben waren fest, nicht so Wasser.
 

"Das Wasser müssen Sie nicht reparieren, sondern nur in die Kanne zurück füllen." Wow, das war mehr als unhilfreich.
 

"Danke, Mr Ollivander", entgegnete sie höflich, wobei die Unsicherheit aus ihrer Stimme herauszuhören war.
 

"Üben, Miss Harris, üben." Mit diesen Worten verschwand er wieder im Keller.
 

Tess seufzte und nahm den Porzellan-Krug in die Hand. Er sah aus, wie er immer ausgesehen hatte, wobei sie das Objekt nie genau angesehen hatte. Nicht genug, um mögliche Unregelmäßigkeiten zu erkennen.
 

Mit einem Blick aus dem Fenster bemerkte sie, dass es dämmerte; ein Zeichen, dass sie bald im Tropfenden Kessel erwartet wurde. Eilig verstaute sie die Kanne und wischte das restliche Wasser, was noch nicht getrocknet war, unspektakulär auf Muggel Weise mit einem Mopp auf.
 

"Ich muss gehen, Mr Ollivander", rief sie die Treppe hinunter. "Einen schönen Abend noch, bis morgen." Ein unverständliches Murmeln war seine Antwort.
 

Sie schnappte sich ihren Umhang, den sie sich umwarf, und eilte die Straße nach oben. Gegen Abend war die Winkelgasse weniger gut besucht als am Tag, was hauptsächlich daran lag, dass die meisten Geschäfte mit Sonnenuntergang schlossen. Nur die Nokturngasse schien immer besucht zu sein, wie sie mit einem Seitenblick feststellte. Dort leuchteten bereits die ersten Lampen und erhellten die im Schatten der großen Häuser liegenden Gassen.
 

Die einzelnen Verkaufsläden beachtete sie kaum noch, wenn sie auch immer mal wieder einen Abstecher zu Flourish & Blotts machte, wenn es sich ergab. Ganze Bücher konnte sie sich noch immer nicht leisten, doch sie hatte gelernt mit einer einzelnen Seite zufrieden zu sein, und so griff sie nach einem Buch und studierte eine Seite, falls es ihre Zeit zu ließ. Heute schritt sie jedoch auch am Buchladen vorbei und lief gezielt auf den Torbogen zu, der auch von dieser Seite aus für gewöhnlich verschlossen war. Die wenigsten nutzen diesen Eingang, sondern bevorzugten es den Apparier-Spot neben Eeylops Eulerei zu nutzen oder per Floh Pulver zu reisen. Dieser Eingang war eigentlich den Muggelgeborenen vorbehalten, zu denen sie sich nun einfach frech zählte.
 

In der Mauer selbst war auch auf dieser Seite ein ähnliches Loch eingelassen, sodass Tess schnell dahinter gekommen war, dass auch hier eine Reihenfolge an Ziegeln abgeklopft werden musste. Die Lösung war denkbar einfach: umgekehrte Reihenfolge.
 

Ohne wirklich hinzusehen tippte sie die Steine mit ihrem Zauberstab an, trat ein und direkt durch den Innenhof hinein in den Pub, der bereits gut besucht war. Sie winkte Madam Margaret zu, während sie die Treppe regelrecht hochstolperte. Sie war heute wirklich spät dran.
 

Ihr Zimmer hatte sich seit ihrer Ankunft nicht verändert, wenn man davon absah, dass im Schrank nun drei Kleider hingen. Eilig schlüpfte sie in ihre andere Arbeitsuniform, warf die Schürze um und gesellte sich wieder hinunter zu Tom und Madam Margaret.
 

"N'abend Evelyn, einen guten Tag gehabt?", fragte Tom, der gerade eines der riesigen Fässer hinter der Theke anzapfte. Tess hatte sich noch immer nicht an ihren falschen Vornamen gewöhnt, doch zumindest gelernt darauf zu reagieren. An ihrem ersten Abend hatte sie für reichlich Verwirrung gesorgt, als sie bei ihrem "Namen" scheinbar nicht zugehört hatte.
 

"Ja, danke, Tom." Schnell verschaffte sie sich einen Überblick von den Leuten. Drei der zehn Tische wurden von einer Gesellschaft bis zum letzten Platz belegt. An den restlichen Tischen hatten sich Zauberer und Hexen verteilt, die mal im Paar, mal in kleineren Gruppen und mal alleine ihr Abendessen genossen. Es war jedoch die Gesellschaft, die hauptsächlich an dem lauten Geräuschpegel Schuld war. Auch schienen sie Margaret auf Trapp zu halten, die mit dutzenden von leeren Gläsern zu Tess gestolpert kam. Bevor noch ein Unglück geschah, nahm ihr Tess einige der Gläser ab.
 

"Gut, dass du da bist. Die Herren haben einen ganz schönen Durst. Machst du mir bitte zwölf Bier, vier Sauer-Limonaden und zwei Wasser?" Tess nickte und machte sich an die Arbeit.
 

Der Pub wollte sich an diesem Abend nicht leeren. Es wurde gegessen, getrunken und gelacht, wobei Tess weder das eine noch das andere tat, außer schwitzen. Tess hatte sich angewöhnt die Kunden nie zu genau anzuschauen da sie fürchtete jemanden zu erkennen. Neville war der erste gewesen, den sie bewusst wahrgenommen hatte. Natürlich konnte sie nicht ausschließen jemandem auf der Straße begegnet zu sein, doch wenn, dann hatte sie es nicht gewusst. Allerdings wusste sie auch, dass es höchst unwahrscheinlich war, dass Albus Dumledore und Co. einfach so in den Tropfenden Kessel spazierten. Doch Vorsicht war besser als Nachsicht.
 

Trotzdem war heute ein merkwürdiger Tag gewesen. Sie hatte eine Schlüsselfigur dieser Geschichte getroffen und sie hatte ihren ersten Zauberspruch gesprochen. Sie spürte das mittlerweile vertraute Gefühl des Stück Holzes in ihrer Schürze und wurde sich plötzlich bewusst, was für einen Fortschritt sie heute getan hatte ...
 

"Evelyn, einmal Stew mit extra Brot und einmal Haussuppe", riss sie Margarets Stimme aus den Gedanken.
 

"Sofort!" Den Lappen, mit dem sie bis gerade die Gläser poliert hatte, schmiss sie achtlos in die Spüle, woraufhin sie nach den großen Schüsseln in der unteren Ablage griff. Sie wollte sich beeilen die großen Schüsseln zu füllen, ihr spukten aber noch immer die "Wunder" des Tages durch den Kopf. Zum zweiten Mal war sie an diesem Tag abgelenkt und zum zweiten Mal fiel ein Objekt ihretwegen scheppernd zu Boden. In ihrer Eile stieß sie die Schüsseln um, die auf dem Boden zerbarsten. Das unangenehme Geräusch wurde Gott sei Dank zum Großteil vom hohen Lärmpegel im Raum geschluckt, sodass die Gäste nichts mitbekommen hatten. Tom hingegen schon.
 

"Pass doch besser auf, Evelyn!", ermahnte sie Tom mit vorwurfsvollem Blick. Mit leiser Stimme bat sie um Entschuldigung, kramte jedoch ihren Zauberstab aus der Schürze.
 

"Ich mach das schon." Ohne groß darüber nachzudenken sprach sie den Zauberspruch, woraufhin beide Schüsseln sofort begannen sich zurück zu bilden. Nun verstand Tess, was Harry damals – oder in ein paar Jahren gemeint hatte haben ... würde. Sie wusste der Zauberspruch würde gelingen, da er ihr bereits gelungen war.
 

Mit triumphierenden Grinsen befüllte sie die Schüsseln und reichte sie Margaret, die kaum Zeit hatte durch zu schnaufen. Auch Tess machte sich sofort wieder daran die Gläser zu polieren.
 

Stunden später lag sie mit schmerzenden Füßen und Knien im Bett ohne die Energie aufbringen zu können, sich aus ihren Arbeitskleidern zu schälen. Sie war völlig fertig, doch noch war sie wach. In ruhigen Momenten wie diesen fragte sie sich, wieso sie hier war. Alles hatte einen Grund, so hieß es doch immer. Ihr momentanes Leben bestand allerdings darin zu existieren und sie hatte sich eigentlich etwas anderes für ihre Zukunft ausgemalt. Ihr Blick fiel auf das kleine Häufchen Münzen auf ihrem Nachttisch, das sie in den letzten Tagen angesammelt hatte. Sie arbeitete zwar für Verpflegung und ein Bett, doch Trinkgeld durfte sie behalten, so hatte Tom gesagt. Es war nicht viel, aber es war ein Anfang. Wenn sie hier bleiben wollte, und danach sah es zur Zeit aus, dann müsste sie die Initiative ergreifen. Ollivander hatte recht, sie brauchte eine Ausbildung. Eine Kribbeln durchfuhr sie, als sie ihren Plan schmiedete. Zugegeben, es war nicht ganz uneigennützig und man könnte es schon fast als egoistisch bezeichnen, doch sie hatte heute den Beweis bekommen, dass sie, wieso auch immer, tatsachlich in der Lage war zu zaubern; und wo könnte sie das Zaubern besser lernen, als in Hogwarts?

Kapitel 8 - Aller Anfang ist schwer

"Sie wollen was?!" Ollivander sah von seinem Haushaltsbuch hoch, in das er bis gerade eben noch die Nase gesteckt hatte. "Wiederholen Sie das bitte?" Die Lesebrille hing ihm an der Spitze der Nase, bevor er sie mit seinen schlanken Fingern abzog und beiseite legte.
 

"Sie sagten selbst, ich müsste nur üben."
 

"Ja, aber doch nicht in Hogwarts. Sie sind, verzeihen Sie die Wortwahl, zu alt." Nervös knetete sie das untere Ende ihres Haarzopfes.
 

"Das ist mir klar, aber es wird doch möglich sein daran etwas zu ... ändern?" Ollivander hatte bereits so viel für sie getan, daher war ihr nicht wohl dabei ihn damit hinein zu ziehen. Ihr war aber auch klar, dass sie das nie alleine schaffen würde. Sie benötigte Hilfe und Ollivander war der einzige, den sie in ihrer jetzigen Lage ansprechen konnte.
 

Ollivander schien wenig begeistert zu sein. "Solange Sie keinen Jungbrunnen entdecken, wird das wohl kaum möglich sein."
 

"Ich muss gar nicht jung sein, nur jung aussehen." Sie hob die Hand über den Kopf und ging in die Knie. "Kleiner sein, zum Beispiel." Ollivander lachte trocken.
 

"Und wie haben sie sich das vorgestellt?" Tess schluckte schwer. Ihr Mund war vollkommen ausgetrocknet.
 

"Naja", sie zögerte. Sie hatte in der Nacht noch lange wach gelegen und sich einige Lösungen ausgedacht. Allerdings hatte sie keine Ahnung, ob auch nur eine ihrer Ideen realisierbar war, denn ihre Theorie, die sie sich in all den Jahren in der realen Welt angeeignet hatte, musste mit der magischen Praxis nicht unbedingt übereinstimmen.
 

"Ohne Vorschlag können Sie die Sache vergessen."
 

"Zuerst dachte ich an einen Zaubertrank, in etwa dem eines Vielsafttrankes, doch das wird schwer umzusetzen zu sein, da ich altern muss um kein Aufsehen zu erregen, weshalb ich kontinuierlich die Haare ein und derselben jungen Person bräuchte." Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus aus Angst jeden Funken Interesse daran ihr zu helfen von Ollivander zu verlieren. "Dann dachte ich an eine klassische Verwandlung, doch selbst wenn, und davon gehe ich nicht aus, ich eine Ganzkörper- Verwandlung zustande bringen würde, so wäre das viel zu riskant. Ein einfacher Finite Incantatem während einer Unterrichtseinheit und die Verwandlung würde sich auflösen. Kann ich etwas trinken?" Sie unterbrach ihren Vortrag und zeigte auf Ollivanders Wasserglas. Ihre Kehle war staubtrocken. Ohne wirklich auf eine Erlaubnis zu warten schnappte sie sich das volle Glas und schluckte den Inhalt in einem Zug hinunter, ehe sie fortfuhr.
 

"Ein Illusionszauber ist auch problematisch, da Zauberer wie Dumbledore und vermutlich auch Professor McGonagall und Snape diesen mit Leichtigkeit durchschauen. Weshalb ich wieder bei Tränken gelandet bin, denn die werden nicht von einem Finite aufgehoben. Man müsste also einen Trank finden, der das Erscheinungsbild ändert ohne die Hilfe einer fremden DNA."
 

Schwer atmend stand sie nun vor Ollivander, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte und sie mit seinen hell glänzenden Augen anstarrte. Seine Pupillen sehen aus, wie kleine Monde, dachte Tess, die nun geduldig auf sein Urteil wartete. Sagen Sie etwas, irgendetwas. Sie hoffte, dass sie seinen Ravenclaw Neugier geweckt hatte. Gerade, als er etwas sagen wollte, öffnete sich die Tür und das vertraute Klingeln war zu hören. Beleidigt nun unterbrochen worden zu sein drehte sich Tess Richtung Tür. Eine wunderschöne Dame mit schokobrauner Haut und einem elegantem Pelzumhang, der viel zu warm für diese Jahreszeit war, trat ein. In Begleitung hatte sie einen schlangen Jungen mit krausigen Haaren und derselben schokoladenen Bräune dabei. Die Unterhaltung würde warten müssen.
 

Noch immer außer Atem begrüßte sie die Kunden, wie auch Ollivander neben ihr, wobei ihr Empfang eisiger klang.
 

"Welch Freude sie zu sehen. Immer wieder ein erfreulicher Anblick", hörte er ihn sagen, doch sofort darauf neigte er seinen Kopf zu ihr. "Miss Harris, würden Sie für mich bitte zu Flourish gehen? Ich bräuchte ein paar Bücher zum Thema Tränke. Wären Sie so lieb, während ich mich hier um Madam Zabini und ihren Sohn kümmere?"
 

Tess starrte ihn einige Sekunden dümmlich an, sodass alle Anwesenden vermutlich an ihrer Intelligenz gezweifelt hatten. Es dauerte bis Tess verstand, was Ollivander gerade gesagt hatte.
 

"J-ja sicher, natürlich, Mr Ollivander", sie schaute um sich und setzte zum Reden an, als Ollivander sie unterbrach.
 

"Caldwell schuldet mir etwas. Er soll Ihnen geben, was er Ihnen zu bieten hat." Stumm nickte Tess darauf bedacht ihre Gesichtszüge vor der Kundschaft, vor dieser Kundschaft, nicht entgleiten zu lassen. Mit steifen Beinen schob sie sich an Madam Zabini vorbei, die sich ihres Umhanges entledigt hatte und nun in einem glitzerndem Kleid vor ihr stand. Tess spürte, wie die dunklen Augen der Frau auf ihr lagen, doch zu ihrem Glück ließ sie sie passieren.
 

An den Weg zum Buchladen würde sie sich später nicht mehr erinnern können, da sie in Gedanken versuchte zu verstehen, was gerade geschehen war.
 

Selbst, als sie bereits durch den Eingang schritt, hatte sie es noch nicht wirklich verarbeitet, sodass sie eher mechanisch den Eigentümer des Ladens suchte. Ohne einen Abstecher durch die Gänge zu machen suchte sie gleich an der Kasse, wo der Angestellte sie ins obere Stockwerk verwies. Die Treppen zu besteigen war gar nicht so einfach, da überall Bücher lagen, die mehr als unstabil gestapelt waren.
 

"Mr Caldwell? Hallo?", rief sie, doch niemand zeigte sich. "Mr Caldwell?" Mehrmals rief sie den Namen des Managers, doch nirgends war er zu sehen.
 

Sie fand ihn schließlich in der Muggel-Abteilung, wo er gerade versuchte die Decke mit seltsam blinkenden Girlanden zu dekorieren.
 

"Mr Caldwell?" Erschrocken fiel er wild rudernd nach hinten. Im Fallen griff er nach allem, was in seiner Nähe war, fand jedoch nur die zierliche Dekorierung, die mit einem reißenden Geräusch mit ihm zu Boden fiel. Alles ging zu schnell, weshalb Tess nur fassungslos zusehen konnte, wie der kleine Mann umgekippt war und sich nun das schmerzende Hinterteil rieb.
 

Ungehalten nun wieder von vorne anfangen zu müssen wendete er sich an Tess, die um Verzeihung bat und ihm auf half während sie beschrieb, wofür sie hergekommen war.
 

"Was will Garrick denn mit Bücher über Zaubertränke?", nuschelte der zur Glatze neigende Mann. Er hatte seine verbliebenen ergrauenden Haare leicht zur Seite gekämmt.
 

"Das hat er mir nicht gesagt", log Tess. "Da er aber Zauberstabmacher ist, wird es wohl irgendwas mit Zauberstabmachen zu tun haben. Eine neue Technik die Hölzer zu veredeln, denke ich mal."
 

Caldwell nickte langsam. "Na, von dem Zeug habe ich eh keine Ahnung." Er ging Richtung Treppe und Tess folgte ihm."Hat er gesagt, welche Art an Zaubertränke ihm da vorschwebt?"
 

"Verwandlungstechnischer Art."
 

"Verwandlungstechnischer Art?" Der Manager wirkte skeptisch, doch Tess blieb selbstbewusst.
 

"So hat er gesagt. Ich bin nur hier, um sie zu holen." Sie sah, wie Caldwell den Kopf schüttelte, jedoch ohne zu zögern in den Gang für Zaubertränke und Zauberbräue einbog. Im Vorbeigehen schnappte er sich auch von einem der vielen Ständer einen Korb, den er ohne den Blick von den Regalen zu nehmen Tess in die Hand drückte.
 

Sie beobachtete, wie er ein Buch nach dem anderen herauszog, es kurz begutachtete und schließlich entweder zu Tess in den Korb warf oder es wieder zurück stellte.
 

"Keinen Vielsafttrank", schoss es aus Tess heraus, als sie das Wort auf dem Titel des nächsten Buch las, das den Weg in ihren Korb gefunden hatte. Mit skeptischen Blick nahm Caldwell das Buch zurück und fuhr mit seiner Auswahl fort.
 

Ihre Ausbeute waren insgesamt zehn Bücher von unterschiedlicher Größe und Dicke, doch mit einem beträchtlichen Gesamtgewicht, gewesen. Am Ende hatte Tess den überquellenden Korb mit beiden Händen halten müssen.
 

"Das sollte vorerst genügen", sagte Caldwell zufrieden, während er Pergament und Feder zur Hand nahm."Damit wir uns verstehen, das ist eine Leihgabe." Mit der Feder wedelte er über die Bücher. "Garrick kann sie benutzen, aber ich will jedes einzelne von ihnen unbeschadet wieder hier haben."
 

Tess stöhnte, jedoch nicht wegen Caldwells Aussage, sondern wegen des Gewichts im Korb, dessen Riemen ihr schmerzend in den Unterarm schnitt. "Ich werde es ihm ausrichten." Sie hoffte bald gehen zu dürfen.
 

"Ich notiere mir jedes einzelne Buch, wehe es ist auch nur eine Seite geknickt", fuhr er fort. "Dann darf er sie alle bezahlen und es wird das letzte Mal gewesen sein, dass ich ihm etwas geliehen habe." Tess nickte, unfähig Worte zu bilden. Doch Caldwell war noch nicht fertig, was sie entkräftet bemerkte. Ihr knickte die Hand weg und sie konnte gerade so verhindern, dass der Korb zu Boden stürzte. Caldwell sah zuerst sie, dann die Bücher geschockt an.
 

"Ich will auch keine Dellen, Beulen, Kratzer oder Quetschungen sehen", betonte er trocken, ehe er jemandem winkte. "Fitz, hilf der Dame doch bitte." Mit einem letzten Seitenblick, verschwand der Manager im oberen Teil des Ladens, wo Tess ihn kurz zuvor bei der Arbeit unterbrochen hatte. Sie stand, die Bücher zu ihren Füßen, neben dem Eingang und rieb sich den geröteten Arm.
 

Der junge Mann, den Caldwell gerufen hatte, lief mit eiligen Schritten auf sie zu. Tess kam nicht umhin ihn regelrecht anzuglotzen auf Grund seiner Erscheinung.
 

"Fitz, nehme ich an?", fragte Tess, als dieser ohne zu zögern den kompletten Stapel Bücher anhob.
 

"Jep, zu ihren Diensten, Ma'am." Er grinste breit und zeigte dabei seine leicht schiefstehenden Zähne. Seine braunen Haare waren lang und zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, der ihm über die Schulter hing. Er wirkte schlaksig in seinem Umhang, doch er hob die Bücher mit einer derartigen Leichtigkeit, dass sich irgendwo darunter Muskeln verbergen mussten.
 

"Die müssen zu Ollivanders", erklärte Tess, den Kopf etwas geneigt, was nicht daran lag, dass es ihr peinlich war die Bücher nicht heben zu können. Nein, Fitz war unheimlich klein. Tess selbst war nicht die Größte, auch wenn sie nie zu den Zwergen gezählt hatte. Eine normale Durchschnittsgröße eben, doch Fitz reichte ihr trotzdem gerade nur so unter die Brust.
 

"Ollivander?" Er schielte auf den Titel einiger Bücher. "Was will denn Ollivander mit Bücher über Zaubertränke?", wiederholte er, was Caldwell vor kurzem selbst gefragt hatte. Tess zuckte mit den Schultern.
 

"Weiß ich nicht, ich bringe sie nur." Sie hob die Tür auf, sodass Fitz mit vollen Händen ungestört hinaus konnte.
 

"Mh, vielleicht will er eine neue Theorie überprüfen, wie sich magische Utensilien im Kontakt mit transfigurativen Liquide verhalten, oder er möchte herausfinden, ob eine externe Transfiguration Einfluss auf die Verhaltensmuster sentinenter Hölzer hat", sinnierte Fitz.
 

Ravenclaw, dachte sich Tess augenrollend nur. "Ja, vermutlich."
 

Der Weg war nicht gerade weit, doch Fitz wollte einfach nicht aufhören zu reden, weshalb es ihr wie eine halbe Ewigkeit vorkam.
 

"-ndes Thema, kann ich mir denken, wobei man es sicherlich auch Untersuchen müsste, welchen Einfl-" Nun wünschte sich Tess, sie hätte mit dem Wingardium Leviosa angefangen, wie jeder normale Schüler auch.
 

"-alls man zumindest die Mittel hat internale Prohibiten in Be-" Dann hätte sie die Bücher hinter sich her schweben lassen können, aber nein, man musste ja zuerst den Reparo meistern.
 

"-nnert mich an meine Anfangszeit, in der ich nur Forschung betr-" Richtig nützliche Zauber eben, mit denen man jeden Tag seine zu Bruch gegangenen Lieblingsstücke wieder heil machen konnte, dachte Tess zynisch. Sie atmete scharf ein und warf dem schwatzenden Fitz einen Seitenblick zu. Er merkte gar nicht, dass Tess ihm bisher kein Wort zugehört hatte.
 

"-üssen mir wirklich berichten, zu welchen Ergebnissen er gekommen ist", schloss er, als sie vor dem Laden ankamen. Tess legte ein sanftes Lächeln auf.
 

"Auf jeden Fall. Es wird ihn freuen, dass es jemand gibt, der sich so für dieses Thema interessiert."
 

Der kleine Zauberer, lief rot an. "Forschung", war alles, was er sagte, so als ob dieses eine Wort irgendetwas beantworten würde. Nachdem sie ihm mit verständnisvollem Nicken die Bücher abgenommen hatte, konnte sie sich endlich von ihm verabschieden. Memo an mich, Wingardium Leviosa nach ganz oben auf die To-Learn Liste setzen.
 

Als sie eintrat fand sie den Laden leer vor. Madam Zabini und ihr Sohn müssen wohl bereits gegangen sein. Spuren einer möglichen Verwüstung hervorgerufen durch das Anprobieren von Zauberstäben konnte sie keine entdecken. Selbst wenn es welche gegeben hatte, so dürfte Mr Ollivander sie längst beseitigt haben.
 

"Mr Ollivander? Ich habe die Bücher", rief sie so laut, dass er sie auch in seiner Arbeitsstube hören musste. Das Gewicht legte sie zunächst auf dem Tresen ab, wo sie die einzelnen Werke ausbreitete und näher betrachtete.
 

Sie las unter anderem Einführung operativer Tränke, Transfiguration mit Tinkturen, Isoprene Zaubertränke und Subramolekulare Elixiere: Funktionale Strukturen aus Mesoskala.
 

Tess hob verblüfft die Augenbrauen und las die Titel erneut, verstand aber zum Großteil noch immer nicht das Geringste. Völlig sprachlos fasste sie sich an die Stirn. Das Zeug war wirklich Fortgeschritten. Sie hoffte Ollivander konnte irgendetwas damit anfangen.
 

Da dieser sich jedoch nicht blicken ließ, griff sie sich das ihr am nächsten liegenden Buch in einem dunkelblauem Ledereinband. Die Komplexität der Zauberbräue stand in grober Schrift darauf. Wenn sie irgendwo anfangen müsste, dann genauso gut mit dem.
 

Die Seiten bestanden aus dickem Pergament, das eng gepresst worden war. Vorne suchte sie nach einem Inhaltsverzeichnis, fand aber nur das Vorwort des Autors, Dayajot Bhagat, hieß der Mann, oder Frau. Tess war sich nicht ganz sicher.
 

Das Buch selbst war beinahe so lang wie ihr Unterarm und war beschrieben mit kleiner Schrift. Ab und zu fand sie handgemalte Skizzen, die scheinbar dampfende Kessel, Zutaten und seltsamen Skalen darstellten. Doch ohne Inhaltsverzeichnis war sie von der Masse an Information schlichtweg erschlagen. Zudem hatte sie nicht das Gefühl, dass alles in diesen Büchern etwas zu Verwandlungen erzählten.
 

"Ah, wie ich sehe waren Sie erfolgreich." Ollivander umrundete den mit Büchern beladenem Tresen und nickte zufrieden. Tess hingegen war hilflos.
 

"Das ist Fortgeschrittene Braukunst. Ich hatte mir das-"
 

"Einfacher vorgestellt?", vervollständigte Ollivander ihren Satz.
 

Verlegen nickte sie. "Ja."
 

Ollivander verschränkte die Arme. "Meine Liebe, die Art der Magie, wie sie es sich vorstellen, ist sehr kompliziert. Nicht unmöglich, aber kompliziert." Tess senkte den Blick. "Oh, da fällt mir ein: Haben Sie daran gedacht was sie machen, nachdem Sie erfolgreich ihre äußere Erscheinung verändert habe."
 

Nun schloss sie zusätzlich geschlagen die Augen. "Nein, aber ich denke, ich müsste auch irgendwie eine Erlaubnis bekommen die Schule besuchen zu dürfen?" Ollivander nickte.
 

"Sehr richtig. Nicht jeder wird an der Schule angenommen und soweit ich weiß entscheidet das Schloss selbst wer eine Einladung erhält und wer nicht." Seine Worte waren niederschmetternd. Sie hatte bisher noch nicht darüber nachgedacht, wie sie an der Schule angenommen werden würde, da sie genau so eine Antwort, wie sie Ollivander ihr gegeben hatte, gefürchtet hatte. Kapitulierend schob sie das Buch von sich, doch Ollivander hielt sie auf.
 

"Nun sind die Bücher hier, daher sollten wir es zumindest versuchen."
 

Tess schielte zu ihm hoch, der sich eines der Bücher gegriffen hatte und es mit ausdrucksloser Miene überflog. "Aber das löst nicht das andere Problem."
 

Ollivander schmunzelte. "Das lassen Sie mal meine Sorge sein." Er schloss das Buch und schob es Tess zu. "Sie hingegen sollten sich beeilen, der Schulanfang ist in drei Wochen."

Kapitel 9 - Rückschlag

Drei Tage später war Tess kurz vorm Verzweifeln. Niemand konnte sagen, sie hatte es nicht versucht, doch der Inhalt der Bücher war schlichtweg zu schwer für sie zu begreifen, was nicht überraschend war. Alles, was sie über Magie wusste, hatte sie durch die Augen eines pubertierenden Teenager gesehen, der sich entweder wie jeder hormongesteuerte Jugendliche für Mädchen interessiert hatte oder weitaus größere Probleme hatte, als das Wesen der Magie zu erklären.
 

Ollivander hatte sie von ihrer Arbeit bei ihm freigestellt, sodass sie die Bücher ungestört studieren konnte, und so saß sie nun den Tag über in ihrem Zimmer auf dem Boden, umringt von vollgeschriebenen Pergamenten und jeder Menge offener Bücher. Ollivander selbst, von dem sie eigentlich gedacht hatte er würde sich mehr um den magischen Teil kümmern, hatte sich komplett zurück gezogen und sie alleine gelassen. Allerdings mit dem Versprechen sich um ihre Anmeldung auf Hogwarts zu kümmern, wie er das schaffen wollte, war ihr jedoch schleierhaft.
 

Im Grunde war es auch egal, da sie hier keinen Schritt weiterkam. Schwer atmend rieb sie sich das Gesicht und lehnte sich nach hinten, bis sie fiel und auf das Holz aufschlug. Ihre Notizen wurde dabei von ihren Füßen in alle Richtungen geschoben. Gerade hatte sie versucht Die Komplexität der Zauberbräue zu lesen, da dieses Buch eines der wenigen war, von dem sie zumindest den Titel verstand, doch der Inhalt stellte sich als ... komplex heraus. Bisher war ihr einziger Erfolg herauszufinden, dass eine dauerhafte Verwandlung eines menschlichen Körper nicht zu empfehlen war.
 

Eine andere Möglichkeit gab es aber nicht. Sie musste einen Trank finden, denn egal wie sie es drehte und wendete, eine eigenständige Verwandlung würde sie erstens, niemals schaffen und wäre zweitens, viel zu riskant.
 

Dennoch brummte ihr der Schädel von all den Skalen, Abbildungen, Tabellen und Anwendungen der verschiedensten Gebräue, ganz zu schweigen von der trockenen Theorie. Der Inhalt war sogar interessant, wenn sie mal etwas verstand, doch es war weder genug noch hilfreich.
 

Während sie an die mit Spinnenweben überzogene Decke starrte klopfte sie sich einmal heftig gegen die Backen. "Nicht aufgeben", flüsterte sie zu sich und hievte sich hoch. "Denk an Hogwarts, denk an Hogwarts. Du wirst es sehen. Du wirst dort hin gehen." Der Gedanke ihren Kindheitswunsch zu erfüllen spornte sie an nicht die Bücher zu greifen und durch das Fenster zu schmeißen. Das und die Drohung von Mr Caldwell.
 

Einige der Bücher hatten ihr auch gar nicht weitergeholfen. Sie betrachtete einen kleinen Stapel von drei Büchern, die sie komplett beiseitegelegt hatte. Egal wie oft sie geblättert hatte, sie hatte nichts von auch nur geringstem Wert darin gefunden.
 

Die anderen waren ihr vielversprechender erschienen, denn sie las wenigstens ab und zu das Wort "Transfiguration". Allerdings behandelten sie eher die Verwandlung von leblosen Objekten beim Eintauchen in verschiedene Substanzen und nicht die organische Verwandlung, bei der man etwas trinken musste. Tess hätte es lieber, wenn sie ganz im Sinne vom falschen Alastor Moody einen Flachmann herumtragen dürfte und sich nicht alle drei Tage ein ekliges Bad einlassen musste.
 

Sie hatte noch einige Stunden bis zu ihrer Abendschicht bei Tom, also setzte sie sich erneut vor die Bücher. Es waren keine drei Wochen mehr und bis dahin musste sie etwas gefunden haben. Noch besser wäre, wenn sie so schnell wie möglich fündig werden würde, denn die Wahrscheinlichkeit einen Trank zu erwischen, der mehrere Tage Vorbereitung und Brauzeit benötigte, war hoch.
 

Zutaten waren wenigstens kein Problem, die würde sie in der Apotheke kaufen können. Ollivander hatte ihr versichert, dass der Laden bestens bestückt war und in der Regel alles Vorrätig hatte. Einen Trank wie den, den sie suchte, würde man selbst herstellen müssen, sagte er, denn im Handel gab es soetwas nicht zu kaufen. Was sie jedoch wieder vor das alte Problem "Geldnot" stellte. Weder ihre Schulsachen, sollte sie sie benötigen, noch die Zutaten würde sie mit Arbeit begleichen können. Sie brauchte Geld und das bisschen Trinkgeld würde nicht für alles reichen.
 

Wehmütig griff sie sich ans Ohr und zog an ihren Ohrringen. Erst gestern war ihr klar geworden, dass sie die ganze Zeit über etwas zu verkaufen hatte, nämlich die Ohrringe ihrer Großmutter. Kleine Goldkreolen mit Diamanten, die sie immer an hatte, nie ablegte und komplett vergessen hatte. Die Ohrringe legte sie praktisch nie ab und lebte mit ihnen, sodass sie zu einem Teil von ihr geworden waren, doch sie würde sie verkaufen müssen, wenn sie Geld wollte. Noch hatte sie es nicht übers Herz gebracht, aber bald müsste sie sich trennen, das war ihr klar. Bevor sie kein Rezept gefunden hatte, das ihre Erscheinung veränderte, würde sie ihre Ohrringe jedenfalls nicht hergeben.
 

Bis zu ihrer Schicht hatte sie nichts gefunden, und auch der Tag danach, ein regnerischer Sommertag, blieb erfolglos, sodass sie gegen Abend bei Ollivander vorbeischaute in der Hoffnung ein wenig Unterstützung zu bekommen. Doch Ollivander blickte kaum von seinen Zauberstäben auf.
 

"Zaubertränke sind nicht meine Stärke, fürchte ich", hauchte er. "Ich kann mir ihre Notizen trotzdem anschauen, wenn Sie das möchten. Erwarten Sie aber kein Wunder." An diesem Moment erwartete sie eigentlich gar nichts mehr, weshalb sie ihm ihre vollgeschriebenen Pergamente überreichte.
 

Sie hatte zum ersten Mal mit Tinte und Feder gearbeitet, weshalb die ersten Seiten noch ziemlich unansehnlich waren, mit dicken Tintenflecken, ungleichmäßiger Schrift und kaum lesbaren Buchstaben. Je mehr sie geschrieben hatte, und sie hatte viel geschrieben, desto eher fühlte es sich an wie ein normaler Füller und sie hatte die Vorzüge dieses eleganten Schreibwerks entdeckt. Nur das Eintauchen in das Fässchen voll Tinte war ihr noch ungewohnt. Allerdings war ihr das Erscheinungsbild ziemlich egal, Hauptsache sie fand eine Lösung.
 

"Das Hauptproblem besteht wohl darin, dass die Öffentlichkeit nur leblose Dinge verwandeln kann. Einen Stuhl blau färben, indem man ihn in ein Elixier tunkt oder andere Kleinigkeiten dieser Art", begann Tess zu erklären, während sie Ollivander auf verschiedene Passagen verwies. "Für komplette Verwandlungen des Körpers sind öffentlich zugängliche Tränke nicht gedacht. Das lese ich immer wieder, weshalb nie genauer auf eben solche Tränke eingegangen wird und wenn sie es tun, dann ist es beinahe verschlüssel. Wissen Sie, was damit gemeint sein könnte?"
 

Ollivander las sich einiges durch und nickte dann. "Wie es aussieht hat das Zaubereiministerium diese Information tatsächlich zensiert, das ist nichts Außergewöhnliches", sagte er. "Ich kann mir vorstellen, dass das Zaubereiministerium solche Tränke nicht frei zugänglich machen möchte, aus logischen Gründen."
 

Tess stemmte ihre Hände gegen die Hüfte. "Zensur? Ein Vielsafttrank ist doch viel gefährlicher und den finde ich in jedem zweiten Buch."
 

Ollivander hob mahnend den Finger. "Ein Vielsafttrank ist aber auch leicht zu durchschauen. Mit einem Trank, wie er Ihnen vorschwebt, kann jeder Beliebige sich ein komplett neues Gesicht geben. Stellen Sie sich vor jemand aus Askaban trinkt soetwas. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass die Auroren einen solchen Trank selbst oft anwenden. Wenn jeder wüsste, wie man einen solche gefährlichen Trank herstellt, dann könnte das schlimme Folgen haben." Er reichte ihr den Pergamentstapel zurück.
 

"Also brauchen wir einen anderen Ansatz." Sie wollte beinahe schon resigniert ihre Blätter in der Mitte zerreißen, als Ollivander sie aufhielt.
 

"Nicht so voreilig. Vielleicht müssen Sie auch anders denken. Einfacher, möchte ich fast sagen. Schauen sie sich die untere Passage auf Blatt drei nochmal an."
 

Tess runzelte die Stirn, tat aber, was er vorgeschlagen hatte. Sie las, was sie geschrieben hatte stumm, doch Ollivander bat sie laut zu lesen. "Lesen Sie ruhig laut vor, Miss Harris."
 

Sie räusperte sich. "Organisches Material zu verwandeln ist mit der Einnahme eines Trankes eher untypisch", rezitierte sie, was sie längst wusste. "Längerfristige Transfigurationen, vor allem im Ganzkörperbereich, empfehlen sich mit Zauberstab und kleinen Verhexungen in großer Zahl, um schließlich ein gewünschtes Endprodukt zu erhalten. Eine Verbindung von folgenden Sprüchen wird empfohlen: Pilus Cresco, Minorus, Depravo, Color-. Mr Ollivander, das bezieht sich auf Zaubersprüche."
 

"Sehr richtig, aber kommt Ihnen dabei denn keine Idee?", seinen hellen Augen leuchteten, während er auf ihre Antwort wartete. Tess hasste solche Ratespielchen. Er hatte bereits einen Einfall, wollte jedoch, dass Tess selbst darauf kam, anstatt es einfach zu sagen. Auf soetwas hatte Tess weder Lust noch Muse.
 

Sie zuckte die Schultern, was Ollivander mit ernstem Blick konterte. Also betrachtete Tess ein weiteres Mal die Liste der Zaubersprüche, die zur Verwandlung vorgeschlagen wurden, bis sie in Erkenntnis die Augen schloss. "Ich brauche nicht einen einzigen Trank, sondern mehrere."
 

Ollivander schnippte mit den Fingern und nickte. Doch Tess schüttelte den Kopf.
 

"Wie soll das gehen? Ich glaube kaum, dass ich alles auf einmal nehmen kann. Tränke reagieren miteinander", das hatte sie bei Lesen der Bücher verstanden, "daher werde ich sicherlich nicht fünf verschiedene Tränke gleichzeitig schlucken."
 

Ollivander überschlug die Arme vor der Brust. "Ich fürchte eine bessere Lösung haben wir nicht. Sie werden auf mehrere Etappen trinken müssen, und das kontinuierlich."
 

Tess schlug sich frustriert gegen die Stirn. "Ich werde schneller auffliegen, als ein Albino in Afrika."
 

"Nur Mut. Vielleicht hebt es Ihre Stimmung wenn ich Ihnen sage, dass ich kurz davor stehe eine Einladung für die Schule zu haben." Tatsächlich schoss Tess' Kopf hoch.
 

"Sie haben eine Einladung? Wie haben Sie das geschafft?"
 

Ollivander schüttelte leicht den Kopf. "Ich sagte, ich stehe kurz davor eine zu haben. Zugegeben, es ist nicht gerade einfach eine plausible Geschichte zu erfinden ..." Wem sagt er das, dachte Tess nickend. "... aber ich denke, ich werde Albus schon noch überzeugen." Beim Klang des Namens des Schulleiters glaubte Tess einen Schlag in die Magengrube zu spüren. Jede Farbe wich aus ihrem Gesicht.
 

"Dumbledore? Sie haben Dumbledore von mir geschrieben?"
 

Ollivander schien sich ihre Reaktion nicht erklären zu können. "Aber ja, wen sonst könnte ich um eine irreguläre Annahme an der Schule bitten."
 

Tess hörte ihren eigenen Puls in ihren Ohren rauschen. Dumbledore war der letzte Mensch, dem sie Auge in Auge begegnen wollte. Sie wusste zu viel, sie wusste viel zu viel und Dumbledore würde dieses Wissen nutzen, falls er es bekommen konnte, da war sie sich sicher. Er war der Mensch, der gutes Vollbringen und die Leute beschützen wollte, dabei jedoch alles und jeden manipulierte, wenn es sein musste. Sie hasste ihn nicht, oh nein. Allerdings war es in ihrer Lage das beste sich so weit von Dumbledore fern zu halten, wie es möglich war.
 

"I-ich hatte gehofft, das Ministerium, naja, das Ministerium könnte-", stammelte sie tonlos. Ollivander nahm besorgt ihre Hand.
 

"Meine Güte, Sie sind ja ganz blass. Und ganz kalt sind sie auch. Fühlen Sie sich nicht gut? Die Arbeit muss wohl doch zu viel gewesen sein. Machen Sie Schluss für heute und legen Sie sich hin." Tess entzog sich sanft aus seinem Griff.
 

"Danke, e-es geht schon", erwiderte sie noch immer wie in einer Blase. "Sie haben also Dumbledore von mir erzählt. Was haben Sie erzählt?" Ihre Stimme war etwas zu harsch, das hörte sie selbst, doch um höfliche Umgangsformen kümmerte sie sich im Moment nicht. Ollivander schien noch besorgter zu sein.
 

"Miss Harris, ich versichere Ihnen Dumbledore wird Ihnen-"
 

"WAS haben sie erzählt!", nun hob sie die Stimme und sie spürte, wie Wut in ihr hochkochte.
 

Ollivander streckte sich und sah sie nun mit neutralem Blick an. "Miss Harris, wenn ich Sie bitten dürfte ihren Ton zu zügeln."
 

Tess blieb stumm und wartete bis Ollivander fortfuhr. "Ich habe ihm gesagt, dass mein Sohn ein Mädchen aufgenommen hat. Er lebt in Frankreich", erklärte er knapp. "Das Mädchen möchte Hogwarts besuchen. Das habe ich erzählt, Miss Harris."
 

In Tess Kopf schwirrte es. Sie hatte in letzter Zeit so viele Versionen ihrer eigenen falschen Vergangenheit gehört, dass sie drohte den Überblick zu verlieren. Doch Ollivander hatte wirklich nur vage Dinge erzählt. Plötzlich fühlte sich Tess schlecht ihre Stimme derart erhoben zu haben.
 

"Mr Ollivander, bitte entschuldigen Sie, Ich wollte nicht-"
 

"Sie ruhen sich nun besser aus, Miss Harris. Einen schönen Abend noch", sagte er neutral und wandte sich ab, Tess ließ er mit schlechtem Gewissen stehen. Sie wartete einige Sekunden in der Hoffnung sein Kopf erschien wieder hinter den Regalen, doch Ollivander war verschwunden. Seufzend verließ sie den Laden.

Kapitel 10 - Entschädigung

Sie hatte gerade den einzigen Menschen verärgert, der in der Lage war ihr zu helfen. Wie bescheuert war sie? Ihre Pergamentbögen hingen lose in ihren Händen, als langsam zurück zum Tropfenden Kessel schlurfte. Mit jedem Schritt verschlimmerte sich der Druck in ihren Schläfen, bis sie fürchterliche Kopfschmerzen hatte. Die abendlich schwüle Hitze schien sie zusätzlich zu belasten und so schwenkte sie zur Seite, schob sich an den Passanten vorbei hinein in den Schatten der alten Gebäude und lehnte sich gegen den Stein.
 

Sie konnte sich so nicht von Ollivander trennen, nicht nach allem, was er getan hatte.
 

"Scheiße, scheiße, scheiße", fluchte sie, wobei sie ihren Hinterkopf gegen den Stein klopfte und ihr Gesicht mit den Pergamentbögen bedeckte. Ihr Gewissen wurde nur noch schlechter wenn sie daran dachte, dass Ollivander sie wirklich auf eine heiße Spur gebracht hatte. Sie wusste, sie hatte in einem der Bücher über "Schönheitstränke" gelesen, kleine Tränke mit geringer Wirkung, die zusammen genommen jedoch womöglich genau das sein könnten, was sie benötigte. Wichtiger war im Moment jedoch, wie sie sich bei Ollivander entschuldigen konnte.
 

Kurzerhand nahm sie die Pergamente herunter und schaute zurück auf das weiße Gebäude. Jetzt oder nie, dachte sie und kehrte mit festem Schritt um, Richtung Zaubererbank. Bisher hatte sie noch keinen Fuß dort hinein gesetzt, doch das würde sich nun ändern. Eilig ging sie an Ollivanders Laden vorbei und passierte die schiefen Säulen, die den Eingang hoben. Die Türen bestanden aus gegossenem Eisen und für einen einzelnen Menschen bestimmt zu schwer um sie zu bewegen. Glücklicherweise stand eine Hälfte bereits weit offen, sodass sie hineinschlüpfen konnte. Innen wurde es sowohl spürbar dunkler, als auch kälter. Ihre Augen benötigten einige Zeit um sich vom Sonnenlicht außerhalb auf das dämmrige Licht hier im Inneren umzustellen.
 

Jeder ihrer Schritte klackte auf dem polierten Steinboden und hallte mehrfach in dem weiten Raum. Blinzelnd erkannte sie eine riesige, gläserne Kuppel mehrere Meter über ihrem Kopf, durch das ein wenig Licht hineinschien, was jedoch nicht genug war um den Raum zu erhellen. Dazu waren noch etliche kleine und große Kronleuchter bepackt mit Kerzen von Nöten. Die Wände, ebenfalls aus weißem Stein, waren mit Ornamenten und Mosaiken geschmückt, die zum Teil Szenen und Geschichten zeigten. Ein atemberaubender Anblick.
 

"Wow", hauchte Tess, als sie weiter hinein ging. Diese riesige Vorhalle erinnerte sie an das Hauptschiff einer pompösen katholischen Kirche, was sicherlich nicht ganz verkehrt war. Der Bau sollte eines verkünden: hier wurde nicht umsonst geprotzt, hier lag euer Geld.
 

Es herrschte arbeitssame Stille, die nur von gelegentlichen Schrittgeräuschen und verschiedenen Stempeln auf Papier unterbrochen wurde. Auf erhöhten Podesten, die sich die komplette Länge des Raumes erstreckten, saßen schrumpelige Geschöpfe mit langen Ohren, wilden Haaren und grimmigen Mienen.
 

"Echte Kobolde."
 

Einige dieser seltsamen Wesen berieten gerade Kunden, doch vor den meisten Podesten stand niemand. Tess schritt langsam weiter hinein, vorbei an dicken Stein Säulen, die sich im dunkeln unter der Decke verloren und vorbei an verschiedenen Gängen, die sowohl zu ihrer Linken als auch zu ihrer Rechten irgendwo im Gebäude verschwanden. Einige Kobolde zählten mit riesigen Gläsern auf ihren krummen Nasen ganze Goldblöcke, andere wogen Steine ab, was Tess für verschiedene Erze hielt. Wieder andere schrieben mit geschwungener Schrift auf Pergament. Die wenigsten hatten Münzen vor sich. Tess fragte sich, was für ein Wert alleine hier in der Eingangshalle lag. Unter ihr, mehrere Stockwerke in der Tiefe, lag geschätzt das komplette Vermögen vom magischen England. Der Gedanke war beeindruckend und beunruhigend zugleich.
 

Sie wusste nicht so recht, an welchen Kobold sie sich wenden musste, als Steuerte sie einen an, der gerade einen Brocken Gold näher in Augenschein nahm. Wie alle anderen auch saß er sehr viel höher, als Tess groß war und so musste sie zu ihm hinauf schauen.
 

"Hallo? Verzeihen Sie bitte, Herr ... ehm ... Kobold?" Das angesprochene Wesen würdigte Tess nur eines Blickes, fuhr jedoch mit der Untersuchung am Goldbrocken fort. Also versuchte es Tess erneut. "Verzeihen Sie die Störung, aber ich würde gerne etwas verkaufen. Kann ich hier etwas verkaufen?" Der Kobold legte mit seinen langen Fingern das Goldstück beiseite und lehnte sich nach vorne.
 

"Handelswaren lassen sich auf der Winkelgasse in verschiedenen Läden veräußern. Das ist nicht die Zuständigkeit der englischen Bank." Seine Stimme war kratzig und viel zu tief, für ein so kleines Wesen.
 

"Eh, ich habe keine Handelsware", eilig fummelte sie an dem Verschluss ihrer Kreolen. Der Kobold beobachtete kritisch mit seinen schwarzen Augen, was sie da trieb. Bevor sie ihm die zwei Schmuckstücke vorlegte, wischte sie noch einmal darüber um die letzten Haare und Staubflusen zu entfernen. Schließlich hob sie ihm ihre Ohrringe entgegen.
 

Der Kobold nahm diese vorsichtig entgegen. "Ah, wenn das so ist. Nun die können Sie hier verkaufen." Er nahm beide Ohrringe zu sich und setzte eine seltsam, blau schimmernde Brille auf. Mit einem dünnen Eisenstück drehte und wendete er die Ohrringe, wobei er auch mehrmals dagegen schlug. Zwischendurch setzte er die Brille ab nur um sie gegen eine andere auszutauschen. Tess verfolgte alles neugierig.
 

Irgendwann legte er die Hände zusammen und wandte sich an Tess. "Muggelarbeit, mindere Qualität. Jedoch ist es gutes Gold und ein paar schöne Diamanten. Eigenwilliger Stil, möchte ich betonen." Er griff unter sein Podest und öffnete eine Schublade. Tess hörte eindeutig klimpernde Münzen.
 

Kurz darauf stand ein kleiner Haufen Geld vor ihr. "Ihr Schmuck ist 29 Galleonen, 12 Sickel und 9 Knut wert." Tess runzelte die Stirn während sie rechnete. Ihr erschien der krumme Wert viel zu wenig.
 

"30 Galleonen? Wie wäre es mit 50?"
 

"29 Galleonen. Madam, wir feilschen nicht. Entweder sie nehmen ihr Geld", er legte ihr die Kreolen auf einem Pergament neben die Münzen, "oder sie nehmen ihren Schmuck." Tess schloss die Augen und verabschiedete sich von ihren geliebten Ohrringen, die über die Jahre zu einem Teil von ihr geworden waren.
 

Sie hob die Hand und griff nach dem Haufen Münzen. "Haben sie vielleicht eine Tasche oder einen Beutel?", fragte sie.
 

"Nein", war die einzige Antwort, ehe der Kobold seinen Preis des Deals griff und irgendwo unter sich verstaute. Tess stopfte das Geld in ihre Schürze zu ihrem Zauberstab wobei sie darauf achten musste, dass nichts auf der anderen Seite wieder heraus fiel.
 

Mit weitaus weniger, als sie sich erhofft hatte, verließ sie die Zaubererbank und deren seltsamen Angestellte. Zusammen mit ihrem Trinkgeld hoffte sie zumindest genug Geld für ihr erstes Jahr in Hogwarts zu haben. Zusätzlich würde sie jedoch trotzdem an allen Ecken und Enden sparen müssen. Nun wusste sie, wie sich die Weasleys gefühlt haben mussten.
 

Sie hatte eine ungefähre Ahnung wie viel 30 Galleonen wert waren, wenn man dem Wechselkurs, den man in ihrer Zeit zum Thema Galleonen fand, Vertrauen schenken konnte. Der Preis war vermutlich gerechtfertigt. Alles in allem war es sehr schnell gegangen, was ihr nur recht gewesen war. Nun, im Nachhinein, bereute sie es ihre Ohrringe verramscht zu haben, doch ihr Kopf sagte ihr, dass es die richtige Entscheidung war. Sie benötigte unbedingt das Geld.
 

Trotzdem spürte sie, wie sich Tränen in ihren Augen formten. Sie beeilte sich die Bank hinter sich zu lassen doch mit jedem Schritt wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan. Egal, ob sie Geld benötigte oder nicht. Die Ohrringe hatte sie von ihrer Großmutter und waren auf emotionaler Ebene weitaus mehr wert als was, 160€?
 

Sie wischte sich stur die Tränen aus dem Gesicht und lief weiter. Nun war keine Zeit sentimental zu sein. Sie musste sich bei Ollivander entschuldigen. Stellte sich nur die Frage wie sie das anstellen wollte. Mit einem Strauß Blumen zu erscheinen kam ihr mehr als bizarr vor. Sein arg kläglich eingerichteter Laden machte deutlich, dass er weder auf kitschige Dekoration noch auf Blumen jeder Art stand. Der kleine vertrocknete Busch wurde gerade mal so geduldet. Nur wie machte man einem älteren, erfolgreichem Zauberstabmacher eine Freude?
 

Neue Werkzeuge, schoss es ihr durch den Kopf, doch nun müsste sie wissen, welche Werkzeuge überhaupt von ihm benutzt wurden und selbst wenn, die verschiedenen Feilen würde sie wohl kaum in Qualität für Quidditch finden. Nein, sie brauchte etwas anderes, etwas Einfacheres etwas– Sie stockte. Ihr Blick war auf hängende Kräuter gefallen, die den Bereich rund um den Laden über dessen Eingang in einen wohligen Duft tauchten.
 

"Tee." Trotz einiger unterschiede war Ollivander noch immer Brite und was wäre besser als guter Tee? Absolut klischeehaft, das war sich Tess bewusst, aber Tee war erschwinglich und war nicht an nur eine Generation gebunden.
 

Gespannt betrat Tess den Shop mit dem Namen Die kleine Kräuterhexe. Im Innern überschlugen sich die verschiedensten Aromen und betörten ihre Sinne. "Hoffentlich gibt es hier auch wirklich nur Tee und keine anderen fragwürdigeren Substanzen", murmelte sie vor sich hin, während sie die einzelnen offenen Schubladen und deren Inhalt inspizierte. Der Laden war sehr klein und nur ein paar Schritt breit. Eine einzelne alte Kasse dominierte den hölzernen Tisch, hinter dem keine Hexe, sondern ein Zauberer mit kurz geschorenem grauen Bart gerade einen Kunden bediente. Tess konnte sein alter schwer schätzen, da sein Bart ein Großteil seines Gesichts bedeckte. Er könnte in Ollivanders Alter sein, wenn seine Stimme, die bis zu Tess drang, nicht so jugendlich geklungen hätte.
 

Das Geld zog immer schwerer an ihrer Schürze, weshalb sie nun mit meiden Händen ihre Kleidung von unten unterstützte und gegen den Batzen Münzen presste. Ungeduldig wechselte sie ständig das Bein, denn ihre Entschuldigung bei Ollivander wollte sie nicht allzu lange hinauszögern. Wenn sich der Kunde vor ihr doch mehr beeilen würde.
 

Dieser schien jede einzelne Sorte präsentiert bekommen zu wollen. In jede Probe, die der Verkäufer oder Inhaber, noch konnte sie das nicht sagen, ihm darbot musste er genau prüfen. Immer nahm er eine Hand voll aus der Probe, rieb sie zwischen den Fingern und roch daran. So sah es für Tess aus, docg neua sah sie es nicht, da sie nur den Rücken des Trödlers vor sich hatte. Sie schüttelte nur verständnislos den Kopf angesichts dieser überzogenen Darbietung.
 

Nun merkte sie, wie der Zauberer mit Bart immer wieder zu ihr schaute und ihr einen entschuldigenden Blick zu warf. In Momenten wie diesen war sie überzeugt, dass Ollivanders ein Kunde Strategie tatsächlich der Richtige Umgang war. Dadurch vermied man, dass man als Kunde wie ein Idiot Däumchen drehte und darauf wartete, dass sich ein anspruchsvoller Vorgänger nicht entscheiden konnte.
 

Während sie wartete griff sie zum ersten Mal nach ihrem Geld und beäugte es genauer. Auf den ersten Blick wirkten sie wie antike Münzen, grob behauen an den Rändern und abgegriffen von tausenden von Händen. Die Abbilder mancher Münzen waren kaum noch zu erkennen, während andere neuer aussahen. Vermutlich hatte sich die Währung in hunderten von Jahren nicht geändert. Tess fragte sie, wie alt manche ihrer Münzen wohl sein mochten.
 

Überall war ein lateinischer Satz eingraviert, was Tess als absolutum dominiumentzifferte, ein hoffentlich ironischer Verweis auf die Macht des Geldes. Erstaunlich war, dass die Bilder eingerahmt von runden Linien nicht kontinuierlich waren. Es gab mehrere Motive für die Rückseiten, die jedoch alle Pflanzen oder Blüten darstellten. Keine Menschen oder Gebäude, sondern filigran gearbeitete Pflanzen.
 

Die Galleonen kamen ihr in ihrer Hand riesig vor, während die bronzenen Knut geradezu lächerlich winzig wirkten. Trotzdem hatten auch die Knut ihr eigenes spürbares Gewicht. Sie fühlte sich an japanische ein Yen Münzen erinnert, die vermutlich aus gepresstem Aluminium bestanden und so gut wie nichts wogen.
 

Sie spielte ein wenig mit einem Sickel um ihre Langeweile zu bekämpfen, doch irgendwann war  ihr das Gehabe des Kunden zu viel.
 

Sie räusperte sich. "Ich würde gerne auch noch bedient werden, heute noch, wenn möglich." Ihre Beschwerde war eher an den unentschlossenen Zauberer im schwarzen Umhang und kurzem Pferdeschwanz gerichtet als an den Verkäufer, der sich bereits mehrfach stumm für die Wartezeit entschuldigt hatte.
 

"Qualität braucht seine Zeit. Wenn sie sich diese nicht leisten können empfehle ich Ihnen die Massenware bei Floras Fauna." Der Zauberer wendete sich zu ihr und betrachtete sie von oben bis unten. "Wobei, wie es aussieht haben Sie bereits erfolglos selbst im Dreck gewühlt." Brüskiert schaute sie an ihrem Kleid herab, wo zugegeben große Staubränder zu sehen waren, was nicht verwunderlich bedachte man, dass sie den halben Tag auf dem Boden ihres Zimmers herum gerutscht war. Trotzdem wollte sie diese Demütigung nicht unkommentiert lassen.
 

"Entschuldigen Sie mal, wie ko-"
 

"Entschuldigung angenommen", sagte er schlicht und kehrte mit seiner Aufmerksamkeit zurück zum Verkäufer, der hilflos die Schultern in ihre Richtung hob.
 

Die Situation war mehr als grotesk und es dauerte einige Herzschläge bis Tess ihre Stimme wiedergefunden hatte. Sie holte gerade Luft um ihm eine Beleidigung entgegen zu schmettern, als sie den erlösenden Satz hörte und ihren Mund schnell schloss.
 

"Schicken Sie die Bestellung bis zum Ende dieser Woche", verlangte der Zauberer herrisch. Tess stand nur mit verschränkten Armen da und beäugte ihn, während er ohne ein weiteres Abschiedswort an den Verkäufer, geschweige denn einen letzten Blick auf Tess, aus dem Laden verschwand.
 

"Natürlich, Professor", Tess Kopf schoss zu dem Mann mit Bart. Professor? Das Wort hallte in ihrem Kopf. Erneut drehte sie ihren Kopf, derart schnell, dass es in irgend einem Wirbel knackte, doch der Mann war bereits verschwunden.
 

"Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, Madam", hörte sie den Verkäufer hinter sich. "Was kann ich für sie tun?" Tess starrte den Mann an, allerdings kreisten ihre Gedanken noch immer um das Wort Professor. Das war doch nicht, das konnte doch nicht, das würde doch nicht? Nein. Sicher gab es mehrere Posten die den Titel Professor mit sich brachten. Purer Zufall, tat sie es leicht kopfschüttelnd ab.
 

Sie wurde sich bewusst, dass sie noch immer erwartungsvoll angestarrt wurde, weshalb sie schließlich ins hier und jetzt zurück kehrte. "Das war nicht Ihre Schuld. Eh, ich bin auf der Suche nach ...", nun war es ihr schon fast peinlich danach zu fragen, "... Tee?" Der Mann verbeugte sich leicht.
 

"Aber natürlich, wir führen hier ausgezeichnete Kräuter- und Früchte-Mischungen aller Art, die sich hervorragend als Tee zubereiten lassen. Haben Sie an eine bestimmte Wirkung gedacht?"
 

"Nein, eigentlich soll er nur gut schmecken." Bisher hatte sie nie Tee mit besonderer Wirkung gekauft, speziell da sie nicht an soetwas geglaubt hatte. Sie musste jedoch gestehen, dass hier einiges anders war. "Obwohl", sagte sie, "haben sie vielleicht etwas gegen Knie- oder Gelenkschmerzen?"
 

Sofort steuerte der Verkäufer eine Schublade am Fenster an. "Natürlich."
 

Nach einiger Zeit konnte Tess zumindest ein wenig nachvollziehen, weshalb sich der Zauberer vor ihr, der Professor, so viel Zeit gelassen hatte. Die Fülle an Ware, die sich auf Wunsch auch beliebig mischen ließ, war überwältigend. Zum Schluss war sich Tess noch nicht einmal mehr sicher, ob sie Kräuter oder doch lieber einen punschartigen Tee für Ollivander wollte.
 

Allerdings hatte sie auch die Gelegenheit genutzt und unverfänglich gefragt, ob man eines oder mehrere seiner Produkte in gestaltverändernde Tränke nutzen konnte. Der Verkäufer hatte mehr als ausführlich einige kleine Gebräue aufgezählt und auf Zutaten verwiesen, die verwendet werden konnten. Tess machte innerlich Notizen und schloss nicht aus in den nächsten Tagen erneut hier einzukaufen.
 

Schließlich verließ sie die kleine Kräuterhexe mit einem bodenständigen Früchtetee zur Linderung von Rheuma im Fingerbereich und war um 13 Sickel ärmer. Der Tee war in einem kleinen Jutebeutel abgepackt mit glänzender Schleife verziert, die sie auf Wunsch hinzubekommen hatte. Mit klopfendem Herzen kehrte sie zurück zu Ollivander.
 

Der Himmel über ihr hatte sich während ihres Einkaufes erneut zugezogen und erste Anzeichen eines nahenden Sommerschauers waren bereits zu spüren: es roch nach Regen. Sie beeilte sich an die Tür zu kommen, die sie beherzt umgriff. Tonk.
 

Sie zog und rüttelte, doch die Tür bewegte sich nicht. Kunden, dachte Tess resigniert und stellte sich neben den Eingang darauf wartend, dass der Jemand, wer auch immer es war, möglichst bald fertig war.
 

Erste Tropfen fielen ihr auf die Wange. Konnte der Tag noch schlimmer werden? "Wenn das Schicksal dich hasst, dann hasst es dich richtig", murmelte sie Richtung Himmel, der jeden Moment loszubrechen drohte. In Erwartung dessen, was gleich folgen würde, schob sie den Jutesack voll Tee weiter unter ihren Arm, damit er nicht nass wurde. Immerhin hatte sie vor ihn zu verschenken, möglichst in trinkbarem Zustand.
 

Der Kunde ließ sich Zeit. Minuten vergingen und der Sturm brach los. Die Leute beeilten sich in Läden unterzukommen oder anderweitig Schutz zu suchen. Viele nutzten das überdachte Eingangstor von Gringotts, wo auch Tess hingelaufen war. Trocken war sie nicht geblieben, aber wenigstens auch nicht komplett durchnässt. Ihr Blick war dabei ständig auf die Tür zu Ollivanders gerichtet, obwohl sie nicht erwartete, dass in diesem Sturm jemand freiwillig einen trockenen Laden verlassen würde.
 

Die Zeit verging und die Kälte kroch in ihre Glieder. Der Regen hatte die schwüle Hitze derart schnell fortgespült, wie es nur in England möglich war. Irgendwann, als sie bereits zitternd hinter den Säulen stand, kam eine Gestalt heraus und gab den Eingang frei. Tess kniff die Augen zusammen um durch den Strömenden Regen etwas zu erkennen, sah aber nur wie die Gestalt sich den Umhang eng um den Körper schlang um kurz darauf mit einem Mal zu verschwinden. Alles geschah innerhalb eines Blinzelns.
 

Tess rannte los durch den Regen hin zur Tür, die Münzen klirrten in ihrer Schürze, und überlegte, ob sie gerade jemanden beobachtet hatte, wie er appariert war. Über den Gedanken hätte sie sich sogar gefreut, wenn sie in diesem Moment nicht derart nass werden würde.
 

Sie riss die Tür auf und stolperte schwer atmend hinein. Das Regenwasser tropfte an ihr herunter und bildete sich in einer Pfütze zu ihren Füßen. Besorgt betrachtete sie das Jutesäckchen, dass eingedellt war und ein paar Spritzer abbekommen hatte, ansonsten aber weitestgehend trocken unter ihren Armen geblieben war. Sie atmete erleichtert aus.
 

"Miss Harris?" Ollivander war beim Klang der Glocke erschienen und beobachtete sie mit verstörtem Blick.
 

"Hallo", winkte sie unbeholfen darauf bedacht sich nicht allzu viel zu bewegen um nichts Wichtiges vollzuspritzen.
 

Ollivander zog seinen schlanken Zauberstab aus seiner Werkzeugtasche und zeigte auf Tess. "Exaresco."
 

Ein warmer Hauch umfing Tess wie ein Föhn und zog an ihr. Das Wasser wurde aus ihren Haaren und Kleidern gepresst und verpuffte in einem feinen Nebel. Nachdem Tess ihm dankend zugenickt hatte fasste sie Mut und hob ihm den Jutesack entgegen.
 

"Mr Ollivander, es tut mir leid, ich hätte nicht so reagieren dürfen." Sie hatte ihren Blick gesenkt aus Scham und Angst sein verärgertes Gesicht zu sehen. Doch dann spürte sie erleichtert, wie der Jutesack aus ihren Fingern gehoben wurde.
 

"Ich denke wir können beide einen guten Tee gebrauchen", sagte Ollivander gütig, hob die Hand und legte sie Tess auf den Kopf. Tess lächelte und nahm die väterliche Geste gerne an.

Kapitel 11 - Brodelnde Vorfreude

Gemeinsam schlürften sie den Tee, den Tess gekauft hatte. Sie war nie der Typ für Früchtetee gewesen und würde es wohl auch nie sein, aber sie freute sich, dass zumindest Ollivander ihn genoss, was die Hauptsache war. Sie selbst erfreute sich an der Wärme, die der Tee in ihr verströmte. Zwar war sie äußerlich trocken, dank des Zaubers von Ollivander, doch innerlich fühlte sie sich klamm und ungemütlich. Der Tee half zumindest in diesem Bereich einwandfrei, auch wenn sie nicht sagen konnte, ob er auch Gelenkschmerzen linderte.
 

"Wo haben Sie diesen Tee nur her, Miss Harris?"
 

Tess hob verwundert die Augen. "Aus der kleinen Kräuterhexe, ich bin überrascht, dass Sie den Laden nicht kennen."
 

Ollivander stellte seine Tasse ab. "Doch natürlich ist er mir ein Begriff. Angesichts ihrer mageren Geldlage muss ich mich trotzdem wundern."
 

Aus Reflex griff sie sich ans Ohr, wo nun kein Schmuck mehr war und sie nur noch die leeren Löcher spüren konnte. "Opfer müssen gebracht werden. Ich habe jetzt wenigstens ein wenig Luft in meinem Kapital."
 

"Das tut mir leid", meinte Ollivander betroffen, doch Tess lachte hohl.
 

"Sie sind der Letzte, dem das leidtun muss." Sie senkte ihren Blick. "Der Schmuck ist gut investiert."
 

Nachdem sie geendet hatte, schlug Ollivander in die Hände. Der plötzliche Knall ließ sie leicht zusammenzucken. "Das möchte ich doch wohl meinen, Miss Harris. Ich habe eine Nachricht aus Hogwarts erhalten." Tess horchte gespannt auf und drängte ihn weiter zu erzählen. "Albus hat keine Einwände einen weiteren Schüler aufzunehmen. 'Hogwarts ist groß genug', meinte er."
 

Tess ballte sie Hände zur Faust und rief stumm einen Jubelschrei aus. Doch Ollivander dämpfte ihr Hoch.
 

"Wir müssen Sie jedoch schnell in eine andere Erscheinung packen. Er meinte, er möchte Sie kennenlernen, bevor er eine offizielle Einladung versendet." Schulterzuckend griff er nach seiner Tasse. "Überflüssig, wenn Sie mich fragen."
 

Das war's, ich bin am Arsch, dachte Tess stumm mit versteinerter Miene. Bisher hatte sie noch keinen Durchbruch in Richtung "Gestaltwandler" gehabt. Sie würde es weder schaffen innerhalb weniger Tage Tränke zu beschaffen geschweige denn zu brauen, noch Dumbledore persönlich damit täuschen. Es hätte funktioniert, wenn er sie nie wirklich beachtet hätte, wovon Tess bis jetzt ausgegangen war. Sein Aufmerksamkeitshorizont kreiste um Harry. Sie bezweifelte, dass er wirklich den Namen jedes Schülers aufzählen konnte. Ihn nun direkt zu treffen, hatte sie eigentlich um jeden Preis verhindern wollen.
 

"Nun machen Sie nicht so ein Gesicht", durchbrach Ollivander ihren inneren Monolog. "Wir haben noch etwas Zeit. Und seien Sie unbesorgt, mein Sohn wird die Geschichte bestätigen, dafür habe ich bereits gesorgt." Das war eigentlich nicht der Grund, weshalb ihr vor Schock die Sprache weggeblieben war, aber gut zu wissen, dass das wenigstens geklärt war. Tess nickte, wenig euphorisch.
 

"Wir sollten uns auf die Tränke konzentrieren." Sie stand auf. "Ich werde mich nochmal hinter die Bücher setzen."
 

Als sie gehen wollte wurde sie noch einmal von Ollivanders sanfter Stimme aufgehalten. "Miss Harris, ich kann ihre Furcht vor Dumbledore wirklich nur schwer nachvollziehen, aber denken Sie nicht zu viel über ihn nach. Es wird schon gut gehen." Er warf ihr ein warmes Lächeln zu und Tess nickte, die herzliche Geste dankend annehmend. Mit einem besseren Gefühl als noch Stunden zuvor verließ sie schließlich den Laden und machte sich innerlich bereits eine Liste, wonach sie in ihren Büchern suchen würde, sobald sie mit Kellnern fertig sein würde.
 

Leider war die folgende Nacht der Horror gewesen. Dank ungewöhnlich vielen Gästen kam sie erst weit nach Mitternacht in ihr Zimmer und sie hatte sogar das Gefühl gehabt am Horizont die Sonne aufgehen zu sehen. Tom hatte sie einfach nicht gehen lassen wollen und sogar Margaret kurzfristig zum Dienst gerufen, obwohl eigentlich ihr freier Tag gewesen war. Immerhin hatte es dadurch auch saftiges Trinkgeld gegeben.
 

Trotz ihrer müden Beine und dem anbrechenden Tag hatte sie sich wie angekündigt ans Forschen gemacht und war bei einem ihrer Schmöker hängen geblieben: Operative Gebräue.
 

Seite um Seite war ihr das Ziel klarer erschienen und schließlich hatte sie sich gefühlt wie Archimedes in der Badewanne. Sie hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte. Ohne Rücksicht auf etwaige Zimmernachbarn war sie jubelnd durch das Zimmer gehüpft, bis sie schließlich ins Bett stürzte und für Stunden nicht mehr aufstand.
 

Am nächsten Tag war der frisch gewonnene Enthusiasmus noch nicht verflogen, von dem sie durch die Winkelgasse gezogen wurde. In einer aus Geschirrtüchern gebastelten Tasche hatte sie ihren Einkaufszettel samt ihres ganzen Geldes gepackt. Zusätzlich hatte sie auch eine der kleineren Kisten im Innenhof mitgehen lassen, in der wohl Obst angeliefert worden war. Darin wollte sie ihren Einkauf transportieren. Sie wollte möglichst alles, was sie benötigte besorgen um endlich mit den Tränken beginnen zu können; und zwar noch heute.
 

Wie viel genau sie benötigte, das würde sie wohl von den Fachkräften erfragen müssen, denn dummerweise stand bei den Rezepten nie eine Portionsgröße dabei. Ihr erster Gang führte sie jedoch weder zu der Apotheke noch zur Kräuterhexe, sondern in den Kesselladen. Für Hogwarts würde sie sowieso einiges aus diesem Bestand benötigen, daher schlug sie hier zwei Fliegen mit einer Klappe.
 

Der Kesselladen selbst war erstaunlich langweilig. Keine fliegenden Kessel, die den Kunden angeboten wurden, kein Raumumriss in Form eines Kessels, sondern nur schlichte Regale fein säuberlich gefüllt mit Kesselmodellen. In der Mitte des Raumes sah Tess mit einem amüsierten Augenrollen, dass dort der sich selbst-umrührende Kessel groß beworben wurde.
 

Ihre Augen leuchteten bei den Modellen aus Platin und sie hätte sich am liebsten Rührgeräte aus Titan mit eingravierten Runen besorgt. Doch sie musste bescheiden bleiben. Ein Zinnkessel der Normstufe 2 und ein Basis Rühr- und Mörserset aus Holz und Stein mussten genügen. Der Kessel selbst war nicht groß und fasste vielleicht einen Liter. Noch während sie bezahlte fragte sie sich, ob jedes Rezept in etwa eine Portionsgröße von einem Liter hervorbrachte. Ihr Kopf begann zu rattern, als sie die Menge hochrechnete, die sie benötigen würde und die Zahlen überschlugen sich.
 

Insgesamt hatte sie sich für vier verschiedene Tränke entschieden. Das wichtigste war die Körpergröße zu verringern, was sie mit einem simplen Schrumpftrank ändern wollte. Als nächstes würde sie sich um ihre weiblichen Kurven kümmern, die ein Kind im Alter von 11 einfach nicht haben sollte. Sie hatte leider nur das Gegenteil gefunden, nämlich die Brustvergrößerungsmethode. Allerdings war selbst ihrem übermüdeten Hirn der letzten Nacht einige Parallelen zu Volumen verringernden Zutaten aufgefallen, sie sie während ihrer Suche nach den richtigen Tränken immer wieder gesehen hatte. Es war ein Risiko sich selbst an einem Trank zu probieren, doch sie würde hier ein wenig experimentieren und wenn möglich einen Trank für Körpergröße und Oberweite aus einem Schrumpftrank mischen können.
 

Nach der Größe müsste sie ins Detail gehen. Ihr Gesicht würde weicher werden müssen, runder und weniger erwachsenhaft definiert. Kinder hatten runde Gesichter und das versuchte sie mit einem Trank gegen Falten zu imitieren. All das Studieren verschiedener Bücher hatte ihr gezeigt, welche Zutaten für was geeignet waren. Es würde immer noch ein stümperhaftes Gemische geben, aber sie war sich mittlerweile ihrer Sache sicher. Zuletzt hatte sie noch einen Trank entdeckt, der ihre Augenfarbe änderte und sie hielt es für das beste, damit auch ein wenig zu schummeln.
 

Ihre Haare würde sie ganz klassisch mit Schere und Farbe ändern, wovor es ihr im Moment noch etwas graute. Sie würde selbst Hand anlegen müssen, doch am Ende würde sie niemand mehr erkennen, das war es, was Tess geplant hatte.
 

Wenn die vier Tränke nur nicht so viel Zeugs beanspruchen würden. In der Apotheke fühlte sie sich wie jemand auf Großeinkauf, was sie in gewisser Weise ja auch war. Eine Zutat nach der anderen erfragte sie sich und wusste bei manchen noch nicht einmal, ob sie tierisch oder organisch waren. Zumindest konnte sie sich unter Knorpluk Fäden nichts vorstellen, anders als unter geriebener Flügel eines Glumbumbel.
 

Um ihre Geldbörse zu schonen hatte sie sich dafür entschieden bei den von den Büchern empfohlene Menge zu bleiben. Zu ihrer Überraschung gehörten auch verschiedene Steine zu ihrer Einkaufsliste, die – wie sie gelesen hatte – zu verschiedenen Stadien in den Trank gegeben werden mussten. Auch erforderte der Schrumpftrank spezielle Runen, die während des Brauens um das Feuer geschrieben werden mussten. Glücklicherweise war jedes Rezept reichhaltig illustriert und sie würde so gut abkopieren, wie es ihr möglich war.
 

Es dauerte seine Zeit, doch irgendwann hatte Tess alles in ihrer Kiste beisammen. Ihr Geld hatte mehr abgenommen, als sie erwartet hatte obwohl sie nur das Nötigste eingekauft hatte. Von ihrem Ersparten war nur noch ein Drittel übrig geblieben. Sie würde wohl Ollivander beten müssen ihr noch wenigstens eine Woche frei zu geben, sodass sie auch tagsüber bei Tom arbeiten konnte.
 

Als ihr Ollivanders Name durch den Kopf schoss überlegte sie kurz ihn auf den neusten Stand zu bringen, entschied sich jedoch dafür zum Tropfenden Kessel zurück zu gehen und die Tränke aufzusetzen. Ihre offizielle Begründung zu sich war, dass sie nur noch etwa zwei Wochen bis zum Schulanfang hatte und sie deshalb dringend mit Brauen beginnen musste. Ihr Gewissen war damit zwar besänftigt, doch tief in ihrem Innern wusste sie, dass sie es kaum erwarten konnte zu brauen. Und das Zeug wurde verdammt schwer.
 

Die Rezepte waren schlicht und einfach verglichen mit manch anderer Materie aus den anderen Büchern. Jeder Schritt wurde genau erklärt und erinnerte sie an ein normales Kochrezept plus seltsamen Gekritzel rund um den Kessel hier und da. Zum ersten Mal, seit sie hier war, hatte sie das Gefühl in Magie etwas Vertrautes zu entdecken.
 

Magie war seltsam, egal wie sie es drehte und wendete. Sie war außergewöhnlich und faszinierend, und trotzdem war es seltsam, dass scheinbar jedes physikalische Gesetz außer Kraft gesetzt wurde mit dem Schwingen eines Stockes.
 

Tränke erinnerte sie an Kochen und ja, auch hier wurden unmögliche Dinge wahr, doch der Erschaffensprozess erschien Tess greifbarer. Man nutze handfeste Zutaten, gespeist mit etwas Magie und kreierte daraus neue Magie. Tess' Magen kribbelte vor Vorfreude wenn sie daran dachte.
 

In ihrem Zimmer angekommen baute sie das Braugestell unter ihrem Fenster auf. Sie hatte nur einen Kessel und würde jeden Trank nacheinander aufsetzen müssen. Sie entschied sich, mit dem Falten-Trank anzufangen und setzte die Brühe auf.
 

Auf Knien sitzend schnitt sie Zutaten, zerdrückte Insekten und mischte es mit undefinierbaren Puder im Mörser. Sie war sehr konzentriert und bemühte sich jedem Schritt genau zu folgen, wich jedoch trotzdem an ein paar Stellen gewollt ab. Nur Falten zu verringern würde nicht reichen, denn wirkliche Falten hatte sie nicht. Sie musste ihre Hautstruktur ändern und umformen. Also nahm sie die Basis des Trankes und mischte sie mit einem Hauch Gotu Kola.
 

Als sie zusah, wie der Trank vor sich hin brodelte, fühlte sie sich weniger wie eine professionelle Trankbrauerin, als vielmehr wie eine Panscherin. Sie musste hier ihrem Bauch vertrauen und darauf, dass das Lesen als der Bücher wenigstens irgendetwas in ihr hinterlassen hatte. Sie hoffte, dass sie die Zutaten und ihre Anwendungsgebiete richtig verstanden hatte und, dass sie sich hier nicht selbst vergiftete. Je länger das Feuer brannte, desto eher wünschte sie sich, dass sie sich vorher doch vorsichtshalber mit Ollivander beraten hätte, der ihr noch ihre ein oder andere Theorie hätte bestätigen können.
 

"Ach, hätte hätte Fahrradkette", murmelte Tess, die sich im Schneidersitz vor ihren Kessel gesetzt hatte und mit Kinn in den Händen dem Trank zuschaute.
 

Laut Rezept hätte er zu diesem Zeitpunkt große Blasen schlagen sollen und einen zitrusartigen Geruch verströmen müssen, doch außer dem leicht rauchigen Duft vom Feuer war bisher nichts zu bemerken. Auch Blasen vermisste sie. Allerdings hatte sie auch andere Zutaten hineingeschmissen, weshalb solch kleine Anomalien ganz normal waren. Hoffte sie zumindest.
 

Kurz vor Sonnenuntergang war es schließlich soweit und ihr erster Trank war, ihrer Meinung nach, fertig. Einen Geruch hatte er immer noch nicht angenommen, was Tess einfach mal als positiv abtat. Der nun an einen Sirup erinnernden Trank schwappte träge in einer alten Flasche, die sie aus der Küche unten mitgehen hatte lassen. Vor ihrer Schicht würde sie die zweite Fuhre nicht aufsetzen können, aber sie würde es noch zum Zauberstabmacher schaffen.
 

Nur mit Zauberstab in der einen und der Flasche in der anderen Hand rannte sie durch den Pub hinaus auf die Winkelgasse und durch die Menge hin zu Ollivander. Die Straßenlampen gingen bereits langsam an, als sie den Laden erreicht hatte, der eigentlich bereits geschlossen hatte.
 

"Der erste ist fertig, Mr Ollivander", rief sie freudig in den Laden hinein, noch während die Tür hinter ihr zu viel. Ollivander war nirgends zu sehen. "Hallo?", versuchte sie es erneut und lief Richtung Treppenaufgang, wo sie den Kopf über die kurze Brüstung lehnte und gen Keller rief. "Mr Ollivander?"
 

"Ich habe sie das erste Mal gehört, Kind." Tess fuhr überrascht herum und entdeckte Ollivander in der Kochnische, wo er gerade in einem Topf rührte. Jetzt bemerkte sie auch den leichten Geruch nach gekochtem Gemüse und Sud. Den ganzen Tag Rauch in der Nase zu haben hatte ihren Sinn buchstäblich vernebelt.
 

Mit erhobener Flasche lief sie strahlend auf ihn zu. "Einer abgehackt, bleiben noch drei."
 

Ollivander nahm skeptisch die Flasche entgegen, die das Logo einer englischen Bierbrauerei zierte und roch vorsichtig daran. "Und was genau halte ich hier?"
 

"Der abgewandelte Falten-Trank." Sie knetete mit den Fingern an ihren Backen. "Das soll das hier ein wenig weicher machen. Ich werde noch zweierlei Schrumpftränke machen und einen Augenfärber."
 

Ollivander zeigte sich verblüfft. "Sie haben bereits mit dem Brauen begonnen." Nun wendete er erneut die Flasche, diesmal jedoch mit mehr Begeisterung. "Sehen Sie? Ich sagte doch, Sie schaffen das. Einen Moment", er hielt inne. "Entschuldigen Sie, meine alten Ohren, aber sagten Sie abgewandelt?"
 

Tess warf ein schuldiges Lächeln zu. "Nur ein bisschen. Ich habe alles geprüft und es müsste funktionieren."
 

"Miss Harris, bis vor wenigen Tagen beherrschten Sie keinen einzigen Zauber. Ich möchte Sie strengstens davor warnen mit Tränken herumzuspielen. Nur weniges ist so gefährlich, wie ein unbekannter Trank."
 

Tess konnte seine Einwände durchaus verstehen und unter anderen Umständen hätte sie ihm vermutlich sogar recht gegeben. Vermutlich.
 

"Zaubern ist etwas anderes als einem Rezept zu folgen. Ich habe ein gutes Gefühl, es wird funktionieren."
 

"Bis sie sich selbst vergiften."
 

"Fühlen Sie sich besser wenn ich Ihnen sage, dass ich vorsichtshalber einen Bezoar gekauft habe?" Sie hat sich tatsächlich in weiser Voraussicht einen Bezoar geleistet, der allein schon teurer war als ihr Einkauf bei der Kräuterhexe, doch der Bezoar könnte ihr womöglich das Leben retten, falls mit ihren Tränken etwas nicht stimmen sollte. Das und der Gedanke einen echten Bezoar zu haben, war ihr der hohe Preis wert gewesen. Wenigstens das wollte sie sich leisten.
 

Ollivander sah sie einige Herzschläge an, bevor er antwortete. "Sie werden jeden Trank in meiner Anwesenheit trinken. Sie werden nicht einen einzigen Schluck alleine in ihrem Zimmer nippen. Den Bezoar geben Sie mir." Sein Ton lies keine Widerworte zu. "Nicht, dass Sie doch noch auf dumme Gedanken kommen."
 

Tess nahm die Flasche wieder entgegen und nickte. "Ich hätte nichts anderes getan." Wobei sie den Bezoar lieber selbst behalten hätte ...

Kapitel 12 - Die Gegenwart, die einmal war

Bestätigt in ihrer Arbeit fuhr sie die nächsten drei Tage fort die restlichen Tränke zuzubereiten. Während der Farbveränderer im Vergleich zu dem vorigen Trank ein Zuckerschlecken war, kam sie mit dem kombinierten Schrumpftrank an ihre Grenzen. Immer wieder hatte sie jeden ihrer Schritte geprüft, denn sie konnte sich einen Fehlschlag schlichtweg nicht leisten. Ihre Zutaten mussten genügen und sie war an ihrem letzten Restposten angekommen, nachdem sie einen weiteren zu solidem Stein getrockneten Fehlschlag in die Tonne hinter dem Pub warf. Zudem ging ihr die Zeit aus. Dumbledore hatte sich angemeldet und würde in nur drei Tagen Ollivander und vor allem sie, Evelyn Harris, besuchen. Ihre Finger umschlossen die Bürste umso fester, während sie ihren Kessel schrubbte. Sie merkte nicht, dass sie beobachtet wurde.
 

"Den ganzen Tag verschanzt du dich in deinem Zimmer und kommst nur zum Arbeiten heraus. Was machst du da?", fragte Margaret mit einem frechen Unterton, während sie sich Tess näherte.
 

"Was auch immer du dir gerade vorstellst, das mache ich nicht." Margaret zuckte mit den Augenbrauen und fuhr fort die Küchenreste zu entsorgen.
 

"Schade, ich hatte gehofft du versteckst da oben einen süßen Zauberer."
 

"Den ich wann genau getroffen haben soll? Ich sehe praktisch nichts anderes als den Pub und die Straße, die ich seit ich hier bin, noch nicht einmal verlassen habe."
 

Margaret zeigte auf sie. "Das solltest du wirklich ändern."
 

"Ich arbeite daran", murmelte Tess, den Kessel weiter mit der Bürste bearbeitend.
 

"Jetzt im Ernst, was brütest du den ganzen Tag aus?"
 

Tess hielt inne. Sie zögerte zu antworten, doch ihr fiel kein Grund ein, weshalb sie lügen sollte. Seit sie hier war tat sie praktisch nichts anderes als lügen. Ihre Vergangenheit änderte sich von einsamer Waisen zu entlaufenem Rebell gefühlt jeden Tag. Es war ermüdend. Sie stellte den Kessel mit einem lauten Klong auf dem Steinboden ab.
 

"Wenn du es genau wissen willst, ich tüftle an ein paar Tränken. Allerdings macht der hier wie man sieht Probleme." Sie griff nach abgebrochenen Klumpen der farblosen, harten Masse, die einmal ein Trank hätte werden sollen und streckte sie Margaret entgegen.
 

"Was ist das?"
 

"Ein zweifacher Schrumpftrank. Naja, eigentlich." Mit knackenden Knien richtete sie sich auf und fasste sich an den Busen. "Die sollen kleiner werden. Nur verträgt er sich nicht mit den anderen Zutaten."
 

Die ältere Frau blinzelte Tess in Sekunden der Schockstarre an, ehe sie in röchelndes Gelächter ausbrach, das sich an den steinernen Wänden hallte. "Kleiner? Kindchen, du hast doch gerade mal nur eine Hand voll." Tess Blick wanderte ungewollt zur Oberweite von Margaret, die zugegeben in einer anderen Liga war, als ihre. Margaret war eine vollschlanke Frau mit üppigen Rundungen, von denen Tess nur träumen konnte.
 

"Das ist alles ja auch nur zu Versuchszwecken." Und da war sie wieder beim Lügen. "Das bisschen was ich habe, soll ja nicht für immer weg." Margaret kämpfte noch immer mit ihrem Gelächter, das sich nur nach und nach legte. Schließlich streckte sie ihren Arm aus und nahm Tess zu sich.
 

"Du bist wunderbar, so wie du bist. Verändere dich nicht, nur um d-" Tess neigte den Kopf, sodass Margaret nicht sah, wie sie mit den Augen rollte. Nicht diese alte Leier. Einen Vortrag wie diesen hatte sie einmal zu viel in ihrer Welt gehört, in ihrer Zeit, die darauf bedacht war alles schön zu reden.
 

Dass Margaret daraus eine gut gemeinte Rede machte, war für sie ein Stück weit nachvollziehbar, dennoch konnte sie gut darauf verzichten.
 

"Margaret", unterbrach sie ihre Kollegin mit gefasster Stimme. "Meine Hüften sind zu breit, meine Finger zu kurz und meine Nase zu groß. Du wirst mir keine Frau nennen können, die wirklich mit sich zufrieden ist. Danke, für deinen Rat, aber das brauche ich nicht." Sie hoffte mit einem Lächeln die Sache etwas aufzulockern. "Was ich brauche ist ein Durchbruch mit meinem Trank."
 

Margaret legte die Hände in ihre Schürze und sah zu, wie Tess sich den Kessel schnappte.
 

"Ich weiß zwar immer noch nicht, wieso du ausgerechnet einen Schrumpftrank brauchst, aber ich weiß vieles nicht über dich, also setze ich das einfach auf die Liste."
 

Tess nickte grinsend. "Tu das."
 

"Was nimmst du als Basis Komponente um den Rückwirkeden Effekt zu erzielen?"
 

Margarets plötzliche Fachfrage erwischte Tess auf dem falschen Fuß. Mit offenem Mund glotzte sie die Kellnerin an, von der sie nie dieses Wissen erwartet hätte.
 

"Nun starr nicht so, im Gegensatz zu dir hatte ich einen guten Grund einen Schrumpftrank machen zu wollen. Ich kenn auch nur den", winkte sie ab, was Tess nicht minder begeisterte.
 

"Du hast schon 'mal einen Schrumpftrank gemacht?"
 

"Klar, da war ich sogar jünger als du. Als junges Mädchen ist es nicht leicht ... nunja ...", sie nahm ihre Hände aus der Schürze und überkreuzte sie unter ihrer üppige Brust, "mit diesem Paket."
 

Tess war völlig überzeugt. "Ich versuche einen Schwelltrank umzuformen und ihn umzukehren. Ich habe zusätzlich eine Schrumpftrank-Basis, da ich eine komplette Schrumpfung haben möchte. Der Schrumpftrank soll zusätzlich mit dem umgekehrten Schwelltrank wirken. Dazu habe ich hauptsächlich Salviawurzel genommen."
 

Margaret schüttelte den Kopf. "Falscher Ansatz. Ein Schwelltrank und ein Schrumpftrank heben sich auf, egal wie du es mischst. Kein Wunder, dass du einen Steinbrocken hast."
 

"Und wie hast du es gemacht?"
 

"Ein normaler Schrumpftrank genügt."
 

Tess verdrehte die Augen. "Der reicht eben nicht."
 

Margaret grinste triumphierend. "Er reicht, wenn du ihn mit Guinness aufbrühst, gut abgestanden."
 

"Mit was?" Tess konnte und wollte kaum glauben, dass dieses eklige Gesöff für irgendetwas gut sein sollte, schon gar nicht fürs Brauen eines Zaubertranks.
 

"Hab' ich in einer Boulevard-Zeitschrift entdeckt", sagte sie mit einem Zwinkern ihrer Augen. "Hätte nie Gedacht, dass es klappt. Zugegeben, die Wirkung hält nicht lange an, was der Grund ist, weshalb ich irgendwann aufgehört habe das Zeug zu nehmen. Der Aufwand war es nicht wert."
 

Margaret redete noch weiter, doch in Tess Kopf ratterten bereits die Räder. Eine gemeinsame Basis wäre perfekt um letztlich einen vereinten Trank zu erschaffen, und abgestandenen Guinness fand sie hier genug...
 

"Danke!", rief sie und verschwand im Pub, um kurz darauf eine neue und hoffentlich letzte Fuhre aufzusetzen.
 

Einige Zeit später hielt sie eine dünnflüssige Suppe abgefüllt in Händen, die entfernt an warme Cola erinnerte. Die Masse war nicht wie die vorigen Male erstarrt, sondern hatte munter weiter gebrodelt. Wirklich begreifen, dass Guinness hier das Wundermittel sein sollte, konnte sie nicht. Doch auf der anderen Seite konnte sie sich auch bei den anderen Tränken nicht um Wirkung sicher sein. Wieso also nicht an Guinness glauben?
 

Natürlich konnte sie die Tränke nicht so einfach einnehmen, auch nicht bei Ollivander. Die Wirkung war dabei ihr größtes Problem. Noch konnte sie nicht sagen, wie lange sie, im besten Fall, im Körper eines Kindes bleiben würde, bevor sie sich zurückverwandelte. Sie erwartete, dass sie einige Stunden mit einer Dosis auskam, weshalb sie aufpassen musste, wann sie den Trank ausprobierte. Tom erwartete sie zu ihrer Schicht im Tropfenden Kessel und dort konnte sie kaum als Kind auftauchen.
 

Ein Risiko musste sie eingehen: entweder trank sie in der Hoffnung am Abend wieder die Alte zu sein, oder sie nahm die Tränke erst kurz vor ihrer Abreise und dann wäre es zu spät noch irgendwelche Änderungen vorzunehmen.
 

Diese Frage beschäftigte sie während ihrer Arbeit im Pub und auch danach noch, als sie bereits im Bett lag. Die Tränke standen verkorkt auf ihrem Nachttisch, von allen eine gute Portion, die für weit mehr als nur einen Schluck reichte.
 

Das Gesicht in das dünne Kissen gepresst stöhnte sie auf. Das Risiko erst im letztmöglichen Moment zu trinken, war zu hoch und doch ging ihr die Zeit aus. Ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als den Selbstversuch auf den Tag von Albus Besuch zu schieben. Normalerweise war sie kein religiöser Mensch, doch in Anbetracht der Umstände schlief sie mit einem Gebet auf den Lippen ein.
 

Am nächsten Tag verlor sie keine Zeit und zum ersten Mal, seit sie hier war, verließ sie den Pub nicht durch den Hinterhof, sondern durch den Vordereingang. Sie wollte sich mit den paar umgetauschten Pfundmünzen in ihrer Tasche Farbe für ihre Haare holen und das bekam sie nur in einer normalen Drogerie.
 

Sie hatte etwas Panik womöglich für immer aus dem Tropfenden Kessel ausgesperrt zu sein, wenn sie ihn nun verließ, weshalb sie lange an der Tür mit den Fingern fest hielt. Doch als die Passanten zu starren begannen, ließ sie gezwungenermaßen los und sah zu, wie die Tür zur magischen Welt, hoffentlich nicht für immer, zufiel. Sie umklammerte nervös ihren vor Blicken versteckten Zauberstab, als sie sich einige Schritte entfernte. Doch als sie selbst von weitem das schimmernde Schild mit einer Hexe und einem Kessel abgebildet erkennen konnte, machte sie sich mit gutem Gefühl auf einen passenden Laden zu finden.
 

Sie war bereits einige Male sowohl schulisch als auch privat in London gewesen, nur kannte sie diese spezielle Ecke rund um die Charing Cross Roads nicht. Wenn sie jedoch eines wusste, dann dass es immer irgendwo eine U-Bahn Station in der Nähe gab und daran konnte sie sich orientieren.
 

Es war seltsam die Winkelgasse hinter sich zu lassen und sich unter, sie konnte es nicht anders sagen, normale Menschen zu mischen. Eigentlich war London ihr vertraut, doch irgendwie kam es ihr fremder vor, als die von unglaublichen Dingen strotzende magische Einkaufsstraße. Diese paar Wochen konnten doch wohl kaum ihre Wahrnehmung derart auf den Kopf gestellt haben?
 

Selbst an einer U-Bahn Station angekommen, konnte sie das Gefühl der Fremde nicht abschütteln.
 

"Was ist hier los?", fragte sie sich schließlich, als sie eine gut befahrene Straße erreichte. Alles sah eigentlich aus wie immer. Ein schwarzes Taxi nach dem anderen reihte sich in den Verkehr ein, abgewechselt nur durch die charakteristischen Doppelbussen, die die Bewohner und Touristen zu jeder Sehenswürdigkeit kutschierten. Sie begann sich sogar zu fragen, ob ihr seltsames Gefühl daher herrührte, dass dies nicht direkt "ihr" London war. Es war Harrys London, das London einer Welt, in der nur wenige Meter entfernt eine ganze Gesellschaft magischer Leute im Verborgenen lebten.
 

Den Platz auf dem sie stand begutachtend, drehte sie sich hilfesuchend um die eigene Achse. Natürlich konnte sie auf gut Glück herumlaufen und darauf hoffen, auf eine Drogerie zu stoßen. Ihr Blick fiel auf eine ältere Dame im leichten Blumenkleid, die eine beige Tasche auf Rädern hinter sich herzog. Aber fragen geht schneller, dachte sie und ging mit großen Schritten auf die Dame zu.
 

"Verzeihen Sie, Ma'am?" Die Dame schaute sie mit ihren eisblauen Augen fragend an. Dabei schob sie ihre Tasche defensiv hinter sich. Tess ging ein wenig auf Abstand, um sie nicht unnötig zu erschrecken. "Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich die nächste Drogerie finde?"
 

"Aber sicher."
 

Die Dame hatte sich als sehr hilfreich erwiesen. Dank ihrer Wegbeschreibung fand Tess sehr schnell einen Kombi Markt, in dem sie zielsicher nach einer Tönung suchte. Auch der Laden erschien ihr fremd, doch erst als sie vor den Haarprodukten stand und in die Gesichter der Frauen auf den Packungen starrten, viel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie ärgerte sich sosehr über ihre eigene Ignoranz, dass sie sich mit beiden Händen an die Stirn fasste.
 

"1991. Das ist nicht nur Harrys London, es ist London fast 30 Jahre in der Vergangenheit." Die plötzlich über sie hereinfallende Realisation in einer anderen Zeit zu sein war vergleichbar mit dem Gefühl in der Geschichte von Harrys Potter gelandet zu sein. Selbst diese Muggel-Welt, zu der sie sich insgeheim noch zählte, war ihr völlig fremd, was ihr während ihres Aufenthaltes bisher nie so bewusst war.
 

Je länger sie sich umschaute, desto eindeutiger wurde es. Die Kleider mit Schulterpolstern, mit denen einige Frauen durch den Laden schlenderten; die toupierten Haare, die ein Überbleibsel der noch nicht lang zurückliegenden 80er Jahre. Und egal ob Herr oder Frau, sie alle trugen ihre Jeansjacken stolz zur Schau. Nun erinnerte sie sich auch an die einzelnen Autos auf der Straße, die recht farblos und kantig das Gesamtbild der Vergangenheit vervollständigten. Eine Vergangenheit, die sie selbst nie bewusst erlebt hatte.
 

Sie schnappte sich eine Blondfärbung und beeilte sich zur Kasse zu kommen. Eine falsche Welt war schon schwer zu verkraften gewesen, das ganze nun zweimal innerhalb weniger Wochen zu durchleben, grenzte schon fast an Tortur.
 

Zügig verließ sie den Laden und suchte ihren Weg zurück. Überall sah sie jetzt Frauen in seltsam breiten Blusen oder Herren in viel zu großen Anzügen. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte sie sogar gedacht, Zauberer hätten sich hier bei der Wahl seiner Muggelkleidung arg vergriffen. Zweifellos fehlte auch die Technologie, die Tess mittlerweile aus ihrer Zeit gewohnt war, wobei sie innerhalb kurzer Zeit gelernt hatte darauf zu verzichten. Ihr war früh klar gewesen, dass ihr in der magischen Welt nichts davon nützen wurde, schon gar nicht in Hogwarts.
 

Trotzdem ließ der Anblick von handylosen Jugendlichen und kitschigen Handtaschen ihren Puls vor Nervosität höher rasen, was sie dazu brachte sich noch mehr zu beeilen. Diese Welt war genauso wenig ihre Welt, wie die hinter dem Tropfenden Kessel. Doch die magische Welt würde sie zu der ihren machen und da war sie auf dem besten Weg. Die Menschen-Welt musste ihr egal sein. Sie durfte nicht darüber nachdenken, was hier draußen geschah oder wie die Muggel lebten. Zwei Welten waren eindeutig eine zu viel und wenn sie sich entscheiden musste, dann war ihre Wahl ganz klar.
 

In der Ferne erkannte sie bereits das schwarz schimmernde Schild zum Pub, der sie zurück bringen würde. Nervös schaute sie nun nicht mehr nach oben, sondern nur noch stur nach unten, ohne ihre Umgebung wirklich wahrzunehmen. Mit zitternden Händen griff sie schließlich nach der Tür neben dem alten Buchladen und stolperte regelrecht hinein, den Straßenlärm hinter sich lassend. Der bekannte Duft nach Bier, frisch gebratenem Essen und Kerzenwachs begrüßte sie und zum ersten Mal seit Wochen hatte sie das Gefühl nach Hause zu kommen.

Kapitel 13 - Wie ein neuer Mensch

"Wenn Sie den Ausdruck verzeihen, aber Sie sehen aus, als seien Sie zwischen einen Diffindo gekommen."
 

Ollivander hatte recht. Ernüchternd starrte sie in den fleckigen Spiegel, den Ollivander ihr aufgestellt hatte und legte die Schere beiseite. Ihre Haare hatte sie zu einem Zopf zusammen geflochten und nun, da der entscheidende Tag gekommen war, kurzerhand abgeschnitten. Für heute hatte sich Albus Dumbledore angemeldet und würde der Winkelgasse sie Ehre seiner Präsenz erweisen. Sie war also früh morgens zu Ollivander gegangen, die Tränke unter ihrer Schürze versteckt, und hatte begonnen alles vorzubereiten. Getestet hatte sie bisher noch immer nichts, da sie stattdessen lieber bei Tom gearbeitet hatte und sich zusätzlich etwas zu verdienen, was Rückblickend gesehen vermutlich doch zu riskant war. Passiert ist passiert und nun war heute der Tag der Wahrheit in jeder Hinsicht.
 

Den Anfang hatten ihre Haare machen sollen, die nun klatschnass und arg gekürzt von ihrem Kopf hingen. Sie fasste an eine etwas längere Strähne, die ihr Kinn umschmeichelte. Der Schnitt sah wirklich sehr grob aus, doch mit etwas Nachbessern und dem richtigen Föhnen würde er einem Bob-Schnitt ähneln; das hoffte sie zumindest.
 

"Perfekt muss es nicht werden", erwiderte sie, als sie erneut zur Schere griff. Doch Ollivander riss sie ihr sofort wieder aus der Hand.
 

"Lassen Sie mich das lieber machen. Sie sehen ja kaum etwas."
 

Tess ließ ihn gewährend und beobachtete, wie er hier und da ein Stück ihrer Haare entfernte. Sie hätte gedacht, es würde schwerer werden sich von ihren Haaren zu trennen. Wirklich kurz hatte sie sie nie getragen, sodass ihr der Anblick ihrer selbst äußerst befremdlich erschien. Warte erst ab, wie du gleich nach den Tränken aussiehst, dachte sie, wobei sie skeptisch den Mund verzog.
 

"Das reicht, danke Mr Ollivander." Sie beugte sich ein wenig nach vorne und schüttelte ihre Haare, von denen sie glaubte, dass sie nun gleichmäßig waren.
 

"Was soll damit passieren?", fragte er, den abgeschnittenen Zopf in Händen halten.
 

Tess zuckte mit den Schultern. "Ich vermute daraus kann man keine Zauberstabkerne machen?"
 

"Ich fürchte nicht", erwiderte Ollivander und warf den Zopf schmunzelnd in einen aufgestellten Eimer. "Kommen Sie zurecht? Ich müsste schnell etwas holen."
 

Tess nickte, als sie nach der Farbe griff. "Natürlich, gehen Sie ruhig. Damit komme ich alleine klar."
 

Der Zauberstabmacher verabschiedete sich und Tess begann damit ihre neuen Haare blond zu färben. Es dauerte, bis sie über dem Waschbecken die Farbe aufgetragen und nach längerem Däumchen drehen wieder entfernte hatte. Doch Ollivander war noch immer nicht zurück. Während sie alleine in dem noch geschlossenem Laden wartete, wuchs ihre Nervosität immer weiter. Ihre größte Furch war, dass heute etwas schief ging, allen voran die Tränke. Sie starrte auf die drei unscheinbaren Flaschen, von denen in gewisser Weise alles abhing. Immer wieder redete sie sich Mut zu, dass sie vertrauen haben sollte. Dass sie in der Theorie alles richtig gemacht hatte. Theorie, von der ich eigentlich keine Ahnung habe.
 

Sie seufzte und hörte, wie sich Ollivander endlich näherte. Erleichtert nicht mehr alleine mit ihren Ängsten zu sein kam sie ihm entgegen, wobei sie neugierig beäugte, was er auf den Armen trug.
 

"Ihre Kleider werden ihnen nach dem Schrumpfen nicht mehr passen. Das hier sind Sachen meiner Tochter." Er lächelte nostalgisch. "Ich kann nichts wegwerfen, müssen Sie wissen."
 

Tess prüfte die helle Bluse und den schlichten, weite Falten schlagenden Rock und war begeistert. Sie hatte an vieles gedacht, aber eben doch nicht an alles. Ollivander auf ihrer Seite zu haben war eine große Hilfe und erneut hatte sie das Gefühl, es ihm nicht genug zu danken.
 

"Die sind perfekt, vielen Dank. Für alles."
 

Ollivander winkte ab. "Dafür ist später Zeit. Albus ist sicher bald da und wir wissen nicht, wie die Tränke sich verhalten."
 

Tess musterte erneut die Flaschen. Es war nun soweit.
 

"Haben Sie eine bestimmte Reihenfolge im Sinn?"
 

"Ich dachte ich fange mit dem Größten an, dem kombiniertem Schrumpftrank. Dann der Falten-Trank und zum Schluss der Färber."
 

Ollivander nickte stumm und wartete darauf, dass Tess den ersten Schluck nahm. Sie sah, dass er sich an eine Tasche seines Werkzeuggürtels fasste, wo zweifellos der Bezoar verstaut war, den Tess ihm übergeben hatte, wie er es verlangt hatte. Tess hoffte, dass es nicht soweit kommen würde ihn benutzen zu müssen. Alles wird gut, alles wird gut.
 

"Zum Wohl", sagte sie und trank mit all ihrem Mut, den sie aufbringen konnte, von der ersten Flasche; dem Gesöff, das arg an Cola erinnerte. Wenn es doch nur so geschmeckt hätte. Ein bitterer, scharfer Aroma machte sich sofort in ihrem Mund breit, der Tess heftig zum Husten brachte. Sie spürte, wie der Trank Zentimeter um Zentimeter ihre Speiseröhre entlang lief und fühlte sich dabei mehr als elend. Das erste Knacken hörte sie einige Sekunden, nachdem sie die Flasche abgestellt hatte. Es war ein ekliges Knacken, wie es nur von brechenden Knochen zu hören war. Sie fühlte ein Ziehen in ihrem rechten Oberschenkel, das sich nun graduell ausbreitete, bis sich auch die Zehen ihres linken Beines in jede Richtung zu winden schienen. Schmerzen hatte sie jedoch erstaunlicherweise keine, nur ein drückendes Gefühl in ihrem ganzen Körper, das mehr als unangenehm war. Sie stöhnte auf, hielt Ollivander jedoch mit erhobener Hand zurück einzugreifen. Sie fühlte, wie es funktionierte. Die Welt um sie herum wurde größer und ihr Gleichgewichtssinn war mehr und mehr gestört.
 

Als der Unterrock ihres Kleides den Holzboden des Ladens berührte, flaute der Druck in ihrem Körper ab und es war vorbei. Tess betrachtete ihre Finger, die noch ziemlich normal aussahen. Also hatte sie keine unschöne Verwandlung zu einem blauen Schlumpf durchgemacht, was sie innerlich als positiv notierte. Die Ärmel ihres Kleides bedeckten beinahe ihre kompletten Handflächen und der Rest des Kleides schlabberte ihr um Hüfte und Beine. Ollivander, nun doppelt so groß in ihren Augen, starrte auf sie herab.
 

"Zu viel?", fragte Tess unsicher, doch Ollivander schüttelte stolz den Kopf.
 

"Nein, zwar noch immer ein wenig groß, aber durchaus kindlich. Gut gemacht, Miss Harris." Groß fühlte Tess sich nicht mehr. Neugierig ging sie ein paar Schritte, schwankte jedoch noch ein bisschen. Ihre Sinne hatten sich an die neue Größe und damit an den neuen Blickwinkel noch immer nicht gewöhnt.
 

"Springen sollte ich wohl vorerst lassen", meinte sie scherzhaft und griff zur zweiten Flasche. Ohne zu zögern nahm sie auch hiervon einen Schluck, musste den zähen Sirup jedoch mit der Zunge in ihren Hals schieben. Die Konsistenz erinnerte an Honig und tatsächlich schmeckte es ohne die Süße ähnlich erdig. Der Effekt auf ihren ganzen Körper blieb diesmal aus. Stattdessen glaubte sie in einem Strahl warmer Luft zu stehen, der über ihre Haut wehte. Noch während des eigenartigen Gefühls auf ihrer Haut, strich sie sich über ihr Gesicht, das unter ihrer Berührung prickelte.
 

"Tut sich was?", wollte sie wissen. Ollivanders Reaktion machte ihr Hoffnung.
 

"Oh ja, ich kann es nicht beschreiben aber, Sie sehen anders aus." Tess griff sich erleichtert an die kaum vorhandene Brust. Das Wichtigste war geschafft. Der Farbveränderer war nur ein Bonus, denn von ihm hing ihre komplette Tarnung nicht ab. Mit leichterem Herz, als noch vorhin, nahm sie einen Zug des Gebräus, das von allen dreien am widerlichsten schmeckte. Es dauerte bis sie sich überwinden konnte das Zeug, das wie eine hartnäckige Tablette in ihrem Gaumen hing, zu schlucken. Dabei verzerrte sie ihr Gesicht vor Ekel und streckte die vom herben Geschmack taube Zunge heraus.
 

"Urgh, das war fies", versuchte sie zu sagen. Ollivander sah sie belustigt an und hob hilflos die Schultern. Fast hoffte sie, dass der Trank nicht funktionierte, denn der Gedanke das Zeug immer wieder einnehmen zu müssen, ließ sie erschauern.
 

"Hatten Sie eine bestimmte Farbe im Sinn, Miss Harris?"
 

"Wäre gut, wenn es nicht gerade Lila wäre. Ein Blau-Ton, so hieß es in der Beschreibung. Bah, ich hab' den Geschmack immer noch im Mund..."
 

"Sehen Sie mich bitte an."
 

Tess war so abgelenkt gewesen, dass sie keine Acht gehabt hatte, ob ihre Augen eine Veränderung gemacht haben. Wie von Ollivander verlangt sah sie ihm mit aufgerissenen Lidern an, bis dieser nickte.
 

"Ich fürchte der Trank ist etwas zu schwach. Ihr natürliches Braun schimmert ein wenig durch, aber das ist zu vernachlässigen." Er trat nach vorne und legte ihr seine Hände auf die Schultern. "Ich bin stolz auf Sie, das war eine Glanzleistung. Oh, sicher wollen Sie sich selbst betrachten." Tess nickte, war jedoch gerührt von den Worten des alten Mannes und gleichzeitig erleichtert die erste Hürde geschafft zu haben.
 

Ungläubig bestaunte sie ihren neuen Körper in dem Spiegel, den Ollivander ihr hin hob. Sie sah aus, wie sie selbst, und doch anders. Wenn sie genau hinsah, erkannte sie sich in ihrer Gestik, in der Art, wie sie vor Staunen die Augen runzelte oder den Mund bewegte. Doch bei nur flüchtigem Hinsehen, hätte sie sich selbst nicht in dem Wesen im Spiegel gesehen.
 

Ihre Wangen waren rund, ihr Körper undefiniert und zweifellos der eines Kindes. Ihre Augen waren tatsächlich eine Mischung aus hellerem Braun und Blau. Zusammen mit den hellen Haaren war sie ein völlig anderer Mensch. Nur ihre noch immer dunklen Augenbrauen stachen heraus.
 

"Sie sollten die Kleider probieren. Ich bin zwar kein Meister wie Madam Malkin, aber ich werde sehen, was ich tun kann."
 

Tess riss sich von dem Spiegel los und schnappte sich Bluse und Rock, die ihr Ollivander freundlicherweise überließ. Der Rock war für ihre Beine ein wenig kurz, doch mit ihrer Strumpfhose war es ganz ansehnlich. Ollivander kannte einen Zauber zum Anpassen der Kleider, weshalb er die restlichen Schönheitsfehler ausglich. Das Ergebnis kam nicht annähernd an die professionelle Arbeit von Madam Malkin heran, doch es würde genügen.
 

Nun hieß es warten. Die beiden nutzten die Zeit um ihre Geschichte zu verfeinern, die sie Albus erzählen würden, wobei Tess begann nervös auf und ab zu gehen. Jedes Mal, wenn sie die Glocke im Eingangsbereich hörte, fuhr sie zusammen, doch bisher waren es nur Kunden, die hereinkamen. Während Ollivander sich um sie gekümmert hatte, war Tess unruhig im hinteren Teil des Ladens durch die Reihen der Regale getigert. Immer wieder schielte sie dabei in den Spiegel und suchte nach Anzeichen, dass einer der Tränke langsam seine Wirkung verlor. Bisher war dies jedoch Gott sei Dank nicht geschehen. Wenn Dumbledore aber nicht bald kam, würde sie zur Sicherheit von allem einen zweiten Schluck nehmen. Wenn es eins gab, was fatal werden konnte, dann dass sie sich mitten im Gespräch verwandelte und das wollte sie nun, da sie die Gewissheit hatte, dass ihre Tränke funktionierten, nicht riskieren.
 

Es war nach Tee-Zeit, als die Tür erneut klingelte und Ollivander sie nach vorne rief. Tess wappnete sich mit einem letzten Blick in den Spiegel und schlurfte mit flauem Magen nach vorne. Sie erwartete einen alten Greis mit Haaren bis zum Boden zu sehen, in schillernden Roben gekleidet und umgeben von einer Aura purer Weisheit, doch sie sah weder das eine noch das andere.
 

Im Raum stand eine Frau mittleren Alters, mit glänzend braunen Haaren, die zu einem strengen Zopf gebunden und gezwirbelt waren. Sie begrüßte gerade Ollivander überraschend herzlich, ehe sich beide Erwachsene umdrehten und zusahen, wie Tess sich näherte. Die konnte ihre Verblüffung nicht verbergen und starrte beinahe zu aufdringlich die Dame an der Tür an. Sie hatte eine gute Ahnung, wer das vor ihr war.
 

"Darf ich vorstellen: Miss Evelyn Harris." Er deutete auf Tess, woraufhin sie dem Besuch die Hand entgegen streckte. Den Blick hatte sie noch immer auf der großen und schlanken Frau gehaftet.
 

"Hallo", brachte sie heraus. Sie hatte vorgehabt auch ihre Stimme etwas zu verstellen, das war gerade jedoch nicht nötig, da sie vor Aufregung sowieso kaum Buchstaben formen konnte und nur ein dünnes Stimmchen hervorbrachte. Die Frau ergriff mit ihren schlanken Händen die von Tess.
 

"Sehr erfreut. Mein Name ist Minerva McGonagall, Stellvertretende Schulleiterin von Hogwarts." Sie wendete sich an Ollivander. "Albus lässt sich entschuldigen, Garrick. Er meinte er hätte sich um Angelegenheiten zu kümmern, die seiner vollsten Aufmerksamkeit bedürfen." Tess glaubte ein wenig Spott in ihren letzten Worten zu hören.
 

"Muss er das nicht immer?", erwiderte Ollivander amüsiert, was McGonagall jedoch unkommentiert ließ.
 

Tess war beides, mehr als erleichtert nicht Dumbledore treffen zu müssen, und extrem eingeschüchtert eine der größten Hexen dieser Zeit zu treffen. Sie hatte großen Respekt vor dieser Frau, die absolut loyal und furchtlos war. Ein Glück, dass zunächst Ollivander das Reden übernahm.
 

"Wollen Sie einen Tee, Minerva?"
 

"Gerne", sagte sie und trat weiter hinein, während sie sich ihres Umhangs entledigte. Tess folgte den beiden, die sich nun in einem Gespräch vertieften und fühlte sich wie das dritte Rad am Wagen. Unsicher, was sie machen sollte, stand sie daneben und wartete darauf angesprochen zu werden. Wieder ein Kind in jeder Hinsicht, dachte sie mit einem Schmunzeln.
 

Tess trank stumm ihren Tee, wobei sie nicht umhin kam McGonagall erneut von der Seite zu beobachten. Ohne ihren Umhang konnte Tess nun eine beeindruckende Robe in braunen Tönen und mit filigranen Stickereien sehen. Mitten im Gespräch griff sie in eine an ihrer Robe verborgenen Tasche und zog eine dünne Brille mit eckigen Gläsern hervor, die sie sich auf die Nase setzte. Jede Bewegung, jede Pose wirkte absolut würdevoll.
 

Tess blendete das Gespräch um sie herum aus und versank in Gedanken, wo sie sich vorstellte, was diese Frau vor ihr, die so gelöst mit Ollivander tratschte, bereits geleistet hatte und was sie noch alles tun würde. Je länger sie stumm darüber nachdachte, desto schlechter wurde ihr Gewissen und sie begann an ihrer Lippe zu kauen. Sie könnte diese Frau vor vielem bewahren, ihr Dinge anvertrauen, mit der sie anderen helfen konnte, doch war das klug? Tess wusste, dass McGonagall lebend das Ende des Krieges erreichen würde, andere würden jedoch nicht so viel Glück haben. Sie war in der Position etwas zu ändern. Diese Frage hatte sie in sich vergraben und sich abgelenkt mit ihren Studien, mit dem Brauen der Tränke und mit ihrer Arbeit als Kellnerin. Doch je länger sie McGonagall sah und ihre erstaunlich tiefe Stimme hörte, desto mehr wurde ihr bewusst, was sie für Hogwarts und seine Bewohner tun könnte. Ihr wurde bewusst, dass sie alle nun reale Personen waren, mit realen Schicksalen, wie sie selbst eine solche Person war.
 

"Miss Harris, das ganze muss sie fürchterlich langweilen, verzeihen Sie bitte." McGonagall hatte sich nun direkt an Tess gerichtet und sie aus ihren Gedanke geholt. "Eigentlich bin ich nicht hier, um mit Ihnen, Garrick, zu plaudern", sie neigte sich zu Tess, "sondern mit Ihnen. Sie haben also den Wunsch Hogwarts zu besuchen."
 

Tess nickte, traute sich aber nicht zu sprechen.
 

"Wie Mr Ollivander bereits berichtet hat, wohnen Sie eigentlich in Frankreich, ist das richtig?"
 

"J-a, Mrs, ehm, Professor McGonagall."
 

"Mein Sohn hat sich ihrer angenommen. Wie Sie vielleicht wissen blieb sein Kinderwunsch bisher unerfüllt", mischte sich Ollivander nun ins Gespräch. "Doch ich fürchte, er hat dem Kind zu viel Gutes über seine alte Heimat und vor allem über Hogwarts erzählt."
 

McGonagall faltete vor sich ihre Hände, bevor sie an ihn gewendet sprach. "Beauxbatons wäre eigentlich für ihre Ausbildung zuständig, Garrick."
 

Tess schluckte schwer. Sie musste nun etwas sagen und fiel Ollivander, der gerade versuchte zu argumentieren, ins Wort. "Hogwarts ist Europas beste Schule. Ich habe so viel davon gehört und gelesen, dass ich mir keine andere Schule mehr vorstellen kann." Sofort ruhte McGonagalls strenger Blick auf ihr.
 

"Erstaunlich, Sie sprechen unsere Sprache beinahe akzentfrei. Für ein Kind ihres Alters ist das bemerkenswert. Wobei, Harris ist nicht gerade ein französischer Name, oder?"
 

Darauf sind wir vorbereitet, schoss es ihr durch den Kopf, was ihren Puls jedoch trotzdem aus wachsender Panik langsam in die Höhe trieb. "England. Ich komme eigentlich aus England."
 

"Richtig, mein Sohn hatte es bevorzugt ein armes Kind aus England in seine Obhut zu nehmen."
 

Armes Kind aus England? Sie sah Ollivander kurz an, blickte dann jedoch wieder zu McGonagall, die ausdruckslos auf sie herabschaute. Er hätte nicht so übertreiben müssen, dachte Tess, aber jetzt hatte Ollivander sie bereits als armes Kind abgestempelt.
 

"Ich habe meine Familie nie gekannt, aber ich bin sicher, sie waren auf Hogwarts. Bitte lassen Sie mich die Schule besuchen."
 

Sie hoffte damit etwas in der Lehrerin zu bewegen, doch diese presste nur die Lippen zusammen. Kein gutes Zeichen, dachte Tess. Mist, mit der Mitleidsnummer hätte ich Dumbledore jetzt bestimmt gehabt. McGonagall erwies sich jedoch als schwieriger Brocken. Wer hätte gedacht, dass sie sich nun den Schulleiter statt Minerva McGonagall wünschte? Tess überlegte fieberhaft, wie sie die Hauslehrerin von Gryffindor für sich gewinnen könnte.
 

"Miss Harris, Ihre Wohnhaft ist in Frankreich und damit im Einzugsgebiet v-"
 

"Wenn ich Sie hier kurz unterbrechen dürfte, Minerva." McGonagall sah Ollivander fragend an, der einige Pergamente aus der Schublade unter seinem Schreibtisch zog und sie ihr reichte. "Wie Sie sehen, bin ich vor dem britischen Ministerium für Magie als Vormund von Miss Harris eingetragen. Ihre Wohnhaft ist daher streng genommen auch hier."
 

Tess starrte Ollivander an, der unentdeckt von Minerva, die die Pergamente studierte, kurz zu Tess zwinkerte. Ein Zeichen, dass Hoffnung bestand.
 

Für einige Herzschläge hörte sie nur das Rascheln der Pergamente, doch dann hob McGonagall den Kopf. "Wenn das so ist, wäre Miss Harris befugt Hogwarts zu besuchen." Tess atmete laut ein und strahlte die Professorin an. Die hob aber den Finger um ihre Begeisterung zu zügeln. "Ich sagte wäre, Miss Harris. Jemand nachträglich, so kurz vor dem Schuljahr noch dazu, auf die Liste der Schüler zu setzen, ist eine schwierige Angelegenheit. Wir können nicht den Wünschen jedes Kindes in Europa nachkommen." Sie hob hilflos die Arme.
 

"Ihr Umstand tut mir wirklich leid, Miss Harris. Aber wir sind Regeln unterworfen, nach denen wie uns richten müssen. Ich muss Ihnen daher leider eine Absage erteilen." Diese Aussage traf Tess hart. Sie war sich sicher, dass sie angenommen werden würde, wenn es ihr erst gelang ihr Äußeres zu verändern. Nun stand sie hier, im Körper eines Kindes und war so kurz vor ihrem Ziel gescheitert. Ihr Kopf sank, als sie ins Leere starrend langsam realisierte, dass sie Hogwarts nie sehen würde.
 

"Minerva, ich bitte Sie. Albus hatte bereits zugesichert, dass Hogwarts gewiss groß genug sei. Was machte ein Schüler mehr oder weniger schon aus?"
 

"Bitte, Garrick. Dieses Jahr ist es ein Schüler, nächstes Jahr sind es drei und wieder im nächsten Jahr zehn. Der Schulrat ist darauf bedacht den Titel einer Eliteschule zu behalten. Hogwarts Prinzipien beruhen darauf, dass man sich nicht Einkaufen kann. Man wird erwählt Hogwarts besuchen zu dürfen und Miss Harris steht nicht auf der Liste. Es kann sein, dass sie bei ihrer Geburt vorgemerkt worden war, aber die Magie des Schlosses macht es unmöglich die Liste einzusehen, ehe es nicht Zeit ist die Kinder einzuladen. Noch nicht einmal der Schulleiter kann das."
 

Ollivanders Gesichtszüge erhärteten sich, als er sprach. "So ein Blödsinn. Jeder zahlt die Schulgebühr und die für Miss Harris ist bereits überwiesen, mit keinem Knut mehr. Derselbe Betrag, wie bei jedem anderen auch. Zu den Prinzipien von Hogwarts gehört es auch jedem eine Ausbildung zu ermöglichen, ist es nicht so, Minerva?" Minerva verzog den Mund zu einer dünnen Linie. Tess stolperte hingegen über die Erwähnung des Wortes "Schulgeld". Sie schaute Ollivander flehend an, doch dieser war ganz auf McGonagall fixiert.
 

"Schauen Sie mir in die Augen, Minerva, und sagen Sie mir, dass Hogwarts nicht deshalb erbaut wurde, um jedem Kind eine magische Ausbildung zu ermöglichen, falls es darum bittet."
 

Tess schöpfte Hoffnung, als sie sah, wie Minerva McGonagall angespannt von einem Fuß auf den anderen wechselte. "Es gehört in der Tat zur Philosophie unserer Schule jedem eine Ausbildung zu ermöglichen." Sie schaute nun Tess an. "Miss Harris, wünschen Sie wirklich an der Hogwarts Schule für Hexerei und Zauberei zu studieren?"
 

"Ja", schoss es aus ihr heraus. "Mehr als alles andere."
 

Sie beobachtete, wie McGonagall tief einatmete und daraufhin erneut in die verborgene Tasche griff. Dieses Mal zog ein geschnürtes Bündel heraus, das sie Tess reichte. Tess glaubte ihr Herz würde ihr aus ihrer Kehle springen, als sie mit zitternden Fingern das Papier entgegen nahm.
 

"Schulbeginn ist am 1. September, Miss Harris. Ich erwarte nur die beste Leistung von Ihnen." Sie nahm sich ihren Umhang und nickte in Richtung Ollivander. "Ich werde Albus ausrichten, dass er Miss Harris auf die Liste setzen soll. Das Schulgeld ist, wie Sie sagten, bereits bezahlt und wird einbehalten. Danke für den Tee, Garrick. Guten Tag."
 

Ohne sich erneut umzudrehen verschwand Minerva McGonagall aus der Tür.
 

"Puh, das war knapp, nicht wahr, Miss Harris? Miss Harris? Geht es Ihnen nicht gut?" Besorgt griff er nach Tess, die an Ort und Stelle auf die Knie gesunken war. Sie hatte sich nicht mehr auf den Beinen halten können, als sie das rote Wachssiegel von Hogwarts unter ihren Fingern gespürt hatte. Die Tränen, die zuvor stumm, flossen, brachen nun mit heftigem Schluchzen aus ihr heraus. Den Brief umklammerte sie mit beiden Händen und drückte ihn gegen ihre Brust. Sie hatte es geschafft, sie hatte ihren Brief bekommen. Er kam 14 Jahre zu spät, doch nun saß sie hier, in der falschen Welt, im falschen Körper und glücklicher, als sie es sich je erträumt hatte.

Kapitel 14 - Unruhe ist der ärgste Dämon

Sie spürte den Druck einer Hand auf ihrer Schulter, konnte ihren Blick jedoch noch immer nicht von dem Pergament in ihrer Hand abwenden. Das rote Siegel mit dem Wappen der Schule glitzerte im Licht. Seit McGonagall den Laden verlassen hatte, hatte Tess noch kein Wort gesagt und nur stumm auf dem einsamen Stuhl gesessen mit eine unangerührte Tasse Tee vor sich.
 

Ihre Freude ihr Ziel erreicht zu haben war nicht abgeklungen, doch ihr Sieg schien überschattet zu sein.
 

"Wollen Sie ihn nicht öffnen?"
 

Ollivanders Vorschlag klang fast frevlerisch in ihren Ohren. Sie wusste, was darin stand, weshalb also das schöne Siegel zerbrechen?
 

"Miss Harris, Sie sind so still. Haben Sie im Nachhinein Bedenken?"
 

Langsam schüttelte sie den Kopf. Bedenken nach Hogwarts zu gehen hatte sie keine, doch erste Zweifel schlichen sich ein, gemischt mit einem wiederkehrenden schlechten Gewissen gegenüber Mr Ollivander. "Nein", hauchte sie. "Ich schätze, ich genieße den Moment?"
 

Ollivander beugte sich etwas nach vorne und fasste ihre Hände, die am Hogwarts-Brief klammerten, in die seinen. Seine Berührung war warm und angenehm. "Freuen Sie sich. Sie haben es geschafft! Ihre Tränke sind ein Erfolg und Sie haben Minerva McGonagall überzeugt."
 

"Eigentlich haben Sie Professor McGonagall überzeugt. Die ganzen Unterlagen, wo haben Sie die her?"
 

Er zog seine Augenbrauen hoch vor Verblüffung. "Meinen Sie die vom Ministerium? Na, glauben Sie ich war tatenlos, während Sie ihre Tränke gebraut haben? So einen Wisch bekommt man ganz leicht, wenn man die richtigen Leute kennt. Aber keine Sorge, die Unterlagen sind echt und gültig."
 

"Wieso tun Sie das?", murmelte sie leise. "Wieso helfen Sie mir und nehmen das alles auf sich? Seit Wochen unterstützen Sie mich, verwickeln sogar ihren Sohn hier mit hinein, riskieren Probleme mit dem Ministerium ... Wieso? Ich bin Ihnen dankbar, Mr Ollivander, das bin ich wirklich. Ohne Sie stünde ich vermutlich jetzt hinter dem Tresen im Tropfenden Kessel und würde Fässer säubern. Aber bis vor kurzem war ich eine völlig fremde Person für Sie und trotzdem..." Sie starrte Ollivander in seine hellen Augen, die voller Güte zu strahlen begannen.
 

"Macht Ihnen das Sorgen?"
 

"Nein. Ja." Sie schnaubte. "Ich weiß es nicht."
 

"Sie vertrauen mir doch auch, obwohl Sie mich nicht kennen." Tess senkte den Blick und schloss die Augen. Das stimmte natürlich nicht ganz. Sie vertraute Ollivander, gerade weil sie ihn gut kannte, aber das konnte sie ihm schlecht erklären. Tatsächlich wäre sie nie so vertrauenswürdig einem Fremden gegenüber gewesen, und wenn es anders herum gewesen wäre, hätte sie wohl auch nie so viel für einen Unbekannten getan. Sie drehte den Brief nervös in ihren Händen, den sie praktisch nur deshalb bekommen hatte, weil Ollivander ihr beistand.
 

"Sie haben Hilfe gebraucht und ich habe Ihnen helfen wollen, ganz einfach. Nehmen Sie diese Hilfe an. Öffnen Sie den Brief, Sie haben es sich verdient."
 

Als wirklich überzeugende Erklärung empfand sie seine Antwort auf das 'Wieso' nicht. Jeder hatte seine Gründe zu handeln, niemand tat etwas nur aus reiner Herzensgüte, auch wenn sie sich das gerne bei Ollivander wünschen würde. Sie spürte jedoch, dass sie heute keine bessere Antwort bekommen konnte.
 

Sie räusperte sich, während sie den Kopf hob. "Wir beide haben es verdient."
 

Ihre Finger fanden das Wachssiegel und hoben es langsam von dem Papier ab. Vorsichtig zog sie alles heraus, was sich im Innern des Briefes befand, was Einiges war. Mehrere Bögen gefaltetes beiges Pergament und ein kleinerer, silbern glänzender Zettel fielen heraus in ihre offene Hand.
 

Sofort entdeckte sie auf jedem Pergament das Zeichen von Hogwarts, das mit leuchtend violetter Farbe in das Material gestanzt war. Mit Stolz und heftigem Kribbeln in der Magengrube las sie ihren Namen, der über der Einladung nach Hogwarts kommen zu dürfen thronte. Die geschwungene Schrift von McGonagall komplettierte das Gesamtbild. Auf Tess' Gesicht kehrte das Lächeln zurück.
 

"So möchte ich Sie sehen", hörte sie Ollivander sagen, wobei sie ihn angrinste.
 

Auf den anderen Pergamenten fand sie die Einkaufsliste und, zu ihrer Überraschung, eine Liste mit verschiedenen Verhaltens- und Hausregeln für Schüler und Neuschüler. Die meisten waren die allseits bekannten Einschränkungen, wie die festgesetzte Ausgangssperre oder die besondere Kleidungsordnung. Andere Verbote waren ihr hingegen neu.
 

"Den Schülerinnen und Schülern der ehrwürdigen Schule für Hexerei und Zauberei Hogwarts ist es nicht gestattet das erlernte Wissen und Aufschriebe an Dritte ohne Verbindung zur Schule weiterzugeben", las sie eine der Regeln vor. Hilfesuchend schaute sie zu Ollivander, der nur amüsiert die Schultern zuckte.
 

"Jede magische Schule hat ihre eigene Art des Unterrichts, die sie selbstredend als die beste Methode erachten. Man will nicht, dass andere Schulen den Erfolg kopieren."
 

"Aha, das ist also eine Klausel, dass man nicht das Geheimrezept verrät."
 

"Wenn Sie es so sagen wollen."
 

Sie legte die Liste voll mit Regeln beiseite und sah sich das nächste Pergament an, auf dem nur weniges stand. Dabei stach ihr ein Wort besonders ins Auge.
 

"Überweisungsbestätigung?"
 

Ollivander holte sich das Dokument aus ihrer Hand. "Das ist für mich."
 

"Das ist die Rechnung für das Schulgeld, nicht wahr?" Tess erinnerte sich an den Moment während des Gespräches mit McGonagall, als sie 'Schulgeld' erwähnt hatte und der ihr da bereits sauer aufgestoßen war. Wirklich überraschend, dass Hogwarts Schulgeld verlangte, kommt diese Nachricht für Tess nicht, denn vermutet hatte sie es schon länger. Wenn man jedoch selbst in der Situation war diese sicherlich hohe Summe für ein Internat zu zahlen, dann wünschte man sich die Traumwelt, in der alles perfekt zu sein schien, zurück. Es würde so vieles einfacher machen.
 

"Wie ich vorhin bereits sagte, machen Sie sich keine Sorgen. Ihre Aufnahme auf Hogwarts sollte nicht an einer Kleinigkeit wie 'Geld' hängen." Er faltete die Bestätigung und ließ sie ich seiner Tasche seines Gürtels verschwinden. "Konzentrieren Sie sich lieber auf ihre bevorstehende Ausbildung."
 

Egal wie hoch die Summe war, sie musste sich eingestehen, dass sie sie wohl nie zusammen getragen hätte; nicht innerhalb von zwei Wochen. Gezwungenermaßen musste sie also auch diese Spende von Ollivander annehmen. Deine Schulden wachsen, dachte sie unzufrieden.
 

Den Mund zu einem dünnen Strich gepresst nahm sie den letzten Zettel zur Hand, wobei auch hier eine Überraschung wartete. Der silberne, an Plastik erinnernde Zettel, war ihre Fahrkarte nach Hogwarts. In schimmernden Buchstaben leuchtete ihr der Name 'Hogwarts-Express' entgegen. Die Ecken waren leicht abgerundet und mehrere Linien dicht an dicht umrahmten den Text. In etwas kleineren Lettern las sie Gleis 9 ¾, stutzte jedoch nicht schlecht über die Haltestelle, die nicht wie erwartet King's Cross war.
 

"Gleis 9 ¾, 1. September, Euston Station?" Sie glaubte nicht, dass es sich um einen Druckfehler handelte, weshalb die einfachste Erklärung wohl die richtige sein musste: der Zug würde nicht von King's Cross abfahren. "Fuhr er schon immer aus Euston ab?"
 

"Aber ja, zumindest seit einhundert Jahren. Wieso, stimmt etwas nicht?"
 

Tess stockte. "N-nein, ich war nur überrascht, dass er mitten unter den Muggeln abfährt."
 

"Wie heißt es so schön: wenn Sie etwas verstecken wollen, dann so offensichtlich, wie möglich. Muggel sehen nichts, man könnte sogar mit dem Zauberstab vor ihren Nasen wedeln." Tess lachte kurz über seine scherzhafte Bemerkung, war jedoch trotzdem irritiert hier einen klaren Widerspruch zu finden. Gab es womöglich noch weitere Widersprüche? Dieser Gedanke beunruhigte sie mehr als zutiefst, denn bisher hatte sie gedacht, auf ihr Wissen vertrauen zu können, doch was, wenn sie das gar nicht konnte?
 

"Wir sollten abwarten, wie lange ihre Tränke noch wirken. Es sind jetzt knapp neun Stunden, nicht wahr?" Als Antwort brachte Tess nur ein Nicken hervor, die noch immer grübelte, was sie mit der neuen Information anstellen sollte und was sie für sie bedeutete.
 

Allerdings musste sie sich eingestehen, dass sie im Moment sowieso nichts daran ändern konnte. Wichtig war das hier und jetzt, sie würde in Hogwarts beobachten müssen, wie sehr sich ihr Wissen aus ihrer Welt mit dieser hier deckte.
 

"Was, wenn ich vor meiner Schicht im Kessel nicht wieder zurück verwandelt bin?" Bisher hatte sie nicht das Gefühl, dass sich ihr Körper veränderte, wobei sie zugegeben positiv überrascht von dieser effektiven Wirkung war.
 

"Ich werde Tom sagen, dass es Ihnen nicht gut geht und sie heute Nacht hier bleiben. Das wird sowieso das Beste sein."
 

Plötzlich fiel ihr etwas ein und sie glaubte einen Schlag in den Magen zubekommen. "Tom und Margaret kennen meinen Namen!"
 

"Was meinen Sie?"
 

"Ich bin jetzt Schülerin von Hogwarts, als 'Evelyn Harris', und gleichzeitig eine ausgewachsene Frau und Kellnerin im Tropfenden Kessel." Sie legte vor Schock ihre Hand vor den Mund. "Das fällt auf", nuschelte sie.
 

Ollivander grinste nur. "Sie müssen lernen sich weniger Gedanken zu machen. Niemand merkt sich Ihren Namen. Sie haben schließlich auch hier in meinem Laden gearbeitet, aber ich bin sicher in einem Monat hat jeder vergessen, dass Sie überhaupt da waren."
 

"Tom und Margaret werden-"
 

"Sie kennen nicht die Schülerliste. Und glauben Sie mir, der einzige Schüler, über den sich nun jeder das Maul zerreißt, ist Mr Harry Potter."
 

Ollivanders Ruhe wollte nicht so recht auf Tess abfärben. Sie war so darauf bedacht gewesen keinen Fehler zu machen, nicht aufzufallen und alles perfekt zu machen. Und nun war ihr dieser grobe Patzer passiert, andererseits wäre eine dritte Identität womöglich zu viel gewesen. Mit geschlossenen Augen fuhr sie sich mit den Händen über das veränderte Gesicht. Sie musste nun einfach das Beste daraus machen. Allerdings glaubte sie im Gegensatz zu Ollivander nicht, dass die Übereinstimmung keinem auffallen würde.
 

"Trinken Sie Ihren Tee, er wird sonst kalt, das beruhigt Sie. Für heute hatten Sie genug Stress." Ollivander holte seinen Zauberstab heraus und hielt ihn gegen ihre Tasse, die sofort zu dampfen begann. Sie versuchte seinen Rat zu beherzigen und atmete tief ein, um sich zu beruhigen.
 

"Stress ist gar kein Ausdruck. Kurz habe ich wirklich gedacht, Professor McGonagall gibt mir eine Absage."
 

Ollivander verschränkte seine Hände vor der Brust. "Minerva hat Prinzipien und ist offen für stichhaltige Logik. Seien Sie froh, dass Minerva als Dumbledores Vertretung gekommen war, und nicht Professor Snape."
 

Tess blickte auf, Augen weit aufgerissen. "Snape?", schoss es aus ihr heraus.
 

"Sehen Sie, diese Reaktion kann ich nachvollziehen. Vor ihm sollten Sie sich in Acht nehmen, nicht vor Dumbledore. Dass sie auch schon von ihm gehört haben, überrascht mich nicht."
 

"Wie meinen Sie das?" Sie versuchte unbeteiligt zu klingen, was sie wenn sie ihren eigenen Ohren trauen konnte, nicht geschafft hatte.
 

"Er besitzt einen speziellen Ruf, und kaum einer möchte etwas mit ihm zu tun haben. Er erledigt des Öfteren Erledigungen für den Schulleiter. Vor einigen Tagen war er hier und hat den Besuch von Dumbledore angekündigt, doch Sie waren zu diesem Zeitpunkt nicht da; Merlin sei Dank, wenn Sie mich fragen."
 

Tess legte den Kopf schief und lauschte Ollivanders Worten, in denen zu Tess Verwunderung ein hohes Maß an Missachtung mitschwang. "Sie vertrauen ihm nicht." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
 

Ollivander verzog das Gesicht, bevor er antwortete. "Kein Stück, und Sie sollten das auch nicht. Jeder weiß, was er ist und nur, weil Dumbledore zu ihm hält, wird er in der Öffentlichkeit geduldet. Er ist ein schwieriger Zeitgenosse, der glücklicherweise nur selten die Schule verlässt, wobei das für viele schon schlimm genug ist." Während er sprach, war Ollivander immer leiser geworden. In seinen sonst gutmütigen Ausdruck sah Tess zum ersten Mal Wut und Verachtung.
 

"Was ist so schlimm?", harkte sie nach.
 

"Er ist ein Todesser", spuckte er leise heraus. "Niemand will, dass sein Kind von so einem wie ihm unterrichtet wird." Er lehnte sich zurück und bemühte sich, sich emotional zu fangen. Tatsächlich sprach er nun etwas gefasster. "Ich vertraue auf Dumbledores Urteil, was Sie auch tun sollten." Tess hob kommentarlos die Stirn, ließ sich jedoch nicht anmerken, dass sie ihm hier widersprach. "Das heißt nicht, dass ich es gutheiße, dass er Snape in der Schule aufgenommen hat. Vor ihm sollten Sie sich fernhalten, das tut jeder."
 

Tess nippte unbeteiligt an ihrem frisch erwärmten Tee. Die Worte von Ollivander hatten sie stutzig gemacht. Dass die Zaubererwelt die wildesten Mutmaßungen über Severus Snape anstellte, hatte Tess erwartet. Dass sie jedoch mit diesem öffentlich zuschaugetragenen Argwohn auftraten, war trotzdem überraschend. Besonders von dem friedlichen Ollivander hatte sie eine solche Reaktion nicht erwartet.
 

Für Tess war es natürlich leicht zu sagen, dass Snape niemand war, dem man derart misstrauen musste, doch sie konnte nachvollziehen, dass die Leute dieser Zeit anders dachten.
 

Sein Rat sich von ihm fernzuhalten hätte sie so oder so befolgt. Ihr Plan war es sich von allem und jedem fernzuhalten, was ganz besonders für die Schlüsselfiguren galt. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie ihn, wie wohl jeder andere auch, hassen musste.
 

Erneut überkam sie das Gefühl, dass er ungerecht behandelt wurde. Sie sah in der Mimik von Ollivander, dass er jedes Wort der Warnung ernst gemeint hatte, mehr noch, dass er Snape wahrlich verachtete. Das Thema war ihr unangenehm, da sie persönlich nichts dergleichen über den Tränkemeister sagen konnte und sie hatte das Gefühl, ihre Sympathie für Snape nicht vor Ollivander verbergen zu können.
 

"Morgen werde ich mich um die restlichen Einkäufe kümmern, vor allem um die Bücher."
 

Es war ein Versuch das Augenmerk der Unterhaltung auf ein unverfängliches Thema zu leiten; und es funktionierte.
 

"Ich fürchte das wird nicht billig. Die Bücher sind sehr teuer. Soll ich Ihn-"
 

"Nein, danke, Mr Ollivander. Ich habe ein wenig Trinkgeld angesammelt und ich denke, es wird für zweite Ware reichen. Die Bücher müssen nicht neu sein, da bin ich nicht wählerisch." Sie hatte schnell Ollivander unterbrochen, bevor der sie, wenn auch gut gemeint, weiter in die Schulden getrieben hätte.
 

"Wie Sie meinen. Erlauben Sie mir jedoch Ihnen bei ihrer Bekleidung zu helfen." Er erhob sich von seinem Platz. "Warten Sie einen Augenblick."
 

Tess musste beobachten wie er in seinem Keller verschwand, noch bevor sie etwas erwidern konnte. Seufzend griff sie nach ihrem Tee und trank ihn aus, wobei sie sich prüfend auf die Finger schaute. Während sie wartete fuhr sie sich über das Gesicht und starrte an sich herunter um sicher zu gehen, dass die Rückverwandlung noch nicht begonnen hatte. An den kleineren Körper hatte sie sich, nach Stunden, gewöhnt. Sie war sich sicher, dass sie es auf Hogwarts einige Zeit geschrumpft aushalten würde. Nur ein kleines Opfer verglichen damit, dass sie ihren Traum erfüllen konnte.
 

"Miss Harris, könnten Sie mir kurz helfen?", hörte sie Ollivander rufen. Sofort sprang sie auf um zu ihm zu eilen. Ollivander stand auf der Hälfte der Treppe, eine riesige Tasche über dem Kopf und auf die Schulter gestützt. Es sah aus, als schöbe er das riesige Paket nach oben.
 

"Würden Sie ziehen, während ich drücke? Vorsicht", setzte er schnell nach, "das ist sehr schwer."
 

Kurzerhand griff sie sich etwas was aussah, wie Henkel und zog mit aller Kraft daran. Leider musste sie feststellen, dass sie in ihrem verkleinerten Körper auch einiges an Kraft eingebüßt hatte.
 

"Gut so, nur noch ein bisschen", stöhne Ollivander. Mit gemeinsamer Kraft, obwohl Tess nicht das Gefühl hatte eine große Hilfe gewesen zu sein, brachten sie das Paket nach oben. Es stellte sich als eine riesige Tasche heraus, die an einen Seesack erinnerte. Beide schnauften schwer, als sie sich an Ort und Stelle neben der Tasche auf den Boden niederließen.
 

"Nehmen Sie sich-", Ollivander atmete hektisch ein, "-was Ihnen gefällt."
 

Sein Angebot bestätigte Tess Vermutung, dass er noch mehr Kleider seiner Tochter gebracht hatte. So wie es aussah, war die ganze Tasche voll davon. Resigniert senkte sie den Kopf auf die Tasche, wobei sie selbst noch um Luft kämpfte.
 

"Was würde ich nur ohne Sie tun, Mr Ollivander?"
 

Sie hörte den Mann leise glucksen, bekam aber keine Antwort.

Kapitel 15 - Alles ist Vergangenheit

Je weiter sich der August dem Ende geneigt hatte, desto aufgewühlter war Tess geworden. Einerseits hätte sie ihre Freude am liebsten hinaus in die Welt geschrien, andererseits hatten sie die verschiedensten Sorgen darüber geplagt, wie sie die nächsten sieben Jahre überstehen sollte. Natürlich waren auch die Tränke ein stetiges Thema in ihren Gedanken gewesen. Für den Moment waren sie die beste Lösung, doch würde sie es schaffen all die kommenden turbulenten Jahre unentdeckt zu bleiben? Ganz zu schweigen von den Risiken, in die sie sich bereitwillig stürzte. Egal, was die Zaubererwelt von Hogwarts hielt, für Tess war die Schule kein sicherer Ort in Anbetracht dessen, was dort in nicht mehr ganz so ferner Zukunft passieren würde; Handlungen und Ereignisse einer Timeline, die durch ihre bloße Anwesenheit vernichtet werden könnte.
 

In all die freie Zeit, die sie nun zur Verfügung hatte, da sie keine Vorbereitungen machen oder Tränke brauen musste, schwirrten ihr nun die wildesten Vorahnungen durch den Kopf, was sie alles nur durch falsches Stehen im Gang durcheinander bringen könne. Man stellte sich vor jemand stolperte und schubst sie, anstelle einfach nur hinzufallen. Sie selbst würde dadurch in den Laufweg eines anderen Schülers kommen, der gezwungen war auszuweichen oder stehen zu bleiben. Dieser Schüler hatte jedoch genau in diesem Moment eine wichtige Entscheidung treffen sollen, die nun durch Tess' Unfall unterbrochen wurde. Was, wenn dieser Schüler nun nicht wie eigentlich vorgesehen zum Duellierclub ging, dadurch andere Paarungen unter Lockharts Aufsicht zustande kamen und am Ende unter Umständen Hermine gar nicht die Katzenhaare von Millicent Bulstrodes Umhang sammeln könnte? Boom, Butterfly Effect. Diese Worte beherrschten hauptsächlich ihre Gedanken, denn der Butterfly Effect würde ihr größter Feind werden.
 

Die Möglichkeiten die Timeline völlig durcheinander zu bringen waren schier grenzenlos und jeden Tag fielen ihr neue Horrorgeschichten ein, wobei die meisten damit endeten, dass entweder Harry noch vor seinem dritten Jahr tot im Verbotenem Wald aufgefunden werden würde oder, weitaus wahrscheinlicher, dass sie Voldemort zur Macht verhalf.
 

Ihre einzige Lösung das Ausmaß möglicher Katastrophen zu minimieren, war schlichtweg sich von allem und jedem, selbst Mrs Norris, fernzuhalten. Schlüsselfiguren waren bisher sowieso aus ihrem Leben gestrichen gewesen, doch sie hielt es für das beste nicht einmal mit einem Seufzer ins Geschehen einzugreifen. Falls sie merken sollte, dass etwas nicht so verlief wie es sollte, würde sie nachhelfen, doch ansonsten war jede Interaktion tabu. Schade, sie hätte gerne dem Kraken mindestens einmal die Tentakel geschüttelt.
 

Trotz all der Risiken, die sie in den letzten Tagen vor ihrer Abreise sogar bis in den Schlaf verfolgt hatten, würde sie nichts auf der Welt, noch nicht einmal die Aussicht Voldemort aus Versehen auf die Welt loszulassen, davon abhalten diese Schule zu besuchen.
 

Opfer mussten gebracht werde, das war ihr früh klar geworden. Wo andere ihr Leben für die Sache geben würden, würde sie in Isolation leben und sich ganz ihrer Ausbildung in Magie verschreiben. So war zumindest der Plan.
 

Mit fertigen Tränken, verkorkt und verpackt, hatte sie wieder ein wenig Zeit gehabt mit ihrem Zauberstab zu üben und ihr Repertoire an Sprüchen zu erweitern. Das war ein Vorteil gewesen, den sie aus der ganzen Kind-Spielen Sache gezogen hatte; Auf ihr lag keine Spur, die es minderjährigen Zauberern verbat zu zaubern - nicht, dass es in der Winkelgasse aufgefallen wäre. Noch waren ihre Sprüche recht holprig und lausig ausgeführt, was sie hoffte in Hogwarts erheblich zu ändern.
 

Die nächsten Jahre würden für sie aus Büchern, Aufsätzen und Prüfungen bestehen, wovor sie in ihrer eigenen noch nicht ganz so lange zurück liegenden Jugend geflohen wäre. Wer mochte es schon Stunden mit Hausaufgaben zu vergeuden? In diesem Fall würde sie jedoch die Möglichkeit bekommen in die Geheimnisse der Magie eingeführt zu werden, was ihr nun wie ein Sechser im Lotto plus Superzahl vorkam. Sollte Harry Potter doch im Vordergrund glänzen und mal nebenbei die Welt retten, sie hatte keine Probleme damit ein unwichtiger Hintergrundcharakter zu sein, der sich auf die Koboldaufstände der Jahrhunderte konzentrierte.
 

Ihr war bewusst, dass sie viele widersprüchliche Gefühle in sich trug. Zum einen fürchtete sie sich davor, was sie anrichten und vernichten konnte, andererseits war sie ohne zu zögern bereit das alles in Kauf zu nehmen. Am Ende hatte ihre Vorfreude die Luft auf Hogwarts zu schnuppern jede Sorge überwogen.
 

Ollivander war beinahe genauso erwartungsvoll gewesen, wie Tess selbst. Ständig hatte er hinterfragt, ob sie noch etwas benötigte, ob sie bereits alles in dem Seesack verpackt hatte, den sie als Koffer für ihre Sachen benutzen würde oder, ob er noch irgendwie helfen konnte. Natürlich hatten beide nichts mehr tun können, als auf den Tag des Schulbeginns zu warten, was glücklicherweise nicht mehr allzu lange war.
 

Einkäufe hatte Tess sofort erledigt, nachdem die Wirkung des Trankes nachgelassen hatte. Leider hatte der Färber sich deutlich länger gehalten, als die anderen Tränke, und auch deren Effekt hatte sich versetzt von einander aufgelöst. Im Schnitt kam sie jedoch vorerst mit zwei Dosen, jeweils eine am Morgen und am Abend aus, um 24 Stunden abzudecken.
 

Nach ihrem Einkauf, der hauptsächlich aus gebrauchten Schulbüchern bestanden hatte, war sie zum Tropfenden Kessel zurück gekehrt, wo Margaret zunächst geschockt und dann begeistert auf Tess' "neue" Frisur reagiert hatte. "Das macht dich jünger", hatte sie gesagt und Tess musste all ihren inneren Willen aufbringen, um nur dankend zu nicken.
 

Noch am selben Abend hatte sie mit Tom geklärt, dass sie nur noch bis Ende des Monats für ihn arbeiten würde. Für Tom war damit die Sache erledigt gewesen, doch ihre Kollegin Margaret war daraufhin völlig aufgelöst gewesen. Tess hatte sich geschmeichelt gefühlt, dass sie vermisst werden würde, doch um nicht in der Welt hätte sie sich von Margaret überreden lassen als Kellnerin weiter zu arbeiten. Allerdings war ihr schließlich doch noch ein schlechtes Gewissen gekommen, als Margaret ihr an ihrem letzten Abend mit feuchten Augen das Versprechen abgerungen hatte, sie nie zu vergessen, während Tess selbst sich nichts sehnlicher wünschte, dass sowohl Tom als auch sie Tess so schnell wie möglich aus dem Gedächtnis löschten.
 

Wenn es nach Tess ging, dann galt das für jeden in der Winkelgasse. Im Nachhinein war sie froh nie einen Fuß in die Nokturngasse gesetzt zu haben, auch wenn es sie manchmal gereizt hatte. Was nicht war, konnte noch irgendwann werden, versicherte sie sich, als sie ein letztes Mal an der Abzweigung zur Nebengasse vorbei lief. Ihre Gedanken kreisten jedoch hauptsächlich um ihre Abreise, die nun endlich kurz bevor stand. Nur noch einmal schlafen, wie es so schön hieß, und ihr Abenteuer ohne ein Abenteuer würde beginnen. Ihre letzte Nacht würde sie, wie abgemacht, bei Ollivander verbringen, wo sie in aller Frühe ihre Tränke nehmen würde und per Kurzstrecken-Floh-Netzwerk direkt zur Haltestelle Euston flohen würde.
 

Wie bereits am Tag von Minervas Besuch durfte sie eine kleine Kammer in Ollivanders Privaträumen nutzen, die sich direkt über dem Laden befanden. Seine Wohnung war nicht groß und genauso spärlich eingerichtet, wie sein Laden. Doch trotz der mageren Inneneinrichtung war Ollivanders Handschrift in jedem Winkel der Wohnung zu erkennen. Selbst hier lagen unbehandelte Hölzer und Zauberstabkerne herum, die darauf warteten verarbeitet zu werden. Der Duft von abgelagertem Holz hatte sich in jede Faser eingebrannt, sodass man ständig die Aromen von Tanne und Harz in der Nase hatte. Die Wände waren mit Teppichen überzogen, die fleckig und abgenutzt wirkten, worauf man aber vereinzelt Linien ausmachen konnte. Man musste sich etwas weiter weg stellen um zu erkennen, dass der riesige Wandteppich ein Wappen darstellte. Namen, wie sie die Black hatten, konnte sie jedoch keine sehen, nur ein in drei Abschnitte geteiltes Schild, das von dünnen Ranken umschlossen war, an denen vereinzelte Oliven hingen. In einem schlanken Banner über dem Gebilde waren irgendwann einmal Buchstaben eingestickt gewesen, diese konnte Tess jedoch nicht vollständig entziffern. Nur noch ein B und ein R waren von dem viel längerem Motto deutlich zu erkennen. Es sah aus, als seien die Fäden einer nach dem anderen herausgezogen worden. Tess ahnte hier eine Geschichte zu finden, da Ollivander jedoch keine Anstalten machte eine Erklärung zu geben, ließ sie es aus Höflichkeit auf sich beruhen.
 

Ollivander plapperte den ganzen Abend über aufgeregt auf Tess ein, die zum Abschied ein kleines Abendessen gekocht hatte. Immer wieder betonte er worauf sie achten sollte, dass sie sich mit niemandem anlegen sollte, dass sie auf das hörte, was die Lehrer sagten, dass sie vorsichtig mit ihren Tränken sein sollte, und Tess hatte mehr denn je das Gefühl bemuttert zu werden; was sie nicht wirklich schlimm fand. Es war deutlich zu sehen, dass Ollivander sich Sorgen machte. Er verlangte es nicht, doch Tess würde ihm trotzdem nach der ersten Woche auf Hogwarts einen Bericht per Eulenpost schicken.
 

Eine eigene Eule, überhaupt ein eigenes Tier, hatte sie sich nicht geleistet. Vermutlich wäre ein kleines Tier sogar in ihrem Budget gewesen, doch sie hatte sich dazu entschieden lieber nichts mit nach Hogwarts zu nehmen. Ein Tier hätte zusätzliche Verantwortung bedeutet und gleichzeitig wäre es ein weiterer, weitaus schwierigerer zu regelnder Faktor in Harrys Geschichte gewesen. Sie würde genug damit zu tun haben sich selbst aus allem heraus zu halten, da konnte sie nicht auch noch auf ein Tier und dessen Eskapaden Acht geben.
 

Irgendwann verabschiedete sich Ollivander und ließ Tess alleine zurück. Wie erwartet lag sie lange wach, wälzte sich von einer Seite zur anderen und schielte ständig auf die kleine Standuhr, die leise und unermüdlich tickte. Bei schwachem Kerzenschein zog sie irgendwann eines ihrer Bücher aus dem Seesack und begann darin zu blättern, wie sie es die letzten Tage immer mal wieder getan hatte. Sie hatte sich bemüht nicht zu eifrig zu werden und bereits im Vorfeld selbstständig zu lernen, weshalb sie nur ab und zu ein paar Titel las und die handgemalten Illustrationen betrachtete. Sie wollte keine zweite Hermine werden, die bereits vor dem ersten Schultag jedes Buch auswendig gelernt hatte.
 

Doch auch, wenn sie sich ein trockenes Thema ausgesucht hatte und Abbildungen der richtigen Fingerhaltungen betrachtete, so wollten ihre Augen nicht zu fallen. Irgendwann hatte sie es aufgegeben und sich stattdessen ans Fenster gestellt, wo sie gewartet hatte und nun beobachtete, wie die Sonne bei wolkenlosem Himmel aufging. Es versprach in jeder Hinsicht ein schöner Tag zu werden.
 

Der Zug fuhr, wie allen bekannt, erst um 11 Uhr, weshalb sie noch massig Zeit hatte. Dabei wusste jeder aus Erfahrung, dass sie die Zeit doppelt so sehr zu ziehen schien, wenn man sehnsüchtig auf etwas wartete. Um sich zu beschäftigen bereitete sie einige Brote zu, wobei die meisten für Ollivander gedacht waren, der noch immer schlief. Sie selbst begnügte sich mit zwei Schnitten, da sie erwartete heute Abend fürstlich zu speisen. Kurz überlegte sie noch zwei weitere Schnitten für die Fahrt einzupacken, ließ es jedoch. Der Sack war so schon voll genug.
 

Die Kleider von Ollivanders Tochter waren ein wahrer Segen gewesen. Mehrere komplette Garnituren für Hogwarts samt Hut und Handschuhen waren in dem Berg an Textil versteckt gewesen. Alle Umhänge, Krawatten und Accessoires waren mit dem Ravenclaw Wappen bestickt, wobei Ollivander versicherte, dass Hogwarts die Farbe und das Wappen dem entsprechenden Haus anpassen würde, sofern sie etwas anderes sei, als Ravenclaw.
 

Die Frage nach dem Haus war genauso schwierig zu klären, wie ihre gesamte Situation. Im Prinzip konnte sie sich nicht einfach einsortieren lassen, sondern musste den Hut überzeugen sie in ein Haus zu schicken, wo sie am besten komplett untertauchen konnte. Gryffindor war daher absolut tabu, genauso wie Slytherin. Auf Gryffindor verzichtete sie allzu gerne. Sie sah sich nicht als Gryffindor und hielt nicht viel von den extrovertierten, "rettet das Wohl aller"-Gutmenschen, die handelten, bevor sie nachdachten. Am besten erschien ihr die Wahl nach Hufflepuff zu gehen, auch wenn ihr der Gedanke sich zu dem scheinbaren Rest der Schülerschaft zu begeben, die unter ihrer Freundlichkeit mit unter einen hässlichen Charakter versteckten, ein wenig zuwider war. Doch die Hufflepuff waren die unwichtigen Hintergrundmenschen, zu denen sie sich selbst zählen wollte.
 

Natürlich hatte sie ein Haus, was sie favorisieren würde, doch darauf durfte sie nicht hören. Hufflepuff würde es wohl oder übel werden müssen.
 

Die Stunden zogen sich dahin, in denen sie sich von Ollivander verabschiedete, der wie jeden Tag nach unten in seinen Laden ging, wobei er ihr noch einmal dieselben Ratschläge wie am Abend zuvor mit auf den Weg gab. Der Abschied war seltsam, anders konnte Tess es nicht beschreiben. Sie würde den alten Mann vermissen, das war ihr klar, vor allem, da sie nun die nächste Zeit keinerlei Bezugsperson haben würde. Sie glaubte auch in den Augen von Ollivander die eine oder andere Träne glitzern zu sehen, bevor es nach unten in den Laden verschwand.
 

Tess selbst würde direkt von hier aus Floh-Pulver nutzen und sich damit für die nächsten Monate nach Hogwarts begeben. Ollivander hatte ihr genau erklärt, wie sie Gleis 9 ¾ finden würde, was sich erstaunlich genau mit der Version von King's Cross deckte. Auch hier musste man sich zu den Plattformen 9 und 10 begeben und schließlich die dritte Säule von vorne ins Auge nehmen. Durch diese sollte sie beherzt schreiten, worauf hin sie auf die Plattform kommen würde, wo der Express wartete. Die Schalter am Eingang würden ihre Fahrkarte lesen und sie hindurch lassen. Der einzige Unterschied war, dass sie in Euston einsteigen würde und eben nicht in King's Cross.
 

Dieser Umstand machte ihr noch immer zu schaffen. Alles war genau so, wie es sein musste, nur wieso war der Ort der Abreise ein anderer?
 

Am Ende ist Hogwarts gar nicht in Schottland, sondern auf der Isle of Man, dachte sie spöttisch, als es endlich soweit war, sich auf den Weg zu machen. Ohne zu zögern nahm sie von jedem ihrer Tränke einen Schluck und durchlief dieselbe Verwandlung, wie bereits Tage zuvor. Der Färber war noch immer widerlich, wobei ihr der Geschmack nun beim zweiten Mal nicht mehr ganz so lange auf der Zunge lag, wie noch beim ersten. Sie wechselte in die Kleidung eines Kindes und damit war ihre Tarnung perfekt.
 

Beherzt griff sie in die filigrane Urne voll mit grün schimmernder Asche. Für Tess würde es der Tag der Premieren werden, da sie nun zum ersten Mal in einen Kamin steigen und Floh-Pulver verwenden würde. Den Seesack, der sie nun weit überragte, auf den Rücken geschnallt, wappnete sie sich auf ihre Reise, die hoffentlich so lange wie möglich dauerte, im besten Fall sieben Jahre und, wenn das Schicksal es so wollte, noch viel länger.
 

An zu Hause hatte sie nur noch selten gedacht. Sie vermisste ihre Eltern und ihr gewohntes Umfeld zwar, doch je länger sie hier war, desto weiter rückten ihre Erinnerungen an ihr altes Leben in graue Ferne. Sie war nun Evelyn Harris, dachte sie, während sie die Asche in ihren Händen auf die Scheite zu ihren Füßen warf. Es wurde Zeit Tess hinter sich zu lassen und die Persona zu werden, die sie erschaffen hatte: eine elfjährige Hogwartsschülerin.
 

Mit lauter Stimme sprach sie ihr Ziel, Euston Station, aus. Sofort umschlungen sie grüne Flammen, die weder Wärme noch irgendein anderes Gefühl auf Tess, nein, Evelyns Haut auslösten. Die Augen stur geöffnet sah sie für einen Herzschlag nur Flamen an ihr hochschlagen, bevor sie das Gefühl hatte, dass der Boden unter ihren Füßen sich öffnete.
 

Ende Part 1
 


 

AN: Damit hätten wir das Ende des ersten Teils von insgesamt fünf, möglichen sechs, erreicht. Man könnte sagen, dass dieses Kapitel hier der Epilog des ersten Parts war, dem man den Namen Alles ist Vergangenheit geben könnte *schielt hoch*.
 

Für die Geschichte selbst ändert das nichts. Sie wird weiterhin hier geupdated ohne, dass ich eine separate Geschichte für jeden Part aufmache. Dass dieser Part 15 Kapitel hatte, hat nichts über die Größe der anderen Parts zu sagen. Die können durchaus länger, aber auch kürzer werden.
 

Desweiteren möchte ich mich bei all jenen bedanken, die meine Geschichte verfolgen. Zu sehen, dass mein Geschreibsel tatsächlich jemandem gefällt, ist wirklich großartig.

Vielen Dank!

Kapitel 16 - Hogwarts-Express

Die Reise war mehr als unangenehm. Evelyns Ellenbogen wurden an ihren Körper gepresst, sodass sie das Gefühl hatte, durch eine enge Röhre geschoben zu werden, und das mit rasender Geschwindigkeit. Sie hörte ein ständiges alles übertönendes Rauschen und Knistern, das dem Klang eines brennenden Feuers glich, wobei der Ton um ein vielfaches verstärkt war. Das Gefühl zu fliegen hatte sie nicht, nur den Eindruck von einem Ort zum anderen geschoben zu werden, bis es schließlich mit einem Mal aufhörte.
 

Nun bemerkte sie, dass scheinbar auch jede Luft aus ihren Lungen gepresst worden war. Schwer atmend hob sie sich am nächst besten fest, was sie zu fassen bekam, was blanker kalter Stein war. Sehen konnte sie noch nichts, da riesige schwarze Punkte vor ihrem Gesichtsfeld tanzten. Zusätzlich zur temporären Blindheit kam ein unerträgliches Schwindelgefühl. Angeblich sollte Flohpulver die angenehmere Reise im Vergleich zum Apparieren sein, doch wenn das angenehm war, wollte sie gar nicht wissen, wie sich apparieren anfühlte. Mit der freien Hand rieb sie sich die Augen, bis diese begannen große helle Felder zu erkennen. Das Gewicht auf ihrem Rücken war noch immer da, weshalb sie sich zumindest sicher sein konnte nichts verloren zu haben.
 

Die Taubheit ließ nach unten langsam drang der übliche Straßenlärm zu ihr hindurch. Nach mehrmaligem Blinzeln konnte sie sich auch endlich halbwegs ein Bild machen, wo sie gelandet war. Um sie herum gab es tatsächlich nur heller, dicker Stein, der einen beinahe quadratischen Raum formte, in dem sie nun stand. Die Decke war sehr hoch und mit floralen Ornamenten verziert. Sie stand ganz links in einem noch immer grün flammenden Kamin. Rechts von ihr sah sie noch weitere, exakt gleich gebaute Feuerstellen, die auch das einzige an Gegenständen waren, die sich in diesem Steinquader befanden.
 

Jeder der Kamine spuckte in unregelmäßigen Abständen einen Menschen heraus, der ohne auch nur den Blick nach links oder rechts zu wenden aus der Tür hinaus ins Freie ging. Diese Leute hatten weitaus mehr Erfahrung im Flohen als Evelyn, die sich noch immer an den Rillen der Steinwand fest hob. Lange konnte sie jedoch nicht hier herum stehen, da sie einen Zug zu erwischen hatte. Beherzt schritt sie nach vorne und tat das, was dem Menschen angeboren war: sie folgte dem Vordermann. Der würde schon wissen, wo es lang ging. Ihre Wahl fiel auf einen adrett gekleideter Zauberer mit hohem Zylinder. Sie liefen durch eine schwere, bronzene Tür und fand sich mitten in London wieder, mit einer gut befahrene Straße nur wenige Meter neben sich. Keiner der umstehenden Leute wunderte sich, wieso sich aus dem einsamen Steinquader, wie es sie zu Hauf in London gab, immer wieder Menschen hinausstahlen. So beachtete auch niemand der Passanten das Mädchen mit dem viel zu großen Seesack auf dem Rücken.
 

Evelyn folgte dem Mann mit dem Zylinder, der gar nicht zu bemerken schien, dass er einen neuen Schatten hatte. Nach kurzer Zeit hatte Evelyn jedoch keinen Führer mehr nötig, da der Strom an Menschen, der sich auf eine Stelle zu konzentrieren schien, nicht zu übersehen war. Sie folgte der Masse, die scheinbar den Eingang gefunden hatte. Evelyn hingegen sah noch immer nichts, was an einen Bahnhof erinnerte, und dazu zählten vor allem Gleise.
 

Eine Biegung, hinein in eine zubetonierte, von allen Seiten geschlossene Fläche später, entdeckte sie ein biederes, rechteckiges Gebäude, das ihr Ziel war. Das Gebäude mit der Aufschrift Euston war Teil eines größeren Baukomplexes, der in einer Ringform angelegt war, mit einer freien Fläche in der Mitte, die nur für Fußgänger zu erreichen war. Dementsprechend gab es in diesem Innenring auch jede Menge Läden, in denen Reisende letzte Souvenirs oder das Pausenbrot des Tages kaufen konnten. Evelyn fiel jedoch sofort auf, dass der Bahnhof recht flach wirkte.
 

In ihren vergangenen Reisen war sie bisher nie direkt in und um Euston Station gewesen, sondern hatte sich eher auf King's Cross konzentriert. Es kann durchaus sein, dass sie das ein oder andere Mal hier hindurch gefahren war, aber mehr als den Bahnsteig durch die Enge eines U-Bahn-Fensters hatte sie nie gesehen, und selbst daran konnte sie sich gerade nicht erinnern. Dementsprechend neu und fremd erschien ihr der Bau der Euston Station, der so ganz anders war, als der des ehrwürdigen und traditionellen King's Cross.
 

Ihr erster Eindruck konnte nur mit zwei Worten beschrieben werden: absolut hässlich. Der niedrige, kastige Betonbau hatte keinerlei Charme und war die Personifikation schlechter Architektur der 60er Jahre. Wo sie auch hinsah, sie entdeckte nur kalten Beton. Der Boden war aus Beton, der Bahnhof aus Beton, ja sogar die vereinzelten Tischbänke, die hier draußen Passanten und, viel häufiger Obdachlosen, eine Sitzgelegenheit boten, waren aus Beton. Sie erwartete, dass sich der triste Stil der besonderen Baukunst auch im Innern fortsetzen würde.
 

Im Endeffekt konnte ihr ja egal sein, wie der Bahnhof aussah. Hauptsache, sie säße später in einer Dampflokomotive mit der Lackierung Hogwarts-Express. Trotzdem spürte sie Enttäuschung in ihr hochkochen, da sie sich einen etwas glamouröseren Ort vorgestellt, ja sogar gewünscht hätte. King's Cross verströmte mit seiner Backstein Architektur, die mit ihren hohen Decken und der durchzogenen Metallkonstruktion an eine alte Fabrikhalle erinnerte, den Hauch vergangener Zeiten. Zeiten des industriellen Aufbruches Englands. Es war ein Ort, an dem Geschichte spürbar atmete.
 

Euston hingegen ...
 

Das Ziel fest im Blick stapfte sie mit ihrer schweren Last auf dem Rücken zum Eingang. Die komplette Front war durchzogen von unscheinbaren Fenstern, die mit ihrer schwarzen Tönung und Einfassung genauso wenig einladend wirkten. Kaum war sie hineingetreten, prasselten auch schon die typischen Umgebungslaute eines Bahnhofes auf sie ein. Eine lustlose Damenstimme verkündete gerade die neusten Meldungen ankommender Züge. Es herrschte ein ständiger Grundton undeutlich sprechender Menschen gemischt mit deren Bewegungen auf nacktem Stein. Der Großteil hatte sich von einer riesigen Wand versammelt und starrte wie in Trance nach oben auf ein Brett, wo sich beinahe sekündlich mit lautem Rattern die Buchstaben änderten und neue Worte bildeten. Zugnummer, Zielorte, Abfahrtszeiten und Gleise wurden nicht, wie es Evelyn gewohnt war, von einer Digitalanzeige dargestellt, sondern mit nostalgischen Fallblattanzeigen, deren markantes Rasseln selbst über den Gesprächslärm zu hören war.
 

Evelyn suchte nicht einmal nach dem Hogwarts-Express, denn der würde sicherlich nicht dort oben unter gewöhnlichen Zügen wie London Midland über Watford Junction, Abfahrt 10:48 Uhr stehen. Sie wusste, wo sie hin musste, weshalb sie die riesige Halle durchquerte, die Fallblattanzeige unterschritt und den langen, ebenfalls trist gekachelten Weg Richtung Plattform 10 entlang lief. Dutzende Leute nahmen denselben Weg und sie fragte sich, wie viele davon zu "ihrer Welt" gehörten und wie viele Muggel waren.
 

Der Weg war leicht abgeflacht, sodass er wie eine Rampe die Fahrgäste weiter hinunter führte und irgendwann sogar unter die Erde brachte. Auf der Hälfte des Ganges erreichte sie schließlich die Abzweigung zu den Gleisen 9 und 10, die wie alle anderen auch erneut über eine Rampe weiter nach unten führten. Diese Rampe war jedoch sehr viel steiler und aus purem Beton gegossen. Mit jedem Schritt kam sie sich vor, als sei sie am Hintereingang eines Kaufhauses, wo man die Ladungen aus LKW ver- und ablud. Tatsächlich fühlte sie sich verloren, wenn sie ans Ende der Rampe sah, die im ersten Augenblick wie eine Sackgasse wirkte. Eine riesige, runde und mit schwarzen Striemen übersäte Stützsäule versperrte sowohl den Weg, als auch die Sicht auf Plattform und mögliche Züge. Die Decke war auch hier niedrig und wurde von schlichten, weißen Strahlern und kleinen, rechteckigen Tageslichtfenstern durchzogen. Dennoch herrschte eine unangenehme Dunkelheit in dieser für Evelyns Geschmack zu verengten Halle.
 

Unten angekommen sah sie, dass die Menge um den Pfeiler umrundete und geradeaus weitergingen, auch wenn es noch immer keine Schienen zu sehen gab. Irgendwann weitete sich der Weg und Evelyn sah endlich etwas, dass diesen Ort zu einem Bahnhof machte: Züge. Die Schienen fanden direkt am Ende des Elektrozuges ihren Anfang und führten sehr viel weiter vorne durch einen Tunnel hinaus in die Finsternis.
 

Evelyn interessierte sich jedoch nicht für die Bahn, die hier auf ihre Abfahr wartete, sondern nur für die dritte Säule, die zusammen mit dutzenden anderen die Plattformen 9 und 10 voneinander trennte. Gleichzeitig beäugte sie jeden Reisenden und wartete darauf, ob einer von ihnen womöglich unbemerkt in der Säule verschwand. Doch niemand machte Anstalten oder interessierte sich für die Säule. Ein Blick auf die Uhr die von der Decke hing verriet ihr, dass sie noch fast eine Stunde Zeit hatte, bis der Zug abfuhr. Daher war der Ansturm auf den Zug wohl noch nicht sehr hoch, da erfahrungsgemäß die meisten erst etwa 10 Minuten vor Abreise ankamen.
 

Evelyn hatte absichtlich früher da sein wollen, da sie dadurch zumindest Harry Potter und den Weasleys nicht in die Quere kommen würde. Bevor sie hier jedoch wurzeln schlug machte sie sich auf zur entsprechenden Säule, die hoffentlich der Eingang zu einem schöneren Gleis war.
 

Blöderweise stand eine Frau mittleren Alters direkt vor der Säule und las gedankenversunken in einer Zeitschrift. Es sah nicht so aus, als würde sie sich in nächster Zeit wegbewegen. Nervös begann Evelyn an ihrer Unterlippe zu kauen während sie über ihre nächsten Schritte nachdachte.
 

Ein wenig hoffte sie ja doch darauf, dass der Frau plötzlich einfiel sich noch etwas zum Essen kaufen zu müssen, oder dass sie am falschen Gleis stand, doch es passierte nichts dergleichen. Gerade als sie überlegte, ob sie die Säule auch von der anderen Seite her durchqueren konnte, ging eine Familie an ihr vorbei, schnurstracks auf die Frau zu. Ein Junge, ein wenig älter als sie selbst aussah, zog einen Koffer hinter sich her. Evelyns Puls begann zu rasen, denn das konnte kein Zufall sein.
 

Neugierig betrachtete sie in ausreichender Entfernung wie die Familie an der Frau vorbei kommen wollte, oder ob sie sie überhaupt beachteten. Was sie jedoch nicht erwartet hatte war, dass die Mutter des Jungen auflachte und die Frau vor der Säule herzlich umarmte. Evelyn konnte nur erstaunt mit ansehen, wie sie sich in ein Gespräch vertieften, nur um dann scheinbar nebenbei, mit dem Rücken voran, in der Säule zu verschwinden. Die Frau positionierte sich wieder an ihren Platz, die Zeitschrift in der Hand, und fuhr fort, als sei nichts geschehen.
 

Evelyn blinzelte einige Male, wobei sie die vereinzelten Leute auf dem Gleis kritisch begutachtete, doch niemand hatte auch nur mit der Wimper gezuckt.
 

Schulter zuckend ging sie daraufhin direkt auf die Frau zu, wie es die Familie vor ihr getan hatte, und sprach sie schüchtern an.
 

"Verzeihen Sie bitte?" Der Kopf der Frau hob sich langsam aus der Zeitschrift. "Können Sie mir sagen ... also ... ehm ..." Evelyn rang um Worte, da sie nicht wusste, wie viel sie in aller Öffentlichkeit sagen durfte. "Bin ich hier richtig?" Sie deutete mit dem Zeigefinger auf die Säule.
 

"Kindchen, wo sind denn deine Eltern?" Nicht die Antwort, auf die Evelyn gehofft hatte.
 

"Haben keine Zeit", wich sie knapp aus, zeigte jedoch erneut auf die Säule. "Geht es da lang?"
 

"Dein erstes Jahr?", fragte die Frau mit hoher Stimme. Evelyn wurde langsam unruhig. Wenn sie hier noch weiter herumstehen würde, könnte sie auch gleich mit Harry händchenhaltend hier hindurch gehen!
 

"Ja, das erste. Ich bin dann wohl richtig", beantwortete sie ihre eigene Frage und lief auf die Säule zu.
 

"Viel Spaß", hörte sie die Frau sagen, die scheinbar den Eingang bewachte, bevor sie Hände voraus durch die Säule ging.
 

Sie hatte erwartet ein leichtes Kribbeln zu spüren oder wenigstens einen Temperaturunterschied. Irgendetwas das andeutete, dass sie einen Ortswechsel vollzog. Stattdessen dauerte es keinen Wimpernschlag, bis sie die Säule mit nur einem Schritt passiert hatte. Kein langer Tunnel, kein Licht, das sie hindurch führte.
 

Ihr fiel jedoch auf, dass es hier sehr viel heller war, als noch in Euston. Sofort atmete sie tief ein, froh darüber, der Enge des ungemütlichen Bahnhofs entkommen zu sein. Der Duft von brennendem Holz und Schmieröl stach ihr in die Nase, der sie sofort den ekligen Geruch nach Benzin vergessen ließ.
 

Noch sah sie nicht viel, außer einer Backsteinwand. Links neben sich war das Gleis zu Ende, weshalb sie dem Weg nach rechts folgte. Kaum hatte sie sich gedreht, erschlug sie beinahe der Anblick eines meterhohen, fast griechisch wirkenden Torbogens, in dessen Giebel mit riesigen Buchstaben das Wort Euston gemeißelt war. Zwischen den zwei Säulen, die den Giebel trugen, war ein Bronzezaun gespannt, vor dem jeweils zwei Menschen in strahlend bunten Uniformen standen. Den Blick noch immer auf den Torbogen geheftet, der bis direkt unter die Decke reichte, kramte sie ihre Fahrkarte aus der Tasche.
 

Die Decke war überspannt mit einem dichten Geflecht aus Metallstangen und schien ansonsten komplett aus Glas zu bestehen, was das helle Licht erklärte. Ein steinerner Torbogen bis unter die gläserne Decke war genau der Glamour, den Evelyn sich gewünscht hatte. Anerkennend pfiff sie ihre Verwunderung heraus, da ihr schlichtweg die Worte fehlten und starrte mit dem Kopf weit in den Nacken gelegt nach oben.
 

"Chrm", räusperte sich der Herr vor dem Bronzetor. Evelyn riss so schnell den Kopf herunter, dass es schon fast wehtat und hob ihm ihre Eintrittskarte entgegen.
 

"Ganz alleine?", fragte auch er, jedoch mit eher lustlosem Ton. Er nahm ein kleines Gerät zur Hand, das für Evelyn beinahe wie eine Kastagnette aussah, und zog die Karte durch den offenen Schlitz.
 

"Haben keine Zeit", wiederholte sie ihre Ausrede. Der Mann reichte ihr die Fahrkarte, deren Ränder samt eingelassene Linien in den verschiedensten Farben zu pulsierten; es waren die Farben der Häuser.
 

Das Bronzetor öffnete sich mit quietschenden Scharnieren und Evelyn ging hindurch. Dort erwartete sie ein noch besserer Anblick, als ein bis an die Decke reichender griechischer Torbogen.
 

So als würde sie atmen, stieß eine scharlachrote Lok immer wieder Dampf aus und hüllte den nahen Gleisabschnitt in weißen Nebel. Dort tummelten sich bereits einige Familien mit ihren Kindern, darunter auch die Drei, die sie gerade noch durch die Säule hat gehen sehen. Alle nahmen mal herzlich, mal weinend, mal unzeremoniell voneinander Abschied. Der Anblick machte ihr bewusst was es hieß vollkommen alleine zu sein. Niemand würde ihr beim Herausfahren zuwinken und hier warten, bis der Zug hinter der Biegung in der Ferne verschwunden war.
 

Ein Schild direkt über der Lok verkündete eine pünktliche Abfahrtszeit in 34 Minuten. Koffer wurden von A nach B geschoben und die Eulenbesitzer hatten alle Hände voll zu tun ihre Tiere im Käfig ruhig zu halten. Evelyn hatte sich immer gefragt, weshalb man die Eulen nicht einfach nach Hogwarts fliegen ließ. Wieso sperrte man sie für eine Zugreise in einen Käfig? Für sie machte das wenig Sinn. Die ganzen Katzen, die in den verschiedensten Formen und sogar Farben zwischen den Leuten turnten, waren hingegen ein ganz anderer Fall.
 

Den Tumult beobachtend trottete sie sie Dampflok entlang, bis sie ein schönes Plätzchen weiter Abseits entdeckte, wo sie bis zum letztmöglichen Moment warten würde die Lok zu besteigen. Solange legte sie ihren übergroßen Rucksack ab und streckte sich, froh darüber endlich das Gewicht los zu sein.
 

Noch konnte sie sich immer noch nicht vorstellen, dass sie in nur wenigen Stunden Hogwarts betreten würde, doch gleichzeitig hätte sie sich gestern auch kaum vorstellen können, dass sie hier, auf Gleis 9 ¾ stehen würde. Ein breites Grinsen aus Vorfreude, gemischt mit der Erleichterung es bis hier her geschafft zu haben, formte sich auf ihrem Gesicht. Die Leute schaute sie sich gar nicht erst genauer an, sondern fixierte geduldig Dampflok und die fein gekachelte Wände, bis die Mitarbeiter in ähnlich bunten Uniformen das Zeichen gaben den Zug nun betreten zu dürfen. Evelyn wartete ruhig, bis die meisten Kinder und Jugendliche vom Gleis verschwunden waren und ihre Plätze am Fenster eingenommen hatten, wo sie zum Abschied winkten. Erst dann schulterte sie stöhnend ihre Tasche und kletterte die schmale Treppe hinein in den Hogwarts-Express, der bereits wie ein hungriges Raubtier knurrte, bereit zur Abfahrt.

Kapitel 17 - Anfängliche Schwierigkeiten

Kaum hatte sie sich selbst mit ihrem Gepäck ins Innere der Lok gekämpft, spürte sie einen Ruck und die Maschine erwachte zum Leben. Langsam aber sicher bewegte sich der Zug aus der Überdachung hinaus ins Freie. Evelyn stand im schmalen Gang an die Wand gepresst und sah zu, wie außerhalb der Fenster Häuser und Straßen verschwommen vorbeizogen. Es sah so aus, als fuhren sie direkt durch die Stadt von London, einmal glaubte sie sogar kurz die hellen Lichter der Reklamewände auf dem Piccadilly Circus zu sehen. Obwohl es so aussah, als rasten sie förmlich in unglaublicher Geschwindigkeit, so hatte Evelyn nicht das Gefühl schneller zu fahren, als in einer Gondel.
 

Die verzerrte Aussicht hielt nicht lange an, da das verschwommene Stadtbild schon bald von unberührter Natur abgelöst wurde, wo der Zug normale Geschwindigkeit zu fahren schien. Sie hatten London hinter sich gelassen.
 

Noch immer standen vereinzelte Schüler auf den Gängen, doch trotzdem machte sich Evelyn auf den Weg einen Platz zu finden. Immer wieder schielte sie in die Abteile, entdeckte meistens aber nur ältere Schüler. Vermutlich war sie in dem Teil eingestiegen, der den Oberstuflern vorbehalten war. Der Zug war lang und so kämpfte sie sich mit ihrem Seesack durch den schmalen Gang.
 

Ab und zu glaubte sie jemand zu finden, den sie kannte. Der ein oder andere Rotschopf war durchaus auffällig - nicht, dass sie allzu genau hingeschaut hätte. In einem eher unauffälligen Abteil hatte sie es schließlich auf gut Glück versucht, wurde aber schnell abgewimmelt. "Geh in den Wagon für die Erstklässler", hieß es nur. "Hier sind die Drittklässler." Ein System, geschweige denn Schilder die die jeweiligen Klassen voneinander trennten, fand Evelyn nirgends. So fragte sie sich immer weiter nach hinten durch, bis sie schließlich ein fast volles Abteil fand, in dem mehrere Mädchen und ein Junge saßen. Alle starrten sie überrascht an, als sie die Tür aufschob und fragte, ob sie sich setzen dürfte.
 

"Bist du auch zum ersten Mal in Hogwarts?", fragte ein blondes Mädchen mit fein geflochtenen Haaren. Auf ihr Nicken hin, wurde sie von den anderen herein gewunken. Sie nahm im gebührenden Abstand, die Tasche unter den Polstern verstaut, neben der Tür Platz. Sofort quasselten alle wieder aufeinander ein, wobei Evelyn sich nicht die Mühe machte sich zu beteiligen.
 

Evelyn hatte so ein derartiges Gespräch erwartet. Oh, ist das dein erstes Jahr, freust du dich auch schon, ich war ja so aufgeregt, als ich meinen Brief bekommen habe, und das alles. Typische Floskeln, wie sie wohl jeder Erstklässler auf der Fahrt nach Hogwarts austauschte. Verübeln konnte Evelyn es ihnen nicht. Natürlich erging es ihr ähnlich, allerdings trennten sie fast 15 Jahre, auch wenn sie nicht danach aussah.
 

"Wie heißt du eigentlich?", fragte der Junge, der Gruppe. Evelyn sah, dass er leicht schiefe Zähne hatte, dafür jedoch ein verschmitztes Lächeln.
 

Ah, Vorstellungsrunde. "Evelyn Harris", erwiderte sie knapp. Es herrschte kurz Stille, in denen die anderen wohl erwartet hatten, dass Evelyn sich nach ihren Namen erkundigte, was sie nicht tat. Der Junge neigte seinen Kopf und eines der Mädchen mit exotischem Aussehen rollte die Augen. Doch das blonde mit den Zöpfen bemühte sich um ein Lächeln.
 

"Ich bin Megan Jones." Sie zeigte auf das Mädchen neben ihr, das sich abgewendet hatte. "Das ist Sue Li."
 

Der Junge hob die Hand und grinste breit. "Und ich bin Anthony Goldstein."
 

Das letzte Mädchen, eine unscheinbar wirkende Brünette mit karamellfarbener Haut, nuschelte nur kurz ihren Namen. "Mandy Brocklehurst."
 

Um den Anstand zu wahren nickte Evelyn allen zu, blieb sonst jedoch still. Während die anderen sich wieder ihrem Gespräch widmeten, gratulierte sich Evelyn selbst. Sie kannte die Namen nur vage, was ein gutes Zeichen war. Ihre Reise nach Hogwarts würde wohl keine größeren Steine ins Rollen bringen. Ein tiefer Seufzer entwich ihr und sie merkte, dass sie erst jetzt, zum ersten Mal seit Tagen, wirklich entspannt war.
 

Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich zurück gegen das alte Polster und ließ sich von den Bewegungen des Zuges sanft hin und her wiegen. Nun überkam sie die Erschöpfung. Die Tatsache, dass sie mehr als 24 Stunden ohne Schlaf auf den Beinen war, holte sie nun ein. Leider schlief sie trotz ihrer Müdigkeit nicht ein, sondern döste im Halbschlaf vor sich hin. Die Kinder, waren viel zu aufgeregt, um sich zu entspannen und redeten ununterbrochen, wobei Evelyn nur selten ein Wort registrierte.
 

"-eiß schon ganz genau, wo ich hinko-"
 

"-uch nicht schwer, mein Vater wa-"
 

"-nt ihr, sie schläft? Sollen wir le-"
 

Nein, sie schlief nicht, aber sollten sie das nur denken. Zwar hatte Evelyn nicht genau aufgepasst, aber es war nicht schwer herauszufinden, dass sie ziemlich sicher über die bevorstehende Sortierung sprachen. Für einen Erstklässler gab es schließlich nichts Aufregenderes, als in eines der Häuser eingeteilt zu werden. Diese Entscheidung eines sprechenden Kleidungsstückes würde mehr sein, als nur eine Aufteilung der Schüler. Sie würde ihr Leben bestimmen, denn wo auch immer sie landen würden, dieses Haus würde die Schüler auf ewig begleiten. Man wurde nicht nur einfach Teil eines Hauses, sondern das Haus wurde Teil eines selbst.
 

Ein leichtes Grinsen breitete sich auf Evelyns Gesicht aus. Allein die Tatsache, dass sie die Gruppe in ihrem Abteil nur vage kannte sprach dafür, dass alle Anwesenden entweder in Hufflepuff, oder in Ravenclaw einsortiert werden würde. Sie war sich ziemlich sicher, dass Mandy zu den Ravenclaw gehört hatte, oder besser gehören würde ...
 

Demnach waren hier in diesem Abteil ein paar ihrer zukünftigen Hauskameraden, weshalb sie sich besser mit ihnen hätte stellen sollen. Kurz überlegte sie doch noch ins Gespräch, so oberflächlich und floskelhaft es auch war, einzusteigen, hielt aber trotzdem die Augen geschlossen und tat weiter so, als schliefe sie tief und fest. Ja, im Normalfall hätte sie hier während der Fahrt ersten Bande knüpfen können, denn die Chance standen gut den oder die Freunde fürs Leben zu finden. Doch sie war nicht hier um Freunde zu finden, sie war nur hier um Hogwarts willen. Nicht, dass sie ernsthaft erwartet hätte Freunde zu finden, selbst wenn sie es versucht hätte. Denn schließlich, war sie zu alt.
 

Einige Zeit verging, in der Evelyn sich entspannte und verpassten Schlaf versuchte nachzuholen. Sie glaubte irgendwann auch die Dame mit dem Snack-Wagen zu hören, achtete ansonsten jedoch nicht auf ihr Umfeld, bis die Tür mit einem Ruck aufgerissen wurde. Evelyn, die leicht gegen den Türrahmen gelehnt hatte, schreckte überrascht auf. Sie starrte auf das Mädchen, das in der Tür stand und zunächst den Boden absuchte, ehe sie sich an die Leute wendete. Evelyn hatte jedoch nur Augen für die buschige Haarmähne, die beinahe das komplette Gesicht verdeckte. Mit unangenehmem Gefühl drückte sie sich weiter nach hinten, weg von dem Mädchen, das bereits in voller Hogwarts-Montur, mit Umhang und Uniform, breitbeinig in der Tür stand.
 

"Habt ihr eine Kröte gesehen? Ein Junge sucht danach, soll hier irgendwo sein." Hermines Ton war herrisch und ungeduldig. Evelyn konnte nicht sagen, ob sie bereits Harry und Ron begegnet war, oder ob ihr dieser spezielle Besuch noch bevor stand.
 

Während zwei der Mädchen angewidert die Füße auf die Polsterbänke zogen, hüpfte Anthony sofort auf den Boden und durchsuchte alles. Dabei zog er auch an Evelyns Tasche.
 

"Eine Kröte? Wie eklig! Wer nimmt denn eine Kröte mit!", kreischte Sue Li und schüttelte sich am ganzen Körper.
 

"Es ist gestattet neben Eulen und Katzen auch Kröten mitzunehmen. Da ist nichts Falsches dran", belehrte sie Hermine die beobachtete, wie Anthony das Abteil absuchte. "Allerdings sollte man sie nicht verlieren."
 

Sue Li wollte nicht aufhören zu wimmern und zog ihre Beine nur fester an. Nun war es an Evelyn die Augen zu verdrehen angesichts dieser überzogenen Reaktion.
 

""Sie ist nicht hier"", sagten Evelyn und Hermine aus einem Mund. Anthony stand enttäuscht auf und klopfte sich den Staub von der Hose. Hermine verzog den Mund und schloss die Tür ohne ein weiteres Wort. Kaum war sie verschwunden, beruhigten sich die anderen wieder.
 

"Wer war das denn?", fragte Mandy, wobei ihr natürlich niemand eine Antwort geben konnte. Obwohl Anthony nichts gefunden hatte, verharrte Sue Li in gekrümmter Position auf dem Sitz und schielte immer wieder Richtung Boden, wohl aus Angst, ob nicht doch noch dieses scheußliche Monstrum auftauchen würde.
 

Evelyn hingegen hatte daran zu knabbern, einem Teil des goldenen Trio derart nahe gekommen zu sein. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie Hermine nach ihrem ersten Auftritt hier für eingebildet und schlichtweg unfreundlich gehalten. Erstaunlich, was sie für eine Wandlung machen würde. Gryffindor eben, dachte Evelyn und schloss erneut die Augen.
 

Die weitere Reise verlief ohne Zwischenfälle, bis in ihrem Abteil plötzlich großer Aufruhr herrschte. Sie waren nun schon einige Stunden unterwegs und draußen zeichneten sich erste Anzeichen eines Sonnenunterganges ab, als die Mädchen verlangten, dass Anthony das Abteil verließ.
 

"Wo soll ich denn hin?"
 

"Egal, Hauptsache raus. Du kannst nicht bleiben." Irritiert hob Evelyn den Kopf und beobachtete, wie Mandy und Sue Anthony an ihr vorbei durch die Tür schoben.
 

"Du kannst ja gleich wieder herein kommen."
 

"Geh solange durch den Zug spazieren."
 

Evelyn realisierte, dass die Mädchen sich ihre Hogwarts Uniform anziehen wollte, was gar keine dumme Idee war. Ohne auf die anderen zu achten zog sie ihre Tasche hervor, wobei einiges an Staub mitkam, und suchte sich ihre Kleider, die sie in weiser Voraussicht oben auf gepackt hatte. Das Ravenclaw Wappen sprang ihr entgegen, zusammen mit der blau-bronzen leuchtenden Krawatte. Wie Seide rang ihr der Stoff durch die Finger, ehe sie sich die Krawatte um den Hals legte. Während sie den Rest heraussuchte blickte sie zu den anderen Mädchen, die es mittlerweile geschafft hatten Anthony Goldstein aus dem Abteil zu werfen und die Vorhänge zuzuziehen. Sie fragte sich, ob die Mädchen wussten, wie man Krawatten band? Doch wie Evelyn zogen sie zielstrebig ihre Uniformen aus ihren Taschen und knüpften sich eilig zu. Auch die Krawatte machte ihnen keine Probleme. Evelyn hob anerkennend die Augenbrauen, während sie selbst letzte Hand an ihrer Kleidung anlegte.
 

Es war ein komisches Gefühl in der Garderobe für Hogwarts zu stecken. Ein schönes und behebendes Gefühl war es, aber dennoch seltsam. Der Rock war gewöhnungsbedürftig und noch ein wenig lang, aber sie würde "hineinwachsen". Das Material, auch wenn es wie kratzige Wolle aussah, lag überraschend weich auf der Haut.
 

Mit Schwung legte sie ihren Umhang um sich und knotete ihn unter ihrem Hals zu. Sie war bereit.
 

"Eh? Wieso hast du schon ein Ravenclaw-Zeichen?"
 

Es dauerte einige Herzschläge bis Evelyn bemerkte, dass Sue sie mit ihrer Frage gemeint hatte. Die Mädchen begutachteten sie von oben bis unten und runzelten irritiert die Stirn. Ihre eigenen Uniformen waren noch recht farblos, mit schwarzer Krawatte und fehlenden zum Haus farblich passenden Ornamenten. Statt des Häuser-Wappens trugen sie das Zeichen Hogwarts auf ihrer Brust. Evelyn hingegen trug blau.
 

Peinlich berührt fuhr sie mit ihren Händen die Innenseite ihres Umhangs entlang, wobei sie sich ein wenig enger hineinwickelte.
 

"Der hat vorher jemand anderem gehört."
 

Mandy formte ein tonloses "Oh", doch Megan verstand noch immer nicht. "Musst du jetzt ewig in Ravenclaw Sachen herum laufen, auch wenn du gar nicht Ravenclaw bist?" Sue schlug Megan gegen den Rücken und schüttelte erneut Augen rollend den Kopf.
 

"Mh, nein. Soweit ich weiß passt das Schloss das schon irgendwie an."
 

"Das Schloss kann zaubern?" Mittlerweile war sich Evelyn nicht sicher, ob Megan sich mit Absicht so naiv gab. Die Stirn runzelnd setzte sie sich ohne zu antworten wieder auf ihren Platz und wartete darauf, dass der Zug in Hogsmeade ankam.
 

Es dauerte doch noch eine Weile, in der auch Anthony zurückkehren durfte, und erst, als die Sonne völlig untergegangen war, verlangsamte sich der Zug. Auf einen Schlag gab es ein riesiges Gewusel in dem viel zu kleinen Gang, als hunderte schwarz gekleidete Menschen in jedem Alter zu den Ausgängen strömten. Auch ihre Fahrbekanntschaften beeilten sich der Masse zu folgen. Evelyn hatte es hingegen nicht eilig. Sie wartete, bis der erste Ansturm abgeebbt war, bevor auch sie sich zu einem der Ausgänge begab. Die Tasche ließ sie, wie jeder andere auch, einfach hier liegen.
 

Mit flatterndem Magen ging sie hinaus und sah bereits durch die Fenster, dass der Bahnsteig völlig überfüllt war. Im Licht einzelnen Laternen bildeten sich verschiedene Grüppchen, sie drängten sich jedoch trotzdem dicht an dicht.
 

"Jetzt kommt der schöne T-"

Ribbit.

Evelyn stockte. Sie versuchte zu lauschen, was das gerade war, doch außer dem fernen Atmen der Maschinen und dem Gemurmel von Draußen, hörte sie n-

Ribbit.
 

"Du willst mich doch wohl auf den Arm nehmen!", stöhnte Evelyn, als aus dem Abteil neben ihr, direkt vor ihre Füße, Trevor hüpfte und dort sitzen blieb. Der Körper der dicken Kröte hob und senkte sich heftig, da sie sich wohl mit letzter Kraft zu Evelyn geschleppt hatte.
 

Evelyn sah, wie die ersten Schüler den Bahnsteig bereits verließen, konnte aber auch nicht einfach so an Trevor vorbei gehen. Unruhig wippte sie mit dem Fuß, bevor sie schließlich mit einem Ruck Trevor vom Boden aufhob und ihn in eine der großen Taschen ihres Umhanges steckte. Das Gefühl der warzigen, dennoch trockenen, Oberfläche seiner Haut ließ Evelyn kurz erschauern. Kröten waren zwar ganz niedlich, aber zu oft wollte sie keine anfassen.
 

"Wir sollten beide nicht mehr hier sein", flüsterte sie und sprang aus dem Zug. Draußen suchte sie, wo ihre Klassenkameraden abgeblieben waren. Dabei hielt sie besonders nach einem großen Mann Ausschau, der wie sie wusste die Menge weit überragte. Zu ihrer linken, nicht weit, fand sie den Hünen, der eine schwingende Lampe in den Händen hielt: Hagrid.
 

Eine Hand an die Tasche gepresst, wo Trevor versteckt war, rannte sie los, um den Anschluss nicht zu verlieren. Ihre kurzen Beine machten es ihr nicht gerade leicht. Hagrids Stimme hallte über den Bahnsteig.
 

"Schön beisammen bleiben. Erstklässler, mir nach. Hogwarts erwartet uns."
 

Die meisten glotzen Hagrid in stummer Ehrfurcht an, was ihm entweder nicht auffiel, oder egal war. Evelyn selbst hielt sich am Rand und versuchte nicht zu sehr die Gesichter der anderen zu sehen. Irgendwann würde es unvermeidlich sein die Klasse von Harry zu konfrontieren, das hatte sie vor einigen Stunden mit dem plötzlichen Auftauchen von Hermine erkennen müssen. Doch sie wollte es so lange hinauszögern, wie möglich. Trotz ihrer Bemühungen erkannte sie die eineiige Zwillinge Padma und Parvati. Auch Hermines buschiger Haarschopf, der von hinten dem von Hagrid erstaunlich ähnelte, sah sie in der Menge. Nicht weit von ihr stach ein schlaksiger Bursche mit roten Haaren heraus, neben dem ein schmächtiger Junge lief.
 

Die Prozession folgte Hagrid stumm, der sie weg von dem Bahnsteig, einen schmalen Kiesweg hinunter und durch einen völlig schwarzen Waldweg führte. Während der Wanderung mussten sie steile und rutschige Passagen durchqueren, in denen manche beinahe das Gleichgewicht verloren hatten.
 

"Nur noch diese Biegung, dann seht ihr Hogwarts zum ersten Mal", tönte Hagrid freudig. Die Gruppe nuschelte aufgeregt, wobei jemand hin und wieder schniefte. Evelyn hatte jedoch nur Augen für den Rücken Hagrids, der hoffentlich bald den Blick frei geben würde.
 

"Vorsicht, hier wird es rutschig." Hagrid hatte sie an den Rand eines schwarzen Sees geführt und trat mit seiner Lampe nun beiseite, sodass die Gruppe zum ersten Mal das Schloss in all seiner Pracht sah.
 

Auf der anderen Seite des Sees thronte das Schloss mit all seinen Türmen auf einem Felsen, wie ein schlafender Drache. Die erhellten Fenster funkelten wie Sterne im Wasser darunter. Evelyn konnte, wie viele andere auch, ein Seufzer nicht unterdrücken. Sie faste sich an die Brust und versuchte das Bild vor ihr für immer in ihr Gedächtnis zu brennen. Hogwarts war direkt vor ihr, beinahe zum Greifen nah.
 

"Immer Vier in ein Boot, na macht schon."
 

Während Evelyn den Anblick des leuchtenden Schlosses noch immer genoss, verteilten sich die ersten bereits in die schlichten Holzboote, die sich im Wasser sanft wogten. Erst als beinahe alle verteilt waren, setzte sich Evelyn, die noch immer Hogwarts fixierte, in das ihr nächste Boot, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand allzu Bekanntes darin saß.
 

"Dann wollen wir mal, und nicht hinauslehnen. Wir wollen doch nicht, dass ein Unfall passiert."

Kapitel 18 - Kopf gegen Herz

Unter den Schülern herrschte ein angespanntes Schweigen, als die Boote, mit Hagrid an der Spitze, auf Hogwarts zufuhren. Alle waren wie in Bann gezogen von dem Bild, das das nächtliche Hogwarts ihnen bot. Selbst in finsterer Dunkelheit schien der weiße Stein, aus dem das Schloss gebaut war, im Mondlicht zu glitzern, sodass ein seltsamer Schein um das Bauwerk schwebte.
 

Langsam aber sicher kamen sie immer näher, bis sie direkt unter dem Schloss waren, wo sie auf eine Felsenöffnung zusteuerten. Wild gewachsene Seepflanzen hatten beinahe den kompletten unteren Teil der Felsformation erobert und sich auch bis in die Öffnung vorgearbeitet, sodass es aussah, als durchfuhren sie einen Vorhang aus Ranken.
 

"Passt auf eure Köpfe auf", hörte sie Hagrids tiefe Stimme von irgendwo weiter vorne rufen. Sofort gingen alle Anwesenden in die Knie. Kaum hatten sie die Öffnung hinter sich gelassen, reihten sich alle Boote ohne menschliches Zutun in einer Reihe und fuhren einen nicht beleuchteten Tunnel entlang. Wasser, aufgewühlt durch ihre Fahrbewegungen, klatschte an die glatten Felswände und immer wieder hörte man Holz ächzen. Evelyn vermutete, dass sie sich nun direkt unter dem Schloss befanden und kurz vor der Anlegestelle waren.
 

Die Anlegestelle entpuppte sich als schlichter Holzsteg, an dessen voller Länge die Boote beinahe gleichzeitig anlegten. Hier gab es schlanke Laternenpfähle, die das Innere der Höhle erleuchteten. Hagrid kletterte routiniert mit nur einem Schritt aus seinem Boot, das er ganz für sich alleine gehabt hatte. Die Schüler waren weitaus wackeliger auf den Beinen und mussten sich gegenseitig hinaus helfen. Während Evelyn beobachtete, wie die anderen sich bemühten nicht auf den letzten Metern ins Wasser zu fallen, fuhr sie mit der Hand vorsichtig über die Wölbung ihres Mantels, wo sich Trevor noch immer in einer Tasche verbarg. Sie nutze die allgemeine Verwirrtheit und griff beherzt nach der Kröte, um sie auf den Boden des Bootes zu setzen, ehe auch sie auf den Steg sprang.
 

Bei allen kehrte die Nervosität zurück, weshalb die Erstklässler sich zu einer großen Gruppe formierten und aufgeregt aufeinander ein quasselten. Hagrid half den letzten, die sich nicht trauten das sichere Gefährt zu verlassen, hinaus und prüfte mit einem letzten Blick die Boote. Evelyn beobachtete ihn mit gesenktem Blick, ihre Gefühle waren vor Müdigkeit und Hunger beinahe taub.
 

"Hat jemand seine Kröte vergessen?"
 

Sofort sprang ein plumper blonder Junge aus der Masse und lief mit weit geöffneten Armen auf Hagrid zu. "Trevor!", rief er und drückte seine wiedergefundene Kröte an sich. Alle, die sich die Mühe gemacht hatten zuzusehen, wie Neville sein Haustier wiederbekam, wirkten eher verstört und angewidert. Alle, bis auf Evelyn.
 

Überfordert mit der Situation steckte sie ihre Hände in die Manteltaschen und vergrub sich. Sie bemühte sich klar zu denken, doch mittlerweile war sie am Ende ihrer Kräfte und sie wünschte sich nichts sehnlicher als endlich etwas zu essen und schließlich in ein weiches Bett zu fallen. Doch trotz ihrer Müdigkeit registrierte sie, was gerade passiert war. Dass sie alleine mit ihrer Anwesenheit im Zug es geschafft hatte etwas derart durcheinander zu bringen, dass sie irgendwen oder irgendwas daran gehindert hatte das zu tun, was vorgesehen war, nämlich Trevor ins Boot zu bringen.
 

Hagrid forderte sie auf ihm zu folgen und so setzte sich die Gruppe erneut in Bewegung, eine schmale, steile Steintreppe nach oben. Evelyn hielt ihren Blick gesenkt und bekam kaum mit, was um sie herum geschah. Immer wieder redete sie sich ein, dass sie einiges nicht anders hatte machen können. Sie hatte in gewisser Weise das kleinere Übel genommen, denn der wichtige Ankerpunkt war Harrys Treffen mit Ron gewesen, denn ohne Rons Einfluss hätte sich Harry wohl gleich unterm Hut für Slytherin entschieden. In Zukunft würde sie im Unterricht sitzen, an Essen teilnehmen und im Gemeinschaftsraum mit anderen wohnen, so passiv sie dabei auch sein würde. Sicherlich würde dadurch etwas durcheinander geraten, doch sie müsste einfach sehen, dass sie im Zweifelsfall alles wieder in richtige Bahnen brachte; so wie eben mit Trevor.
 

Sich um alles Sorgen zu machen würde sie auf lange Sicht kaputt machen, es reichte, wenn sie sich auf das Wesentliche konzentrierte, und das waren Situationen wie Harrys Treffen mit Ron, der Troll an Halloween, die Suche nach dem Stein der Weisen, um nur das erste Jahr abzudecken. Das musste passieren, darauf musste sie achten.
 

Evelyns Kopf begann fürchterlich zu pochen, sodass sie sich mit den kalten Fingern die Schläfen massierte. Die Fahrt über den trotz sommerlichen Temperaturen kühlen See, der Schlafmangel und wachsende Hunger ließ sie in dem Höhlensystem frösteln. Dazu kam das wachsende Gefühl mit ihrem Egoismus einen großen Fehler gemacht zu haben und Zweifel, ob sie es schaffen würde in sieben Jahren alles zu richten. Sie musste sich einen Notfallplan überlegen für den Fall, dass etwas schief ging. Doch das würde sie morgen machen, wenn sie besser denken konnte.
 

Sie verließen die geschlossene Höhle durch eine Öffnung im Boden und standen auf einer feuchten Wiese, direkt im Schatten des riesigen Schlosses. Erneut verschlug es Evelyn die Sprache und sie musste einen schweren Kloß hinunterschlucken. Es war egoistisch gewesen, ja. Doch in diesem Moment, Hogwarts vor Augen, wusste sie, dass egal was passieren würde, sie würde es nicht bereuen.
 

Hagrid führte sie eine weiter Stufe hinauf, bis sie vor einer dicken Holztür zum Stehen kamen, die mit verschiedenen Runen und Hieroglyphen geschmückt war du selbst Hagrid um einiges überragte. Selbst ein echter Riese würde hier problemlos durch passen. Der Wildhüter drehte sich zu den versammelten Kindern um und strahlte sie an.
 

"Da wären wir. Jeder hat noch seinen Reisepartner, die Kröte ist auch noch da? Wunderbar." Mit diesen Worten hob er seine riesige Hand, ballte sie zur Faust und schlug einige Male heftig gegen die Tür.
 

Die Tür, so dick sie auch war, erschütterte leicht unter seinen Hieben. Gebannt starrten alle auf den Eingang, auch Evelyn. Schließlich öffneten sich die Tore nach Innen und eine Frau im smaragdfarbenen Umhang kam zum Vorschein. Es sah so aus, als hätte sie gewartet.
 

"Professor McGonagall, hier sind die Erstklässler."
 

Mit strengem Blick schweifte sie über jeden einzelnen Anwesenden, ehe sie Richtung Hagrid nickte. "Danke Hagrid, ab hier übernehme ich." Sie legte ihre Hände hinter den Rücken und straffte sich. "Folgt mir."
 

McGonagall sah anders aus, als noch bei ihrem Besuch bei Ollivander. Ihre Roben wirkten festlicher und auch ihre Haare waren in feineren Knoten gebunden, die von funkelnden, in ihrem dunklen Haar kaum zu sehenden, Spangen gehalten wurden. Viel interessanter als die Garderobe ihrer zukünftigen Lehrerin fand sie die Eingangshalle, in der dutzende Fackeln an den Wänden tanzten. Eine Decke schien es nicht zu geben, da direkt vor ihnen eine breite Marmortreppe geschwungen nach oben in luftige Höhen führte. An der Seite führte eine schmalere, aber am Geländer mit steinernen Tieren reich verzierte Treppe in die unteren Stockwerke. Zu ihrer Rechten fanden sie eine weitere Tür, die nicht weniger imposant war, als das Eingangstor selbst. Dahinter hörte man deutlich das unverständliche Gemurmel hunderter Menschen. Mit jedem Schritt schoss mehr und mehr Adrenalin durch Evelyns Körper und vertrieb dadurch die Müdigkeit; zumindest für den Moment.
 

Tief atmete sie die Luft ein, roch den Duft von Kerzenwachs, Staub und nassem Stein. Je weiter sie ins Innere ging, desto klarer witterte sie auch den köstlichen Geruch des Abendessens, das irgendwo unter ihren Füßen vorbereitet wurde. Der Boden war mit riesigen, flach polierten Marmorplatten ausgelegt, denen man die Last der Jahrhunderte nicht anmerkte. Sie sahen so strahlend aus, als seien sie erst vor kurzem gelegt worden. Ihr Blick blieb schließlich an der geschlossenen Tür zur Großen Halle hängen, an der McGonagall sie jedoch vorbei führte.
 

Statt direkt zu den anderen gebracht zu werden, mussten sie sich vorher auf McGonagalls Anweisung hin in ein schmales Vorzimmer direkt neben der Halle quetschen, das wenig prunkvoll war. Der Raum wurde wohl ausschließlich dazu benutzt wartende Schüler abzustellen.
 

"Willkommen auf Hogwarts. Ihr steht kurz davor eure magische Laufbahn zu beginnen. Dazu werdet ihr zunächst einem von vier Häusern zugeteilt, das die nächsten sieben Jahre nicht nur euer Zuhause, sondern auch eure Familie sein wird. Während eures Aufenthaltes hier werdet ihr euch hauptsächlich in euren Häusern aufhalten, die ..."
 

Evelyn blendete ihre Rede aus, da sie keine Erklärung benötigte. Sie bezweifelte, dass die Mehrheit hier gesagt bekommen musste, dass es vier Häuser gab oder dass man Punkte sammeln konnte. In der Regel hatte jeder hier magische Verwandte, die zu irgendeinem Zeitpunkt Hogwarts besucht hatten. Ab morgen würde sie an jedem Wort kleben, das McGonagall oder ein anderer Lehrer von sich gab, doch heute erlaubte sie sich gedanklich abzuschweifen.
 

Unauffällig betrachtete sie den mit Holz verkleideten Abstellraum, der weder Bilder, noch andere Inneneinrichtung hatte. Dieses schmucklose Zimmer war ein starker Kontrast zu der eindrucksvollen Eingangshalle. Wirklich wichtig war ihr im Moment jedoch eher zu erfahren, wie die Große Halle aussah.
 

"Nutzt die Zeit um euch für die Augen eurer zukünftigen Hauskameraden zurecht zu machen. Setzt eure Hüte auf und wartet, bis ich euch abhole", hörte sie McGonagall sagen, ehe sie durch dieselbe Tür verschwand, durch die sie hineingekommen waren.
 

Einige nahmen sich McGonagalls Rat zu Herzen und richteten ihre Umhänge, zupften an den Haaren oder wischten sich mit ihrem Hemd den Schweiß von der Stirn, wobei Evelyn bezweifelte, dass diese Handlung das Gesamtbild verbesserte, wenn das Hemd vollkommen verkrumpelt war. Zunächst herrschte erneut angespannte Stille, doch dann ging das aufgeregte Getratsche los. Gesprächsthema Nummer eins war verständlicherweise die bevorstehende Sortierung. Die meisten waren sich bereits sicher, in welches Haus sie kommen würden, andere schienen noch unschlüssig zu sein. Evelyn konnte sich ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Im Moment war sie einfach nur froh hier zu stehen.
 

Mit Schwung stellte sie ihren Spitzhut auf, der bisher an ihrem Rücken von ihrem Umhang gehangen hatte. Sie hasste Hüte, doch diesmal würde sie von Herzen gerne eine Ausnahme machen. Der schlicht gehaltene Hut war etwa so lang, wie ihr kindlicher Unterarm und sah vermutlich ziemlich bescheuert aus, doch all das war ihr gerade völlig egal.
 

In erwartungsvoller Vorfreude wippte sie auf ihren Füßen und trommelte eine stumme Melodie gegen ihre Schenkel, als plötzlich eine ganze Horde durchsichtiger Gestalten durch die Wände geschwebt kamen. Im Gegensatz zu den Kindern, die sie mir riesigen Augen anstarrten, schienen sich die Geister kaum für die anwesenden Lebenden zu interessieren. Sie waren vielmehr in ihrem ganz eigenem Gespräch vertieft.
 

"Woah, sind die echt?"
 

"Ih, er hat mich berührt."
 

"Ist das getrocknetes Blut auf der Uniform von dem da?"
 

Evelyn war erstaunt über die unhöfliche Art, wie manche über die Geister sprachen. Andererseits hörten die ja sowieso kaum, was geredet wurde. Ab und zu nickte ein Exemplar ihnen zu oder winkte, die meisten blieben aber ansonsten unbeeindruckt.
 

Sie glaubte die einzelnen Hausgeister in der Menge zu erkennen, wobei die fast weiß-transparenten Gestalten ineinander zu verschwimmen schienen.
 

Während sie beobachtete, wie die Geister die Kamer durch die gegenüber liegende Wand verließen, öffnete sich die Tür und McGonagall, die nun ihrerseits ebenfalls einen zu ihrer Robe passenden Hut aufgezogen hatte, rief sie zu sich.
 

"Wir sind soweit."
 

Unaufgefordert formierte sich die Gruppe zu einer Reihe und folgte ihrer Lehrerin, die ohne zu zögern auf das Tor der Großen Halle zu lief. Ohne, dass Evelyn gesehen hätte, dass jemand die Tür öffnete, schwang sie vor ihnen auf. Hunderte Augenpaare verfolgten, wie die Erstklässler ihre ersten Schritte in ihre Mitte machten.
 

Evelyns Blick wurde sofort von der Decke angezogen, die von tausenden schwebenden Kerzen verhangen war. Der wolkenlose Nachthimmel leuchtete auf sie hinab und außer den Kerzen und dem Schein des Mondes gab es keine weiteren Lichtquellen. Ihre Knie wackelten mit jedem Schritt den sie weiter in die Halle machte, durch die Tische hindurch und direkt vor die Plattform, auf der die Lehrer saßen.
 

Jeder Platz war bereits mit goldenen Tellern und Besteckt gedeckt, wobei einige noch nicht besetzt waren. Jeder von ihnen trug wie sie einen Spitzhut, wobei man anhand ihres Wappens genau erkennen konnte, welches Haus an welchem Tisch saß. Sie riss sich von der Decke weg und begutachtete die Wände, die fast komplett aus Glas bestanden und nur ein feines Geflecht aus steinernen Einfassungen hatten. Das Glas war jedoch nicht durchsichtig, sondern leicht getrübt.
 

Das Lehrerpodest überflog sie nur flüchtig, denn ihre Aufmerksamkeit galt nun, da sie die Halle durchquert hatten, dem alten von Löchern übersätem Lederhut, der fast schon unscheinbar auf einem Schemel neben McGonagall lag. Kurz herrschte absolute Stille, doch dann regte sich der Hut, baute sich zur vollen Größe auf und öffnete einen der unzähligen Schlitze wie einen Mund.
 

Eine unmenschliche, tief hallende Stimme erfüllte die Halle, ohne dass der Hut schrie. Jedes seiner Worte war klar zu verstehen, so als stünden sie direkt neben ihm. Einige Silben kamen ihm krächzend über die Hutkante, doch abgesehen davon hatte er eine angenehme Stimme, der Evelyn gerne lauschte, wie er sein Lied vortrug.
 

Nun los, so setzt mich auf, nur Mut, habt nur Vertrauen in den Sprechenden Hut!
 

Sofort verfiel der ganze Saal in tosenden Beifall, in den auch Evelyn einstimmte. Ein Kribbeln durchfuhr sie als sie zusah, wie McGonagall noch während des Jubelausbruches eine Rolle mit rotem Wachssiegel zur Hand nahm und sich neben dem Stuhl positionierte.
 

"Wenn ihr euren Namen hört, tretet ihr vor. Ich beginne nun." Das Siegel wurde aufgebrochen und McGonagall verlas den ersten Namen. "Abbott, Hannah."
 

Evelyn fielen spontan zehn Schüler ein, die vor ihr einsortiert werden würden, sodass sie der Verkündung der einzelnen nur flüchtig folgte. Vielmehr nutzte sie die Zeit sich nun jeden einzelnen genau anzusehen, was sie bisher vermieden hatte, um abschätzen zu können, von wem sie sich besonders fern halten sollte. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen jubelte einer der vier Tische, als der Neuzugang unter ihnen Platz nahm.
 

Mandy war unter einen der ersten, die aus ihrer Runde der Neuen erlöst worden war. Evelyn hatte sich richtig erinnert, sie war eine Ravenclaw geworden. Auch Anthony Goldstein folgte ihr, genauso wie der Großteil der frühen Gruppe, was Evelyn überraschte. Wichtiger waren jedoch die Gryffindors, darunter Seamus, ein knubbeliger Junge mit wildem, rotblondem Haar, und die Slytherins. Crabbe war kaum zu übersehen gewesen, mit seinen breiten Schultern und eingedrückter Nase. Irgendwann hörte sie Hermines Namen und sie sah zu, wie ein Mädchen förmlich den Weg zum Schemel hinauf stolperte und sich den Hut ungeduldig aufsetzte.
 

Evelyn zählte die Sekunden, aus denen Minuten wurden. Eine echte Hutklemme, dachte Evelyn schmunzelnd. Irgendwann ertönte der erlösende Schrei, der Hermine nach Gryffindor schickte, und Daphne Greengrass nahm den Platz auf dem Stuhl ein. Soweit so gut.
 

Das dünne Mädchen mit schwarzen Haaren wurde unter tosendem Jubel in Slytherin aufgenommen, als Evelyns Mund mit zwei Worten von McGonagall völlig austrocknete.
 

"Harris, Evelyn."
 

Mit einem Schlag schien sich der Raum um sie herum auf nur einen Punkt zu verkleinern. Alles und jeder wurde zu einem unbeteiligten Schemen, sodass sie nur noch den Hut und den Stuhl sah. Völlig taub lief sie hinauf. Ihr unscheinbarer Kopfschmuck wurde durch den alten Sprechenden Hut ersetzt, der ihr, wie fast allen auch, viel zu groß war. Sofort hallte seine dunkle Stimme in ihrem Kopf.
 

"Kurios, eine alte Seele." Evelyn ballte ihre Hand auf ihrem Knie zur Faust.
 

"Oh, einsortieren werde ich dich, denn dies ist die Aufgabe, die mir vor tausend Jahren von den Gründern persönlich gegeben wurde. Und dieser Aufgabe gehe ich nach. Mh, nach Hufflepuff willst du -- Helgas Haus. Das erscheint mir jedoch nicht die richtige Wahl. Nein, ich bin nicht blind, ich sehe deine Argumente. Strukturiert. Subtil. Scharfsinnig. Zielorientiert und doch -- verschlossen."
 

Evelyn brüllte ihn nun in Gedanken förmlich an sie endlich nach Hufflepuff zu schicken. Jede Sekunde, die sie länger hier oben unter den Blicken aller verbrachte, erschien ihr wie eine Tortur. Immer wieder predigte sie, dass es ihr Wunsch sei, dass er auf ihren Wunsch achten sollte. Dass sie wusste, was sie tat.
 

"Dein Kopf sagt mir Hufflepuff, doch dein Herz erzählt etwas anderes. -- Oh, nein, egal ist das nicht. Der Wunsch, der für mich zählt, die Entscheidung, die ich fälle, hört nicht auf den Kopf, sondern auf das Herz." Evelyn schluckte schwer, panisch darüber, in welche Richtung die Sortierung gerade ging. Sie verlor die Kontrolle.
 

Plötzlich spürte sie, wie der Hut leicht zu vibrieren begann. Er ... lachte? "Gryffindor? Nein, nein, das ist ganz falsch." Seine Entscheidung nahte und Evelyn versuchte noch einmal, ihn dazu zu bewegen sie nach Hufflepuff zu schicken.
 

Bitte nicht, bitte nicht - sag Hufflepuff, sag Hufflepuff. Bitte!
 

Vergebens. Seine Stimme donnerte für jeden hörbar durch die Halle und Evelyn glaubte fast vor Schock vom Stuhl kippen zu müssen.
 

"SLYTHERIN."

Kapitel 19 - Umringt von Problemen

Erst ein leichter Druck gegen ihren Rücken von Professor McGonagall ließ Evelyn aufstehen. Der Hut war schon längst von ihrem Kopf verschwunden und doch hoffte sie auf eine Wendung des Schicksals. Darauf, dass gleich irgendjemand aufsprang und rief "Nein, das ist ein Fehler". Natürlich sprang niemand auf, denn im Grunde war es jedem egal, wo die neuen Schüler hingeschickt wurden. Evelyn hingegen fühlte sich völlig leer, als sie mit steifen Beinen zum jubelnden Tisch lief.
 

Um sie herum wurde mit der Sortierung fortgefahren, ohne dass auch nur jemand bemerkte, wie weiß Evelyn vor Panik wurde. Der schlimmstmögliche Fall war eingetreten, ignorierte man Gryffindor als Option.
 

Sie starrte ihr Spiegelbild an, das ihr aus den polierten Goldtellern entgegen blickte und verlor jedes Gefühl von Hunger. Sie sah sich selbst regelrecht auf dem Präsentierteller. In Slytherin würde sie nicht durchhalten; Sie war zu nah am Geschehen, zu nah an den Schlüsselfiguren. Das Wappen alleine reichte aus, dass alle Gryffindors sie jedes Mal beäugen würde, wenn sie ihnen in den Gängen begegnete. Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem Kelch, füllte ihn mit undefinierbarer Flüssigkeit und kippte das bittere Gesöff in einem Rutsch hinunter. Ihre Ohren sagten ihr, dass andere versuchten mit ihr zu reden, vermutlich einfach um Hallo zu sagen, doch darauf reagieren konnte sie nicht. In diesem Moment vergaß sie jede Vorsicht und legte nicht gerade unauffällig ihr Gesicht in ihre Hände und versuchte alles um sie herum auszublenden, was nicht schwer war.
 

Nach Hufflepuff zu gehen war ihr Wunsch gewesen, so hatte sie gedacht. Doch dass der Hut derart andere Vorstellungen darüber haben würde, was Evelyn sich wünschte, damit hatte sie nicht gerechnet. Er musste doch gesehen haben, weshalb Evelyn in das Haus der Dachse wollte? Der Gedanke an die Sturheit des Hutes ließ sie innerlich brodeln. Was hatte er nicht daran verstanden als sie wiederholt versichert hatte, Hufflepuff wäre ihr Wunschhaus?
 

Der Wunsch den er beachtete kam nicht vom Kopf sondern vom Herzen, hatte er gesagt. Je mehr sie über seine Worte nachdachte, desto wütender wurde sie über sich selbst. Sich selbst und ihr unangebrachter Wunsch nach Slytherin zu gehören. Der Hut sah ihr Innerstes, es war also überflüssig an dieser Stelle etwas zu leugnen. Hatte sie nach Slytherin gewollt? Sie schlug mit der flachen Hand auf den Holztisch und hob den Kopf. Natürlich wollte ich das.
 

Plötzlich tosender Beifall von ihrem Tisch hatte ihren Gefühlsausbruch übertönt, nicht, dass die Leute sich scherten, was sie dachte oder fühlte. Nun waren alle auf den Jungen fixiert, der sich zu ihnen gesellte, doch sie machte sich nicht die Mühe zu schauen wer es war. Ein kurzer stummer Check der Namen reichte aus um zu wissen, wer gerade ihr gegenüber Platz nahm.
 

Sofort wurden über ihren Kopf hinweg Worte des Zuspruches, Grüße und Freudenrufe gebrüllt. Ihr kam es vor, als ginge die Sortierung nun wesentlich schneller. Die Gruppe vor dem Hut schrumpfte immer mehr zusammen und ehe sie sich versah, war sie umringt von Problemen. Fast alle fühlten sich wie Motten zu dem blonden Jungen vor ihr hingezogen. Seine Gorillas Crabbe und Goyle hatten sich mittlerweile umgesetzt und flankierten ihn nun, während etliche Gaffer um die Aufmerksamkeit von Malfoy buhlten. Allerdings ließ just ein Name sowohl Draco als auch Evelyn aufhorchen.
 

Sie sah zu, wie ein kleiner, fast schüchterner Junge unter dem Hut Platz nahm und beinahe unter all dem Stoff versank. Es war das erste Mal, dass sie Harry bewusst wahrnahm, wobei sie sein Gesicht nicht genau erkennen konnte, geschweige denn die charakteristischen Haare oder Augen. So vieles lag noch vor diesem Jungen und bald würden diese schmalen Schultern große Lasten und Verantwortung tragen müssen. Evelyn knetete unschlüssig ihren Rock unter dem Tisch.
 

Sie würde ihre Situation annehmen müssen und das Beste daraus machen. Harry hatte die schwierigere Aufgabe, nicht sie. Sie könnte jeder Zeit einfach gehen, wenn sie sah, dass ihre Anwesenheit hier buchstäblich nicht funktionierte. Natürlich wäre Hufflepuff weitaus angenehmer zu leben gewesen, doch nun war sie dank des Hutes nun mal hier: mitten unter der Crème de la Crème der Reinblüter.
 

"GRYFFINDOR", schallte es durch die Halle und der rote Tisch war nicht mehr zu halten, als der berühmte Harry Potter sich zu ihnen gesellte. Sie hörte sogar von irgendwo die Zwillinge vor Freude brüllen. Draco rümpfte nur angewidert die Nase und widmete sich lieber dem Besteck vor ihm, als einen Finger zu ehren von Potter zu rühren. Die anderen taten es ihm nach in der Hoffnung dadurch in seiner Gunst zu steigen. Evelyn hingegen schmunzelte und klatschte, wenn auch nicht so hysterisch wie der Rest der Schule.
 

"Geschieht ihm recht", spuckte Draco aus, während er eine Gabel in seinen Händen drehte. "Das Idioten-Haus hat einen Schwachkopf mehr." Alle Anwesenden lachten, selbst die älteren Schüler, die in seiner Hörweite saßen, sodass Evelyn nur kritisch den Kopf neigte.
 

Die Welt der Reinblüter war kurios und rein hieß eben nicht gleich rein. Wie hatte Draco mal gesagt? Einige Reinblüterfamilien sind besser als andere, und so, wie sie das nun sah, hatte er diesen Spruch nicht nur gesagt um Ron Weasley eine Breitseite zu geben.
 

Sie sah hier gerade mit eigenen Augen, wie die Mehrheit des Tisches sich einem Jungen unterordnete, der nichts außer einem Namen hatte, und dieser es auch noch als selbstverständlich hinnahm, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Draco war ein Musterbeispiel dafür herangezogen worden zu sein in dem Wissen selbst unter Reinblütern zur Elite zu gehören. Eine Elite, die vielleicht nur noch durch die Blacks übertroffen wurde. Doch da es momentan niemandem aus dieser Familie hier gab, zumindest niemand, von dem sie wusste, war er nun de facto Herrscher in Slytherin. Was genau das für sie bedeutete, würde sie in nächster Zeit herausfinden.
 

Sich langsam mit ihrer Situation abfinden lehnte sie sich auf der Bank ein wenig zurück, wobei sie eine Rückenlehne erwartete, die jedoch nie kam. Mit der Zeit wurde es wirklich unbequem hier zu sitzen und sie streckte ihre kurzen Beine ein wenig. Während McGonagall die letzten Namen aufrief traute sich Evelyn zum ersten Mal das Lehrerpodest zu betrachten.
 

Von oben herab starrten knapp 15 Augenpaare auf die Zeremonie und die Schüler hinab mit einem reichlich dekorierten Thron in der Mitte, auf dem Albus Dumbledore ruhte. Sein Bart strahlte wie reinstes Silber, verschwand jedoch unter der riesigen Tafel. Seine Hände hatte er auf den lehnen seines prächtigen Stuhls abgestützt und beobachtete alles in geduldiger Ruhe. Seine Halbmondbrille lag ihm lose auf der Spitze seiner Nase.
 

Ein weitaus schlichterer Stuhl, der identisch mit den restlichen am Tisch war, stand leer, doch dort würde sicherlich bald Minerva McGonagall Platz nehmen. Die meisten Gesichter konnte sie auf Anhieb nicht zu ordnen und müsste raten, wer wo saß. Hagrid, der am Rand des Tisches nervös mit seinen zu großen Fingern spielte, stach allein durch seine Größe heraus. Auch Flitwick, dessen Stuhl längere Beine hatte, sodass er bequem am Tisch sitzen konnte, war leicht zu identifizieren. Sein knubbeliger Kopf war bedeckt von wilden, weißen Haaren, denen jedoch der Glanz fehlte, und seine grünen Roben standen in Konkurrenz mit denen seiner Kollegin McGonagall.
 

Plötzlich brach ihr Tisch erneut in Beifall aus und der letzte Schüler fand zu seinem Haus; Blaise Zabini, den sie bereits bei Ollivanders mit seiner Mutter getroffen hatte.
 

McGonagall ließ mit einem Wedler ihrer Hand sowohl den Stuhl, als auch den Hut verschwinden, rollte das Pergament ein und ordnete sich zwischen den Professoren auf dem Podest ein. Beinahe gleichzeitig erhob sich Dumbledore und weitete seine Arme. Seine Robe fiel an ihm herab wie fließendes Wasser. Selbst die Farbe seiner Kleider erinnerte an einen Bachquell und harmonierte mit seinen Haaren.
 

"Herzlich willkommen auf Hogwarts an die Erstklässler und willkommen zu einem weiteren Jahr an die alten Hasen. Ich möchte nur wenige Worte loswerden: Schwachkopf! Schwabbelspeck! Krimskrams! Quiek! Danke!"
 

Bevor man sich darüber wundern konnte, was genau der Sinn hinter seiner Litanei gewesen war, erschienen Platten und Schüsseln voll duftendem Essen, über die sich ihre Kameraden sofort hungrig hermachten. Sie selbst hatte noch immer keinen Appetit dank des Hausdebakels und so beobachtete sie nonchalant weiterhin die Professoren, die ihrerseits nun ebenfalls das Essen genossen.
 

Eine junge Dame mit langem, schlankem Hut stach ihr ins Auge, die eine dunkle Robe verziert mit goldenen Sternen trug. Zwischen ihr und Hagrid saß eine streng wirkende Frau mit einem weiten Kragen aus Spitze und schlichtem Umhang. Auf der anderen Seite entdeckte sie schließlich einen purpurnen Turban und den Mann, der ihn trug. Quirrell starrte noch unschlüssig auf die Platten voll Essen, während er seine Hand über das Besteck schweben ließ. Wichtiger war Evelyn jedoch wer sich unter diesem Turban verbarg.
 

Der Gedanke so nah an Voldemort selbst – oder was auch immer er gerade war – zu sein, war mehr als irritierend. Glücklicherweise stellte er in dieser Form noch keine große Gefahr dar, was nicht hieß, dass er nicht weniger angsteinflößend war. Zudem würde sie sich angewöhnen müssen seinen Namen nicht auszusprechen, so dämlich es in ihren Ohren auch klingen mochte. Das Beste würde einfach sein gar nicht über ihn zu sprechen. Ihr Blick glitt zu Malfoy, der schmatzend an einem Lammfilet kaute, und weiter über die restlichen Gesichter ihrer Klassenkameraden. Voldemort in dieser Gesellschaft zu umgehen würde nicht einfach werden.
 

Um wenigstens ein bisschen zu essen griff sie bei den Bratkartoffeln zu, stocherte aber eher lustlos auf ihrem Teller herum. Die anderen unterhielten sich prächtig, indem sie Malfoy reden ließen und lachten, wann immer er etwas vermeintlich Lustiges von sich gab.
 

"Wieso bist du so still?" Evelyn hatte erwartet irgendwann angesprochen zu werden. Den Anfang hatte nun ein breites Mädchen mit markantem Kinn gemacht: Millicent Bullstrode.
 

"Ich habe nicht viel zu erzählen", sagte Evelyn und schob sich eine Gabel Kartoffeln in den Mund, allerdings eher als Ausrede nicht weiter reden zu müssen. Bullstrode saß vor einem Teller gefüllt mit der unmöglichsten Essenkomposition. Sind das Pfefferminzbonbons in der Kalbssoße?
 

"Dein Name war Harris, oder?", schaltete sich nun auch Malfoy ein. Evelyn ließ sich Zeit mit Kauen, nickte dann jedoch nur. Malfoy runzelte die Stirn und spießte ein Fleischstück auf. "Harris ist kein Name, der mir bekannt ist. Mit wem bist du verwandt?"
 

Wir kommen gleich zum wichtigsten Punkt, bemerkte Evelyn, die seine Frage sofort durchschaute.
 

"Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich den Namen meiner Mutter trage, einer muggelgeborenen Hexe." Einige am Tisch verzogen die Gesichter, weshalb Evelyn schnell weiter sprach. "Mein Vater entstammte der Fawley-Linie, die wird dir doch sicher ein Begriff sein."
 

"Fawley? Wie Hector Fawley?"
 

"Eben der." Malfoy nickte und schien zufrieden.
 

"Entstammte?", warf Millicent dazwischen. "Ist er tot?"
 

Die direkte Art passte zu dem etwas plump wirkenden Mädchen, doch niemand machte Anstalten, sie dafür zu rügen. Daher setzte Evelyn einfach eine traurige Miene auf, ehe sich von dem Tod ihrer Eltern erzählte. Alle nahmen es ihr ab, nur Crabbe und Goyle wirkten so stoisch wie immer.
 

Nachdem der Blutstatus geklärt war und Evelyn anscheinend für würdig empfunden worden war, verloren sie schnell wieder das Interesse an ihr und stellten Malfoy erneut in den Mittelpunkt.
 

Evelyn war zufrieden, wie ihre Erklärung verlaufen war. Sie hatte sich im Vorfeld eine familiäre Hintergrundgeschichte ausgedacht, für den Fall, dass ihr Blutstatus wichtig werden würde. Wobei sie bis vor Kurzem noch gedacht hatte es nie zu brauchen, da in Hufflepuf sowieso niemand auf eine reine Abstammung achtete. Sie hatte sich schließlich für die Fawley Familie entschieden, nachdem Ollivander eines Abends bemerkte, dass der alte Minister für Magie Ehefrauen gewechselt hatte, wie andere ihre Hüte und zudem etliche Affären geführt haben soll. Niemand könnte mehr verfolgen, wie viele Kinder er gezeugt hatte und selbst wenn es durch Zufall ein oder mehrere Fawley Kinder auf Hogwarts gab, so würden sie sie einfach als entfernte Cousine betrachten. Dadurch war Fawley für Evelyn ein leichtes Opfer gewesen.
 

Ob die anderen sich so gut in Reinblüterkunde auskannte, konnte Evelyn nicht beurteilen, doch solange Draco Malfoy, der ohne Zweifel bereits eingehend unterrichtet worden war, zufrieden mit ihrem Status war, so waren es die anderen auch. Schwarmdenken, schoss es Evelyn durch den Kopf.
 

Sie hatten alle noch nicht fertig gegessen, als sie plötzlich weiteren Zuwachs bekamen. Hinter ihnen aus der Wand erschien wie bereits in der Abstellkammer zuvor eine transparente Gestalt, diesmal jedoch alleine. Das schwarzhaarige Mädchen neben Evelyn, Daphne Greengrass, zuckte zusammen und kreischte kurz auf, bis einige ältere Schüler sie beruhigten.
 

"Welch Anblick solch tugendhafter Burschen und holden Maiden." Seine Stimme klang hoch und leicht röcheln. Langsam schwebte der Blutige Baron die Reihe entlang, wobei das Geräusch einer klirrenden Kette ihn begleitete. Evelyn musste genau hinsehen um die silbernen Tropfen Blut auf seinen altertümlichen Roben zu sehen, die ebenfalls silbern waren.
 

Er umrundete den Tisch und machte schließlich erneut in ihrer Runde halt. "Möget ihr stets die Ehre des Hauses Slytherin hoch halten und festen Willens sein auf eurem Weg."
 

Obwohl die Horde Geister eben noch keinerlei Interesse an den Kindern gezeigt hatten, so drängten sie sich nun förmlich auf. Der Baron drückte sich neben Malfoy und zwischen Goyle, der mehr als bereitwillig Platz für den Geist gemacht hatte.
 

"Welch Freude ein edles Gesicht des Malfoy Geschlechts zu erblicken. Spross des Lucius müsst ihr sein, mich dünkt?"
 

Draco war mehr als unzufrieden einem Geist derart nah zu sein, besaß aber bereits genug Anstand zu antworten, wenn auch nur um erneut mit seiner Abstammung anzugeben. Der Baron verlor sich im Aufzählen der Vorfahren und deren Leistungen und es schien nicht so, als wollte er so schnell wieder verschwinden. Evelyn hatte einen ziemlich guten Blick und überlegte, was der Geist wohl alles erzählen könnte, was er in seinen tausend Jahren wohl alles gesehen hatte? Der Gedanke war aufregend. Leider interessierte sich der Baron für niemanden außer Malfoy, sodass das Gespräch ziemlich einseitig blieb und nicht über den Stammbaum von Draco hinausging.
 

Die ganze Halle war gefüllt von Geistern, die die Schüler auf Hogwarts willkommen hießen, wobei der Großteil schnell wieder von dannen zog, nachdem sie alles gesagt hatten.
 

Der Baron leistete ihnen bis zum Dessert Gesellschaft, das aus Türmen aus Pudding und Grützen bestand. Evelyn bezweifelte, dass irgendjemand nach dem opulentem Hauptgang noch Hunger hatte, doch trotzdem holten sie sich, Kinder wie sie waren, nochmal eine Extraportion Pudding. Erst als Dumbledore erneut aufstand um eine Rede zu halten, hörten alle mit kugelrunden Bäuchen auf zu essen.
 

"Bevor ich euch zu eurer wohl verdienten Bettruhe entlasse, möchte ich euch an ein paar Regeln erinnern. Der Wald ist für jeden verboten, der nicht e-"
 

Statt den Worten zu lauschen, achtete Evelyn lieber auf seine Stimme, die ganz und gar nicht zu einem Mann in Dumbledores Alter passen wollte. In jeder seiner Silben flog ein Anflug von Leichtigkeit mit und erinnerte eher an eine jung gebliebene Seele. Es war im anzusehen, dass er bester Laune war. Gleichzeitig sprach er mit einer Härte und Autorität, die keine Widerworte zuließ.
 

Sie war froh den ersten Abend überstanden zu haben, wenn auch anders als gedacht. Die Sitzbänke waren mittlerweile die reinste Qual und sie konnte es kaum erwarten endlich aufzustehen und in ihr Bett zu fallen. Für heute hatte sie definitiv genug.
 

Ein Raunen ließ sie aufhorchen, da bemerkte sie kaum, wie aus Dumbledores Zauberstab, den er hoch in die Luft hielt, zähe Fäden goldener Stricke sickerten. Wie hypnotisiert schaute sie zu, wie die Stricke sich aufteilten und ein Muster hoch über den Köpfen der Schüler bildeten.
 

Kein Muster, Worte! Evelyn grinste als sie realisierte was nun kam und sie machte sich innerlich bereit, die Müdigkeit noch einmal zurück steckend. Ihre Hauskameraden wirkten ähnlich steif, wie einige der Lehrer, doch Evelyn würde das, was folgte, um nichts verpassen wollen. Dafür nahm sie die missbilligenden Blicke ihres Hauses gerne in Kauf.
 

"Jeder in seiner Lieblingsmelodie", hörte Evelyn ihn sagen, bevor ein riesiger Chor an Stimmen den Saal füllte und die Schulhymne in den verschiedensten, meist schiefen, Rhythmen sang. Einer der lautesten Tische war, wie sollte es auch anders sein, der der Gryffindors, von denen nicht wenige aufgestanden waren und ihre Hüte schwenkten. Ihre Kameraden hingegen überkreuzten defensiv die Hände vor der Brust und verweigerten überwiegend ihren Dienst.
 

Es herrschte ein einziges, großes Gebrumme. Dirigiert von einem begeisterten Dumbledore kämpften sich hunderte Stimme durch die Hymne und eine davon war Evelyns Version auf die Melodie von Tetris.

Kapitel 20 - Abstieg mit Grenzen

Bevor die anderen Schüler die Halle verlassen durften, wurden die Erstklässler von den jeweiligen Vertrauensschülern aufgefordert ihnen zu folgen. So, wie sie als Gruppe einmarschiert waren, trotteten sie nun wieder zwischen den Tischen während sie unter ständiger Beobachtung waren. Doch schon außerhalb der Halle trennten sich die Gruppen. Den Anfang machten die Hufflepuffs, die stumm nach rechts schwenkten und die Treppe hinabstiegen, die der Halle am nächsten war. Ihre eigenen Vertrauensschüler, die sie noch nicht mit Namen kannte, warteten schweigend bis die Gryffindors, angeführt von einem schwatzenden Percy, und die Ravenclaws gemeinsam die Treppe zu den höheren Stockwerken bestiegen hatten.
 

Während einige ihrer zukünftigen Klassenkameraden den anderen Häusern nachschauten, gähnte Evelyn, die nun völlig am Ende war. Sie wollte den Marsch so schnell wie möglich hinter sich bringen, da sie schon fürchtete, ihre Beine würden bald nachgeben.
 

"Bevor wir zu eurem zukünftigen Zuhause gehen gibt es einiges, das ihr wissen müsst", begann der Junge, wobei er die ersten Stufen der großen Treppe erklomm um zu ihnen hinab zu reden. Evelyn wendete sich ab und rollte die Augen, da sie nun wirklich genug von Erklärungen hatte.
 

"Es ist Brauch, dass außenstehende Schüler nicht euer Haus betreten dürfen", gesellte sich nun das Mädchen dazu, die ihre dunklen Haare zu einem langen Zopf gebunden hatte. Als sie so nebeneinander standen hätte man meinen alleine durch Haar- und Augenfarbe meinen können, sie seien Geschwister, so ähnlich waren sie sich. Wobei das hier unter Reinblütern nichts Ungewöhnliches war. Irgendwie war irgendwer immer verwandt. Auf beiden ihrer Umhänge glitzerte ein silbernes "P", das ausgesprochen gut mit ihrem Hauswappen daneben harmonierte.
 

"Wie ihr gesehen habt, sind die Hufflepuff hier hinunter gegangen", der Junge deutete auf den Treppenabgang, wo eben die Gruppe Dachse verschwunden war. "Doch wir wissen nicht genau, wo sich ihr Gemeinschaftsraum befindet.
 

"Bestimmt in der Küche", hörte sie ein Mädchen sagen, was sie schnell als Pansy identifizierte. Die umstehenden Slytherin verzogen amüsiert die Münder. Ist nicht falsch, dachte Evelyn, wobei auch sie verschwörerisch grinste.
 

"Genauso", fuhr der Junge unbeeindruckt von der Unterbrechung fort, "kennt keiner den Eingang unseres Gemeinschaftsraumes. Es gibt verschiedene Möglichkeiten den Eingang zu verbergen." Bla, bla, bla. Evelyn wurde ungeduldig und musste sich beherrschen nichts zu sagen. Ihr lagen bereits die Worte auf der Zunge: dass es Passwörter gab, dass es Rätsel gab, und dass gerade kaum jemand daran interessiert war, wie andere Häuser ihren Eingang schützten. Mit einem Blick zur Seite sah sie, dass wie erwartet die Mehrheit Probleme hatte ihre Augen offen zu halten, während die Älteren sprachen.
 

"Können wir endlich los? Während du hier redest wachsen uns Wurzeln." Es war nicht Evelyn, sondern Draco der aussprach, was alle dachten. Zustimmendes Gemurmel wurde laut.
 

"Malfoy, zurück in die Reihe!", tadelte das Mädchen Draco, der nun langsam auf den linken Stufenabgang zusteuerte. Doch andere machten sich bereits daran ihm zu folgen, allen voran seine Gorillas und Blaise Zabini. Evelyn überkreuzte ihre Arme vor der Brust und schüttelte verständnislos den Kopf. Du brauchst das Passwort, du Idiot.
 

Evelyn gehörte zu denen, die in der Eingangshalle blieben, allerdings wären die meisten Malfoy gerne gefolgt, hätten sie nicht noch Skrupel sich gegen eine Autoritätsperson zu stellen. Egal, wie verloren die gerade wirkten. Der Vertrauensschüĺer eilte gerade den Ausreißern laut fluchend nach, als Evelyn das Mädchen ansprach, die dem Jungen entsetzt nachschaute.
 

"Ganz unrecht hat er nicht. Kann man uns das nicht unterwegs erzählen? Wir sind müde." Die Vertrauensschülerin schien überfordert, was nicht überraschend war. Es war ihr erster Tag und vermutlich hatten sie nur grobe Anweisungen bekommen wie sie sich zu verhalten hatte.
 

Evelyn erhielt zunächst keine Antwort, weshalb sie seufzend näher ging und es erneut versuchte, diesmal jedoch mit einem anderen Ansatz. "Die Schüler verlassen sicher gleich die Große Halle. Wir sollten vor ihnen im Gemeinschaftsraum sein, denke ich."
 

Mit einem Ruck schwang ihr Kopf Richtung Große Halle, so als ob Evelyns Worte sie aus ihrer Starre geholt hatte.
 

"Ja, ja wir sollten gehen. Folgt mir."
 

Die zusätzliche Aufforderung sich zu bewegen war nicht nötig gewesen, da die Handvoll übrig gebliebener Erstklässler sich nun bereits auf den Weg gemacht hatten, als Evelyn gesprochen hatte. Evelyn reihte sich hinten ein, als sie die Treppe hinabstiegen und den Gang links folgten. Die abtrünnige Gruppe war nicht mehr zu sehen gewesen und bereits im Dunkel vor ihnen verschwunden.
 

Der Gang kam Evelyn leicht abschüssig vor, so als ob sie hinabstiegen. Es war nicht steil und doch spürte man die leichte Senke. Der Boden war anders als in der Eingangshalle und Großen Halle nicht poliert, sondern bestand nur aus grobem Stein, der jedoch gut sichtbare, parallel verlaufende Schmutzflecken hatte. Evelyn vermutete, dass hier irgendwann in der Geschichte der Schule ein Läufer die komplette Länge des Ganges abgedeckt und Ränder hinterlassen hatte.
 

Wie oben, hingen auch hier mehr als genug Fackeln und Kerzen, die den Weg ausreichend erhellten, sofern sie ihn passierten. Evelyn staunte als sie sah, dass das Feuer, nachdem sie weiter gegangen waren, wieder verlosch, während es vor ihnen in Sichtweite entflammte. Sie trugen eine Welle aus Flammen neben sich her, die nur das erhellte, was sie sehen mussten. Dass die Fackeln nicht ständig brannten war wohl auch der Grund, weshalb es hier deutlich kühler war, als oben in der kuschelig beheizten Halle. Evelyn hatte das Gefühl, dass es mit jedem Schritt kälter wurde. Auch war es komisch, dass Kerzenfeuer zwar da war, doch nichts roch nach verbranntem Wachs oder Öl. Nur der mittlerweile vertraute Geruch von kaltem Stein hing in der Luft. Sie suchte nach Abzugslöchern, doch der ganze Stein, der sie umschloss, war makellos.
 

Immer wieder bogen sie ab, liefen jedoch trotzdem stetig hinab. Auf ihrem Weg passierten sie etliche Türen aus Holz, aber auch aus Eisen. Sie alle unterschieden sich in Musterung und Größe, man konnte leider allein anhand davon nicht erraten, was sich dahinter verbarg. Fenster gab es keine, nur schmale Säulen, die im regelmäßigen Abstand Alkoven bildeten, in denen Gargoyle ähnliche Figuren drapiert waren und den Schülern steinerne Fratzen zu warfen.
 

Ihre Vertrauensschülerin war völlig still und auch die anderen hielten sich bedeckt. Kaum einer beachtete, wo sie hingingen, was Evelyn für einen großer Fehler hielt. Vermutlich würden sie die ersten Tage hilflos umherirren, unfähig noch nicht einmal den Weg zum Gemeinschaftsraum zu finden. Evelyn war jedoch aufgefallen, dass sie immer den Weg gewählt hatten, der leicht abschüssig war. Anfangs hatte sich noch versucht sich zu merken, ob sie links oder rechts gegangen waren, doch sie hatte schnell erkennen müssen, dass sie momentan nicht in der Lage war sich eine komplizierte Abfolge zu merken. Ihr Kopf arbeitete kaum noch.
 

Plötzlich verlangsamte sich die Vertrauensschülerin vor ihnen und der kleine Tross kam zum Stehen.
 

"Endlich", flüsterte jemand neben ihr, doch Evelyn machte sich nicht die Mühe zu sehen, wer es war.
 

Sie standen mitten im Gang vor einem der unzähligen Alkoven, wie sie sie in letzter Zeit zu Hauf passiert hatten.
 

"Das hier ist der Eingang."
 

No shit, Sherlock. "Was unterscheidet diese Wand von den anderen?", platzte es aus Evelyn heraus. "Woher wissen wir, dass wir da sind? Wir können schlecht jede Wand mit dem Passwort ansprechen." Hier gab es kein Portrait oder etwas anderes, das den Eingang markierte. So dachte sie zumindest.
 

Die Vertrauensschülerin nickte und zeigte auf die Säule. "Seht ihr diese Gravierung?" Alle traten näher und konzentrierten sich auf den Fleck, neben dem ihr Finger ruhte. Kaum sichtbar und mit den natürlichen Rillen des Steins verwoben, war ein geschwungenes "S" zu erkennen. Niemand, der nicht wusste, wonach er suchen müsste, würde dieses S finden.
 

"Um hinein zu kommen, müsste ihr nur das richtige Passwort sagen. Es wechs-"
 

"-wechselt jedes Jahr. War zu erwarten." Evelyn spürte den Marsch in ihren Knochen und hatte nun wirklich keine Lust mehr auf weitere Verzögerungen. Sie hörte leises Raunen von den anderen, fixierte jedoch weiter die Schülerin, bis diese empört mit dem Gesicht zur Wand sprach: "Suspicioni Altior."
 

Ein sanftes Ziehen war zu hören und die Wand vor ihnen rollte sich, ähnlich der Wand zur Winkelgasse, zu beiden Seiten um die Stützsäulen ein. Es war ein bizarres Bild, das solider Stein sich plötzlich wand wie frischer Ton. Sichtbar wurde eine glänzende Tür, die über und über mit Runen besetzt war. Evelyn hoffte, dass diese Runen nur zur Zierde auf die Tür angebracht worden waren und nicht, dass sie ein weiterer Schutzmechanismus von Salazar darstellten. Die Klinke bestand aus einem Schlangenkopf, der sich züngelnd bewegte. Evelyn kam es vor, als musterte der mechanisch wirkende Tierkopf jeden einzelnen von ihnen, doch schließlich verschwand er im Innern der Tür, die sofort tonlos aufglitt.
 

"Herein spaziert."
 

Niemand ließ sich das zweimal sagen, und so gingen sie hindurch. Noch passten sie durch den Rahmen, doch die ältere Schülerin musste sich ducken. Vor tausend Jahren waren die Leute nun mal kleiner, dachte Evelyn schmunzelnd, die als letztes - ohne Widerstand von magischen Runen zu spüren - den Gemeinschaftsraum betrat.
 

Kurz entflammten ihre Lebensgeister, als sie hineinging. Zunächst sah sie nicht viel, da sie eine schmale Nische passieren mussten, ehe sich der Gemeinschaftsraum vor ihnen öffnete.
 

Die andere Gruppe unter der Leitung von Malfoy hatte es sich bereits in den dunklen Leder Sofas und Sitzen gemütlich gemacht und nahm kaum Notiz von den Nachzüglern. Noch nutzten sie die Situation aus, den Gemeinschaftsraum völlig für sich zu haben, und das wollte etwas heißen.
 

Der Raum war oval angelegt und lag noch ein wenig tiefer, als Evelyn im Moment stand. Drei schmale Stufen umrundeten das Innere, in dem die Möbel, auf denen sich Malfoy und Co. breit gemacht hatten, und edle Tische verschiedenster Größen aus poliertem Ebenholz verteilt waren. Ein Teppich, der genau in das Oval, passte lag zu ihren Füßen. Er zeigte ein Bild, das Evelyn nicht genau erkennen konnte, sie vermutete jedoch eine Szene von versammelten mythologischen Tieren und er wirkte hunderte von Jahren alt.
 

Ihre Miene erhellte sich zunehmend, je mehr sie entdeckte. Auf ihrer Höhe, am anderen Ende des Raumes, sah sie eine breite Fensterfront, durch die sanft grünes Licht in den Raum schien und ihn in ruhige Atmosphäre tauchte. Das Licht stammte von schwebenden, leuchtenden Kugeln, die außerhalb der Fenster befestigt waren und deren Licht vom Wasser des Sees, der sie umfing, gebrochen wurde. Vor jedem Fester gab es Kissen und Decken und boten neben den Möbeln zusätzliche Sitzgelegenheiten. Ebenfalls auf ihrer Höhe zu ihrer Linken wuchs ein breiter Kamin aus dem soliden Fels, in den Evelyn vermutlich komplett gepasst hätte. Ein Gitter aus gewundenen Schlangen schirmte das Feuer ab, doch die Wärme verbreitete sich ungehindert. Nun fiel Evelyn auf, dass es sehr viel wärmer war, als noch im Gang.
 

Die anderen hatten sich zu Malfoy auf die Couch gesellt, während die Vertrauensschüler neben den Fenstern miteinander tuschelten. Evelyn trat näher an die Stufen heran, blieb jedoch stehen, als sie die Decke, die sich wie eine Kuppel über ihren Köpfen erhob, sah.
 

"Wow", flüsterte sie. Sofort dachte sie an die Sixtinische Kapelle, denn die Decke der Slytherin war nicht weniger kunstvoll gestaltet. Dutzende Wappen, in Halbkreisen angeordnet, zierte auf weißem Grund die Kuppel über ihnen. Sie alle erstrahlten in leuchtenden Farben und waren verbunden mit verschiedenen Pflanzen, die sich fliesend von einer Art zur anderen verwandelten. Evelyn glaubte den Olymp der Reinblüter zu betrachten. In lesbarer Schrift hatte so gut wie jedes Wappen eine Inschrift. Sie versuchte die Wappen, die aus Schilden, Schwertern oder Tieren bestanden, zu zählen, doch es waren weit mehr als nur 28. Sie schienen jedoch nicht willkürlich angelegt worden zu sein. Im Zentrum, am höchsten Punkt der Kuppel, gab es vier Wappen, und eines davon hatte den Spruch Toujours Pur zugeordnet. Weiße und rote Federn umrahmten ein Schild mit drei von Streifen flankierten roten Sternen und bildeten somit das Wappen der Blacks.
 

Kein Wunder, dass die Slytherins so an ihrer Hierarchie hingen, dachte Evelyn, wenn die Kinder jeden Tag aufs Neue daran erinnert wurden, wo in der langen Kette sie standen und vor allem, wer buchstäblich über ihnen war.
 

Mit einem Mal strömten die anderen Schüler herein und rempelten sie an, während sie hinunter zu den Sofas gingen. Die Älteren gingen ohne zu zögern und ohne einen Blick auf das Spektakel im Oval zu werfen, nach rechts in einen weiteren Gang, wo sie verschwanden. Der Gemeinschaftsraum war mit einem Mal gefüllt und die Lautstärke erhöhte sich, als alle Slytherins gleichzeitig schnatterten, lachten und sogar schrien. Evelyn ertrug den Lärm kaum und ging einige Schritte zurück, unschlüssig darüber, ob sie den vereinzelten Schülern nach rechts folgen konnte in der Hoffnung dort die Schlafsäle zu finden. Plötzlich stieß sie gegen etwas Hartes, bzw. gegen jemanden. Eilig drehte sie sich mit erhobenen Händen um, um sich zu entschuldigen.
 

"Oh, Verzeihung, ich wollte ni-" Scheiße!
 

Schwarze Augen starrten missbilligend auf sie herab und schoben sie förmlich beiseite, ohne etwas sagen zu müssen. Evelyn starrte für einige Herzschläge entsetzt zurück, trat dann jedoch mehr als freiwillig völlig aus seinem Blickfeld und weit an den Rand, sodass er vorbei gehen konnte. Severus Snape platzierte sich vor seinen Schülern, die sofort verstummten und zu ihm auf blickten.
 

"Ich werde Sie alle nicht daran erinnern müssen, dass sie Teil des ehrwürdigsten Hauses dieser Schule sind", begann er. Seine Stimme war leise und doch drang sie in jeden Winkel. Es war so ruhig, dass Evelyn glaubte das Wasser gegen das Fenster schlagen zu hören.
 

"Slytherin hat in den letzten sechs Jahren den Hauspokal für sich entscheiden können und ich erwarte von jedem von Ihnen", er machte eine künstlerische Pause um einigen Unglücklichen einen direkten Blick zuzuwerfen, "ein nicht weniger geringes Maß an Disziplin. Ich werde nicht zulassen, dass Sie dieses Jahr die Ehre dieses Hauses in den Schmutz ziehen und die Siegesserie abreißen lassen."
 

Evelyn hatte sich weit an den kalten Felsen gedrückt und lauschte seinen Worten, wobei sie nicht genau sagen konnte, ober er nur die Erstklässler meinte, oder alle ansprach.
 

"Desweiteren", und mit Horror stellte Evelyn fest, dass er sich nun direkt ihr zuwendete, "verlange ich, dass Sie das Wappen dieses Hauses mit Stolz tragen." Ein letztes Mal drehte er sich zur versammelten Hausgemeinschaft, ehe er mit kaum auf dem Boden hörbaren Schritten verschwand.
 

Zum ersten Mal verstand Evelyn, weshalb jeder Snape als unangenehmen Menschen beschrieb. Die Aura, die er versprühte, war mehr als kalt und bitter. Auch die anderen benötigten einen Moment die Szene zu verarbeiten, ehe sie zu ihrem lockereren Ton zurückfanden und weitermachten, wie bisher.
 

Evelyn hatte sich direkt angesprochen gefühlt als er sagte, man solle das Wappen mit Stolz tragen. Unbewusst ging ihre Hand an ihre Brust und klammerte sich an das aufgestickte Zeichen von Hogwarts. Ungläubig begutachtete sie das Zeichen und die nun schwarze Krawatte, die vor einigen Stunden noch blau-bronzen gewesen war. Sie hatte nicht gemerkt, wann ihre Kleider neutral geworden waren.
 

Unter ihrer Hand spürte sie ihr Herz hämmern. Sie war noch immer eingeschüchtert von seinem Blick und der versteckten Drohung, die er ihr mehr als deutlich gesendet hatte. Plötzlich wollte sie hier einfach nur weg; die Stimmen der anderen schienen sie zu erdrücken.
 

Mit großen Schritten ging sie die kurze Treppe hinunter und folgte dem schmalen Gang, der rechts vom Gemeinschaftsraum abging. Er endete in zwei sich spiralförmig nach unten windenden Stufen, die in ähnlich grünem Licht leuchteten, wie der ganze Saal. Erleichtert, dass die Treppen tatsächlich zu den Schlafsälen führten, folgte sie den Schildern Richtung Mädchenschlafsäle und stieg hinab.
 

Die Treppe war schmal, hatte aber ein geschwungenes Geländer, an das sich Evelyn zitternd klammerte. Das Licht, das sie bereits von oben gesehen hatte, wurde von vielen kleinen Fenstern erzeugt, die sich mit der Treppe weiter hinunter in den See schraubten. Bald passierte sie die ersten Zimmer, ging jedoch weiter, als sie nicht ihren Namen las. Sie begann schneller zu gehen, ungeduldig sich endlich zurück zuziehen und hoffentlich, wenn auch kurz, allein zu sein.
 

Endlich sah sie ihren Namen zwischen den drei anderen Slytherin-Mädchen und sie trat ein. Außer den kleinen Möbeln neben ihren Betten und den dazugehörigen Stühlen gab es sonst nichts in dem spärlich eingerichteten Zimmer. Breite, grüne Stoffbahnen bedeckten die steinernen Wände, an deren Seite auch hier eine Glasfront mit Blick in den See eingelassen war. Schwere Vorhänge hingen links und rechts davon herab, sodass man die Front verdecken und das Zimmer verdunkeln konnte, denn selbst jetzt, so spät, leuchtete es von außen hinein. Kleine, runde Lampen verteilt an den Wänden mimten den natürlichen Glanz des Sees nach und tauchten das Zimmer zusätzlich in eine sanfte Atmosphäre. Evelyn schlug die Tür hinter sich zu und hatte das Gefühl endlich atmen zu können. Sie trommelte mit ihren Händen kurz gegen das Holz der Tür, ehe sie sich erneut ihrem Zimmer widmete.
 

In der Mitte befand sich ein großes, in den Boden eingelassenes Becken gefüllt mit Wasser, das in sanften Wellen hin und her schwappte. Neugierig ging Evelyn darauf zu und streckte ihre Hand nach dem Wasser aus, das sich jedoch mehr wie Gelee anfühlte. Es bewegte sich, als sei es flüssig, doch es gab kaum unter ihrer Berührung nach. Vermutlich würde man darauf stehen können, ohne einzusinken. Sie spürte, wie das Gelee stetig Wärme abgab, die sich wohltuend über ihre Hand in ihren Körper ausbreitete.
 

Sie wendete sich zu den Betten, die mit schmalen Säulen in der Form von sich windenden Schlangen an Wand und Decke befestigt waren. Auch um sie hingen dicke Vorhänge, um ein wenig Privatsphäre zu schaffen.
 

Als sie näher ging, sah sie die Ansammlung an Koffern und Taschen, die auf den Betten verteilt waren. Ihre Tasche lag am Bett neben der Tür. Sie war nicht wählerisch, aber die Verteilung der Koffer ersparte ihr bereits den späteren Streit sich ein Bett ausgesucht zu haben, ohne auf die anderen gewartet zu haben.
 

Ehe sie unter die Decke schlüpfen würde, nahm sie ihre zweite Dosis ihrer Tränke für den Tag. Bei geschlossener Tür hörte sie keinen Mucks aus dem Gemeinschaftsraum, wo nun gerade ohne Zweifel eine private Willkommensfeier abgehalten wurde. Evelyn glaubte nicht, dass sie etwas verpasste, sie war sowieso nicht in der Stimmung, selbst wenn sie die letzte Nacht nicht durch gemacht hätte.
 

Sie überlegte die Vorhänge am Fenster zuzuziehen, sackte aber schließlich kraftlos auf ihr Bett. Ihre letzten Gedanken galten Mr Ollivander, dem sie berichten würde müssen, in dem Haus gelandet zu sein, vor dessen Hauslehrer er sie ausdrücklich gewarnt hatte. Und zu allem Überfluss erdrückte sie auch noch das schlechte Gewissen sogar erleichtert zu sein, hier einschlafen zu können, und eben nicht bei den Dachsen.

Kapitel 21 - Neustart

Der nächste Tag begann für Evelyn früh, jedoch fühlte sie sich sehr viel besser, als noch Stunden zuvor. Während den Wochen als Kellnerin im Tropfenden Kessel hatte sie sich angewöhnt mit wenig Schlaf auszukommen. Was natürlich nicht hieß, dass sie eine Nacht ohne Schlaf einfach so wegsteckte, wie sie gestern hatte erfahren müssen. Ihre Sinne waren mit jeder Minute tauber geworden, bis sie schließlich nur noch wie eine Maschine funktionierte, ohne Verstand.
 

In ihrem Delirium hatte sie es nachts noch geschafft die Vorhänge ihres Bettes zuzuziehen, sodass sie im Moment noch abgeschirmt von der Welt war. Nur das leise Atmen ihrer Zimmergenossinnen und eine Bewegung auf einer Matratze hier und da verriet, dass sie nicht allein war. Sie überlegte aufzustehen, blieb jedoch noch eine Weile unter ihrer Decke, eine Hand auf der Stirn liegend und dachte, mit ruhigerem Geist, über den vorigen Tag nach.
 

Er war keine komplette Katastrophe gewesen, und doch hätte er sehr viel besser laufen können. Einiges hatte sie nicht verhindern können, allem voran ihre Einsortierung. Sich darüber jedoch noch zu ärgern war überflüssig. Was sieweitaus mehr störte waren die groben Fehler, die ihr passiert waren und die sie hätte verhindern können. Fehler, die sie nur zu gern auf ihr übermüdetes und überfordertes Hirn geschoben hätte, und vermutlich hatte es sogar einigen Anteil daran gehabt, jedoch war es schlussendlich ihre eigene Leichtsinnigkeit, der sie die Fehler verdankte.
 

Sie war unvorsichtig gewesen, daran führte kein Weg vorbei. Ihr Verhalten nach der Sortierung, ihr aufmüpfiges Gerede der Vertrauensschülerin gegenüber und ihr buchstäblicher Fehltritt bei Professor Snape waren Flüchtigkeitsfehler, aber nichtsdestotrotz Verstöße ihrer sich gesetzten Regeln. In Zukunft müsste sie sich besser unter Kontrolle haben, schwor sie sich. Dabei nahm sie sich vor genügend Schlaf zu haben, um weitere Stresssituationen gepaart mit Ungeduld und Müdigkeit zu vermeiden.
 

Sie kniff frustriert die Augen zusammen und ballte die Decke mit ihrer anderen Hand vor stummer Wut zusammen: Fehler gemacht zu haben, die folgende Angst etwas Negatives bewirkt zu haben, das Hoffen darauf, dass dennoch alles gut gehen würde – genau so eine Situation wollte sie auf ein Minimum halten, und nun war sie keine 24 Stunden hier und bereits in der "Hoffen"-Phase. Ihr war klar, dass sie das nervlich keine sieben Jahre durchstehen würde, wenn der erste Tag schon derart kraftzehrend war.
 

Ein Stöhnen und Quietschen einer Matratze ließ sie hochschrecken, als es daraufhin jedoch ruhig blieb entspannte sie sich wieder. Eines der Mädchen schien unruhig zu schlafen. Evelyn lehnte sich wieder zurück und starrte mit beiden Händen ausgestreckt neben sich liegend auf die Decke ihres Bettes, die in dem schwach grünen Licht kaum zu erkennen war.
 

Der erste Unterricht musste besser laufen, oder es hatte keinen Sinn hier zu bleiben. Wenn sie es nicht schaffte unsichtbar zu sein, dann würde es besser sein zu gehen, so sehr ihr diese Vorstellung auch ins Herz stach. Das war ihr einfachster Notfallplan, den sie gleichzeitig als letztes Mittel sah.
 

Es war ein ständiger, innerer Kampf, den Evelyn mit sich führte. Auf der einen Seite war die Timeline, die sie um jeden Preis schützen wollte. Auf der anderen Seite hatte sie die Gelegenheit eine Ausbildung in Hogwarts zu bekommen. Der Verlauf des gestrigen Abends hatte ihr klar gemacht, dass es nicht so einfach würde den inneren Kampf zu ignorieren. Sie bräuchte mehr als nur einen Notfallplan, denn manches könnte selbst ihr Verschwinden nicht mehr auf den richtigen Kurs bringen.
 

In diesem Fall würde sie sich jemandem anvertrauen müssen, denn alleine würde sie es nicht schaffen die Timeline zu retten. Kurz flackte der Name Dumbledore in ihren Gedanken auf, doch als Antwort auf ihren eigenen Einfall schüttelte sie den Kopf in ihrem Kissen. Egal, wie schlimm es werden würde, mit Dumbledore zu sprechen war absolut tabu. Anstatt alles in Ordnung zu bringen, würde er ihr Wissen nutzen, davon war sie überzeugt. Ihm alles zu erzählen - und glauben würde er ihr, davon war sie überzeugt – würde keine Verbesserung sein. Doch mit wem sonst könnte sie reden? Minerva McGonagall hatte sie schon einmal in Betracht gezogen, doch auch sie war problematisch. Sie war Dumbledore absolut loyal und treu ergeben, weshalb Evelyn bezweifelte, dass sie ein derart großes Geheimnis für sich behalten könnte. Am Ende würde ihr Wissen wieder bei Dumbledore landen.
 

Innerlich ging sie die Namen wie auf einer Liste durch, doch mit niemandem war sie zufrieden. Entweder sie waren nicht fähig genug wirklich etwas im schlimmsten Fall zu bewirken, oder sie waren eine noch größere Gefahr für die Timeline, als Evelyn es bereits war.
 

Verzweifelt presste sie ihre Handflächen gegen ihr Gesicht und dämpfte dadurch einen aufkommenden Seufzer ab.
 

Plötzlich hatte sie den Drang aufzustehen. Sie musste raus, ein Bad finden und am besten unter der Dusche noch einmal nachdenken. Vorsichtig zog sie ihren Vorhang gerade so viel beiseite, dass sie hindurch schlüpfen konnte. Die Lampen waren aus und das einzige Licht strahlte durch die Spalten des Vorhanges vor dem Fenster, gerade genug, um die Umgebung zu sehen. Die anderen Betten waren wie ihres zugezogen.
 

Barfuß tappste sie durch den Raum am Becken vorbei hin zum Fenster, das größer war, als sie selbst. Sie zog an dem dicken Stoff und spickte. Die Farbe des Wassers ließ keine Vermutung zu, wie spät es eigentlich war.
 

Die Stirn gegen das Glas gepresst starrte sie hinaus in den See, der nach nur kurzer Distanz fast schwarz wurde. Kleine Pflanzenteile schwebten vorbei und zarte Blasen tanzten zitternd nach oben. Woher diese Blasen kamen, sah sie nicht, genauso wenig wie Fische oder andere lebende Tiere. Es war vermutlich selbst für Grindelohs und Meermenschen unschicklich durch das menschengroße Fenster in ein Mädchenzimmer zu spicken.
 

Sie stieß sich ab und schlich an den Betten vorbei zurück, blieb jedoch am Becken stehen. Zaghaft streckte sie ihren Zeh aus und stupste das Gelee an. Wie schon zuvor gab das Material nicht nach, obwohl es sich bewegte wie Wasser. Ihrem Zeh folgte der Fuß auf das Gelee, bis sie sich nach mehrmaligen testen traute mit ihrem vollen Gewicht darauf zu stehen. Sie hüpfte ein wenig, doch wie bereits vermutet war das Material absolut stabil.
 

Kurz genoss sie die Wärme an ihren Sohlen, doch dann machte sie sich daran ihre Tasche, so leise wie möglich, zu durchwühlen auf der Suche nach ihrer Schulkleidung. Egal, wie spät es war, sie war nun hellwach und würde die Zeit nutzen. Ihre Sachen, die sie gestern achtlos obenauf geschmissen hatte, waren schnell gefunden. Sie staunte jedoch, als sie statt der schwarzen Krawatte, eine Grün-Silberne in Händen hielt. Sofort prüfte sie auch den Rest ihres Hab und Guts, und überall waren nun die traditionellen Farben Slytherins zu sehen. Ein Haifischgrinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Hogwarts erstaunte sie immer wieder, selbst wenn sie glaubte, alles zu wissen.
 

Sie griff sich das Nötigste und verließ vorsichtig den Schlafsaal, nur um dann unschlüssig auf der Treppe zu stehen. Wenigstens war es hier draußen durch die vielen beleuchteten Fenster heller. Nur wohin sollte sie gehen? Wirklich sicher, dass es ein Bad gab, war sie sich nicht mal. Vielleicht gab es ja auch einen Zauber, der das eigene Zimmer morgens zu einem Bad machte? Alles war denkbar. Sie hätte den Vertrauensschülern gestern wirklich besser zuhören sollen, denn nun steuerte sie auf den nächsten Fehltritt zu, und das, bevor das Schloss wach wurde.
 

In der Hoffnung etwas zu entdecken horchte sie auf ihre Umgebung, sie hörte zu ihrem eigenen Leidwesen jedoch nur das sanfte Pfeifen eines Windzuges und ihr eigenes Atmen. Also rief sie sich den Grundriss ins Gedächtnis, was nicht gerade viel war. Oben war nur der Gemeinschaftsraum und auf dem Weg hinunter hatte sie nur andere Zimmer entdeckt. Schließlich entschied sie sich weiter nach unten zu gehen.
 

Es war ein seltsames Gefühl sich durch das Schloss zu bewegen, während alles noch schlief, allerdings mochte Evelyn dieses Gefühl. Es war die Zeit der Ruhe vor dem großen Ansturm und dem Lärm, der den ganzen Tag anhalten würde, bis sich alles wieder Schlafen legte. Sie fühlte sich an ihre eigene, normale, Schulzeit zurück erinnert, während der sie auf Grund ihrer Wohnlage immer eine der erste war, die in der Schule ankamen. Der Hausmeister schloss gerade alle Türen auf, das Licht brannte noch nicht lange und das Gebäude stand zu dem Zeitpunkt noch vollkommen still. Sie hatte es immer genossen diese seltenen, ruhigen Momente in der Schule zu haben, bevor beinahe gleichzeitig die gesamte Schülerschaft hineinfloss und die Gänge füllte.
 

Auch hier war es, wie damals, vollkommen still. Nur das Klatschen ihrer nackten Füße auf Stein durchbrach dann und wann die Ruhe. Das Ende der Treppe, hatte sie zu ihrem Erstaunen schnell erreicht. Ihr eigenes Zimmer musste bereits eines der letzten Zimmer gewesen sein.
 

Perplex stand sie auf der letzten Stufe, ehe sie gegen eine gezimmerte Wand laufen würde. Zwei Türen flankierten sie, die sich optisch nicht voneinander unterschieden. Kein Schild verriet, was dies für Türen waren, und auch sonst fand Evelyn nichts, außer zwei Türklinken. Da auch kein Eintrittsverbot zu sehen war, versuchte sie ihr Glück mit der linken Tür.
 

Kaum hatten sich ihre Finger um das Eisen geschlossen, durchfuhr sie ein unangenehmer Schmerz, so als sei die Klinke eiskalt; zu kalt, um sie anzufassen. Irritiert rieb sie ihre Finger aneinander und suchte im Halbdunkel nach Verletzungen, fand aber nichts. Nur das brizelnde Gefühl gerade einen Eisklotz angefasst zu haben, blieb zurück.
 

Zögerlich starrte sie nun auf die andere Tür, die genauso unscheinbar in der Wand hing, wie die andere. Sie hatte wenig Lust erneut nach einer Klinke zu greifen, nur um dann festzustellen, dass sie nicht eiskalt, sondern fürchterlich heiß war und sie sich dadurch ihre Finger zusätzlich auch noch verbrühen würde. Geschlagen wollte sie sich aber nicht geben, also umwickelte sie ihre Hand mit ihrer Bluse und drückte, durch die Kleidung geschützt, die Klinke hinunter.
 

Die Tür war nicht verschlossen und schwang vor Evelyn auf. Dampfende Luft kam ihr in einem scharfen Luftstrom entgegen und der vertraute Geruch nach Duftölen umfing sie. Von den wohligen Aromen angelockt, trat sie in den neuen Raum ein und erkannte ihren Denkfehler, sodass sie ihre Bluse eilig von ihren Händen knotete; gebraucht hätte sie sie vermutlich nicht, aber Vorsicht war besser als Nachsicht.
 

Stein war feinen Kacheln gewichen und der schmale Treppengangwirkte nun noch klaustrophobischer in Anbetracht der Größe des Bades vor ihr. Evelyn fühlte sich sofort an eine römische Therme erinnert, denn auch hier trugen zwei Reihen mit steinernen Figuren verzierte Säulen eine hohe Decke, unter deren Mitte ein Brunnen leise plätscherte. Die Kacheln waren geschmückt mit eckig gestalteten Leibern von Schlangen, die sich auch an den Trennwänden hinter den Säulenreihen in vergrößerter Form wieder fanden. Hoch oben gab es drei Fenster, die jedoch anders als die Fenster ihres Gemeinschaftsraumes und Schlafsaals milchig weiß getrübt waren.
 

Sie lief auf den Brunnen zu, den sie mit jedem weiteren Schritt als Quelle der angenehmen Düfte erkannte. Von ihm stammte auch der feine Dampf, der es nun, da sie mitten drin stand, schwer machte zu atmen. Als sie vor ihm stand, wirkte er beinahe mickrig und seltsam deplatziert in einem von Prunk strotzenden Bad. Die drei Auffangbecken, die nach oben hin kleiner wurden, bis sie schließlich in einer sich über dem Wasserstrom drehenden Kugel endeten, hatten keinerlei Verzierungen oder Besonderheiten.
 

Schnell wurde ihre Aufmerksamkeit auf die Wände gezogen, und was sich wohl hinter ihnen verbarg. Sie fand, was sie gesucht hatte: eine Reihe in Steinnischen verborgener Duschen und Toiletten. Aber auch einen Bereich mit großen Wannen aus schwarzem Stein, die von silbernen Rissen durchzogen waren und von jeweils vier silbernen Füßen getragen wurden. Keine der Wannen bot Privatsphäre, anders als es im Bereich der Duschen der Fall war, sondern sie luden eher zum Gruppenbaden ein.
 

"Netter Gedanke mit halb Slytherin zu baden", flüsterte Evelyn und schüttelte sich angewidert bei dem Gedanken, sich hier vor allen anderen entblößen zu müssen. Sie machte schnell kehrt und ging zu den Duschen zurück, wo sie sich eindeutig wohler fühlte. Baden würde sie hier sicherlich nicht.
 

Einige Zeit später betrachtete sie sich in einem der vielen Spiegel, nun komplett gekleidet in ihrer Schuluniform. Sich selbst, so anders sie in ihren Augen auch aussah, mit ihrem Hauswappen zu betrachten, war eine beinahe überwältigende Erfahrung. Dennoch senkte sie ihren Blick und rief sich ins Gedächtnis, was ihr heute Morgen noch Sorgen bereitet hatte.
 

"Nicht übermütig werden. Bleib konzentriert."
 

Während dem Duschen hatte sie erneut über die Frage nachgedacht, mit wem sie reden könnte, falls es nötig sein würde die Timeline zu retten, war jedoch zum Schluss gekommen, dass es niemanden gab. Sie würde sich darauf konzentrieren müssen es nicht soweit kommen zu lassen. Aufkommender Häuserstolz, wie sie ihn gerade beim Anblick ihres Spiegelbildes gespürt hatte, konnte sie dabei nicht gebrauchen und war nur hinderlich.
 

Plötzlich waren Stimmen zu hören, die sich gedämpft in dem weiten Raum ausbreiteten. Das Schloss begann aufzuwachen. Eilig schnappte sie sich ihre Nachtkleider und sie suchte ihren Weg hinaus. Es waren ältere Mädchen, die kaum Notiz von ihr nahmen, trotzdem murmelte sie ein "Morgen", als sie sich an ihnen vorbei stahl.
 

Nachdem sie einige Zeit in dem aufgeheizten Bad verbracht hatte, wirkte die Luft außerhalb dünn und kalt auf ihren noch feuchten Haaren. An der zweiten Tür, von der sie nun wusste, dass sie der Eingang zum Jungen-Bad war, ging sie ohne ihr weiter Beachtung zu schenken vorbei. Während ihres Aufstieges kamen ihr noch weitere aufgewachte Slytherin entgegen, manche in Nachkleidern, andere bereits in Schuluniform. Zu ihrer Überraschung wurde sie beinahe von jedem gegrüßt, wenn auch nur im Vorbeigehen und ohne größeren Wert. Ein Nicken reichte oft schon aus.
 

Als sie vor ihrem Schlafsaal angekommen war, hörte sie Stimmen ihrer Zimmergenossinnen, sodass sie mit einem "Guten Morgen" auf den Lippen eintrat. Sofort drehten sich drei verschlafene Augenpaare nach ihr um.
 

"Da bist du ja, Harris", sagte Daphne, die sich gerade die Haare zurechtmachte, mit strengem Unterton. "Wir dachten schon, du lässt dich gar nicht mehr sehen."
 

Evelyn griff ohne Kommentar nach ihrer Decke und faltete sie zusammen. Selbst wenn sie sich nicht unauffällig verhalten wollen würde, so war die Lust auf frühpubertäres Geplänkel bei ihr mehr als gedeckt.
 

"Ach, zuerst haust du einfach ab und dann willst du nichtmal ein Wort mit uns reden?" Pansy stand bereits fertig angezogen neben ihrem Bett und starrte Evelyn nun empört an. Evelyn seufzte. Sie kam nicht um diese Unterhaltung herum.
 

"Ich wollte euch nicht wecken und war mir nur ein wenig die Füße vertreten." Sie deutete auf die Tür hinter sich.
 

"Füße vertreten? Du warst doch im Bad", erwiderte Pansy, der Evelyns noch leicht nasse Haare aufgefallen sein musste.
 

"Wir haben ein Bad?", fragte Millicent interessiert, die plötzlich ihren Kopf hinter ihrem Bettgestell vorstreckte.
 

"Natürlich gibt es hier ein Bad", zischte Daphne sie an, wobei Evelyn glaubte in ihren Augen ebenfalls Überraschung zu sehen. Leider konnte sie sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, was Daphne sofort sah. "Was findest du so lustig?"
 

Evelyn zuckte nur die Schultern, ehe sie sich auf ihr gemachtes Bett setzte in der Hoffnung, einer weiteren Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Daphne interessierte sich glücklicherweise mehr für ihre Uniform, die sie nun stolz vor sich hob. Sie stolzierte barfuß herum, ehe sie mitten im Raum abrupt stehen blieb.
 

"Hauself!", rief sie deutlich, wobei alle Anwesenden beobachteten, was ihre Mitbewohnerin vorhatte. Ein leises Plop war zu hören, bevor eine kleine, runzlige Gestalt im Raum erschien. Evelyn beugte sich neugierig über ihre Matratze, hielt jedoch Abstand von dem Hauself, dessen Ohren größer waren, als der haarlose Kopf.
 

Der Elf trug ein grünes Geschirrtuch, das sich arg von seiner bleichen Haut abhob, und blickte mit riesigen, runden Augen zu Daphne hinauf.
 

"Junge Schülerin benötigt Hilfe?", krächzte die kleine Figur schüchtern.
 

Daphne erwiderte nichts, sondern warf ihre Kleider achtlos auf den Hauselfen. "Lass mir ein Bad ein und nimm das hier gleich." Evelyn hörte Pansy kichern, doch sie beobachtete, wie der Hauself seinen Mund zunächst stumm aufriss. Daphne wandte sich bereits ab, als der Elf doch noch seine Stimme fand.
 

"Neppy ist untröstlich, junge Schülerin", er faltete die Kleider, die im Vergleich zu ihm viel zu groß waren, und legte sie vor sich auf den Boden. "Aufgaben von Neppy sind nicht junger Schülerin zu dienen. Neppy zeigt junger Schülerin gerne das Bad, wenn-"
 

"Was soll das heißen? Verweigerst du einen Befehl?", schaltete sich Pansy ein als sie sah, dass Daphne den Elfen entsetzt anstarrte.
 

"Nein, Freundin von junger Schülerin. Neppy befolgt ihre Befehle immer sorgfältig. Aufgabe ist es dem Schloss zu dienen, nicht-"
 

"Du sollst uns dienen!" Wieder wurde Neppy von Pansy unterbrochen. Evelyn beobachtete die Szene und hatte Mitleid mit dem Hauself, der wohl Neppy hieß und eine Sie war. Auch Millicent hielt sich aus dem Streit.
 

"Neppy muss Freundin von junger Schülerin leider sagen, dass sie nicht beauftragt wurde Schülern zu dienen." Die Worte der Hauselfe schienen nur langsam ins Bewusstsein der zwei Mädchen zu sickern.
 

"Was sind dann deine Aufgaben?", wollte Daphne wissen, die sich nun bedrohlich vor Neppy aufbaute. Evelyn kam nicht umhin die Elfe für ihren Mut zu bewundern angesichts der Feindseligkeit ihr gegenüber nicht zurückzuweichen.
 

"Oh, das beantwortet Neppy gerne. Neppy kümmert sich um Räume der Schüler und um den großen Saal, der von Wasser umgeben ist. " Gemeinschaftsraum, dachte Evelyn. "Außerdem hat Neppy einige der grünen Zeichen angenäht." Sie zeigte stolz ihre schlanken Finger. "Neppy hat sich nur vier Mal mit Nadel gestochen."
 

"Frechheit!", rief Daphne und hob wütend ihre Hand. Kurz erwartete Evelyn, dass sie nach Neppy ausholen würde und auch die Elfe legte ihre Ohren an, doch Daphne drehte sich um und warf sich auf ihr Bett.
 

"Hau ab", bellte Pansy barsch, ehe sich die Elfe verbeugte und mit einem weiteren Plop verschwand.
 

"Was denken sich die Lehrer uns keine Hauselfen zu geben?", hörte Evelyn Daphne in ihr Kissen nuscheln. Niemand erwiderte etwas. Für Evelyn, die nie einen Hauselfen hatte und der es regelrecht absurd erschien einen persönlichen Diener zu haben, war Daphnes Reaktion überzogen. Andererseits schien es für Daphne schwer zu sein zu akzeptieren, dass sie nun einiges ohne Hilfe erledigen musste, ganz auf sich allein gestellt.
 

"Ach, na und?", durchbrach Millicent die Stille. "Dann hast du eben keinen Hauself. Du wirst dir doch wohl ein Bad selbst einlassen können." Evelyn war froh, dass Millicent aussprach, was sie in diesem Moment selbst dachte.
 

"Es geht ... um's Prinzip", zischte Daphne, die sich langsam von ihrem Bett aufrappelte und nun Millicent fixierte. Diese schüttelte nur verständnislos den Kopf.
 

Pansy bückte sich nach Daphnes Uniform, die Neppy zusammengelegt hatte und warf sie auf Daphne. "Kümmer dich später um deine Prinzipien. Das Frühstück wartet auf uns."

Kapitel 22 - Das erste Tick

Nachdem Daphne sich stumm schmollend umgezogen hatte, machten sich die Vier auf den Weg hinauf in den Gemeinschaftsraum. Millicent, die Breiteste unter ihnen, kam während des Aufstiegs ziemlich ins Schwitzen und musste mehrmals anhalten um nach Luft zu schnappen. Doch auch die anderen atmeten schwer, bis sie die letzte Stufe erreicht hatten. Evelyn fühlte sich als einzige noch recht fit und ein weiteres Mal dankte sie ihrer alten Gewohnheit joggen zu gehen – auch wenn sie das seit ein paar Wochen vernachlässigt hatte – und war froh, über ihre gute Ausdauer.
 

Der Gemeinschaftsraum war bereits gut gefüllt mit tratschenden Schülern aller Altersgruppen. Wenn Evelyn es nicht besser gewusst hätte, dann hätte sie fast geglaubt alle Anwesenden seien noch seit gestern Nacht hier gewesen und hätten nie aufgehört zu feiern. Kleiner Grüppchen verließen nun sporadisch den Raum durch die glänzende Tür, sodass es kaum auffiel, wie sich Evelyn mit hinaus schlich. Daphne hatte jemanden in der Menge der noch im Gemeinschaftsraum verbliebenen entdeckt und war wild protestierend auf sie zugestürmt, während Pansy versuchte sie zu beruhigen.
 

Sich über nicht vorhandene Dienerschaft aufzuregen war Evelyn zuviel, weshalb sie froh war endlich zum Frühstück gehen zu können. Also ließ sie ohne schlechtes Gewissen die Mädchen zurück.
 

Der Weg hoch zur Halle kam ihr unendlich lang vor und sie fragte sich, ob es nicht einen schnelleren Weg zwischen Gemeinschaftsraum und Großer Halle gab?
 

Ecke um Ecke, Gang um Gang stiegen sie hinauf, bis sie die vertraute Treppe mit verziertem Geländer erreichten. Von hier aus sah sie, wie aus allen Richtungen Schüler strömten und sich auf einen Eingang konzentrierten. Sie beobachtete, wie manche sich immer wieder auf ihre Zehenspitzen stellten und sich umschauten, nur um von ihren Begleitern ungeduldig am Ärmel gezogen zu werden. Auch Evelyn entdeckte ihre Umgebung noch einmal neu, da sie das Schloss nun zum ersten Mal bei Tageslicht sah. Die Fackeln und Kerzen, die ihr noch den Weg bis hierher durch die dunklen Gänge geleuchtet hatten, waren hier oben bei all den Fensterfronten nicht mehr nötig. Morgendliches Sonnenlicht tanzte durch die leicht gefärbten Fenster über den riesigen Eingangspforten und warf spielerische Schemen auf die Marmorplatten, die Evelyn nun wie eine Leinwand vorkamen. Doch nicht nur auf dem Boden schimmerte das Licht, sondern auch an der Tür zur Großen Halle, deren Flügel weit offen standen und den Blick ins Innere fei gaben.
 

Zusammen mit ihren Hauskameraden suchte sie sich einen Platz an ihrem Tisch, der sich, wie die anderen, langsam zu füllen begann. Die Decke zeigte einen von Nebel behangenen Sommermorgen, der die tausenden schwebenden Kerzen einhüllte und fast vollständig verdeckte. Keine der Kerzen brannte, und doch war es spürbar wärmer, als noch in ihrem Gemeinschaftsraum im Keller des Schlosses.
 

Gemeinsam mit der Schülerzahl nahm auch der Lärmpegel stetig zu, bis ein ständiges Brummen die Halle erfüllte. Um sie herum haben, zu ihrem Unbehagen, sich wie am Abend zuvor die Erstklässler versammelt, die kurze Zeit nach Evelyn eingetroffen waren. Die Schüler schoben sich dazwischen, rückten auf und rutschten zusammen, bis wie von selbst jede Klasse unter sich saß. Vermischungen gab es praktisch keine. An diesem Morgen war Daphne die Wortführerin, da sie jedem, der es nicht hören wollte erzählte, dass man keine Hauselfen zur Verfügung hatte. Manche reagierten empört, entsetzt und ähnlich wütend wie sie. Andere, und darüber war Evelyn sehr froh, wiederholten das, was Millicent bereits in vertrauter Runde gesagt hatte: man würde auch ohne Hauself gut auskommen. Schließlich hatte sich das Thema zu einer geheizten Diskussion darüber entwickelt, ob ihnen nun ein Hauself per Gesetz zustand und ob es überhaupt möglich war Hauselfen zu verbieten keine Befehle auszuführen.
 

Immer wieder schielte Evelyn zu den älteren Schülern, die diese Diskussion mit Leichtigkeit beenden könnten, schließlich waren sie bereits einige Jahre hier und lebten mit dem schweren Schicksal keinen Diener zu haben. Doch keiner kümmerte sich für die Probleme mancher Erstklässler, genauso wenig, wie sich die Erstklässler für die Meinung der Älteren interessierten.
 

Selbst das Frühstück bestehend aus duftenden Rühreiern, verschiedenen Süßspeisen und Körnerbrötchen, konnte sie nicht zur Ruhe bringen. Schmatzend und mit der Gabel fuchtelnd schleuderten sie sich Argumente – und andere Dinge – entgegen, die sich mittlerweile wiederholten, sodass Evelyn das Gefühl hatte, dass die Streitenden sich im Kreis drehten. Sie selbst konzentrierte sich auf die Platte vor ihr und versuchte den Trubel um sie herum auszublenden, was kaum möglich war. Seufzend griff sie nach ihrer Tasse, die sie in ihren Fingern drehte. Auf der Suche nach etwas Interessantem ließ sie ihren Blick durch die Halle schweifen, wobei ihr bei dem Anblick einer in Schwarz gekleideten Figur, die mit wehendem Umhang auf die streitende Gruppe zu schritt, die Tasse beinahe aus ihrer Hand glitt.
 

Am Abend zuvor hatte sie es tunlichst vermieden allzu genau in das Gesicht von Severus Snape zu schauen, doch nun konnte sie nicht anders als ihn anzustarren, wie er mit barscher Mine auf sie alle zu ging.
 

Seine dunklen Augen waren starr wie Onyxe nach vorne gerichtet, doch das markanteste in seinem ansonsten schmalen Gesicht war die schiefe Nase, die auch von seinen dichten Haaren nicht verborgen werden konnte. Seine Arme verschwanden unter dem sich von der Luft gewölbten Umhang, weshalb sein blasser Kopf das einzig sichtbare war, was nicht komplett mit Textil bedeckt war. Zu Evelyns Horror verlangsamte sich der Schritt des Tränkemeisters, bis er schließlich stehen blieb und mit seiner bloßen Anwesenheit das Gespräch um Hauselfen verstummen ließ und die Aufmerksamkeit aller forderte.
 

"Mir wurde zugetragen, dass Sie sich gestern geweigert haben die Autorität der von mir persönlich eingestellten Vertrauensschüler anzuerkennen." Wie viele andere auch senkte Evelyn beschämt den Blick, die sich einmal mehr über ihren verbalen Ausreißer ärgerte. Die Betonung seiner Worte ließ keinen Zweifel zu, dass sie mit ihrem Handeln genauso gut seine eigene Autorität verweigern hätten können. Wunderbarer Start, zeig Snape die lange Nase.
 

"Ich und die Vertrauensschüler haben durchaus bessere Dinge zu tun, als aufmüpfige Erstklässler bei der Hand zu nehmen und herumzuführen, weshalb ich es begrüße, dass Sie alle keinerlei zusätzlichen Einführungen bedürfen." Eine seiner Hände erschien unter seinem langen Mantel und präsentierte einen kleinen Stapel Pergamente, den er dem ihm nächsten Schüler ohne weitere Worte entgegenstreckte. Blaise war der Unglückliche mit der zweifelhaften Ehre den Stapel entgegenzunehmen, auf dem sicherlich nicht noch einmal die Schulregeln verzeichnet waren.
 

"Unterrichtsbeginn ist in einer halben Stunde. Niemand von Ihnen sollte zu spät in ihrer ersten Stunde erscheinen. Wohin Sie sich begeben müssen wissen Sie, nehme ich an ... Seien sie versichert, dass ich es erfahren werde, sollte auch nur einer von Ihnen nicht rechtzeitig an dem von Ihnen verlangten Ort sein." Kurz ließ er seine Worte mit einem stummen Blick wirken, ehe er von dannen zog.
 

Die Gruppe, darunter auch Evelyn, war in vorübergehender Schockstarre gefangen, unfähig auch nur ein Wort zu sagen. In jedem der Gesichter konnte man dieselbe Verblüffung erkennen: Snape würde sein eigenes Haus bevorzugen, hieß es, doch bevorzugt fühlte sich niemand. Selbst Draco konnte seine Gesichtszüge nur schwer beherrschen und überspielte seine Unsicherheit mit aufgetragener Neugier.
 

Blaise hielt noch immer mit verkrampften Fingern die Pergamente, so als befürchtete er, dass sie detonieren würden, sollte er sie loslassen. Pansy, die neben ihm saß, musste sie ihm förmlich aus der Hand reißen, wobei einige der Pergamente leichten Schaden nahmen.
 

"Was ist das?", fragte sie verwirrt, während sie die Papiere vor sich drehte.
 

Blaise hatte seine Fassung wiedergefunden und schielte nun von der Seite hinein, während Daphne forderte ebenfalls einen Blick darauf werfen zu dürfen. Sie erkannten, dass überall dasselbe stand, weshalb jedem ein Pergament gereicht wurde, bis sie alle, die Köpfe nach links und rechts neigend, auf das Blatt starrten.
 

Mehrere in sich drehende Spiralen bestehend aus geschriebenen Worten bedeckten das komplette Pergament. Immer wieder leuchteten Buchstaben auf und wechselten die Stelle, sodass sich fortwährend neue Spiralen bildeten. Zu erkennen, was nun oben und was unten war, war beinahe unmöglich.
 

"Ich glaube da steht Verwandlung."
 

"Und das könnte Dunkle Künste heißen. Also Verteidigung, nehme ich an?" Na ich hoffe doch, dachte Evelyn mit hochgezogenen Augenbrauen.
 

Von allen Seiten wurden Worte gerufen die sie glaubten entziffern zu können, bis Evelyns Augen vor Erkenntnis immer größer wurden. Auch Draco hatte erkannt, was sie hier in Häden hielten.
 

"Das ist unser Stundenplan."
 

Zustimmendes Gemurmel wurde laut bei dem man kaum glauben konnte, dass sie alle vor noch wenigen Minuten bereit gewesen waren eine Essenschlacht wegen Hauselfen zu beginnen.
 

"Aber wenn das ein Plan ist, wieso können wir den dann nicht lesen?", fragte Goyle, der die leere Rückseite begutachtete. Draco riss ihm den Zettel aus der Hand und knallte ihn mit der Vorderseite nach oben vor Goyle auf den Tisch.
 

"Das ist der Plan, du Idiot." Einige lachten über Goyles verwirrten Ausdruck, doch seine Frage, worauf auch immer sie sich bezogen hatte, war noch immer berechtigt. Der Plan war alles andere als leicht zu lesen. Evelyn hatte noch immer nicht erkannt, wo der Anfang war, wenn es einen gab, oder wo die einzelnen Wochentage endeten.
 

Unterrichtsbeginn ist in einer halben Stunde, hatte der Professor gesagt und plötzlich verstand Evelyn, deren Miene sich versteinerte, seine versteckte Drohung. Sie konnten den Plan nicht lesen, nicht ohne Hilfe, die sie nun nichtmehr bekommen würden. Und selbst wenn sie wüssten, welches Fach sie als erstes hatten; das Schloss war riesig! Sie bezweifelte, dass es einfach sein würde den Unterrichtsraum auf sich alleine gestellt zu finden.
 

Ihr Herz sank als sie bemerkte, dass sie ihre Tasche mit Schulsachen im Gemeinschaftsraum gelassen hatte, so wie jeder andere auch...
 

Plötzlich hatte sie den Drang aufzuspringen. Nervös schaute sie zu den anderen auf der Suche nach ähnlichen Anzeichen der Unruhe, nach Anzeichen dafür, dass wenigstens Draco erkannt hatte, in welcher Lage sie sich befanden. Doch auch er studierte energisch das Pergament, ohne Anstalten zu machen bald aufzustehen.
 

Evelyn drehte sich zum Lehrertisch und fand Professor Snape neben seinen Kollegen sitzen. Doch er war weder in ein Gespräch verwickelt, noch nahm er etwas zu sich. E saß in sich gekehrt und vornübergebeugt, die Arme auf den Ellenbögen gestützt, und beobachtete mit zur Schau getragener Genugtuung, was sie alle taten – bzw. was sie nicht taten, nämlich die Halle so schnell wie möglich zu verlassen. Evelyn wendete sich ab und klammerte sich an der Kante der Bank fest um sich selbst daran zu hindern hinauszustürmen. Doch sie durfte nicht vor allen anderen verschwinden und ihnen damit womöglich zu früh einen Anstoß geben.
 

Erste Schüler verließen die Halle, doch die meisten, darunter ihr gesamter Tisch, genossen noch ihr Frühstück. Evelyn, die nun andere Sorgen hatte, als ihr Rührei fertig zu essen, starte auf das Pergament in der Hoffnung wenigstens heraus zu finden, was ihr erster Unterricht sein würde, falls sie ihn jemals erreichen sollte. Die fliegenden Buchstaben machten es beinahe unmöglich einen sinnvollen Text aus dem Wirrwarr zu entschlüsseln, obwohl sie sich zunächst nur auf die Bezeichnung der Wochentage konzentrierte in der Hoffnung damit den ersten Schritt zu machen. Sie glaubte eine Regelmäßigkeit zu erkennen, wie die Buchstaben sich bewegten und neue Worte formten, doch das Arbeiten unter Druck konnte sie auch Dinge halluzinieren lassen. Die Gewissheit immer mehr wertvolle Minuten zu vergeuden machte es ihr beinahe unmöglich klar zu denken.
 

Sie wollte nicht wissen was passierte, wenn sie zu spät zum Unterricht kamen, wovon sie mittlerweile überzeugt war, dass es unausweichlich war. Sie alle hatten es geschafft sich Nachsitzen einzuhandeln, noch bevor das Schuljahr richtig begonnen hatte.
 

"Die Spiralen sind regelmäßig", sagte Blaise. "Seht ihr das? Die Worte verdrehen sich ineinander und in regelmäßigen Zyklen bilden sie neue Spiralformationen. Eine Formation muss ein Tag sein."
 

"Fragt sich nur, welcher Tag welche Spirale ist?"
 

Evelyn drehte in sich gekehrt das Pergament. Blaise glaubte ebenfalls eine Regelmäßigkeit zu sehen, was sie mehr als erleichterte.
 

"Sie sind unterschiedlich groß", flüsterte Evelyn, die nun mit den Fingern die Formen der Spiralen entlang fuhr. Zuerst hatte sie geglaubt die unterschiedlichen Größen seien willkürlich, doch immer, wenn sich die Buchstaben neu formierten, waren die Formationen ein wenig enger gefasst, bis sie schließlich plötzlich expandierte und das ganze Blatt einnahmen.
 

Mittwoch, der dritte Tag, sinnierte sie und zählte die Größenwechsel bis zum nächsten Expandieren.
 

"Fünf, es sind fünf Wechsel", rief Millicent, wobei sie nicht laut sprechen musste, da es in der Halle deutlich ruhiger wurde nun, da sie sich leerte. Evelyn erwischte sich dabei, wie sie den Lehrertisch prüfte. Snape saß noch immer, nun als einer der letzten, an seinem Platz und beobachtete die Gruppe.
 

Beeilt euch, betete sie innerlich.
 

"Die Halle ist fast leer", bemerkte Crabbe und endlich realisierten die Erstklässler, dass sie nicht trödeln sollten. Pansy war die erste, die aufstand und hinauseilte. Kaum war sie von der Bank geklettert, war Evelyn ihr gefolgt, die nur auf diesen Impuls gewartet hatte. Der Aufbruch der Mädchen war wie ein Startschuss, der die anderen nach ihren Pergamenten greifen und hinterher rennen ließ, zurück Richtung Gemeinschaftsraum. Nie wieder würde sie ihre Sachen dort lassen, schwor sich Evelyn und auch die anderen schienen etwas Ähnliches zu denken.
 

Aus schnellem Gehen wurde bald panisches Laufen und sie stürzten beinahe in ihren Gemeinschaftsraum, nur um kurz darauf noch schneller den gesamten Weg wieder zurück zu rennen. Evelyn hoffte inständig, dass das Schicksal nicht so ironisch war ihre erste Stunde Zaubertränke sein zu lassen, doch eine nagende Erinnerung in ihrem Hinterkopf sagte ihr, dass ihre erste Tränkestunde erst am Freitag sein würde. Trotzdem mussten sie wissen, wohin sie eigentlich rennen mussten, sicherlich waren kaum mehr zehn Minuten übrig. Und das zusätzliche Gewicht aller Schulbücher auf ihrem Rücken ließ sie nicht schneller werden.
 

"Geschichte", hechelte Pansy neben ihr, die wild mit dem Pergament herumfuchtelte. "Die erste Stunde ist Geschichte der Magie!"
 

"Bist du dir sicher?", wollte Blaise wissen.
 

"Nein", war die wenig aufmunternde Antwort. Evelyn zählte die Zyklen bis sie glaubte die Spiralenformen für Mittwoch gefunden zu haben und konzentrierte sich auf die äußeren Worte. Pansy hatte recht, vorausgesetzt die äußeren Worte waren die frühen Stunden. Es war ein Risiko, das sie eingehen mussten, da waren sich alle stumm einig.
 

Während sie ziellos ihren Weg weiter nach oben suchten versuchte Evelyn sich daran zu erinnern, wo Geschichte unterrichtet wurde, doch so sehr sie sich auch anstrengte, die Klassenräume gehörten nicht zu dem, was sie sich gemerkt hatte. Geschichte konnte überall unterrichtet werden, ausgenommen natürlich die Gewächshäuser, und es sah nicht so aus, als wüsste einer der anderen, wo sie hin mussten. Evelyn wusste, dass sie Hilfe brauchten, stellte sich nur die Frage ob die anderen zum selben Schluss gekommen waren?
 

Einige Zeit streiften sie umher, bis sie schwer atmend den vierten Stock erreicht hatten. Evelyn stand schweigend nach Luft ringend in der Gruppe und versuchte die schwebenden Sterne vor ihren Augen weg zu blinzeln. Mittlerweile musste der Unterricht bereits begonnen haben, die Gänge waren bis auf die kleine Gruppe völlig verwaist.
 

Millicent war die erste, die ihre Stimme fand. "So hat das keinen Sinn." Mit schmerzverzerrtem Gesicht hob sie sich die Seite. "Wir müssen jemanden fragen."
 

"Und wen?" Daphne riss die Arme hoch und deutete verärgert auf die leeren Gänge.
 

Zu Evelyns eigener Überraschung begann just in dem Moment Blaise zu lachen, was Daphne nur noch wütender machte. "Was ist bitte lustig?" Sie suchte Evelyns Blick. "Wieso lacht heute jeder, wenn ich etwas sage?"
 

"Wir haben doch eine große Auswahl an Leuten, die wir fragen können", gab Blaise zurück, ohne weiter auf Daphne einzugehen. Evelyn wünschte sich, er würde sich beeilen, anstatt hier großspurige Reden zu schwingen. Doch er genoss es sichtlich den anderen einen Schritt voraus zu sein, was Evelyn nur mit einem Augenrollen abtun konnte.
 

"Schaut euch doch um." Acht Köpfe gingen in die Höhe und durchsuchten ihre Umgebung. Sie waren umgeben von Portraits, Gemälden und Bildnissen, die alles andere als Stillleben waren. Aus jedem der letzten zehn Jahrhunderten starrten sie Gesichter an, die untereinander tuschelten und ihnen zuwinkten.
 

"Die Bilder", schloss Daphne und bewegte sich auf das ihnen am nächsten zu, das eine üppige, junge Frau in noch breiterem Kleid zeigte, die sich ohne Unterlass im Spiegel betrachtete.
 

"Hey, wo ist das Klassenzimmer für Geschichte der Magie?", fragte sie das Gemälde der unbekannten Frau mit barschem Ton, doch die Angesprochene wendete ihr froschartiges Gesicht keine Sekunde von ihrem Spiegel ab. Draco trat seufzend vor und schob Daphne beiseite. "Lass mich das machen."
 

Er baute sich vor dem Gemälde auf und hob das Kinn, ehe er ansetzte zu sprechen. "Verzeihen Sie, gnädige Frau, wären Sie so freundlich uns ihr schönes Gesicht zu zeigen?" Evelyn glaubte kaum, wie leicht Draco diese süßen Worte über die Lippen kam. Erschrockener war sie, als sie beobachtete, wie er zu allem Überfluss eine Art Knicks machte. Er hatte seine rechte Hand über seine Brust gelegt und berührte nun seine linke Schulter während er sich mit dem Oberkörper leicht nach vorne neigte. Auch Pansy beobachtete ihn, doch ihr Ausdruck war eher bewundernswert und weniger schockiert.
 

Erstaunlicherweise funktionierte es. Die Dame legte ihren Spiegel aus der Hand und neigte ihren Kopf Richtung Draco, um seine Geste zu erwidern.
 

"Oh, welch hübscher Anblick", begann Draco, "Eure Augen erstrahlen in ungeahntem Glanz." Crabbe, der im Sichtfeld der Dame im Gemälde stand, musste sich abwenden um sein Lachen zu verbergen. Auch Daphne schien unbeeindruckt, wagte es jedoch nicht etwas gegen Malfoy zu sagen. Evelyn wünschte nur, Draco würde sich mit seiner Scharade beeilen.
 

Die Dame kicherte und zeigte hässliche gelbe Zähne, die bisher nicht zu sehen gewesen waren. "Welch charmanter junger Mann."
 

Erneut verneigte sich Draco, der erstaunlich gut seine Abscheu dem hässlichen Lächeln der Dame gegenüber versteckte. "Hübschester aller Dame, wärt Ihr so freundlich meine Frage zu beantworten und einem euch Anbetenden in Not zu helfen?" Euch Anbetenden? Evelyn glaubte, dass er nun zu weit ging, doch die Dame schluckte jedes seiner Worte als wären es Löffel von süßestem Honig.
 

"Ich suche den Ort, an dem die Geschichte der Magie unterrichtet wird, um mein Wissen zu erweitern und die Historie unserer Kultur zu lernen. Wärt ihr, hübscheste aller Damen, bereit mir zu sagen, wo ich jenen Ort finde?" Draco hatte sich nun völliger in seiner Rolle gefunden und die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Sogar Blaise nickte vor Bewunderung.
 

"Ihr habt Euer Ziel beinahe erreicht, junger Mann." Sie hob die Hand und deutete den Gang hinunter, auf dem sie standen. "Folgt dem Weg und zählt die Vier. Eure Reise wird dort ein Ende finden." Ein schnelles Danke wurde gemurmelt und alle, bis auf Evelyn rannten los.
 

Irritiert rückte sie ihre Tasche zurecht, die ihr mittlerweile schmerzhaft in die Schulter schnitt. "Zählt die Vier? Was?!"
 

"Es ist die vierte Tür hinten links", hörte sie eine Männerstimme ruhig sagen. Eine Gruppe Herren mit bunten Gewändern und spitzen Hüten, die in einem Observatorium standen, winkten ihr zu. Resigniert spitzte sie ihre Lippen leicht und widerstand der Versuchung sich gegen den Kopf zu hauen. Die Herren waren im Bild über der hässlichen hübschen Dame, die sich bereits wieder ihrem Spiegelbild zugewendet hatte.
 

"Ah ... danke." Kopfschüttelnd folgte sie der Gruppe Slytherin, die vor ihren Augen bereits hinter einer Tür verschwanden.

Kapitel 23 - Ein zäher Geist

Als Letzte betrat sie den Unterricht und versuchte die Tür hinter sich so leise wie möglich zu schließen. Trotzdem drehten sich knapp zwei Dutzend Köpfe nach ihr um, nur der Lehrer nahm kaum Notiz von ihr, der ohne zu unterbrechen seine Erzählung fortsetzte. Sie entdeckte die anderen ihres Hauses etwas weiter vorne und auch sie musste sich einen Platz in den ersten Reihen suchen, da die hinteren Tische bereits belegt waren. Niemand wollte vorne sitzen, mit Ausnahme von Hermine, deren buschiger Kopf in der ersten Reihe kaum zu übersehen war.
 

Sie saß direkt vor einem Pult, hinter dem der einzige Geist von Hogwarts schwebte, der unterrichtete: Binns. Zu Lebzeiten war er wohl ein wenig übergewichtig und hatte bereits tiefe Falten gehabt. Sein krausiges Haar lugte unter einer hängenden Mütze hervor und er trug einen langärmligen Anzug, der entfernt an einen altertümlichen Schlafanzug erinnerte, und der sich an seinem Bauch zu spannen begonnen hatte. Auf dem Pult selbst lagen weder Bücher, noch Schreibwerkzeug. Auch die Tafel hinter seinem Rücken war bis auf den Schmutz alter Kreide völlig leer.
 

"-nur überleben kann, wenn man mächtige Verbündete hat. Durch geschickte Diplomatie gelang es Rilbamez Fuselclamp dem Dummen, seine Gegner nach und nach für sich zu gewinnen. 1190 vereinte er die Sippen der Dangeez, um ..."
 

Evelyn starrte den Geist an und versuchte zu verstehen, worum es in seinem Vortrag ging, der sich anhörte, als rezitierte er einen zufälligen Eintrag von Wikipedia. Dem Gesicht der anderen nach zu urteilen, hatten auch sie Mühe zu folgen. Seine Stimme war tatsächlich, wie befürchtet, leise und ohne jede Emotion, was es schwer machte ihm lange zuzuhören.
 

Es war Hermine, die die seltsame Stimmung verwirrten Schweigens mit einem Räuspern durchbrach. "Verzeihung, Professor, aber könnten Sie noch einmal von vorne anfangen?"
 

Professor Binns suchte irritiert nach demjenigen, der es wagte seinen Unterricht zu unterbrechen. Hermine hob ihre Hand. "Sir, wäre es nicht besser zuerst die Namensliste zu verlesen?"
 

Einige, die bereits gedroht hatten gedanklich abzudriften, verfolgten die plötzliche Unterhaltung mit Neugier. Evelyn war froh zu hören, dass noch nicht einmal die Liste verlesen worden war, denn das bedeutete, dass sie nicht allzu spät gewesen sein mussten. Hoffentlich gilt das für Snape als noch rechtzeitig.
 

"Liste? Was soll das heißen. Von vorne anfangen? Junge Dame, wenn Sie nicht zu hören, wenn ich Ihnen etwas sage, dann ist es nicht mein Problem, sondern das Ihre. Sie sollten sich stattdessen Fragen, ob Sie nicht vielleicht besser aufpassen sollten?" Er schwebte nun ein wenig höher, sodass es aussah, als stünde er auf seinem Pult. Evelyn sah an seinen Füßen nun spitz zulaufende Pantoffeln, die seinen Schlafzimmeraufzug perfekt machten.
 

"Schlimm genug, dass Sie alle erst heute hier erscheinen. Die letzten Wochen war die Anwesenheit in meinem Unterricht eher mager."
 

Kaum einer verstand, wovon ihr Lehrer redete und erneut war es Hermine, die Wortführerin war. "Heute ist doch der erste Tag, Sir."
 

"Wer sind Sie überhaupt?"
 

Hermine straffte sich. "Hermine Granger, Sir. Ich finde wirklich, Sie sollten die Lis-"
 

"Granger", rollte er den Namen auf seiner Zunge, "Granger? Nein, ist mir kein Begriff. Wie ungewöhnlich mitten im Schuljahr eine neue Schülerin zu bekommen." Binns schwebte wieder hinunter.
 

Mitten im Schuljahr?, dachte Evelyn und bedeckte ihr anwachsendes Grinsen mit der Hand. Ein Geschichtslehrer ohne Gefühl für Zeit, willkommen auf Hogwarts.
 

Auch Hermine war von seiner Aussage verblüfft, doch anstatt es mit Humor zu nehmen wagte sie erneut einen Versuch kompetenten Unterricht zu bekommen. "Professor Binns, heute ist der erste Schultag eines neuen Schuljahres, wir sind Erstklässler." Sie stand auf und deutete in den Raum, in dem die Schüler aller vier Häuser versammelt waren.
 

Binns kratzte sich unter der Kante seiner Mütze. "Was reden Sie da, Ganger? Abraxas, könnten Sie der jungen Dame den Weg zum Krankenflügel zeigen? Ich fürchte sie hat sich den Kopf gestoßen."
 

Hermine wollte bereits protestieren, dass er ihren Namen wohl falsch verstanden hatte, als Malfoy, der in unmittelbarer Nähe saß, plötzlich hochschreckte und zögerlich auf sich selbst deutete. "Abraxas war mein Großvater, Sir."
 

Peinliches Schweigen entstand, in dem Binns einige Schüler näher betrachtete und ein Gesicht machte, als sähe er sie zum ersten Mal, was im Endeffekt stimmte. "Großvater?", sagte er schließlich. "Nunja ... ehm. Wie lange sind Sie schon hier?"
 

Evelyn schüttelte den Kopf. Sie hatte erwartet, dass Binns ein wenig orientierungslos sein würde. Ihn so zu sehen ließ sie jedoch fragen, weshalb man nicht schon vor 100 Jahren einen Exorzisten hat kommen lassen...
 

Irgendwann nahm er den Unterricht wieder auf, ohne die Liste zu verlesen und ohne auf seinen Fehler einzugehen, doch Evelyn achtete kaum auf das, was er erzählte. Das überflüssige Geschichtsbuch war schon längst wieder in ihrer vollen Tasche verschwunden und sie würde es sich in Zukunft sparen sich damit zu quälen. Ihr Vorsatz Professor Binns zuzuhören hatte kaum ein paar Minuten gehalten.
 

Stattdessen widmete sie sich ihrem Stundenplan, den sie nun mit etwas mehr innerer Ruhe betrachtete. Daneben hatte sie ein freies Pergament gerichtet, auf dem sie versuchte aus den Spiralen schlauer zu werden und den Plan in benutzerfreundlichere Formen zu übersetzen. Um den Mittwoch herum und angefangen mit Geschichte der Magie, dem Unterricht, in dem sie gerade die Freude hatte zu sein, baute sie ihren Stundenplan auf. Wusste man einmal, wonach man suchen musste, war es gar nicht mehr so schwer die sich bewegenden Buchstaben zu lesen.
 

Es stellte sich heraus, dass heute ein langer Tag werden würde. Allgemein war jeder Tag in vier Doppelstunden aufgeteilt, wobei sie nicht immer Unterricht hatte, sondern auch Freistunden dazwischen. Heute würde sie noch Verwandlung haben, den ersten kompetenten Unterricht, und nachmittags nach der Mittagspause Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Was ihr weniger behagte war der Gedanke, nachts auf den Astronomieturm zu klettern. Freitag war ihr kürzester Tag, doch unter der Woche würde sie mehr als einmal bis kurz vor dem Abendessen Unterricht haben, weshalb sie alle wohl die Freistunden brauchen würden, um Hausaufgaben zu machen. Zu Evelyns Freude war überall eine Vermerk bestehend aus kleinen Ziffern, wo der Unterricht abgehalten werden würde, auch wenn ihr das erst aufgefallen war, als sie den Vermerk "Gewächshaus" neben dem Fach "Kräuterkunde" entdeckt hatte. Also war sie noch einmal jedes Fach durchgegangen und hatte sich die Räume notiert.
 

Wenn sie richtig zählte, würde sie einige Fächer mehrmals in der Woche haben, doch andere, wie Geschichte, nur einmal. Ihr Blick fiel auf ihre Nachbarn Pansy und Millicent, die beide bereits die Augen geschlossen hatten und in ihren Sitzen dösten. Professor Binns störte sich nicht daran.
 

"-ach dem Tod des Gelben Turban im Jahr 189 lieferten sich die Zhuo blutige Auseinandersetzungen, die d-"
 

Nein, das hatte keinen Wert. Der Jahreszahl nach zu urteilen hatte Binns tatsächlich irgendwann angefangen, was man "den Anfang" nennen konnte, doch sie konnte sich einfach nicht für den Inhalt begeistern. Dummerweise lieferte das Klassenzimmer keine Abwechslung und war beinahe genauso langweilig, wie das Gesagte selbst. Bis auf die Einzeltische, an dem müde Schüler versuchten durchzuhalten, und dem Pult samt Tafel, gab es buchstäblich nichts. Selbst Fenster suchte man vergeblich. Zwei von Spinnenweben bedeckte Kronleuchter erhellten den Raum, dessen blanke Wände Spuren von Gemälden trugen, doch die waren wohl schon seit Jahren verschwunden.
 

Die Insassen der Gemälde wollten sich das hier wohl nicht mehr antun.
 

Die abwesenden Fenster und das damit fehlende Tageslicht machte Evelyn mehr zu schaffen, als das öde Zimmer. Den Blick auf ihren kleinen Tisch fixierend verharrte sie und atmete das Gefühl von Enge weg, zumindest versuchte sie es.
 

Nach zwei Stunden, die ihr und den anderen alles abverlangt hatten, waren sie endlich befreit. Eilig packten alle ihre Taschen und flohen aus dem Zimmer, ohne einen Gedanken an ihre ersten Hausaufgaben zu verschwenden.
 

"Das war der pure Horror", sagte Millicent, die Hand gegen ihre Stirn gepresst. "Dieser Geist ist beinahe so alte, wie das Zeug, das er da redet."
 

Evelyn sah, wie einige Hufflepuffs stehen blieben und der Gruppe Gryffindors neugierig nachsahen, ehe sie in anderer Richtung verschwanden. Ihr eigener kleiner Haufen kümmerte das wenig.
 

"Unterricht von einem Geist ... diese Schule geht wirklich den Bach runter", wetterte Malfoy und erntete von allen Seiten Zustimmung. "Habt ihr gehört, wie er mich mit meinem ehrwürdigen Großvater verwechselt hat?" Malfoy stolzierte nun vor der Gruppe her und gestikulierte wild um sich. "Mit Vornamen! Stellt euch das vor. Der Name meines Großvaters, Merlin hab ihn selig, aus dem Mund von dieser einfältigen Ansammlung von Nebel!"
 

"Mein Bruder meinte, Binns interessiert es nicht ob man wach ist, oder schläft. Also hat er immer geschlafen", warf Goyle ein, was Evelyn hellhörig werden ließ. Goyle hat einen Bruder? Zu gerne hätte sie mehr erfahren, doch selbst konnte sie nicht fragen und die anderen hatten anderes im Sinn, als Verwandtschaftsverhältnisse zu klären.
 

"Schlafen? Der würde noch nicht einmal merken, wenn jemand in seinem Unterricht sterben würde."
 

"Der hat ja sogar seinen eigenen Tod nicht mitbekommen."
 

Gelächter breitete sich im Gang aus und folgte ihnen, bis sie die Treppe erreichten. Auch Evelyn konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, denn so harsch die Worte waren, leider entsprachen sie der Wahrheit. Doch nun fiel ihnen auf, dass sie drohten erneut verloren im Schloss stranden. Zumindest hatten die meisten unter ihnen, wie Evelyn, die Zeit genutzt und den Rest des Plans entschlüsselt.
 

"Als nächstes Verwandlung bei der McGonagall, oder?", fragte Pansy, die auf ein Geschmiere ihrer Hand starrte. Crabbe zuckte hilflos die Schultern, doch Draco nickte ihr zu.
 

Während ihres Abstieges in den ersten Stock wechselte der entzifferte Stundenplan die Kompetenz von Professor Binns als Thema ab, und schon bald schimpften sie nicht mehr über veraltete Unterrichtsmethoden, sondern darüber oft bis kurz vor Sonnenuntergang lernen zu müssen. Besonders Daphne wollte sich nicht damit abfinden schon heute bis Mitternacht Sterne anzugucken.
 

Einig waren sich jedoch alle über den bevorstehenden Flugunterricht nächste Woche, der in Evelyn eher vorsichtige Neugier als echte Vorfreude weckte. Ihre Gedanken kreisten um den bevorstehenden Verwandlungsunterricht, der nun der erste Unterricht sein würde, in dem es um echte Magie ging.
 

Im Gegensatz zu heute Morgen, waren sie diese Mal zusammen mit den anderen Schülern angekommen und standen nun erwartungsvoll vor verschlossener Tür. Es waren nur die blauen Umhänge der Ravenclaws zu sehen und es blieb bei dieser verkleinerten Gruppe, bis Professor McGonagall ihnen die Tür öffnete und sie hineinbat. Zunächst war das Licht gedimmt, doch dann entflammten überall, wie auf ein Stichwort hin, schwebende Fackelträger und erhellten ihre Umgebung. Erstauntes Gemurmel folgte ihnen, als sie mit großen Augen eintraten.
 

Der Raum war lang und viel zu groß für die wenigen Schüler. Von der Decke hingen dutzende Käfige in verschiedener Form, deren Ketten ab und zu klirrten. Einige Käfige waren leer, doch die meisten beherbergten bunte Vögel, die sofort begannen unruhig zu werden, als sich der Raum mit den wenigen Schülern füllte.
 

Auch an den Wänden im hinteren Bereich des Klassenzimmers waren Käfige zu sehen, die jedoch keine Vögel, sondern mehrere kleine Nage- und andere Säugetiere eingesperrt hatte, deren leises Fiepen bis zu ihnen durchdrang.
 

Stumm nahmen alle ihre Plätze ein, die nicht aus einsamen Tischen bestanden, sondern aus mehreren Reihen Bänken, an denen bis zu drei Schüler Platz nehmen konnten. Erneut wunderte sich Evelyn darüber, dass der langweiligste Unterricht die Schüler in jeder Hinsicht über den Stoff hinaus quälte. Für Professor Binns reichte es nicht nur monoton zu sprechen und sein Klassenzimmer praktisch völlig auszuräumen, sondern er musste den Schüler auch noch verwehren in Paaren oder Gruppen zusammenzusitzen.
 

Kaum hatte sie neben Millicent Platz genommen, erhob Professor McGonagall bereits die Stimme. Sie hielt wie am Vorabend ein zusammengerolltes Pergament und verlas die Namensliste um sich zu versichern, dass alle anwesend waren. Bei nur etwa 15 Schülern fiel dies sehr kurz aus, ehe sie sich dem Wichtigen zuwendete. Ihre Hand glitt zu einer Sanduhr in einer filigranen Halterung aus fleckigem Messing. Mit ihrem Finger kippte sie die Uhr und der Sand begann langsam zu fließen.
 

"Willkommen, Erstklässler, zu Ihrer ersten Stunde Verwandlung. Ich bitte Sie ihre Zauberstäbe vorerst aus Ihren Händen zu legen." Einige, die bereits mit Zauberstab im Anschlag auf ihren Plätzen saßen, verstauten diesen wieder mit traurigem Gesicht.
 

"Bevor wir beginnen, möchte ich Sie alle eingehend warnen und sie darauf hinweisen, dass die Kunst der Verwandlung zu den gefährlichsten Bereichen gehört, die Sie während ihrer magischen Ausbildung erlenen werden." McGonagall stand in all ihrer Größe vor ihnen und betonte jedes ihrer Worte nachdrücklich.
 

Evelyn sah, dass Millicent neben ihr angespannt auf der Bank hin und her rutschte. Auch sie selbst bekam ein mulmiges Gefühl als sie sah, wie ernst es Professor McGonagall war, jedoch überwiegte ihre neugierige Vorfreude.
 

"Sie werden daher noch nicht einmal eine Feder in einen Kiesel verwandeln, bevor ich nicht sicher bin, dass Sie alle die wichtigsten Regeln und Theorien verstanden haben." Sie drehte ihre Hand in der Luft und die drei frei stehenden Tafeln hinter ihr rückten zusammen und bildeten ein fein gezeichnetes Geflecht an verschiedenen Mustern und Formeln, das für sich genommen wie Kunst wirkte.
 

McGonagall würde Wort halten. Bis das letzte Sandkorn durch die Uhr gerieselt war und damit das Ende ihrer Unterrichtseinheit anzeigte, hatte keiner auch nur daran gedacht einen Zauberstab in die Hand zu nehmen. Stattdessen ließ sie alle immer wieder die Grundzüge der Theorie aufsagen, zum Schluss sogar einzeln. Sie verließen den Raum mit mehreren Bögen Notizen gefüllt mit Abbildungen, Bemerkungen und mit der Hausaufgabe einen Aufsatz darüber zu schreiben, welche Folgen es haben konnte auch nur einen Fehler während einer Transfiguration zu machen.
 

Obwohl Evelyn keinen einzigen Zauber gesprochen hatte, hatte sie sich keine Minute gelangweilt. Im Gegenteil, sie war so interessiert, wie schon lange nicht mehr und die Müdigkeit, die sich während des Unterrichts von Professor Binns angestaut hatte, war innerhalb weniger Minuten verflogen gewesen, was auch an der Hingabe lag, mit der Minerva McGonagall von ihrem Fachgebiet sprach: es war eine wahre Freude ihr zuzuhören. Leider teilte kaum einer der anderen ihre Begeisterung.
 

"Zuerst ein inkompetenter Geist und nun eine alte Schachtel, die uns die einfachsten Dinge aufsagen lässt", wetterte Blaise.
 

Pansy grinste und baute sich vor ihnen auf. "Ihr müsst immer aufpassen wenn ihr eine so gefährliche Waffe wie einen Zauberstab in Händen haltet", äffte sie mit spitzer Stimme den Ton von Professor McGonagall nach. "Tod und Verderben erwartet euch, zaubert vorsichtig, zaubert mit Bedacht, zaubert am besten überhaupt nicht!"
 

Die anderen, besonders Goyle, der röhrend losprustete, amüsierten sich köstlich, nur Evelyn, die sich erneut etwas nach hinten hat fallen lassen, bekam nur ein müdes Lächeln zustande. Ihr Bedarf an überheblichen, alles besser wissenden Heranwachsenden war im Moment mehr als gedeckt.
 

"Ich gehe die Bibliothek suchen", verkündete sie in das Gelächter hinein. Zum ersten Mal konzentrierten sich nun alle auf sie, wobei ich den Augen der Slytherin große Fragezeichen zu erkennen waren.
 

"Die Bibliothek? Was willst du denn da, Harris?", fragte Daphne, so als ob Evelyn etwas Unmögliches vorgeschlagen hätte.
 

"Es ist Mittagspause", sagte Millicent entsetzt und griff nach Evelyns Ärmel, die jedoch irritiert von der plötzlichen Nähe zurück zog. "Wir wollen etwas essen gehen."
 

Evelyn schüttelte den Kopf. "Das Frühstück war genug." Das war keine Lüge, das Frühstück bestehend aus Rührei, fettem Schinken und belegten Brötchen lag ihr immer noch schwer im Magen. "Geht ruhig, wir sehen uns in Verteidigung." Während sie sprach trat sie noch einige Schritte zurück. Draco zuckte nur mit den Schultern und wandte sich bereits ab.
 

"Mach, was du willst." Er verschwand die Treppe hinunter und die anderen folgten ihm, Millicent war die letzte, die nach einem erneuten Blick auf Evelyn verschwand.
 

Evelyn stand nun alleine in dem Gang, wenn man von den vielen Gemälden und Rüstungen absah, die sich hier und da bewegten. Die plötzliche Ruhe war wie Balsam für ihren Geist und sie streckte sich, tief einatmend.
 

Schon bald würde sich die Gruppe aus Erstklässlern um Draco auflösen, da war sich Evelyn sicher. Momentan gab es eine Zweckgemeinschaft unter ihnen, resultierend aus dem Wunsch nach Stabilität in einer fremden Umgebung. Doch sobald jeder Winkel von Hogwarts vertraut war, würden sie nicht mehr wie eine Gruppe Hühner aufeinander angewiesen sein, das hoffte Evelyn zumindest.
 

Sie genoss ihre kurze Erkundung alleine durch das Schloss. Gelegentlich grüßten sie Portraits und sogar den ein oder anderen Geist entdeckte sie, wie er von einer Wand durch die nächste flog. Immer wieder legte sie die Fingerspitzen gegen die Steinwände während sie lief und spürte die Unebenheiten; sie fühlte Hogwarts.
 

Es war noch zu früh, um eine Bilanz zu ziehen, doch sie war zufrieden, wie der Unterricht bisher verlaufen war. Zwar hätte sie sich einen besseren Geschichtsunterricht gewünscht, doch nichts wies darauf hin, dass ihre Beteiligung am Unterricht etwas Gravierendes bewirkte. Trotzdem hatte sie sich zurück gehalten und nur gesprochen, wenn sie gefragt worden war, was in einer kleinen Gruppe wie der in Verwandlung öfter der Fall sein würde, als in Stunden, in denen alle vier Häuser gemeinsam Unterricht hatten.
 

Als sie um eine Ecke ging, veränderte sich das Bild des Ganges. Gemälde wichen Wandteppichen und auch der Boden war verkleidet mit verschiedenen Textilen. Der ganze Abschnitt erzählte eine Geschichte, die jedoch nur schwer zu entziffern war. Evelyn erkannte eine Gruppe Ritter, die mit Speeren und anderen Waffen ausgerüstet waren. Begleitet wurden sie von Tieren, die eine Mischung aus Hund und Skorpionen zu sein schienen. Evelyn würde liebend gerne stehen bleiben um sich die Szene näher anzuschauen, ermahnte sich dann aber zur Eile. Mittagessen gab es nur eine Stunde, bis sie beim nächsten Unterricht sein musste. Sie würde noch genug Zeit haben alles genau zu betrachten.
 

Sie setzte ihren Weg fort, vorbei an der Geschichte an den Wänden und suchte nach der Bibliothek. Dieser Ort war einer der wenigen von dem sie eine ungefähre Ahnung hatte, wo sie suchen musste. Als sie gelesen hatte, dass Verwandlung auf dem ersten Stock unterrichtet werden würde war ihr klar gewesen, dass sie von dort aus die Bibliothek suchen würde, die sich ebenfalls irgendwo auf diesem Stock befand. Sie hoffte auf eine auffällige Tür oder auf ähnliche Hinweise, sodass sie nicht unwissend einfach daran vorbei lief. Erleichtert fand sie schließlich einen solchen von ihr gewünschten Hinweis.
 

Die Türen selbst waren im Vergleich zu den Toren der Großen Halle schlicht und beinahe winzig. Doch das aufwändige Relief um den Rahmen herum, das tanzende Bücher zeigte, war Merkmal genug, dass sie die Bibliothek gefunden hatte.

Kapitel 24 - Teamarbeit mal anders

Sie war bereits von der Fülle an Büchern in Flourish & Blotts begeistert gewesen, doch was sie nun vor sich sah, stellte alles in den Schatten. Ein einziger, lang gezogener Raum erstreckte sich vor ihr, in dessen Mitte dutzende Tische als Leseraum dienten, der bereits von einigen genutzt wurde, und von dem links und rechts hohe Regale abzweigten, deren Ende nicht in Sicht war. Überdacht wurde sie von einem hohen Holzgewölbe, unter dem sogar eine Galerie mit offenem Säulengang zu erkennen war, in dem sich dunkle Gestalten bewegten, die Evelyn jedoch nicht näher identifizieren konnte. Holz war das dominierende Material, was dem Raum – der Bibliothek – eine gemütliche Atmosphäre gab.
 

Vor jedem Gang befand sich eine Büste aus weißem Stein, der verdächtig an Marmor erinnerte, und zeigte Büsten verschiedenster Gestalten: sowohl menschliche, als auch tierische, Kobolde und andere Mischwesen.
 

Aus allen Richtungen schwebten Bücher über sie hinweg und verschwanden in den unzähligen Regalgängen.
 

Staunend machte sie kaum drei Schritte hinein in dieses hölzernere Wunder gefüllt mit tausenden und abertausenden an Büchern. Im Raum herrschte angenehme Stille und nur das dumpfe Geräusch eines aufschlagenden Buches oder einer umgedrehten Seite drang ab und zu an ihr Ohr. Sie liebte es auf Anhieb.
 

"Brauchen Sie Hilfe?"
 

Eine hohe Stimme zwang sie ihren Blick von den Regalen zu reißen und stattdessen in das Gesicht einer Frau mit spitzer Nase und viel zu dunklem Lippenstift zu schauen. Sie saß hinter einem Tresen nur unweit von Evelyn und schien sie seit ihrem Eintreten beobachtet zu haben.
 

"I-Ich ... ehm ...", sie suchte nach den richtigen Worten, während die Frau die überschminkten Lippen ungeduldig zusammenpresste. Auf ihrem Kopf trug sie einen üppigen Federhut, der sich farblich an ihrer dunklen Robe orientierte. Mit dem starken Make-Up schien sie die ersten Zeichen von Falten in ihrem vom Leben gezeichneten Gesicht verbergen zu wollen.
 

Evelyns Blick fiel erneut auf die Reihen voll Bücher, in denen sie auf sich gestellt vermutlich ähnlich wie in einem Labyrinth jede Orientierung verlieren würde. "Ja, ehm, ja ich fürchte, ich brauche Hilfe."
 

Die Frau faltete ihre Hände vor sich und legte unbeeindruckt den Kopf schief. "Was suchen Sie? Welche Kategorie? Sachbuch oder Literatur?" Ihr Ton wirkte routiniert.
 

"Ich suche ein Exemplar von Geschichte Hogwarts', Ma'am." Kurz hatte sie überlegt die Frau mit Namen anzusprechen, hatte sich dann doch für die neutrale Version entschieden.
 

"Geschichte Hogwarts' von Bathilda Bagshot", rezitierte sie. "Ich nehme nicht an, Sie wollen das handgeschriebene Manuskript?"
 

Evelyn runzelte die Stirn. "Nein, nur eine normale ... Ausgabe. Bitte." So sehr ihr der Gedanke gefiel ein handgeschriebenes Exemplar betrachten zu dürfen, so würde sie sich auch mit Auflage 73 zufrieden geben, Hauptsache, sie könnte es endlich lesen.
 

Ohne weiteren Kommentar nahm die Frau, bei der es sich mit Sicherheit um Madam Pince handelte, einen kleinen blau gefärbten Zettel Pergament zur Hand und schrieb einige geschwungene Worte darauf, von denen Evelyn jedoch keine entziffern konnte. Kaum, dass sie ihre Feder zurück in den Ständer gesetzt hatte, faltete sich das Pergament selbstständig und flog wie ein Schmetterling davon.
 

"Ist dies Ihre erste Ausleihe?"
 

Diese Frage erschien Evelyn überflüssig wenn man bedachte, dass das Schuljahr gerade vier Stunden alt war, dennoch antwortete sie diese Frage mit einem knappen "Ja".
 

"Buchrückgabe ist, falls nicht anders gefordert, spätestens nach zwei Wochen zu vollziehen. Ich wünsche keine Ecken, Risse, fehlenden Seiten, Flecken, Notizen, Fingerabdrücke, Bissspuren oder Zettel außer dem von mir hinzugefügten Namensverweis in meinen Büchern", zählte sie mit strenger Stimme auf, wobei sie bereits ein weiteres Pergament, diesmal in Farbe Gelb, beschrieb. "Beschädigungen der von mir aufgezählten und nicht aufgezählten Art werden streng bestraft und geahndet."
 

Eingeschüchtert nickte sie, als Madam Pince eine Reaktion forderte, wobei Evelyn gedanklich eher daran dachte, wie Madam Pince wohl reagieren würde wenn sie wüsste, dass Hermine es wagen würde nicht nur eine Seite zu beschreiben, sondern auch aus einem ihrer Bücher auszureißen!
 

"Name?"
 

"Evelyn Harris", antwortete sie.
 

Ein flatterndes Geräusch über ihr ließ sich hochblicken. Ein großes, in leder Gebundenes Exemplar kam ohne weiteres Zutun auf sie zugeflogen, ehe es in langsamen Sinkflug auf dem Tresen vor Madam Pince landete. Der blaue Zettel lugte oben zwischen den dünnen Seiten hervor. Mit geschickten Fingern schob Madam Pince den gelben Zettel dazwischen, den sie zuvor mit einem roten Stempel versehen hatte. Nun erst durfte Evelyn das Exemplar entgegen nehmen. Das Buch, auf dessen Titelbild die groben Umrisse von Hogwarts imprägniert waren, bedeckte beinahe Evelyns kompletten Oberkörper.
 

"Danke", murmelte sich hinter dem Buch hervor.
 

"War es das?"
 

Da Evelyns sowieso schon keinen Platz mehr in ihrer Tasche hatte und Geschichte Hogwarts' den restlichen Tag über vor sich tragen müsste, verlangte sie nach keinem weiteren Buch, auch wenn die Versuchung groß war und ihre Neugier beinahe ein Loch in ihren Magen brannte. Doch die Gewissheit noch genug Zeit zu haben nach Herzenslust zu stöbern, vor allem, wenn sie mehr als nur eine Mittagsstunde Zeit hatte, gaben ihr ein gutes Gefühl.
 

Die Zeit drängte, der nächste Unterricht wartete und daher watschelte sie unter dem neuen Gewicht des Buches vor ihr mit einem letzten Blick über die Schulter hinaus. Sie achtete kaum, wo sie ihre Füße aufsetzte, da sie den ledernen Wälzer bereits aufgeschlagen hatte und im Verzeichnis nach einer Auflistung der Klassenzimmer und einer detaillierten Karte gesucht hatte und auf ein Abbild des Schlosses schaute.
 

"Khihihi, alles Gute kommt von OBEN!"
 

Ein plötzlicher Schlag traf Evelyn am Kopf, gefolgt von dem ekligen Gefühl zähen Teers, der ihren Rücken hinunter floss. Erstarrt vor Schreck konnte sie kaum reagieren.
 

"Neue Schüler, dumme Schüler! Khihihi!" Die hohle Stimme kreiste um sie herum, bis ein rundes Gesicht mit breitem Grinsen glänzender Zähne in ihrem Sichtfeld erschien.
 

"Peeves?", rief sie aufgebracht, wobei sich ihre Wut schnell in Angst verwandelte als sie sah, dass das schwarze Zeug nicht nur ihren Kopf und Rücken getroffen hatte, sondern bereits in die Seiten von Geschichte Hogwarts' einsickerte. Hilflos sah sie zu, wie die Flüssigkeit an die Ränder floss und tropfend die Lache zu ihren Füßen vergrößerte.
 

"Peeves!", brüllte sie erneut das schwebende Geschöpf im bunten Pyjama an, der mit seinen langen Fingern nach seiner Mütze griff und freudig mit ihr wedelte.
 

"PEEVES!", ahmte er sie nach und hüpfte in der Luft, stolz darauf gerade literweise Tinte auf Evelyn geworfen zu haben.
 

Auf ihren Kleidern fiel die schwarze Tinte kaum auf, doch ihr Gesicht und ihre Haare waren völlig beschmiert, ganz zu schweigen von dem Buch, das sie nun weit von sich hob.
 

Sie hörte den Poltergeist gehässig lachen, ehe er sie so wie sie war einfach stehen ließ und sich scheinbar in Luft auflöste. In diesem Moment gab es vieles, was sie dem Poltergeist am liebsten auf den Weg gegeben hätte, doch letztendlich war klar, dass der tausend Jahre alte Peeves sich kaum um ihre Meinung scheren würde. Sie schluckte ihre Wut und ihren Schrecken herunter und besah sich noch einmal des Schadens.
 

Die Tinte würde sie nie mehr aus den Seiten bekommen, deren hübsche Abbildungen und reichlich verzierten Passagen für immer ruiniert sein würden. So viel zum Thema Bibliothek. Madam Pince würde sie nie mehr auch nur eines der Bücher anfassen lassen, wenn sie das Buch in diesem Zustand zurück brachte.
 

Die presste ihre Hände um den Einband. "Du ARSCH!", schrie sie ihren Ärger nun doch hinaus, verkniff sich aber jedes weitere Kommentar, das durchaus noch auf ihrer Zunge lag. In diesem Moment verließen einige Gryffindor die Bibliothek und sahen sie in der Lache voll Tinte stehen. Einer der Jungs deutete auf sie und Grinste seinen Nachbarn an.
 

"Peeves hat wohl bereits die Erstklässler begrüßt." Das Gelächter der Gruppe, die ohne zu zögern im Gang verschwanden, hing Evelyn in den Ohren.
 

Danke für die Hilfe.
 

Sie wollte nicht darüber nachdenken wie sich die Gryffindors verhalten hätten, wenn sie Lavender Brown, Parvati oder eine andere Schülerin von Gryffindor gewesen wäre. Doch im Moment galt es die Zähne zusammen zu beißen und einfach weiter zu machen, statt über Häuservorurteile zu philosophieren.
 

Mit ihrem Umhang wischte sie das Gröbste aus ihrem Gesicht und den Haaren, wobei Letztere nun eher ihrer natürlichen Haarfarbe ähnelten und kaum mehr das Blond zu sehen war. Bei ihrem kurzen Blick auf die Zeichnung der Innenräume Hogwarts hatte sie einen Verbindungsgang zwischen dem zweiten Stock und dem Nord-Turm, in dem Verteidigung unterrichtet werden würde, entdeckt. Mit erhobenem Kinn und der Intention sich von der Tintendusche nicht beirren zu lassen, ging sie zurück zum Treppenhaus, wobei sie es diesmal unterließ etwas in ihrer Nähe anzufassen, da ihre Finger wohl überall hässliche Spuren hinterlassen würden.
 

Die Mittagsstunde schien sich dem Ende zu neigen, da nun im Treppenhaus reger Trubel herrschte. Die Schüler rannten von oben nach unten, von links nach rechts, Zauberstäbe in der Hand oder Bücher auf dem Rücken. Jeder machte einen weiten Bogen um Evelyn aus Angst unschöne Tinte auf Hab und Gut zu bekommen, was Evelyn nur recht war: sie kam so ziemlich gut durch die Menge. Soweit zu gehen Peeves dafür zu danken, würde sie jedoch nicht.
 

Zu ihrer Verwunderung, und auch ein wenig zu ihrer Enttäuschung, hatte sie niemand aufgehalten oder Hilfe angeboten. Lehrer sah sie keine und so musste sie so, wie sie war die Treppen des Nord-Turms besteigen, bis sie bekannte Gesichter entdeckte.
 

"Wie siehst du denn aus?", fragte Blaise, während er einige Schritte Abstand nahm. Draco rümpfte angewidert die Nase, sodass Evelyn nur verständnislos den Kopf schüttelte.
 

"Das ist nur Tinte", sagte sie und streckte ihren durchtränkten Arm Draco entgegen, der eilig nach hinten ging und gegen Goyle stieß. Auch die Mädchen hielten Abstand.
 

"Du sollst Bücher lesen, nicht in ihnen baden."
 

"Danke, Daphne, für diesen wertvollen Tipp." Evelyn hatte große Lust sich zu schütteln und damit die noch nicht fest getrocknete Tine ein wenig in ihrem Umfeld zu verteilen, der folgende Ärger wäre es jedoch nicht wert gewesen. Stattdessen versuchte sie Hilfe zu bekommen und fragte in versöhnlicherem Ton: "Beherrscht einer schon einen Scourgify, oder sowas?"
 

Stille war die Antwort.
 

Evelyn seufzte resigniert. "Dacht ich mir."
 

Auf der Wendeltreppe, die sich noch weiter hinauf schraubte, warteten noch einige Hufflepuff. Sie entdeckte auch Megan Jones unter ihnen, die ihre blonden Haare wie gestern zu Zöpfen gebunden hatte. Statt dem freundlichen Lächeln, mit dem sie Evelyn im Zug noch versucht hatte ins Gespräch zu integrieren, warf sie ihr nun missbilligende Blicke entgegen. Evelyn machte sich nicht die Mühe ihre Reisebekanntschaft zu grüßen, da sie keine Erwiderung erwartete.
 

Die Zeit verging und Evelyn begann zu frösteln. Wo sie standen, auf einem kleinen Vorsprung in mitten des sonst hohlen Turmes, pfiff die Luft hindurch und obwohl der Wind die Hitze des Tages mit sich trug, fühlte es sich unangenehm auf Evelyn Haut an. Die Tinte war inzwischen zu einem klebrigen Film angetrocknet, den sie nun ungeduldig begann abzukratzen und Strähne für Strähne aus ihren Haaren zu ziehen. Ihre Fingernägel sahen aus, als hätte sie sie in schwarzen Nagellack getunkt.
 

"Wie lange müssen wir denn noch warten?", frage Crabbe, der direkt vor der Tür stand und versuchte durch das gusseiserne Schlüsselloch zu schauen.
 

"Das dauert wirklich lange."
 

"Vielleicht ist Professor Quirrell noch gar nicht da?", warf Millicent ein. Evelyn erwartete nicht, dass der gute Quirinius bereits am ersten Tag versuchte an Fluffy vorbei zu kommen, und doch kam es ihr ebenfalls seltsam vor, dass sie noch immer hier draußen standen.
 

"Der hat sicher Angst vor uns", sagte Goyle und ballte gefährlich die Faust.
 

Na, das glaube ich eher nicht, dachte Evelyn mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
 

Unwillig sich noch länger hier draußen aufzuhalten, schob sie sich an Goyle vorbei und prüfte, ob die Tür auch wirklich abgesperrt war. Sie konnte gar nicht sagen wie oft sie vor unverschlossenen Türen gestanden und gewartet hatte, nur weil der erste vor Ort nicht nachgeschaut und die nachfolgenden Schüler sich wie Schafe dem Warten anschlossen hatten. Die Klinge ließ sich jedoch nicht einmal bewegen, geschweige denn die Tür.
 

"Glaubst du wir sind dumm, Harris?", warf ihr Daphne empört entgegen.
 

Evelyn hob die geschwärzten Hände. "Ich wollte nur sicher gehen. Kein Grund eingeschnappt zu sein, Greengrass", gab sie in freundlichem Ton zurück, blieb Daphnes Frage jedoch eine Antwort schuldig.
 

"Habt ihr geklopft?", rief ein Junge mit wilden Locken und Sommersprossen.
 

Niemand erwiderte etwas, sondern starrte die Gruppe Hufflepuff nur missgelaunt an.
 

Nichts von dieser Zurschaustellung von Antipathie brachte sie einen Schritt weiter, also versuchte sie stattdessen die anderen dazu zu bewegen weiter nachzudenken.
 

"Wenn Professor Quirrell uns die Tür nicht öffnet, dann müssen wir das tun, richtig?" Ihre Frage schien kaum einer für wichtig zu halten, also fuhr sie fort; und zwar so, dass auch die Hufflepuff mithören konnten. "Kommt schon, das ist Hogwarts! Hier ist nichts normal."
 

Der Junge mit den Locken nickte. "Ich habe gehört hier soll es Treppen geben, die ab und zu verschwinden."
 

Eher nur eine Stufe, aber danke für deinen Einsatz, unbekannter Hufflepuff.
 

"Ja, und in manchen Zimmern steht das Wasser bis zur Decke ohne hinauszulaufen."
 

Warum nicht? Gibt's bestimmt irgendwo.
 

"Angeblich soll es eine Fließe geben, die verschwindet, sobald man sie betritt. Man fällt dann für alle Ewigkeiten durch die Finsternis."
 

Woah, nein.
 

Mehrere Augenpaare drehten sich verwundert zu Megan um, die die letzte Vermutung ausgesprochen hatte.
 

"Wirklich?", fragte Millicent, die weiß wie ein Laken wurde.
 

"Nein", sagte Evelyn streng und wiederholte ihre eigenen Gedanken. "Nichts in Hogwarts ist tödlich." Bis auf den dreiköpfigen Hund, der Todesschlinge und dem Troll. Oder dem Wald hinter dem Schloss. Oder bis auf den schlafenden Basilisk im Keller. Oder die Gefahr wilder Zaubersprüche, vor denen uns McGonagall gerade erst gewarnt hat. "Fast nichts."
 

Millicent schluckte schwer und senkte den Blick, was Pansy dazu brachte energisch den Kopf zu schütteln. "Mythen und Legenden. Wir wollen nicht die Kammer des Schreckens öffnen, sondern nur die Tür hier, Merlin nochmal."
 

Die Hufflepuff drehten sich verärgert ab, doch ihre eigene kleine Gruppe gab Pansy stumm nickend recht. Evelyn hingegen starrte Pansy an, als hätte sie soeben Voldemorts Namen persönlich ausgesprochen.
 

Sie hatte erwartet, dass die Kammer des Schreckens ein gut gehütetes Geheimnis war wenn man bedachte, wie wenig die Schüler davon wissen würden. Zu hören, dass einige zumindest eine Ahnung von der Kammer hatten, diese jedoch als Scherz abtaten, war mehr als verblüffend.
 

"Vielleicht sollten wir die Tür kitzeln?"
 

Goyles Vorschlag durchschnitt die kurze Stille und stieß auf wenig Begeisterung.
 

"Tse, klar, mach weiter. Du bringst sie mit deinem Gerede vermutlich gleich auch so zum Lachen", sagte Draco mit verächtlichem Schnauben. Daphne lachte Goyle offen aus und auch die Hufflepuff steckten grinsend die Köpfe zusammen. Draco trieb seinen Spaß jedoch weiter, wendete sich zur Tür.
 

"Wie wäre es stattdessen, wenn die Tür zum Weinen bringen." Aus seinem Ärmel erschien ein schlichter Stab aus rötlichem Holz, den Draco sofort auf die Tür richtete. "Glaubt ihr, eine Tür kann auch Furunkel bekommen?" Mit jedem seiner Worte wurde er von Crabbe klatschend angefeuert.
 

Evelyn konnte nicht anders als ihm augenrollend den Rücken zuzudrehen. Wirklich? Du würdest den Furnunculus auf eine Tür feuern, bevor du es mit dem Alohomora versuchen würdest?
 

Ihre Finger schlossen sich um ihren eigenen Stab, der in einer Innentasche ihres Mantels verborgen war.
 

"Die Idee einer Tür Furunkel zu verpassen ist ja auch so viel besser, als sie zu kitzeln", erwiderte Evelyn leise, doch Millicent hatte sie gehört und begann zu kichern.
 

Erneut verfluchte sie Peeves, dem sie es zu verdanken hatte, dass sie nun mit angespanntem Nervenkostüm und geplagt von juckender Tinte im Nord-Turm der Schule stand. Früher, wenn der Lehrer nach einer viertel Stunde nicht erschienen war, war sie mit dem Rest der Schüler einfach gegangen. Zu gerne hätte sie an diesem Punkt kehrt gemacht, sich in den Gemeinschaftsraum zurück gezogen und das widerliche Zeugs von ihrem Körper geschruppt. Vor allem wenn sie daran dachte, dass sie auf einen Unterricht wartete, der zur Hälfte von Voldemort abgehalten werden würde.
 

"Hör auf, Malfoy", schaltete sich ein kleiner Junge mit karamellfarbender Haut ein, der bisher stumm neben Megan gestanden hatte, nun jedoch vortrat. Crabbe schob sich an ihr vorbei und rümpfe seine Nase in Richtung des Jungen.
 

Auch Draco widmete sich ihm. "Wieso plötzlich so mutig, Rivers? Stell dich lieber wieder hinten an."
 

Rivers? Wer?
 

"Und es dir überlassen uns in den Unterricht zu bringen? Schlechte Idee."
 

Megan und die restlichen Hufflepuff waren verdächtig still, Pansy und die anderen wollten den verbalen Angriff jedoch nicht einfach so stehen lassen.
 

"Ich habe bisher keine Idee von dir gehört, oder?", meinte Pansy, die Hände verschränkt.
 

Der Junge mit Nachnamen Rivers deutete auf Goyle. "Aber die Tür zu kitzeln war gedanklich wertvoll?"
 

Auf seine Worte hin ballte Goyle die Hände zur Faust, sodass Evelyn sogar seine Finger knacken hörte. Millicent trat eilig neben Goyle und legte ihm die Hand auf den Arm, ehe sie sich gänzlich einmischte.
 

"Hört auf, alle. Ich kitzel jetzt diese dämliche Tür, dann können wir uns immer noch etwas überlegen."
 

Sich die Hände reibend ging sie an Goyle vorbei, der sie um mehr als einen Kopf überragte, und stellte sich neben Draco, der nur erwartungsvoll grinste. Er machte eine einladende Geste Richtung Tür und forderte Millicent auf mit ihrer "Kitzel-Attacke" zu beginnen.
 

Millicent zögerte. Unschlüssig, wo sie nun beginnen sollte, hob sie die Hände vor sich und betastete das Material unter ihr.
 

"Du sollst sie kitzeln, nicht streicheln", blaffte sie Draco, sodass sie zusammenzuckte. Schließlich setzte sie am Rahmen an und bewegte ihre Finger von dort aus weiter hinein in die Mitte. Nichts geschah.
 

"So, habt ihr ge-"
 

Kaum, dass Daphne angefangen hatte zu sprechen, erzitterte die Tür unter Millicents Händen. Angespornt durch die Reaktion, fuhr Millicent nun mit mehr Begeisterung fort. Das Holz begann zu rattern, bis es schließlich in dessen Scharnieren auf und ab hüpfte. Millicent hatte sichtlich Spaß daran und hörte nicht auf, selbst als das Rattern zu einem Donnern wurde. Draco trat einen Schritt zurück. In seinem Gesicht spiegelte sich Furcht wider, vermutlich davor, dass die Tür jeden Moment explodieren könnte. Auch die anderen schauten in gebührendem Abstand fasziniert zu.
 

Plötzlich war es vorbei. Millicent versuchte die Reaktion der Tür erneut hervorzurufen, doch dieses Mal, blieb es stumm; die Tür war noch immer verschlossen.
 

"Bei Merlin", rief Draco ehrfürchtig und trat noch ein Stück weiter zurück.
 

Nun sah es auch Evelyn. Die Tür schwebte einige Finger breit über dem Boden, soweit, dass sie aus ihren Scharnieren gehoben wurde. Millicent tippte das schwebende Holz an, sodass die Tür umkippte, bis sie mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden aufschlug wo sie eine Wolke Staub und Flusen aufwirbelte, die ihnen die Sicht nahm.
 

"S-se-sehr gn-g-gut, Erstklässler", sagte eine Stimme im Innern. Als der Staub sich verzog war eine blasse Gestalt mit dick gewickeltem Turban im Türrahmen zu sehen. Die Tür selbst, war verschwunden. Neugierig rückten die Hufflepuff nach vorne und starrten nun wie auch die Gruppe um Draco den schüchternen und überfordert wirkenden Lehrer an. "Willko-ko-willkommen zng-zu Eurer e-ersten Schn-schtu-Stunde Verteidigung."

Kapitel 25 - Die ersten Knospen im Sommer

Kaum, dass sie den Raum, vorbei an dem grinsenden Quirrell, betreten hatten, wehte ihnen der beißende Gestank von Knoblauch entgegen. Millicent war nicht die einzige, die ihre Nase mit beiden Händen bedeckte und auch Evelyn, die eigentlich kein Problem mit Knoblaucharoma hatte, empfand den Geruch als störend.
 

Das Zimmer war eine riesige Halbkugel, an deren einen Seite jede Menge Fenster zum Lüften gewesen wären, doch den dichten Spinnenweben nach zu urteilen die die Gläser bedeckten, waren sie schon lange nicht geöffnet wurden. Kein Wunder, dass der Knoblauch in diesem Raum, voll mit abgestandener Luft, sich bereits zu Sulfur entwickelte, der nach nur wenigen Minuten in der Kehle zu kratzen begann. Irgendwo unter dem dichten Gewächs von Knoblauchknollen hing auch ein Kronleuchter, der schwaches Licht spendete.
 

"Hier riecht es ja wie im Hinterhof des Tropfenden Kessels", flüsterte Draco, der sich mit angewidertem Gesicht einen Platz aussuchte. Dabei fasste er so wenig wie möglich an, so als habe er Angst der Raum und dessen Einrichtung könnte kontaminiert sein. Evelyn sah ihn nur schweigend an, obwohl ihr bereits der Protest gegen Dracos Bemerkung zum Geruch des Tropfenden Kessels auf der Zunge lag. Schließlich fand einer nach dem anderen einen Sitzplatz, sodass sich auch Evelyn niederließ. Ihr Blick fiel dabei direkt auf die Empore im hinteren Teil des Raumes, an deren Treppe dutzende Ketten befestigt waren, die gespickt waren mit kleinen Totems und Kreuzen.
 

"I-Ihr habt eng-eure eng-erste Lektion gn-g-gelernt, Erstklässler. Glückwunsch", sagte Quirrell und klatschte seine Hände zusammen, während er sich vor ihnen aufstellte. Seine Finger fanden jedoch schnell die Falten seines Umhanges, die er nun nervös zu kneten begann. Immer wieder entglitt dem Professor seine Miene und er schluckte zusehends oft und schwer.
 

Evelyn legte ihr Kinn in die Hand, die sie auf ihrem Tisch auf ihren Ellenbogen gestützt hatte und beobachtete jede Geste dieses armen, bemitleidenswerten Mannes; eine Rolle, die Quirrell nahezu perfekt spielte. Niemand, der es nicht wusste, würde etwas anderes hinter seiner Unsicherheit vermuten, als ein schwacher Geist, der mit sich und der Welt überfordert war.
 

"W-wie Ihr gn-g-gesehen habt, i-ist es oft kn-k-klüger, sich zu vn-verstecken, als ..."
 

Oh je.
 

Bereits nach den ersten Worten hatte sie eine Vermutung, was er ihnen mit seiner ersten Ansprache vermitteln wollte. Tatsächlich fuhr er fort darüber zu philosophieren, dass es besser sei Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, dass man nicht kämpfen muss. Schlichtweg, dass man überlebte, wenn man sich hinter einer Tür versteckte. Für Evelyns Geschmack war dies ein äußerst heuchlerischer Start in einen Unterricht, der sich Verteidigung schimpfte. Vor allem wenn man berücksichtigte, mit wem sich Quirrell just in diesem Moment einen Körper teilte.
 

Der Parasit auf deinem Hinterkopf hätte die Tür mit einem Bombarda schneller eingerissen, als ich "kitzeln" aussprechen könnte.
 

Augenrollend lehnte sie sich zurück in ihren hölzernen Stuhl und verlor sich in der Fantasy eines Lord Voldemorts, der verzweifelt eine widerspenstige Tür kitzelte, sodass sie kaum mitbekam, was der erzählte, der den echten Teil des dunklen Zauberers in sich trug.
 

Mit jeder weiteren Minute, in der Quirrell eine Lüge nach der anderen erzählte, strickte Evelyn ihre zugegeben respektlose Fantasy weiter, bis ein kriechender Lucius die Szene betrat um seinem Herrn zu helfen durch die Tür zu kommen, bis sie schließlich beide aufgaben; jedoch nicht ohne eine Nachricht auf die Tür zu kritzeln um die Anwohner wissen zu lassen, "Voldemort war hier".
 

Als sie aus ihren Träumereien mit einem leisen Gluckser zurückkehrte und Quirrell fixierte, überkam sie das schlechte Gewissen. Es war unpassend derart lächerlich von demjenigen zu denken, der dieses Land in Angst und Schrecken versetzt hatte und es in wenigen Jahren erneut terrorisieren würde, bis er gestoppt werden würde. Jedoch nicht ohne hunderte Menschen mit in den Tod zu reißen. Nun war er keine Figur aus Tinte und Buchstaben mehr, der man zum eigenen Vergnügen unsinnige Dinge andichten konnte, sondern eine reale Bedrohung, auch für Evelyn.
 

Anders als McGonagall, die während ihrer Ansprache durch die Reihen der Schüler geschritten war, bevorzugte es Quirrell sich in gebührendem Abstand vor ihnen aufzuhalten, so als sei er an Ort und Stelle mit den Ranken seines Knoblauches verwachsen, die ihm bereits bis an den Turban reichten.
 

Kaum, dass Evelyn an den Turban dachte, wendete sie sich ab und kniff die Augen zusammen. Alles an diesem Mann erinnerte sie an das, was er verbarg und je länger sie darüber nachdachte, je länger sie hier auf engstem Raum mit ihm war, kaum ein paar Schritte von ihm entfernt, desto schlechter wurde ihr. In diesem Moment, in dem Quirrell gerade erzählte, wie sie in diesem Jahr lernen würden einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, wurde ihr klar was es hieß still sein zu müssen. Zuzusehen, wie all die Ahnungslosen um sie herum in ihr mehr oder weniger verfluchtes Schicksal liefen.
 

Abwesend begann sie an ihrer Lippe zu kauen.
 

In der Theorie war ihr das bereits bewusst gewesen, spätestens auch seit sie McGonagall in Ollivanders Geschäft kennengelernt hatte. Es nun jedoch derart vor sich zu sehen, war etwas völlig anderes.
 

Sie entschied, dass Humor und Sarkasmus der beste, wenn nicht gar der einzige Weg waren, diesen Unterricht und vermutlich auch andere ähnliche Situationen in der Zukunft zu überstehen. Und wenn es bedeutete sich Voldemort sprichwörtlich in Unterhosen vorzustellen.
 

Nein, Unterhosen sind vielleicht doch ein wenig zu traumatisierend...
 

Diese Vorstellung würde wohl das genaue Gegenteil in Evelyn bewirken, nämlich dass sie schreiend den Raum verlassen würde, anstatt hier ruhig auf ihrem Platz zu bleiben.
 

Der Geschmack nach Kupfer breitete sich in ihrem Mund aus, während warmes Blut aus einer aufgekauten Wunde an der Lippe sich mit ihrem Speichel vermischte. Trotz des leicht pochenden Schmerzes knabberte sie weiter und vergrößerte völlig in sich gekehrt die Wunde.
 

Humor und Sarkasmus als Mittel gegen schwerwiegende philosophische Fragen ... Andererseits, gab es überhaupt einen richtigen Weg über jemanden wie Voldemort nachzudenken? Vermutlich gab es den nicht, oder zumindest wollte Evelyn nichts Besseres einfallen. In diesem Augenblick, mit noch geringer Gefahr, erschien die Lösung plausibel, ob sie sich jedoch in wenigen Jahren noch traute auch nur in Gedanken lächerliche bis respektlose Geschichten zu erfinden, würde sich zeigen.
 

Quirrells Stunde zog sich dahin und am Ende waren sie sich in einem sicher: dieser Unterricht würde kaum interessanter werden, als er sich heute gezeigt hat. Die Annahme ihres Lehrers "Flucht sei die beste Verteidigung", machte wenig Hoffnung auf praktische Zauber und Übungen jeder Art. Da er nur starr vor ihnen stand und seinen auswendig gelernten Text nur mühsam vortrug, ermüdete Evelyn mit jeder Minuten mehr. Selbst die störende Tinte war irgendwann nicht mehr genug um sie abzulenken, da sie das Gröbste erfolgreich von ihrer Haut gekratzt hatte. Hinzu kam die Aussicht in wenigen Stunden den ersten Astronomieunterricht absolvieren zu müssen. Etwas, worauf sie gerne wenigstens heute verzichtet hätte.
 

Sie versuchte den Kopf hochzuhalten, immerhin war es nicht irgendein Unterricht, sondern magischer Unterricht; der jedoch weitaus interessanter gewesen wäre, wenn sie die Zauberstäbe irgendwann auch benutzt hätten.
 

Die ersten Tage wurden zur Eingewöhnung genutzt, sagte sie sich. Namen mussten gelernt, Regeln festgesetzt werden, da unterschied sich Hogwarts von keiner anderen Schule.
 

Plötzlich wurde es um sie herum unruhig. Eilig griffen alle nach ihren Taschen und erhoben sich unter leisem Gemurmel. Erst jetzt bemerkte sie, dass das Ende der Stunde erreicht war.
 

"S-sss-Slytherins, b-bitte bm-bleibt noch ai-a-einen Moment hier", rief Quirrells Stimme über den lauter werdenden Tumult der flüchtenden Schüler hinweg. Evelyn sah sich schon selbst unter der lang ersehnten Dusche stehen und war wenig angetan nun noch zu warten, was Quirrell zu sagen hatte. Auch die anderen, obwohl die nicht zusätzlich mit Tintenresten übergossen waren, trotteten eher widerwillig zurück in Richtung des wartenden Professors.
 

"Hallo, gn-guten Tag", begann er mit nervösem Zucken um den Mund. Keiner erwiderte den seltsamen Gruß, sodass Quirrell mit einem kurzen Räuspern weitersprach. "E-ssss fn-f-freut mich s-sn-so namhafte Erben u-ung- unterrichten zu dürfen", sagte er mit einem Blick auf den jungen Malfoy, der sofort seine Brust anschwellen ließ. Evelyn hob nur irritiert ihre Augenbrauen.
 

Was soll das werden?
 

Noch schockierter stellte sie fest, dass Quirrell ihnen näher kam, bis der unangenehme Geruch nach Knoblauch, der sowieso schon an ihren eigenen Kleidern zu haften schien, sich verstärkte. Quirrell stank regelrecht danach.
 

"Ich hng-hn-hoffe, wie w-werden gut miteinander ah-a-auskommen. Wenn Ihr rm-reden w-wollt, dann sch-st-steht meine Tür immer offen."
 

Während Evelyn seinen Worten folgte, wäre ihr beinahe der Mund aufgeklappt. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass Schüler, so ahnungslos sie auch waren, es bevorzugen würden ausgerechnet die Knoblauchhöhle ihres Verteidigungsprofessors zu betreten und mit dem einzigen Menschen in Hogwarts zu reden, der genau damit Probleme hatte. Ein flüchtiger Blick in die Gesichter der umstehenden Slytherin gab ihr recht. Trotzdem nickten sie, da die Höflichkeit es ihnen vorschrieb und in der Hoffnung, das Gespräch sei damit endlich beendet.
 

Leider nein. Quirrell widmete jedem ein unsicheres Grinsen, bis er bei Evelyn stockte. "W-wie sehen Sie dn-denn aus. I-ist das T-Ttit-Tit-"
 

"Tinte", unterbrach ihn Evelyn aus Angst, er könnte ein falsches Wort sagen. "Tinte, Sir", setzte sie nach, so widerwillig ihr das Wort auch über die Lippen kommen wollte.
 

"W-wie w-war Ihr Name?", sagte er, wobei er hilfesuchend nach einem Anzeichen an Evelyn suchte, das sie einer Familie zuordnen würde.
 

"Evelyn Harris, Sir."
 

Quirrell verzog seinen Mund zu einem schmalen Lächeln und legte seine Hände eng an die Brust. "I-ist mir kn-kk-kein Begriff", meinte er schlicht mit wenig Elan in der Stimme.
 

Die Gruppe Schüler warf Evelyn einen undurchsichtigen Blick zu, als könnten sie Quirrells Unwissenheit verstehen. Ihre Reputation, oder was andere über sie dachten, war ihr so ziemlich egal, doch ein wenig erleichtert war sie schon durch ihre vermeintlich minderwertige Abstammung ein uninteressantes Ziel für Quirrell und damit für Voldemort zu sein.
 

Sie konnte sich kaum vorstellen, dass ihr stotternder Professor auch die anderen Schüler anderer Häuser so freigiebig eingeladen hatte mit ihm zu reden, wann immer es ihnen danach war. Dieses Angebot galt mit Sicherheit nur dem in Voldemorts Augen "würdigem" Haus Slytherin.
 

"Oh, i-ich halte Euch auf", sagte er an die anderen gewandt und wedelte mit seinen dürren Händen vor ihren Gesichtern. "H-huu-husch, husch, Ihr habt sn-sicher Hausaufgaben zu mn-mh-machen." Quirrell warf ihnen einen letzten leicht irritierenden Blick zu, ehe er sich auf den Fersen umdrehte und in kurzen Schritten die hintere Empore bestieg. Schließlich, als er in seinem Büro verschwand, dessen Tür er mit erstaunlicher Härte zuschlug, standen sie allein. Allen war das Gespräch unangenehm gewesen und in ihren stummen Gesichtern spiegelte sich Verwirrung wider.
 

Wenn es nach Evelyn ging, so hatte sie genug Zeit in dieser vernebelten Hölle verbracht und sie wollte endlich zurück in den Gemeinschaftsraum. Bevor die anderen sich rührten, war sie bereits so gut wie aus der Tür.
 


 

Die frische, leicht erdige Luft in den Gängen fühlte sich in ihren Lungen wie Wasser in der Kehle eines Verdurstenden an. Noch einige Zeit hing ihr der schwere Sulfur Geruch in der Nase, doch je weiter sie das Schloss hinabstieg und den Kerkern näher kam, desto freier konnte sie atmen.
 

Für die meisten war der Unterricht für heute vorbei, sodass es den größten Andrang vor und in der Großen Halle gab, wo bereits mehrere Gruppen Schüler an ihren Hausaufgaben saßen, oder sich einfach bei leckeren Schnittchen die Zeit vertrieben. Nichts dergleichen schwebte Evelyn vor. Sie konnte es kaum erwarten sich endlich zurück zu ziehen und Peeves nettes Willkommensgeschenk abzuwaschen.
 

Hinzu kam noch die mittlere Katastrophe, die sich momentan in ihren Händen befand. Der Anteil an Tinte, der über Geschichte Hogwarts' gelaufen war, hatte sich inzwischen in die Seiten gefressen und war ohne Zweifel ebenfalls getrocknet. An lesen war vorerst nicht zu denken, es galt den Schaden zu beheben, oder mal wieder zu improvisieren.
 

Ihr erster weg war die Dusche, denn vorher musste sie sich um ihre verklebten Haare kümmern, wobei sie sogar befürchtete, das intensive Waschen würde die Färbung schneller als geplant verblassen lassen. Es gab noch so viele Dinge, an die sie denken musste, wie zum Beispiel einen Zauber, der die Färbung länger heben lassen würde. So etwas musste es doch geben, oder? Hinzu auf ihre Zu-lernen-Liste kam nun auch noch ein Scrourgify, in dem sie ihre einzige Chance sah das Buch vor Abgabefrist zu retten.
 

Mit schmerzhafter Brust besah sie sich des Buches, als sie endlich nach der Dusche im Mädchenschlafsaal ankam. Ein großer Teil der Seiten waren inzwischen wie bereits vermutet stark verklebt und Evelyn befürchtete, die dünnen Pergamente würden einreißen, falls sie versuchte, sie voneinander zu trennen. Auch der Ledereinband hatte etwas abbekommen. Ein Teil war am Buchrücken zwischen die Schnürung gesickert und war ins Leder gezogen, sodass er nun hässliche Flecken und dunkle Ränder hatte. Selbst die Seiten, die nicht getroffen worden waren, zeigten Spuren ausgelaufener Tinte, sodass das Innere nun beinahe einem Rorschach-Test ähnelte.
 

Sie legte das Buch beiseite, indem sie es in eine der noch leeren Schubladen der kleinen Kommode neben ihrem Bett legte. Aus dem Auge, war definitiv nicht aus dem Sinn, doch bevor sie den Schaden nicht reparieren könnte, würde sie den Anblick des zerstörten Buches nicht ertragen.
 

Stattdessen versuchte sie sich mit Hausaufgaben und zog sie ihre heutige Schullektüre zur Hand um den von Professor McGonagall geforderten Aufsatz vorzuformulieren. Es war angenehm im Mädchenschlafsaal zu arbeiten, solange sie, wie jetzt, alleine war. Theorie der Magie neben sich und ein Stück Pergament auf ihrem Schoß ausgebreitet, saß sie im Schneidersitzt auf ihrem Bett und arbeitete an ihren ersten Hausaufgaben für Hogwarts. Trotz der unschönen Begegnung mit Peeves, die ihre positiven Emotionen ein wenig gedämpft hatte, bereitete ihr das Bearbeiten von Verwandlungstheorie durchaus Freude.
 

Davor tatsächlich irgendwann etwas verwandeln zu müssen, hatte sie großen Respekt, vor allem wenn sie sich die Liste all der Dinge ansah, die dabei schief gehen konnten. Ohne es jemals versucht zu haben bezweifelte sie, dass sie in Professor McGonagalls Unterricht zu ihren Spitzenschülern gehören würde; vermutlich nicht einmal ins Mittelfeld. Bereits kleine Zauber wie Accio oder Reparo bereiteten ihr große Probleme und sie schaffte sie nur unter höchster Konzentration. Sie machte sich keine Illusionen in irgendeinem praxisorientierten Unterricht wirklich gut zu sein, dennoch freute sie sich natürlich darauf.
 

Ironischerweise hatte sie gehofft, die Beschreibung von Professor Binns Lehrmethoden seien ein wenig überzogen, denn sein Unterricht gehörte zu der Kategorie in der sie gehofft hatte, guten Noten für ihr irgendwann anstehendes Zeugnis zu sammeln. Nach der heutigen Stunde, in der ihr nur allzu schmerhaft bewusst geworden war, dass jede Vorstellung und jedes Gerücht über Professor Binns der Wahrheit entsprach, musste sie wohl auch dieses Fach abschreiben.
 

Blieben Fächer wie Kräuterkunde, Astronomie und, so unglaublich es war, Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Quirrell hatte es mehr als deutlich gemacht, dass er in seinem Unterricht die Kunst des Versteckens und des Weglaufens lehren würde. Ihnen stand ein trockener Lehrplan bevor, der Evelyn eigentlich nur recht sein konnte.
 

Blieb nur noch Zaubertränke. Im Grunde traute sie sich das Fach zu und glaubte besser damit umgehen zu können, als beispielweise mit Zauberkunst. Vor allem wenn sie daran dachte, wie sie das bereits mit ihren selbstgebrauten Elixieren unter Beweis gestellt hatte. Allerdings gab es einen gewissen Lehrer, den sie einfach nicht einschätzen konnte und die Bücher, die leider fast gänzlich aus Harrys voreingenommener Sicht geschrieben waren, waren in der Hinsicht nicht gerade vertrauenswürdig, was seine Kompetenz als Lehrer oder faire Benotung anging.
 

Zwar gehörte sie zu "seinem Haus", doch der Slytherinbonus würde wohl kaum genügen die Fehltritte wett zu machen, die sie seit der ersten Minuten zum Teil unfreiwillig veranstaltet hatte.
 

"Hier bist du", rief ihr eine aufgeregte Millicent entgegen, die die Tür hineingeplatzt kam. Evelyn fuhr erschrocken zusammen und hätte beinahe den zweiten Tintenunfall des Tages verursacht, als ihr Tintenfässchen bedrohlich auf dem Bett zu schwanken begann, bevor sie es mit schnellem Griff fest hob.
 

"Ist was passiert?", fragte sie mit klopfenden Herzen, wobei sie versuchte sich zu erinnern, ob in den ersten Tagen etwas Schlimmes geschehen würde.
 

Millicent, die alleine gekommen war, legte jedoch den Kopf schief und blinzelte Evelyn verwundert an. "Passiert? Nein, wie kommst du darauf?"
 

Weil du schreiend ins Zimmer reingeplatzt kommst?
 

Erleichtert atmete Evelyn aus und räumte ihre Hausaufgaben zusammen. Millicent stellte sich daneben und schaute ihr eine Weile zu, ehe sie weiter sprach.
 

"Machst du etwa jetzt schon Hausaufgaben?"
 

"Wieso denn nicht?", erwiderte Evelyn mit einem Schmunzeln als sie sah, wie Millicent regelrecht angewidert das Gesicht verzog.
 

"Wir haben kaum die erste freie Minute heute, und du arbeitest schon wieder." Zu Evelyn Erstaunen schmiss sich Millicent auf das Bett – auf ihr Bett – nachdem Evelyn ihre Hausaufgaben in Sicherheit gebracht hatte.
 

"Wir hatten Mittagspause", sagte Evelyn nüchtern und hob die Hand, um auf Millicent zu deuten. "Eigentlich ist das mein Be-"
 

"Eine Mittagspause, in der wir nur schnell unser Essen hineinstopfen mussten, bevor wir auch schon weiter mussten. All die Stufen hoch in den Nord-Turm. Mit vollem Magen." Entsetzt sah Evelyn nun, wie sich Millicent austreckte und sich auf den Rücken rollte, alle Viere von sich gestreckt, wie eine Katze. Irritiert von dieser plötzlichen Nähe lehnte sie sich weit nach hinten. "Selbst zum Mädchenschlafsaal kommt man nur über Stufen", fuhr Millicent fort.
 

Stichwort. "Stufen, die wir wieder hoch sollten, es gibt bald Abendessen und die anderen warten sicher auf dich." Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen rutschte sie von der Matratze in der Hoffnung Millicent würde ihr folgen. Die starrte jedoch weiter auf dem Rücken liegend an die Decke des Bettes.
 

"Urgh, nicht schon wieder bewegen. Das ganze Gerenne macht mich fertig." Millicent wirkte erschöpft. Aus ihrer Gruppe war sie die Fülligste und Evelyn konnte nur erahnen wie es ihr ergehen musste, all die Stufen rauf und runter zu müssen, ständig angetrieben von einem striktem Stundenplan und den warnenden Worten ihres Hauslehrers nie zu spät zu kommen. In dem Moment, in dem sie Millicent so ausgelaugt auf ihrer Matratze liegen sah, bekam sie plötzlich Mitleid.
 

"Stell die vor zu wärst Filch. Dann müsstest du auch noch nachts in den Gängen rumwuseln und das Schloss auf und ab gehen."
 

Sie hatte gehofft Millicent damit ein wenig zu erheitern, doch die stimmte nicht in Evelyn verhaltenem Lächeln ein. Stattdessen hob sie nur fragend den Kopf.
 

"Wer ist Filch?"
 

"Na, der Hausmeister. Der Alte, Dünne?"
 

"Ach, der mit der süßen Katze." Süß, ja. "Der ist Hausmeister?"
 

Ein trockenes Lachen entfloh ihr, als sie in Millicents verblüffte graue Augen sah. "Was hast du denn gedacht, wer er ist?"
 

Endlich rappelte sich Millicent auf. "Keine Ahnung, nichts, habe ich gedacht." Ihr Blick fiel auf Evelyns Kommode und die Hausaugaben, die darauf abgestellt waren. "Ich habe gesehen, wie du Notizen gemacht hast, sogar bei dem ollen Geist Professor Binns." Ihr Ton, der gerade noch quirlig und laut war, hatte sich plötzlich zu einem melancholischen Flüstern verändert.
 

"Notizen kann man das nicht nennen, ich habe kaum aufgepasst."
 

Millicent schüttelte den Kopf. "Ich beneide dich. Du hast keinen Druck und trotzdem sitzt du hier und machst Hausaufgaben. Du wirst bestimmt eine gute Schülerin; und mein größtes Erlebnis wird sein, eine Tür gekitzelt zu haben."
 

Keinen Druck weshalb? Eben noch hatte Evelyn das Gefühl gehabt sich verteidigen zu müssen, wenn ihr auch nicht klar war, wovor. Doch nun blieben ihr die Worte aus, überfordert mit der Situation. So plötzlich Millicents Stimmung umgeschwenkt war, kehrte sie nun auch wieder zu ihrem fröhlichen Wesen zurück. Mit einem Ruck hüpfte sie vom Bett und streckte sich.
 

"Ich schätze Mal die anderen warten wirklich." Sie war praktisch schon aus der Tür, da stand Evelyn noch immer im Mädchenschlafsaal, die Hände gegen die Seiten gepresst.
 

"Was war das gerade?", fragte sie in den Raum hinein, sodass Millicent es noch hören konnte. Sofort erschien ihr Kopf wieder hinter der Tür.
 

"Ich wollte nur sagen, dass du viel weißt", erwiderte Millicent wenig überzeugend.
 

Evelyn senkte die Augen und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, genauso wenig die Worte, die daraufhin folgten. "Ich bitte dich. Nur weil ich den Hausmeister kenne, bin ich noch lange nicht allwissend."

Kapitel 26 - For-ír! Ni hidan mo lám*

Zusammen mit Millicent, die etwas länger für die Treppen benötigte, ging sie zurück nach oben in den gefüllten Gemeinschaftraum. Der Kontrast zum ruhigen Mädchenschlafsaal hätte nicht größer sein können. Es wurde gegrölt, gelacht und sogar getobt, wobei sie das von den fein erzogenen Slytherin kaum erwartet hatte. Jemand schien einen Stapel farbiges Papier so verhext zu haben, dass sie wie Klatscher durch den Raum flogen und dabei eine Gruppe bespaßte, die sich versuchten damit gegenseitig zu treffen. Der meiste Radau kam von diesen wilden älteren Semestlern, die wahrlich ein Vorbild hätten sein sollen.
 

Evelyn fiel jedoch sofort der herrliche Duft nach Kräutern auf, der sich mit dem Rauch des Feuers vermischt hatte. Dieser Duft war neu und war ihr weder gestern, noch heute zu irgendeinem Zeitpunkt aufgefallen.
 

"Hat der Schwarze Peter sich den Teer aus den Ohren gewaschen?", hörte sie eine Stimme durch den Raum rufen. Es war Daphne, die es sich – ausgerechnet – an den Fenstern auf den Kissen bequem gemacht hatte und Pansy unterhielt. Trotz des Lärms war sie nur allzu gut zu hören gewesen, weshalb sich einige nun umwendeten auf der Suche nach demjenigen, dem der Kommentar galt.
 

"Sahst in schwarzen Haaren besser aus", setzte sie nach und spätestens jetzt waren die Blicke der Neugierigen auf Evelyn gerichtet. Evelyn spitzte nur die Lippen und gab Daphne innerlich sogar recht. Blond stand ihr nicht.
 

"Daphne, das ist nicht fair", rief ihr Millicent entgegen, die mit ihrer Einmischung sicherlich nur helfen wollte. Evelyn hingegen musste der Versuchung widerstehen sich die Hand vors Gesicht zu schlagen. Das gibt jetzt nur eine Szene!
 

"Muss Millicent schon für dich sprechen?" Und da ist die Szene.
 

Sie sah sich gezwungen nun doch etwas zu sagen, wobei sie nicht die Absicht hatte quer durch den Raum zu brüllen. Es war bereits verdächtig still geworden, abgesehen von gelegentlichem Gekicher hier und da.
 

"Bleib hier", sagte sie zu Millicent, ehe sie in ruhigen Schritten auf Daphne zu ging, bis sie normal ohne schreien reden konnte. Mit einem flüchtigen Blick zur Seite sah Evelyn, dass Millicent tatsächlich nicht mitgekommen war. "Musst du für die Unterhaltung aller hier sorgen?", sagte sie schließlich zu den beiden, die mittlerweile aufgestanden waren.
 

"Sagt der Clown, der schwarzüberströmt im Unterricht saß." Daphnes Augen glühten vor Wut, sodass Evelyn nur verständnislos den Kopf schüttelte. Es war nicht zu übersehen, dass Daphne eine gewaltige Menge Emotionen in ihrem Magen trug. Weshalb sie die nun jedoch auf Evelyn entlud, war Evelyn ein Rätsel. Ihre ruhige Art, die sie trotz Daphnes Provokationen zeigte, schien Daphne nur noch mehr zu ärgern.
 

"Müssen wir Millicent holen, damit du etwas sagst?", verlangte sie zu wissen.
 

"Nein, ich denke dein Problem ist mit mir, nicht mit Millicent." Konfrontation war ihrer Erfahrung nach in solchen Situationen das Beste. Ansonsten würde ihr Gespräch irgendwann nur noch in Beleidigungen ausarten, was die Sache nur verschlimmerte. Und tatsächlich wirkte Daphne aus dem Tritt gebracht und schnitt Grimassen, unfähig etwas zu formulieren. Pansy schritt ein.
 

"Nimmst dich wohl sehr wichtig, oder?"
 

Evelyn zuckte die Schulter ehe, sie sich an Pansy richtete. "Berechtigte Frage, aber ich glaube Daphne braucht genauso wenig jemanden der für sie spricht, als ich es tue. Stimmts", sagte sie nun wieder an Daphne gerichtet, die ihren Zorn versuchte zu schlucken, "Daphne?"
 

"Ich rede, wann ich will." Pansy trat näher und starrte Evelyn feindselig in die Augen.
 

"Pansy!", spuckte Daphne aus, erwiderte sonst jedoch nichts, weshalb Evelyn erneut das Wort ergriff.
 

"Na, da sind wir ja dann einer Meinung." Nach kurzem Schweigen setzte sie schließlich nach. "Lasst Millicent da raus."
 

Zum Außenseiter gemacht zu werden, das war ihr völlig egal. Im Grunde spielte es ihr sogar zu, sodass sie diese öffentlichen Anfeindungen eher belustigend fand. Doch in diesem Moment hatte sie das Gefühl gehabt sich schützend vor Millicent zu stellen, die gerade eben noch eine weiche Seite vor Evelyn gezeigt hatte und die sich vermutlich Daphnes Worte zu Herzen genommen hätte.
 

"Ach, um dein Sprachrohr geht es also?", sagte Daphne, die ihre Stimme wiedergefunden zu haben schien.
 

Evelyn schloss die Augen, da das Gespräch sich nun im Kreis drehte. "Ich rede schon, wenn ich es von Wert halte."
 

Nach diesen Worten ballte Daphne die Fäuste und hob verächtlich die Mundwinkel. "Rede du nicht davon, mit wem es wert wäre zu reden! Nicht du!"
 

Kaum hatte sie ausgesprochen, eilte sie an Evelyn vorbei, dicht gefolgt von einer nicht weniger wütend blickenden Pansy. Evelyn, die das alles bisher als schlichte Provokation von Daphne abgetan hatte, war nun ehrlich verwirrt darüber, was Daphne – und scheinbar auch Pansy – derart sauer aufstieß.
 

Der dramatische Abgang der zwei Mädchen hatte erneut neugieriger Blicke heraufbeschworen, sodass sich Evelyn beeilte den Gemeinschaftsraum endlich zu verlassen. Wenigstens sind Draco und seine Horde Jungs nicht anwesend gewesen, dachte Evelyn, während sie Richtung Großer Halle lief. Allerdings hatte sie es dabei nicht eilig, denn sie wollte es tunlichst vermeiden Daphne und Pansy einzuholen. Es würde genügen mit ihnen am selben Tisch essen zu müssen; und an die Dicke Luft, die später im Schlafsaal herrschen würde, wollte sie gar nicht denken.
 

"Eve, warte!"
 

Eve?!
 

Mehr als irritiert blieb sie stehen, bevor sie im flackernden Kerzenschein eine Gestalt hinter ihr rennen sah.
 

"Hast du mich gerade Eve genannt?", fragte sie Millicent, die nun schwer atmend neben ihr zum Stehen kam.
 

"Nicht ... gut?"
 

"Nein", erwiderte sie trocken.
 

Millicent, die wohl glaubte Evelyn scherzte, schmunzelte und hob sich mit zusammen-gekniffenen Augen die Seite.
 

"Daphne ist jetzt wohl ... wirklich ... sauer."
 

Evelyn zog es vor zu schweigen während sie darauf wartete, dass Millicent wieder gehen konnte. Trotzdem beschäftigte sie Millicents Worte – und auch Daphnes – mehr, als sie sich eingestehen wollte. Dabei ging es ihr kaum um den Streit, wenn man das so nennen wollte, sondern eher darum, was manche der Worte bedeuten konnten, oder generell was Daphnes Verhalten zu bedeuten hatte.
 

Egal wie jung und reizbar manche ihrer Klassenkameraden auch waren, eine derartige Eskalation und öffentlich zur Schau getragene Abneigung gleich am ersten Tag zu zeigen, war mehr als ungewöhnlich. Die wenigen Stunden, die sie sich nun kannten, reichten kaum aus um jemanden derart gegen sich aufzubringen. Naja, außer man hieß Harry Potter.
 

"Mach dir keine Sorgen", meinte Millicent plötzlich, die Evelyns in sich gekehrte Miene gesehen hatte.
 

"Sorgen? Nein, ich bin nur verwirrt, das ist alles."
 

Millicent nickte verstehend, bot ansonsten aber keine hilfreiche Antwort an.
 

Mit jedem Schritt kamen sie der Großen Halle näher, bis ihnen der köstliche Duft der heutigen Speisen in die Nase drang, der sich bereits auf den Gängen auszubreiten begonnen hatte. Das riesige Tor zu sehen und hineinzugehen in den mit abertausenden Kerzen geschmückten Saal, war noch immer überwältigend und Evelyn erwartete nicht, dass sich das so schnell änderte. Tatsächlich hoffte sie, dass der Tag niemals kommen würde, an dem sie achtlos in die Halle ging und die Szenerie als selbstverständlich hinnahm.
 

Anders als gestern waren die Tische noch nicht voll besetzt und es herrschte auch nicht die zeremonielle Atmosphäre, was dem Glanz der Halle jedoch keinen Abbruch tat.
 

"Wir sollten und vielleicht nicht direkt neben sie setzen", flüsterte Millicent neben ihr und deutete dezent auf Daphne und Pansy, die grimmig bereits Platz genommen hatten. Das "wir" in Millicents Vorschlag gefiel Evelyn gar nicht, genauso wenig die Idee, dass sich Millicent von ihnen distanzierte; ihretwegen.
 

"Nein, außerdem enden wir sowieso wieder in einer Gruppe, wie am Frühstück." Eine Ausrede, die ihr nun ziemlich recht war. Die allgemeine Anspannung würde sie schon ertragen können, Hauptsache Millicent saß bei ihnen, wo sie hingehörte.
 

"Mist", murmelte Millicent zustimmend, die sich an die Sitzordnung am Frühstück zurück erinnerte.
 

Pansy sah sie beiden zuerst, wie sie sich ihnen näherten, und begann bereits zu protestieren, noch bevor Daphne reagieren konnte.
 

"Besetzt!", rief sie, was Millicent zum Stoppen brachte. Evelyn hingegen lief unbeeindruckt weiter und ließ sich nieder.
 

"Wir teilen uns einen Schlafsaal, da werden wir es doch schaffen uns wenigstens beim Essen zu ignorieren?"
 

Daphne sah aus, als dachte sie ernsthaft darüber nach selbst den Platz zu wechseln, als Millicent sich dazu setzte und versuchte die Situation umgehend zu entschärfen.
 

"Hoffentlich gibt's heute Hühnerfrikassee. Oder ein schönes Nierengratin."
 

"Du würdest so etwas essen?", fragte Pansy ehrlich entsetzt und sichtlich angewidert.
 

"Natürlich, ich liebe Hühnerfleisch."
 

"Das hat sie glaube ich nicht gemeint", murmelte Evelyn leise vor sich hin, die nicht umhin kam selbst angewidert die Nase zu rümpfen und zu hoffen, niemals sehen zu müssen, wie Nierengratin aussah.
 

So eklig Millicent Einwurf auch war, er tat seinen Zweck. Sie hatte dafür gesorgt, dass weder Pansy noch Daphne Evelyn verbal attackierten, sondern beließen es dabei sie mit gelegentlichen Blicken zu strafen.
 

Spätestens, nachdem die Gruppe um Draco Malfoy sich zu ihnen gesellte, war Evelyn bei weitem nicht mehr das Interessanteste an ihrem Teil des Tisches.
 

Als schließlich das ersehnte Essen erschien, das glücklicherweise keine Innereien in irgendeiner Form beinhaltete, waren alle zu sehr damit beschäftigt sie die Bäuche vollzustopfen, als zu streiten. Evelyn, die seit dem Frühstück nichts mehr zwischen den Zähnen hatte, war froh sich herzlich bei der riesigen Auswahl an Speisen bedienen zu können.
 

Eine Ansprache oder sonstige Eröffnung von einem der Lehrer gab es nicht, sondern das Essen erschien eher unspektakulär irgendwann einfach griffbereit vor ihnen. Reden, Ansprachen und festlich geschmückte Hallen waren eben nur für besondere Anlässe, wie der Sortierung, vorgesehen. Auch das magische Schloss und seine Bewohner hatten eine Routine, in die man sich nun einfinden musste.
 

Ob Festessen oder nicht, es wurde bis zum Nachtisch alles aufgetischt, was das Herz begehrte; minus irgendwelcher Innereine, verstand sich. Millicent sah jedoch nicht so aus, als würde sie verhungern, was Evelyn mit einem Blick auf den mit Pasteten und Pudding gefüllten Teller schmunzelnd zur Kenntnis nahm.
 

"Astronomie wird sicher ein Reinfall, genauso wie der restliche Tag", verkündete Draco, der eher lustlos an einer Ofenkartoffel knabberte.
 

"Der Unterricht bisher war wirklich furchtbar", gab ihm Zabini recht und auch Pansy nickte eifrig. "Zuerst dieser verkalkte Geist und dann die senile alte Hexe ... Ich frage mich, was die uns beibringen wollen?"
 

"Nicht zu vergessen der stinkende P-p-prpr-Professor Quirrell", hämte Crabbe, sodass alle, außer Evelyn, in Gelächter verfielen. Selbst Millicent amüsierte sich köstlich.
 

"Ich sag doch, diese Schule ist eine Schande", setzte Draco nach. "Und ich wette, Astronomie wird nicht spannender, als an die Decke zu starren."
 

"Wenigstens sind wir an der frischen Luft", meinte nun Daphne. "Ich könnte heute nicht nochmal zwei Stunden in einem Zimmer sitzen, in dem der Knoblauch von der Decke wächst."
 

Alle Anwesenden schüttelten sich bei der Erinnerung an das Zimmer ihres Verteidigungsunterrichts.
 

"Weiß einer, wer der Professor sein wird?", fragte Goyle mit Blick auf den gefüllten Lehrertisch.
 

"Bei dem Niveau der Schule sicherlich dieser Fettsack Hagrid", gab Draco zur Antwort.
 

"Kann der Astronomie?" Goyle, der Dracos Antwort zu ernst genommen hatte, legte den Kopf nun schief.
 

"Als ob es hier um Können ging, oder weshalb ist dieser Hasenfuß Quirrell unser Verteidigungslehrer?"
 

"Der ist mir eher unheimlich", antwortete Millicent und Pansy gab ihr recht.
 

"Mir auch, seine Einladung am Ende der Stunde war ..."
 

"Seltsam?", beendete Zabini ihren Satz.
 

Evelyn, die bisher kaum zugehört hatte, horchte nun auf. Sie hatte gedacht die anderen würden kaum einen Gedanken an Quirrells Angebot zur Privataudienz verschwenden und es einfach ignorieren. Ihre offene Besorgnis zu sehen, war unerwartet und sie kam nicht umhin sie zu beobachten, was jedoch nicht unbemerkt blieb.
 

"Fawley-Spross, du sagst gar nichts? Hast du keine Meinung?", warf ihr Draco nun direkt entgegen.
 

"Lass es, Draco. Die redet nur mit wichtigen Leuten", sagte Pansy, noch ehe Evelyn den Mund aufmachen konnte. Pansy hatte vorher realisiert, wen genau Draco mit Fawley-Spross gemeint hatte.
 

"Wichtige Leute?", harkte Draco nach und wurde sichtbar neugierig, doch niemand sagte ein weiteres Wort, sehr zu Dracos Ärger.
 

Damit war das Essen so gut wie gelaufen und alle waren froh, als die Runde offiziell aufgelöst wurde. Der gesamte Pulk der Slytherin-Schüler ging gemeinsam zurück, sodass es ziemlich eng in den Gängen wurde und auch der Gemeinschaftsraum wurde schnell zu klein, obwohl nicht wenige sofort in den Schlafsälen verschwanden. Auch Evelyn verschwendete kaum einen Gedanken daran hier zu bleiben und machte sich daran die Stufen hinabzusteigen, wenn eine Hand sie nicht aufgehalten hätte.
 

"Du verschwindest nicht!"
 

"Millicent, was soll das?", fragte Evelyn ruhig, jedoch ungeduldig.
 

"Bleib hier, versuch mit ihnen zu reden." Nachdem es Millicent war, die anfangs darauf bestanden hatte sich an einen anderen Platz am Essenstisch zu setzen, war Evelyn nun verwundert aus ihrem Mund zu hören, dass sie hier unter ihnen bleiben sollte.
 

"Ich will nicht reden", versuchte sie zu erklären.
 

"Wieso?", Millicents Griff verstärkte sich. "Du darfst nicht sauer auf Daphne sein, sie ... sie hat es nicht leicht. Und du ..." Sie verstummte.
 

Evelyn hob verwundert die Augenbrauen. "Und ich?", drängte sie. Kaum, dass Millicent die Worte ausgesprochen hatte begann sie sich zu fragen, ob Daphnes Ausraster tatsächlich ihre Schuld gewesen sein könnte? Sie wollte wissen, was sie falsch gemacht hatte.
 

"Wir haben doch nur uns", brach es aus Millicent heraus, doch sie ließ Evelyn los, die aus Millicents Antwort kaum schlauer geworden war. Uns?
 

Als Evelyn nichts erwiderte, sondern nur irritiert vor Millicent stand in Mitten der Schar an Schülern, seufzte Millicent schließlich. "Ich kann dich nicht zwingen. Wir sehen uns in Astronomie", sagte sie mit einem angedeuteten Lächeln und verschwand in der Menge.
 

Sie wartete einige Herzschläge, bevor sie im Treppenhaus verschwand. Es war offensichtlich, dass Millicent aus irgendeinem Grund versuchte Evelyn einzubinden, ja sogar sie als Freund zu gewinnen, was Evelyn rührte gleichzeitig aber auch vor Schwierigkeiten stellte. An einer Freundschaft war sie wenig interessiert, allerdings war sie kein Unmensch. Millicent versuchte sichtlich ihr bestes sowohl Evelyn als auch die anderen glücklich zu machen und die Vorstellung sie abzuweisen tat Evelyn ... mehr als leid.
 

Mit anbahnenden Kopfschmerzen trat Evelyn in den einsamen Mädchenschlafsaal und schmiss sich auf ihr Bett, das weich unter ihr federte. Wie Millicent zuvor streckte sie alle Viere von sich und starrte gedankenverloren an die Decke.
 

"Wir haben nur uns", wiederholte sie Millicents Worte, "... sie hat es nicht leicht ... mit wem es wert wäre zu reden ..."
 

Die Gesprächsfetzen waren vage genug um zu wissen, dass sich dahinter etwas verbarg, etwas, was Millicent nicht laut aussprechen wollte und von dem man erwartete, dass Evelyn es bereits wusste. Nur leider, hatte sie keine Ahnung worauf die anderen anspielten.
 

Sie seufzte. Gerade noch hatte sie sich scherzhaft als allwissend dargestellt, und nun scheiterte sie bereits an den grundlegendsten Dingen.
 

Millicent würde recht behalten, denn bis zum Beginn des späten Astronomieunterrichts sah sie niemanden im Schlafsaal. Sie machte sich schließlich alleine und recht spät auf den Weg, das schwere Teleskop unterm Arm und die spezielle Erlaubnis der Vertrauensschüler sich nach der Sperrstunde noch im Schloss aufhalten zu dürfen in der Tasche, und kletterte zum zweiten Mal an diesem Tag einen Turm hinauf. Dabei führte ihr Weg zunächst hoch in den siebten Stock, wo sie am Ende eines Ganges das gewaltige Portrait einer Dame im grell pinken Kleid sah, bevor sie schließlich eine schmale Tür durchschritt und den höchsten Turm des Schlosses erklomm.
 

Das zusätzliche Gewicht des Messingsteleskop brachte Evelyn schnell zum Schwitzen und bereits auf der Hälfte des Weges, musste sie eine Pause einlegen. Über das Geländer gelehnt konnte sie hoch schauen und entdeckte weitere Gruppen an Schülern, die sich Schritt für Schritt nach oben kämpften. Zum Glück ist das nur einmal die Woche, dachte Evelyn und setzte ihren Weg mit schmerzenden Knien fort. Morgen würde sie ohne Zweifel die Wanderung in ihren Knochen spüren.
 

Je höher sie kam, desto weniger Licht spendeten die spärlichen Fackeln. Stattdessen begannen die eingravierten Bilder der Fenster zu glühen, sodass sie zumindest die einzelnen Stufen in der Dunkelheit ausmachen konnte.
 

Jedes Fenster war übersät von winzigen weißen Lichtern, die man schnell mit kleinen LED Lämpchen verwechseln könnte. Dabei war jede Musterung ein Unikat und zeigte hier und da auch einige verbundenen Linien und Formen. Evelyn hätte sich gerne mehr Zeit genommen die Fensterbilder zu betrachten, doch die Stunde würde bald beginnen und der Riemen des Teleskops schnitt mittlerweile schmerzhaft in ihre Schulter.
 

Irgendwann weitete sich der Weg vor ihr, bis sie schließlich erleichtert mit einem letzten schweren Schritt auf eine weite Holzplattform trat, die umringt war von einem filigranem Metallgeflecht. In der Mitte der Plattform drehte sich in langsamen und ruhigen Bewegungen eine riesige Kugel, die ihrerseits umrundet wurde von kleineren Objekten auf elliptischen Bahnen. Eingespannt wurde das Gebilde von einer minimalistischen Pyramide, die nur aus den Seitenlinien bestand. Während Evelyn daran vorbei auf die nach oben geöffnete Fläche ging, hörte sie rhythmisches Klacken.
 

Sofort, als sie hinaus trat, zerrte ein starker Wind an ihrem Umhang und ihrem Rock, sodass sie mit der einen freien Hand dafür sorgen musste, dass nichts vorblitze, was niemand sehen sollte. Die Plattform war bereits gut gefüllt, wobei es auffiel, dass sich scheinbar zwei Gruppen gebildet hatten. Eine große Gruppe und eine sehr viel kleinere bestehend aus ein paar Kindern. Die kleinere Gruppe identifizierte sie recht schnell als ihre eigenen Klassenkameraden, während die größere Gruppe aus dem Rest der Hogwarts-Erstklässler bestand.
 

"Evelyn", hörte sie Millicent rufen, die wild zu winken begonnen hatte und sie damit bat zu ihnen zu kommen. Immer noch nicht aufgegeben, was?
 

Einige wenige Nachzügler trudelten noch ein, ehe eine junge Frau mit schokobrauner Haut aus dem hölzernen Gebilde hinter der riesigen Kugel hervortrat. Ihr Umhang leuchtete ähnlich wie die vielen Fenster auf dem Weg nach oben, schien jedoch um sie herum zu schweben. Einen Hut trug sie nicht.
 

"Willkommen Schüler, zu eurer ersten Astronomiestunde." Ihre Stimme klang warm und sie hatte keine Schwierigkeiten über den Lärm des starken Windes hier oben hinweg zu reichen. "Aurora Sinistra, Professorin und Astronomin", stellte sie sich mit einer leichten Verbeugung vor. "Wobei ich euch die Entscheidung überlasse, worin ich besser bin", sagte sie zwinkernd und hier und da wurde gelacht.
 

Professor Sinistra ließ sie alle ohne größere Vorstellungsrunde die Teleskope aufbauen und stellte immer wieder leichtere Fragen um zu sehen, was die Schüler bereits alles wussten, um dann doch noch in einfache Erklärungen abzurutschen, die sie jedoch mehr als erheiternd vortrug. Evelyn war froh über Sinistras fröhliche und quirlige Art, da es zunehmend schwerer wurde sich wach zu halten. Auch die anderen hatten mit ihrer ganz eigenen Müdigkeit zu kämpfen, was auch Professor Sinistra bemerkte, als kaum noch jemand auf ihre spaßigen Äußerungen reagierte.
 

Irgendwann klatschte sie laut in die Hände.
 

"Hört auf, was Ihr gerade tut und legt Euch hin." Erstauntes Schweigen und fraglose Gesichter waren die ersten Reaktionen, bis sie sich auf eine weitere Aufforderung von Professor Sinistra hin flach auf den glatten Holzboden legten. Evelyn faltete die Hände über dem Bauch und wartete ab, was ihre Lehrerin vor hatte.
 

"Astronomie ist vor allem die Kunst des Beobachtens", begann sie, während sie langsam durch ihre Reihen schritt. "Es gibt viele Möglichkeiten etwas zu beobachten und keine ist die einzig richtige. Ich möchte, dass ihr nun lauscht und beobachtet."
 

"Was für ein Blödsinn", hörte sie Draco irgendwo neben ihr flüstern. "Lernen wir jetzt auch noch zu meditieren?"
 

"Psst, besser, als hinter'm Teleskop zu stehen", warf Pansy ein und Evelyn war überrascht zu hören, dass Pansy sich gegen Draco aussprach.
 

Sie selbst machte es sich bequem und starrte nach oben zum dunklen Sternenhimmel, an dem tausende Lichter flackerten. Was genau sie beobachten sollten, hatte Professor Sinistra ihnen nicht gesagt, doch Evelyn hatte das Gefühl, dass es darum gar nicht ging.
 

Mit den Sternen als stumme Zuschauer ihrer eigenen, kleinen Welt, in der sie auch nur ein Licht von vielen war, genoss sie diesen Moment der Ruhe. Millicents Worte, die sie nicht gänzlich beiseiteschieben konnte, nagten jedoch noch immer in ihrem Hinterkopf. Hinzu kam, dass auch jetzt, als sie alle nichts weiter tun sollten, als sich auf den Boden zu legen, ein nicht unwesentlicher Abstand zwischen den Slytherin und dem Rest gebildet hatte.
 

Evelyn hatte plötzlich das Gefühl, dass hinter dem Gefühlsausbruch von Daphne und den seltsamen kryptischen Worten von Millicent mehr steckte, als nur eine kindliche Phase...
 


 

_____________________________
 

*Eine kleine Anmerkung zum Titel.
 

Dabei handelt es sich um Mittelirisch, bzw. einer Form von Gaelisch. Übersetzt heißt diese Zeile in etwa "Wahrlich! Auch meine Hände sind nicht frei von Schuld". Ich habe mich nicht grundlos für diesen Spruch entschieden, genauso wenig wie für die Tatsache es in Originalsprache zu belassen. Eine kleine Spielerei meinerseits :)

Kapitel 27 - Auf der Suche nach Routine

Als die Klasse endlich ihre letzte Stunde des Tages hinter sich gebracht hatte, war es nach Mitternacht. Stumm und ohne sich um Häuserdifferenzen zu kümmern stiegen sie gemeinsam die Treppen hinab, sie halfen einander sogar die Teleskope zu transportieren; zu müde um darüber nachzudenken, wem sie halfen.
 

Evelyn schob diese plötzliche Hilfsbereitschaft auf die körperlich und geistige Erschöpfung, wunderte sich aber ob nicht doch auch Professor Sinistras Worte dazu beitrugen die Klüfte zwischen ihnen zu vergessen, wenigstens für den Moment.
 

Die Gryffindors waren die ersten, die sich aus der Menge trennten und mit leise gemurmelten Abschiedsworten in einem Gang verschwanden. Dieses Mal schaute Evelyn diesen Gang nicht entlang, sondern schlurfte mit hängendem Kopf und müden Augen mit den anderen weiter auf die Treppe zu, wo sie im Schein der Fackeln und begleitet von dem Schnarchen der Bewohner in den Gemälden Schritt für Schritt ihren Betten näher kamen. Auf halbem Weg verschwanden auch die Ravenclaws, unter denen auch Sue Li, Mandy Brocklehurst und Anthony Goldstein waren, die sich den ganzen Tag über jedoch nicht hatten anmerken lassen, dass sie Evelyn zumindest flüchtig kannten.
 

Irgendwann erreichten sie die weite Eingangshalle, wo sich die bereits dezimierte Gruppe spaltete und die Hufflepuffs den rechten Weg einschlugen, während die Slytherins weiter hinunter Richtung Kerker wanderten.
 

Wie auch während des ganzen Marsches, redete niemand ein Wort, sondern sie begnügten sich damit nebeneinander her zu laufen. Immer wieder begann einer zu gähnen, was die anderen wie durch einen Zwang veranlasste mit einzustimmen.
 

Evelyn dachte an den nächsten Tag, der in nur wenigen Stunden für sie alle beginnen würde und vermutlich sogar noch anstrengender werden würde. Zwar mussten sie nachts nicht noch einmal durch das Schloss zu einem Unterricht gehen, doch trotzdem erwarteten sie vier komplette Lehreinheiten was bedeutete, dass sie bis kurz vor dem Abendessen mit gerademal einer kurzen Mittagspause als Unterbrechung Schule hatten.
 

In diesem Moment, dem Umfallen nahe, erschien ihr der morgige Tag bereits jetzt als Qual. Ausgeschlafen würde keiner von ihnen sein, die untrainierten Beine würden noch schwer sein, und nach einer anspruchsvollen Lehreinheit würden sie kaum Zeit haben auszuschnaufen. Wer schon einmal zur Schule oder Arbeit gegangen war, bevor die Sonne völlig aufgegangen war und erst nach Hause kam, nachdem die Sonne bereits wieder untergegangen war der wusste, wie sehr ein solcher Tag den Geist ermüdete.
 

Vermutlich würde sie morgen trotzdem, so erschöpft sie war, interessiert an den Lippen der Professoren kleben, doch im Moment sprach ihr einfach gestrickter, auf Sparflamme geschalteter Verstand sich trotzig gegen alles aus: selbst gegen den magischen Unterricht von Hogwarts.
 

Wer das Passwort sprach hörte sie gar nicht. Sie bemerkte auch nicht, wie ihre Füße wie automatisch ihren Weg durch die Öffnung und durch den Gemeinschaftsraum fanden, in dem nur noch ein Paar Nachteulen die Stellung hielten. Unter ihnen waren die Vertrauensschüler, die mit für Evelyns Geschmack zu viel Elan auf sie zu kamen. Zu allem Überfluss stellten sie sich zwischen sie und ihrem Weg zu den Betten.
 

"Hervorragend, Erstklässler. Euer erster Tag von vielen ist geschafft." Unförmiges Genuschel war die einzige Antwort, die die zwei älteren Schüler bekamen. Evelyn sah auf beiden ihrer Gesichter ein gehässiges Schmunzeln aufblitzen, das jedoch in beinahe derselben Sekunde verschwand, in der es aufgetaucht war.
 

Das Mädchen, von dem Evelyn noch immer nicht den Namen kannte, hob ihnen ihre Hand verlangend entgegen. "Gebt mir eure Aufenthaltserlaubnis." Zunächst blinzelten sie während sie darüber nachdachten, von welcher Aufenthaltserlaubnis die Vertrauensschülerin sprach. Doch dann machte Blaise den Anfang und händigte die Erlaubnis aus sich nachts auf den Gängen aufhalten zu dürfen und die anderen machten es ihm nach. Alle, bis auf Crabbe, der behauptete seine Genehmigung nicht finden zu können.
 

Die Vertrauensschüler schauten geduldig zu, wie Crabbe in jede seiner Taschen schaute, ohne den Zettel zu finden. Es war offensichtlich, dass er log. Auch wenn Evelyn es ihm zutraute einen Zettel innerhalb von zwei Stunden, ja sogar innerhalt von zehn Minuten, zu verlieren, so spielte Crabbe den Suchenden nicht wirklich überzeugend. Vielleicht wäre sein Versuch sich eine Sondergenehmigung zu erschleichen sogar ganz witzig gewesen, wenn er sie damit nicht alle abhalten würde endlich schlafen gehen zu können!
 

"Crabbe, verdammt, lass das", motzte Pansy mit gebrochener Stimme.
 

Crabbe stellte sich noch immer unwissend und die Vertrauensschüler machten keine Anstalten, die Sache zu beenden. Im Gegenteil.
 

Einer nach dem anderen wurde unruhiger und begann Crabbe zu verfluchen, der sich stur als Opfer darstellte. Evelyn knetete ihren Umhang, während sie an ihrer kaum verheilte Wunde an der Lippe erneut zu knabbern begann.
 

"Crabbe ...", begann sie leise, steigerte sich jedoch in der Lautstärke. "Crabbe! Gib ihnen den verfluchten Zettel!" Seine einzige Reaktion war ein beifälliges Zucken mit den Schultern und das präsentieren leerer Taschen.
 

In einer Impulsreaktion griff sie nach ihrem Zauberstab, den sie zum ersten Mal an diesem Tag nun zog. Ehe die anderen reagieren konnten, schwang sie ihren Stab Richtung Crabbe und richtete ihre angestaute Wut auf ihren Klassenkameraden. "Accio Genehmigung." Noch bevor ihre Fingerspitzen durch die strömende Magie zu kribbeln begannen, flog ein zerknittertes Pergament aus Crabbes rechtem Schuh, direkt Evelyn entgegen. Damit das Pergament nicht an der Spitze ihres Stabes aufgespießt wurde, zog sie ihn schnell nach unten weg, woraufhin das Pergament, das nun nichtmehr durch Magie in der Luft gehalten wurde, auf den Boden segelte.
 

Unter den Blicken der Anwesenden bückte sie sich danach, berührte ihn aber nur mit den Nägeln ihrer Finger. Wer wusste schon, wie lange Crabbe das Ding in seinem Schuh herumgetragen hatte.
 

"Hier", sagte sie, während sie Crabbes Genehmigung den Vertrauensschülern reichte, "dürfen wir jetzt gehen? Bitte?"
 

Früher oder später hätte Crabbe ihnen den Zettel geben müssen, daher machte sich Evelyn keine Gedanken sich hier eingemischt zu haben. Wenn es hieß früher als später ins Bett zu kommen, dann war ihr der Accio wert.
 

Auch der Vertrauensschüler nahm den Zettel nur mit gespreizten Fingern entgegen, nickte jedoch.
 

"Ihr könnt gehen", meinte er schließlich und ließ sie passieren.
 

Den Zauberstab noch immer in Händen ging Evelyn voraus, drehte sich dann jedoch noch einmal um, als Draco sich in Crabbes Proteste und Entschuldigungen einmischte.
 

"Halt die Klappe, du Idiot, und geh endlich. Du hältst uns alle auf!"
 

Wie ein getretener Hund folgte er Draco, der in diesem Moment für sie alle gesprochen hatte.
 

"Hol dir das nächste Mal eine zweite Genehmigung von den Gryffindor, Specki." Blaise klopfte dem gedemütigten Crabbe aufmunternd auf den Rücken.
 

"Wenn er uns das nächste Mal unnötig aufhält, dann verhex ich ihm die Sohlen", sagte Daphne mit einem Funkeln in ihrem Blick, ehe sie ohne ein weiteres Wort Richtung Mädchenschlafsaal verschwand.
 

"Sei froh, dass es nur ein Accio war." Draco stand seinerseits zur Schwelle Richtung Jungenschlafsaal, schaute jedoch beeindruckt Daphne hinterher. "Wer weiß, was Greengrass dir an den Hals geworfen hätte." Seine Worte hallten an den steinernen Wänden wider, als er Schritt um Schritt verschwand. Die anderen folgten ihm lachend.
 

Zufrieden den Tag endlich geschafft zu haben, stieg Evelyn hinab und warf sich einige Stufen später erschöpft auf ihr Bett.
 

"Guter Zauber, Harris", kam es plötzlich von Pansy, die ihrerseits neben dem Bett stand und bereits ihre Nachtkleider heraussuchte.
 

Berührt von den freundlichen Worten, nickte Evelyn. "Danke, Pansy."
 

Millicent kämpfte bereits mit ihrer Schuluniform, die ihr nicht so recht über den Kopf gehen wollte. Man hörte sie unter ihren Kleidern lachen. "Ein Glück, dass Crabbe den Zettel nur in seinem Schuh versteckt hat. Stellt euch vor, er wäre so dumm gewesen es wo anders hineinzustecken."
 

Evelyn richtete sich auf und ließ ihre Beine über die Matratze baumeln. "Lieber nicht, ich hätte es ihm ungern aus dem Arsch gezogen."
 

Noch während sie sprach, hätte sie sich am liebsten in die Zunge gebissen. Doch die Worte waren einfach so aus ihr heraus gekommen. Das war keine Art, vor Kindern zu reden! "Entschuldigung", sagte sie in die plötzliche Stille hinein. "Aus seinem Hintern." Ihre Verbesserung kam zu spät, dennoch wollte sie ihren vorigen Fauxpas nicht einfach so stehen lassen.
 

"Stimmt schon", meinte – zu Evelyns Überraschung – Daphne. "Sag's ruhig wie es ist." Sie stand vor dem großen Fenster und nutzte es als großen Spiegel, während sie ihre langen Haare zum Zopf flocht.
 

Millicent nickte eifrig. "Zu versuchen eine Genehmigung zu behalten war aber gar nicht mal dumm, das hätte ich Crabbe gar nicht zugetraut."
 

"Machst du Witze? Das war völlig überflüssig", erwiderte Daphne energisch. "Man konnte sich doch denken, dass wir die Genehmigung zurück geben müssen. Zu versuchen sie zu verstecken, und so offensichtlich noch dazu, ist einfach nur peinlich."
 

"Vor allem, wenn er uns mit hinein zieht", gab ihr Pansy recht.
 

Die Mädchen unterhielten sich noch eine Weile über Crabbe und seine für Slytherin peinliche Vorstellung. Evelyn nutzte die Situation um die letzte Dosis ihrer Tränke für heute zu nehmen. Sie hatte die Fläschchen noch in ihrer Tasche, da sie noch nicht wusste, wo sie sie sonst verstecken sollte. Vermutlich würden sie einfach dort bleiben, wo sie im Moment waren.
 

Crabbe hatte sie eben einige Nerven gekostet, doch gleichzeitig musste sie ihm auch danken. Zwar hatte sich zwischen Daphne, Pansy und ihr noch lange nichts versöhnt, doch zumindest blieb die befürchtete kalte Schulter der beiden aus. Crabbe war nun das Gesprächsthema Nummer Eins.
 

Evelyn hatte eigentlich vorgehabt den Rest der Verwandlungstheorie zu lesen, doch mit einem kurzen Blick auf das Buch auf der Kommode war klar, dass sie heute nichts mehr bewältigen könnte. Ihre Augen fielen beinahe zu, während sie ihren Zauberstab in ihre Tasche steckte und der Wille, noch einmal aufzustehen um die Kleider zu wechseln, wollte einfach nicht kommen.
 

Dennoch waren alle bald in ihre Nachtkleider und unter die Decken geschlüpft, sodass sie Gespräche leiser und weniger wurden, und mit ihnen wurde das Licht gedimmt, bis sie alle in grüne Schatten getaucht wurden. Noch bevor Evelyn endgültig das Bewusstsein verlor, erschienen ihr noch letzte Erinnerungen des Tages, der alles andere als perfekt war. Trotzdem hatte sie ein Lächeln auf den Lippen, als sie endlich von ihrer Müdigkeit übermannt wurde.
 

Der nächste Morgen kam und riss sie alle aus dem Bett in Form eines unbarmherzigen Klatschens. Zunächst war es nur ein fernes Geräusch, irgendwo in den Untiefen von Evelyns Bewusstsein gewesen, doch es wurde lauter bis sie sich unter ihrer warmen Decke wiederfand. Die Augen noch geschlossen zog sie ihre Beine an und befeuchtete ihre von der Nacht trockenen Mund.
 

"Nghhh", war alles, was sie hervor brachte, während das Klatschen sogar noch lauter und schneller als zuvor, durch den Raum schallte.
 

"Macht es aus!", hörte sie jemand rufen. Vermutlich Pansy, der Richtung direkt ihr gegenüber nach zu urteilen.
 

So abrupt aus dem Schlaf gerissen zu werden war Evelyn nicht mehr gewohnt, die bisher auf ihre innere Uhr vertrauen konnte. Allerdings war sie auch schon lange nicht mehr derart emotional erschöpft gewesen, wie am gestrigen Tag. Zumindest nicht, wenn sie gerade mal eine Nacht später derart früh aus den Federn musste.
 

Während sie noch immer damit kämpfte wach zu werden und sich zu orientieren, wurde irgendwo hinter den Vorhängen ein Stock geschmissen; so hörte es sich für Evelyn an. Das melodische Klingen von Holz auf Holz folgte dem dumpfen Aufprall eines Gegenstandes auf Stein. Das Klatschen hingegen ging weiter.
 

"Daneben", nuschelte die Stimme direkt neben Evelyns Bett mit schwerer Zunge. Millicent.
 

"Harris", brüllte nun die letzte im Bund. "Mach es aus!"
 

Ausmachen? Sie wusste ja noch nicht einmal, was es war.
 

Seufzend riss sie den Vorhang beiseite und blinzelte in den Raum hinein. Die Ursache für den Lärm war dabei schnell gefunden. Evelyns Augen waren plötzlich weit aufgerissen und sie hellwach.
 

"Was IST das?"
 

In mitten des Raumes, direkt über dem Wasserbecken, schwebte eine gallertartige Vorrichtung aus festen und weichen Materialien in der Luft. Das innere war dominiert von klickenden Zahnrädern und vielen kleinen dünnen Röhrchen, die sich durch die transparente Masse, die die Zahnräder umhüllte, bis nach unten ins Becken fraß. Große und kleine Wasserräder schöpften Wasser aus dem Becken und transportierten sie, übereinander gestapelt, bis hinauf zu dem kastenartigen Inneren, wo es die Zahnräder wie ein Motor antrieb. Auf allen vier Seiten, je eine zu den Betten gerichtet, war eine schimmernde Oberfläche zu sehen, die eindeutig ein Ziffernblatt einer Uhr darstellte.
 

"Ist das ein Wecker?", murmelte Evelyn, während sie aufstand und sich das Gebilde näher ansah. Die Uhr reichte ihr bis an die Schulter.
 

Zaghaft streckte sie ihre Hand nach der Masse aus, sie das Gebilde umschloss, so als fürchtete sie, dass es unter der leisesten Berührung zusammenbrechen konnte. Doch das "Wasser" gab unter ihren Fingern nach und sprang wie Gummi zurück in seine Ursprungsform, als Evelyn ihre Hand zurückzog. Das rhythmische Klatschen, das sie alle geweckt hatte, kam von aus der Masse rund geformten Kugeln, die von kleinen Katapulten an den Seiten der Ziffernblätter auf das Becken geworfen wurden, wo sie laut aufklatschen und dann im Wasser verschwanden.
 

"Steh nicht rum, mach es aus!", protestierte Pansy, die ihren Kopf hinter dem Vorhang herausgestreckt hatte.
 

Evelyn zuckte hilflos die Schultern und suchte nach einem Weg das Gerät auszuschalten. Eilig überflog sie ihre Umgebung und entdeckte das Holzstöckchen, das sie vorhin gehört hatte, wie es durch die Luft und auf den Boden gefallen war. Es war Millicents Zauberstab. Erkenntnis machte sich breit und Evelyn hüpfte über ihr Bett, griff in ihre Tasche und zog ihren Zauberstab, den sie in einer fließenden Bewegung direkt auf eines der Ziffernblätter tippte. Ohne ein weiteres gesprochenes Wort hörten die Katapulte auf die Geschosse zu werfen. Während die Zahnräder noch immer angetrieben vom Wasser des Beckens in monotonen Drehungen verweilten, versank das ganze Gebilde wieder im Becken, bis es komplett verschwand.
 

"Na endlich." Daphne war aufgestanden und streckte sich neben ihrem Bett.
 

"War das Ding gestern auch schon da?", fragte Evelyn unsicher, die sich nun erinnerte, dass sie zum gestrigen Zeitpunkt bereits unter der Dusche, und nicht hier im Zimmer war.
 

"Klar", sagte Millicent noch immer verschlafen. "Wie sonst sollen wir wach werden?"
 

Funktioniert hatte die Wasseruhr, das musste Evelyn neidlos zugestehen. "Können wir selbst die Uhr auch aktivieren?", fragte sie in den Raum hinein. Sie würde sich sehr viel wohler fühlen wenn sie wüsste, dass sie Zugang zu einer Uhr hatte. Selbst der Tropfende Kessel beherbergte eine alte, riesige Kuckucksuhr, nach der sich Evelyn gerichtet hatte.
 

"Mh, keine Ahnung. Noch nicht probiert", antwortete Pansy knapp. Sie war bereits mitten in ihre Vorbereitungen für den Tag und richtete ihre Sachen.
 

Kurz zögerte Evelyn tippte dann jedoch mit ihrem Zauberstab erneut gegen das Becken. Sofort erschienen das Gehäuse und gleich darauf der komplette Mechanismus der Uhr was bewies, dass sie jeder Zeit zur Verfügung stand.
 

"Sehr schön", nuschelte Evelyn zufrieden und ließ sie wieder verschwinden.
 

Der heutige Tag begann unter größerem Zeitdruck, als der gestrige. Evelyn zeigte den anderen die Duschen, die sie mit großen Augen bestaunten. Viel Zeit alles genau zu betrachten hatten sie jedoch nicht. Trotz Daphnes Proteste ein Bad nehmen zu wollen, nahmen sie alle eine schnelle Dusche und beeilten sich ausgehfertig zu werden und den Gemeinschaftsraum zu verlassen. Das ganze Treppenhaus und die Gänge waren bereits voller Schüler.
 

Evelyn spürte mit jedem Schritt den befürchteten Muskelkater, der sie wohl den ganzen Tag begleiten würde. Die Tasche an ihrer Schulter hängend machte sie sich auf den Weg.
 

"Ausgerechnet Verteidigung als erstes", meinte Millicent, die am Frühstück auf den Stundenplan schaute. "Da vergeht einem ja gleich der Appetit." Ihre Worte waren keine Drohung. Statt ihr Müsli aufzuessen, schmiss sie, den Mund zur Grimasse verzogen, ihren Löffel in die halb volle Schüssel.
 

Evelyn versuchte mit einem Schluck Tee den aufkommenden Ekel vor den nächsten zwei Stunden hinunterzuspülen. Erfolglos.
 

"Auf was dürfen wir uns noch freuen?", fragte Blaise mit vollem Mund.
 

"Verwandlung und nach der Mittagspause Zauberkunst und Kräuterkunde."
 

Klirrend fielen einige Geschirrteile aus den Griffen schockierter Schüler auf den Tisch. "Verwandlung?", fragte Goyle mit Panik in der Stimme. Auch Daphne und Pansy waren plötzlich weiß im Gesicht.
 

"Hatten wir da nicht einen Aufsatz zu schreiben?"
 

"Haben wir da nicht eine Woche Zeit?"
 

"Nein, sie sagte nächste Stunde. Das ist heute!"
 

Hektik machte sich breit als die Hälfte alles Anwesenden erkannte, dass sie bereits am zweiten Tag keine Hausaufgaben vorzeigen konnte. Draco gehörte zu denen, die völlig ruhig blieb.
 

Evelyn war zwar noch nicht komplett mit ihrem Aufsatz zufrieden, doch sie hatte gestern gute Vorarbeit geleistet. Wenn sie während ihrer Schulzeit eines gelernt hat, dann in den Pausen auf den letzten Drücker etwas fertig zu machen. Und so wie es aussah würde sie in Verteidigung genug Zeit haben ihre Hausaufgaben für Verwandlung abgabefertig zu machen. Die anderen hingegen standen vor nichts.
 

"Evelyn", rief Millicent plötzlich und lehnte sich über den Tisch hinüber zu Evelyn. "Du hast sie doch gestern gemacht! Darf ich mal sehen?" Oh nein, nein nein, das kommt gar nicht in Frage.
 

Um Worte ringend lehnte sich Evelyn ein wenig zurück, doch Daphne und Pansy haben bereits mitbekommen, was Millicent so großzügig hinausposaunt hat.
 

"Harris hat die Hausaufgaben?"
 

"Zeig her!"
 

Fordernde Hände wurden ihr entgegen gestreckt, die noch immer anherrschende Kälte Evelyn gegenüber völlig vergessen. Goyle und Crabbe versuchten derweil Blaise und Draco dazu zu bringen, die Hausaufgaben mit ihnen zu teilen.
 

"Ich bin selbst noch nicht fertig", stammelte Evelyn in dem Versuch sich aus der Sache stehlen zu können. Doch Millicent ließ nicht locker.
 

"Völlig egal, wir haben gar nichts!"
 

Von den Mädchen immer weiter bedrängt sah Evelyn keine andere Möglichkeit, als offen zu sein. Sie hatte keine Absicht ihnen ihre Hausaufgaben zu geben, schließlich wäre sie eigentlich auch nicht hier um ihnen zu helfen. Auch wenn es bedeutete erneut deren Wut auf sich zu ziehen, die ohnehin noch in ihnen brodelte.
 

"Nein!" Alle verstummten und sahen Evelyn schockiert an. "Ihr habt noch Zeit. Ihr seid der Stolz der Zauberergemeinschaft! Ihr werdet doch wohl eure ersten Hausaufgaben alleine schreiben können."
 

Verdutzte Gesichter starrten ihr entgegen, bis Daphne wie bereits tags zuvor den Mund zu einem Strich verzog und ihren Blick wütend senkte.
 

"Stolz der Zauberergemeinschaft?", wiederholte sie verächtlich. "Danke für die Erinnerung, Harris." Sie griff nach ihrer Tasche und verschwand beleidigt mit großen Schritten aus der Halle. Pansy folgte ihr und auch Millicent schüttelte den Kopf Richtung Evelyn.
 

"Das hätte nicht sein müssen", war alles, was sie sagte, bevor auch sie aus der Halle stürmte. Evelyn blieb zurück. Die Jungs hatten kaum etwas mitbekommen, da Draco und Blaise den anderen beiden ihre Hausaufgaben erklärten, was sie abzuschreiben hatten.
 

Na, das war ja mal wieder nichts, dachte Evelyn seufzend, die ihrerseits nun auch keinen Appetit mehr hatte. Hätten die Mädchen vielleicht unter normalen Umständen ebenfalls Hilfe von Draco und Blaise bekommen? Du denkst zu viel nach...
 

Das Frühstück war gelaufen, also konnte sie sich genauso gut ebenfalls auf den Weg machen: wenn eine Stimme sie nicht aufgehalten hätte.
 

"Miss Harris." Der hat mir gerade noch gefehlt.
 

"Ja, Sir?", fragte sie ihren Hauslehrer, der ohne erkennbare Emotion vom Lehrertisch auf sie zugelaufen kam.
 

"Wir ich hörte haben Sie meine Anweisungen gestern nicht befolgt. Professor Binns beklagte sich, Sie seien zu spät gewesen." Evelyn bemühte sich keine Regung zu zeigen, doch trotzdem zuckte ihre Augenbraue bei dem Gedanken, dass Professor Binns sich beschwert hätte. Unwahrscheinlich.
 

"Verzeihen Sie, Professor. Das wird nicht mehr vorkommen", brachte sie heraus, doch er war noch nicht fertig.
 

"Sie schreiben bis morgen einen Aufsatz darüber, wie wichtig es ist pünktlich zu sein und was es bedeutet sich Anweisungen zu widersetzen. Mindestens 30 Zoll." Sein Blick starrte unnachgiebig auf Evelyn herab, die nur ihre Hände zur Faust ballte als sie daran dachte, wie sie bis morgen einen Aufsatz in der geforderten Länge schreiben sollte.
 

"Ja, Sir", schaffte sie es schließlich zu sagen, bevor Professor Snape an ihr vorbei durch das Tor der Halle verschwand.
 

Tag Zwei versprach in jeder Hinsicht mindestens so gut zu werden, wie Tag Eins.

Kapitel 28 - Die Geschichte der Verlierer

Wie tags zuvor auch, musste Evelyn alleine den Nord-Turm erklimmen, was nun beim zweiten Mal jedoch deutlich schneller ging. Ihre Gedanken hingegen könnten unruhiger nicht sein. Sie hatte noch immer nicht herausgefunden, wie sie sich den anderen gegenüber verhalten sollte. Im Grunde war alles falsch, egal wie sie es machte. Ihre einzigen Wahlmöglichkeiten waren es, sich die anderen zum Feind zu machen um sie auf Abstand zu halten, was jedoch kontinuierlicher Stress für sie, aber auch für ihre Mitbewohner bedeutete, oder sich ihnen so weit zu öffnen, dass ein friedliches Miteinander entstand. Und wenn es hieß die eigenen Hausaufgaben zu teilen.
 

Zunächst muss ich aber endlich herausfinden, was diesen Reinblütern sauer aufstößt. Das Leben und die Kultur der magischen Elite war Evelyn ein absolutes Rätsel, auch wenn das riesige Deckenfresko im Gemeinschaftsraum bereits einen kleinen Einblick in diese Welt geliefert hatte. Sie konnte Vermutungen anstellen, wie zum Beispiel dass es innere Hierarchien gab. Beweise dafür gab es genug, man musste sich nur umschauen und die Schüler beobachten. Etwas jedoch sicher zu wissen, war noch einmal etwas anderes, als Vermutungen anzustellen, so bewiesen sie auch scheinbar waren.
 

Millicents Worte vom Vortag drangen sich in ihr Bewusstsein, während sie begann die Stufen zu erklimmen. Evelyn hatte eine Ahnung, was es mit dem von ihr angesprochenen Druck auf sich hatte.
 

Für sie hatte die reinblütige Gesellschaft starke Ähnlichkeiten mit dem mittelalterlichen Leben bei Hofe. Die Vorstellung war romantisch, dennoch durchaus plausibel. Familien, die um Macht kämpften und höhere Posten anstrebten, wenn es sein musste auch mit hinterlistigen Intrigen. Der ständige soziale Druck der Elite in der Öffentlichkeit zu stehen und die insgeheimen Freuden die Geschicke des Landes im Hintergrund zu führen...
 

Ein Lachen, das kaum ihre Augen erreichte, breitete sich in ihrem Gesicht aus. Du hast zu viel Tudors gesehen.
 

Sie erwartete nicht in Daphne die nächste Anne Boleyn* getroffen zu haben, und auch sonst war wohl jede ihrer Fantasien über die Reinblüter genau das, Fantasien. Sicherlich trugen sie eine Last und den Druck den Erwartungen der Eltern gerecht zu werden. Jedes Kind spürte diesen Druck, mal mehr, mal weniger. Doch war dieser Druck groß genug, dass es ausreichte um Daphne – und Pansy – wutentbrannt aus dem Raum stürmen zu lassen, sobald man sie darauf ansprach? Oder, dass Millicent bereits nach wenigen Stunden begann Evelyn, die diesen ominösen Druck nicht zu haben schien, zu beneiden?
 

Evelyn presste Luft durch ihre Zähne aus bei dem Gedanken. Ich und kein Druck? Ihr habt ja keine Ahnung.
 

Oben angekommen bot sich ihr ein vertrautes Bild. Dieselben Hufflepuffs wie gestern warteten geduldig vor der Tür, die wieder einmal verschlossen war. Millicent, Pansy und Daphne standen in einiger Entfernung von der Gruppe Dachse, die Arme defensiv vor der Brust verschränkt als sie sahen, wie sich Evelyn ihnen näherte.
 

Sie suchte Millicents Blick weil sie vermutete, dass es leichter sein würde mit ihr zu reden, als mit einer der anderen beiden. Tatsächlich spürte sie einen leichten Schmerz als sie beinahe dieselbe Abneigung in ihren Augen sah, wie sie auch Pansy und Daphne versprühten.
 

"Es tut mir leid", begann sie, legte in ihre Stimme jedoch wenig Emotion. Noch sah sie es nicht ein allzu beschämt zu wirken, denn sie hatte schließlich keine Ahnung was genau sie falsch gemacht hatte.
 

"Wir hatten einen schlechten Start, und ein Großteil der Schuld hab wohl ich." Sie sprach leise und dehnte die Wörter, damit die Hufflepuff, die bereits neugierig zu ihnen hinüber spähten, nicht alles mitbekamen, was sie besprachen.
 

"Hau ab, Harris", fauchte Pansy und wendete sich ab.
 

Evelyn bemühte sich um Ruhe und nickte zur Antwort. "Werde ich tun, aber darf ich mit dir sprechen, Millicent?" Ihre letzten Worte hatte sie an die Angesprochene gerichtet, die nach kurzem Zögern und Blick zu den anderen beiden zu Evelyns Erleichterung knapp nickte. Bevor Millicent sich ein wenig abseits stellte, damit sie unter vier Augen reden konnten, hatte Daphne ihr noch etwas ins Ohr geflüstert, was Evelyn jedoch nicht verstanden hatte. Was es auch war, es hatte kaum eine Regung in Millicents Miene verursacht.
 

"Hogwarts ist etwas völlig Neues für mich." Evelyn blickte nach unten und knetete ihre Finger hinter ihrem Rücken. "Nicht nur Hogwarts, um ehrlich zu sein." Es lag viel Wahrheit in ihren Worten, weshalb sie auch so ehrlich über ihre Lippen kamen. Millicent hörte schweigend aber die Hände noch immer defensiv vor der Brust verschränkt zu. "Ich bin anders aufgewachsen, als du; oder", sie deutete knapp in Richtung Pansy und Daphne, "sie. Wenn ich etwas gesagt habe, dass euch verletzt haben sollte, dann tut es mir leid." Dieses Mal meinte sie ihre Worte, aufrechter, vielleicht auch deshalb, weil sie mit Millicent alleine sprach. Sie wollte, dass Millicent ihr verzieh, was auch immer es zu verzeihen gab.
 

In Millicents Augen glitzerte etwas, doch sie blieb weiterhin stumm und zuckte nur die Schultern, weshalb Evelyn weiterhin das Wort führte. "Ich möchte es verstehen, Millicent. Wir werden noch lange miteinander leben ... müssen. Vielleicht glaubt ihr, ich müsste Bescheid wissen, über all die kryptischen Bemerkungen." Hilflos ließ sie ihre Arme sinken. "Aber das tue ich nicht. Ich dachte immer Reinblüter wären stolz auf das, was sie sind, aber –"
 

"Stopp!" Millicents Stimme durchbrach ihr bisheriges Schweigen wie eine Peitsche. Zu Evelyns Schrecken verzog sich Millicents Mund beinahe zu einer Grimasse, die an einen Zähne fletschenden Wolf erinnerte.
 

Bevor Evelyn etwas erwidern konnte, wurde die Tür zum Unterricht geöffnet und der noch immer ungewohnte Knoblauchgestank wehte ihnen entgegen. Sofort drehte sich Millicent auf dem Absatz und kehrte zu den anderen zurück, die sie aus sicherer Entfernung beobachtet hatte.
 

Das hatte ich mir anders vorgestellt.
 

Geschlagen betrat Evelyn hinter den Hufflepuff, die sich immer wieder zu ihr herumdrehten, den Raum und ließ die nächsten zwei Stunden über sich ergehen. Zwar nutzte sie die Zeit ihre Hausaufgaben für Verwandlung abgabefertig zu beenden, als sie jedoch versuchte die Strafarbeit für Professor Snape zu formulieren, versagten ihr die Worte. Sie war unkonzentriert und mit den Gedanken die meiste Zeit woanders.
 

Sie fühlte sich, als sei ihr komplettes Weltbild durcheinander geraten. Reinblüter waren stolz, Reinblüter zeigten offen, was sie waren.
 

Immer wieder wiederholte sie, was sie bis vor kurzem als unumstößlichen Fakt angesehen hatte, wie ein Mantra, so als würde es wahr werden, wenn sie es nur oft genug aufsagte. Doch Millicents Reaktion war mehr als eindeutig gewesen. Der Kern des Problems lag wohl darin, dass Evelyn eine völlig falsche Grundannahme hatte, was in für die anderen beleidigenden Aussagen endete.
 

Waren sie beleidigend? Evelyn fuhr sich frustriert durch die Haare. Im Grunde war sie noch immer genauso schlau, wie zuvor.
 

Sie hatte kaum Zeit sich Gedanken darüber zu machen erneut mit einem Teil von Voldemort konfrontiert zu werden, und kaum, dass es ihr bewusst wurde, neigte sich die Stunde auch schon dem Ende. Peinlich berührt musste sie feststellen, dass sie keine Ahnung hatte, was Quirrell ihnen erzählt hatte, vermutete jedoch eine Fortsetzung seiner gestrigen Mahnung in jeder Situation wegzulaufen. Ein Ratschlag, den Evelyn wohl beherzigen würde.
 

Auch der Verwandlungsunterricht gestaltete sich nur wenig besser. Bereits auf dem Weg dorthin plagte sie das schlechte Gewissen, welches stetig anschwoll, bis es zu einem dicken Kloß in ihrer Kehle wurde. Sie wagte es nicht zu den Mädchen zu sehen, als McGonagall die Aufsätze aller einsammelte. Die anschließende Ruhe und fehlende Ermahnung von Seiten der Lehrerin ließ jedoch darauf schließen, dass auch die Millicent und Co. die Zeit während der Verteidigungsstunde genutzt hatten, um wenigstens irgendetwas aufs Pergament zu bringen. Trotzdem hätte ein einfaches "Ja, hier sind meine Aufschriebe" ihnen einiges erspart.
 

Alleine auf der Bank, umringt von ihren Büchern, lauschte sie, diesmal mit mehr Interesse als eben noch in Verteidigung, den Ausführungen von Professor McGonagall. Leider warteten Evelyn und auch die anderen erneut vergeblich auf eine praktische Übung, und so vergingen weitere zwei Stunden reiner Theorie.
 

Als die Mittagspause rief, stand sie schwerfällig von ihrem Platz auf, während ihnen Professor McGonagall letzte Anweisungen zu rief. Das lange Sitzen ließ ihre Beine versteifen, sodass sich nun umso mehr jede ihrer Waden schmerzhaft meldete. Verdammter Muskelkater, dachte Evelyn stöhnend, als sie im Packen von einer Hand auf ihrem Unterarm unterbrochen wurde.
 

"Wir sollten reden."
 

Millicents plötzliches Erscheinen war eine unerwartete Überraschung, mit der Evelyn nach der barschen Abfuhr am Morgen nicht mehr gerechnet hatte.
 

Sie nickte knapp und folgte Millicent, die ohne zu zögern aus dem Raum stürmte und die Treppen nach unten stieg. Zuerst glaubte Evelyn, sie wolle in die Große Halle, doch statt durch das goldene Tor zu gehen, führte sie Evelyn daran vorbei hinein in einen breiten Gang, den Evelyn bisher noch nicht kannte. Sie entschied sich jedoch stumm zu folgen, wo auch immer Millicent hin wollte. Es dauerte nicht lange, da wurden aus den steinernen Wänden, die sie umgeben hatten, offene Alkoven, die nur von breiten Torbögen gehalten wurden. Durch die fensterlosen Öffnungen wehte der warme Wind des spätsommerlichen Tages und hüllte sie in den Geruch frisch gemähten Grases und stehendem Gewässer; ohne Zweifel vom See, der sich nicht weit von hier erstreckte.
 

Millicent bog durch eine Öffnung und trat hinaus in den breiter werdenden Garten, der anfangs künstlich angelegt schien, mit Trittsteinen und gepflegter Erde. Doch mit jedem Schritt wurde die Umgebung wilder, bis sie einen Hügel voller Wildblumen hinabstiegen und keinem festen Weg mehr zu folgen schienen.
 

Millicents schritt verlangsamte sich, als sie eine Reihe scheinbar zufällig angeordneter Felsen im Boden erreichten, die kniehoch aus dem Erdreich ragten. Mit einer Handbewegung bat sie Evelyn Platz zu nehmen, ehe auch sie sich auf einen von der Witterung mitgenommenen Felsen schwang. Der Stein war angenehm warm von der Sonne, die ihnen an diesem wolkenlosen Tag direkt ins Gesicht schien. Trotzdem konnte auch sie nicht die nagende Kälte vertreiben, die Evelyn in ihrem Innern spürte.
 

Für eine Weile herrschte Stille, in der nur das Kratzen unruhiger Finger auf dem rauen Fels zu hören war. Keine der beiden wusste, was sie sagen konnten und sollten, um ein Gespräch zu beginnen.
 

Schließlich war es Millicent, die auch auf dieses Gespräch bestanden hatte und sich ein Herz fasste. Sie atmete tief ein, ehe sie zu reden begann. "Ich muss mich auch entschuldigen, weißt du?"
 

Evelyn runzelte irritiert die Stirn, beantwortete die Frage jedoch nicht.
 

"Es ist leicht zu vergessen, dass es Leute gibt, die nicht wissen ... wie es ist ... nunja. Jeder in Slytherin weiß normalerweise Bescheid. Und ein paar der anderen Schüler, glaub ich. Aber hier bei uns ist es nochmal ... anders."
 

Es war nur allzu offensichtlich, dass Millicent nervös war. Sie brabbelte, zunächst langsam und gedehnt, immer schneller, bis sich ihre Worte überschlugen, so als wolle sie am liebsten alles auf einmal erzählen. Evelyn hob beruhigend die Hände.
 

"Millicent, du bist wieder kryptisch. Ich verstehe nur Bahnhof."
 

"Bahnhof? Was hat denn ein Bahnhof mit der Situation zu tun?", fragte Millicent auf eine ehrliche Art und Weise.
 

"Oh ... ehm", nun war es an Evelyn nervös zu brabbeln. "N-nicht so wichtig. Vergiss es einfach." Muggelredensarten sind wohl nicht sehr geläufig, bemerkte sie mit einem angedeuteten Schmunzeln, auf das sich Millicent jedoch keinen Reim machen konnte. Evelyn wollte die Aufmerksamkeit wieder Wichtigem zuwenden. "Erklärs mir, Millicent. Daphne, du, Pansy ... vermutlich auch die Jungs ... etwas belastet euch. Ständig. Du hast es selbst gesagt. Macht euer Familienhaus euch derart Druck gut zu sein? Erfolgreich zu sein?" Es war eine naheliegende Vermutung, die sie nun laut aussprach. Doch auch das konnte nicht die Antwort auf alles sein.
 

Millicent mied ihren Blick, weshalb Evelyn zunächst dachte mit ihrer Vermutung richtig zu liegen, bis Millicent jedoch anfing heftig den Kopf zu schütteln. "Nein, nicht nur. Ich meine, natürlich wird von uns viel erwartet. Ich will nicht in Dracos Haut stecken, als Beispiel." Ein schwaches Lächeln erschien in ihrem Gesicht, das genauso schnell auch wieder verschwand.
 

Erneut empfand sie Mitleid für Millicent, die zusammengesunken und um Worte ringend auf dem Felsen saß. In ihren Augen fehlte plötzlich jeder Glanz, so als ob sie die aufkommenden Emotionen tief ins sich einschloss. Tatsächlich redete sie mit monotoner Stimme weiter, wich Evelyns Blick aber weiterhin aus.
 

"Es ist der Druck nicht das zu werden – nicht das zu sein –, was die Welt von dir erwartet."
 

Evelyn spielte mit den Worten in ihren Gedanken und versuchte deren Bedeutung genau zu entschlüsseln. "Was die Welt erwartet?"
 

Millicent nickte langsam. "Man hasst uns, so einfach ist das."
 

Es war schockierend solch harte Worte aus dem Mund eines Kindes in Millicents Alter zu hören, noch dazu in völlig nüchternem Ton, so als wäre es eine lang akzeptierte Tatsache.
 

"Weil eure Eltern Anhänger von ... Du-weißt-schon-wem waren", schloss Evelyn ihre Gedanken.
 

"Eure Eltern", fauchte Millicent, nun mit Wut in der Stimme. "Das ist es. Du distanzierst dich, und gleichzeitig redest du, wie sie. Eure Eltern, so als ob unsere Eltern natürlich gemeinsame Sache mit Du-weiß-schon-wem gemacht haben." Millicent nahm kurz Luft, ehe sie in ruhigerem Ton weitersprach. "Wobei ich nicht bestreiten will, dass einige tatsächlich involviert waren ... vielleicht." Ihre Stimme war ein flüstern, so als hatte sie Angst überhört zu werden, obwohl weit und breit niemand zu sehen war.
 

Evelyn begann jedoch langsam zu verstehen. "Man sieht nur das Schlechte." In euch, wollte sie noch sagen, machte vorher jedoch einen Punkt, um sich nicht wieder zu distanzieren.
 

"Jeder hat jemanden verloren. Auf die ein oder andere Weise." Ihre Stimme war brüchig und ihr Blick verlief ins Leere, ohne etwas zu fokussieren. Evelyn versuchte zu schlucken, doch ihre Zunge blieb an ihrem völlig ausgetrockneten Gaumen kleben, während sie daran dachte, was Millicent unausgesprochen ließ. Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Niemand betrauert die Verlierer, außer den Verlierern selbst.
 

Man begegnete allen aus Slytherin mit Abneigung, egal wie sehr die Familie eines einzelnen involviert war, soviel wusste Evelyn. Es waren Rons eigene Worte gewesen, die er kurz vor der Sortierung an Harry gerichtet hatte. Man sah nicht die einzelnen Schüler, sondern man sah nur die Slytherins. Und die hatten mit den allzu frischen Vorurteilen der restlichen Zauberergemeinschaft zu kämpfen.
 

Ein wenig konnte Evelyn Millicent und die anderen nachvollziehen. Ähnliches hatte auch sie schon unzählige Male erlebt, besonders während ihrer Japanreise wurde sie immer wieder mit dem Nazi-Stempel versehen sobald andere hörten, dass man Deutsche war. Ohne Zweifel wird, das meiste zumindest, scherzhaft gemeint, doch jede Bemerkung ist ein Stich in eine eigentlich verheilte Wunde einer Nation. 60 Jahre liegen zwischen ihr und denen, die für all das Grauen während des Krieges verantwortlich waren, und doch reichte ihre Nationalität aus, um sie in eine Schublade mit denen zu stecken. Sie konnte sich kaum vorstellen wie es für Millicent und die anderen war, die zu der ersten Generation nach Voldemort zählten; mit zum Teil nachweislicher Vergangenheit.
 

Plötzlich kam ihr Daphnes Dünnhäutigkeit nicht mehr überzogen, lächerlich oder kindisch vor. Letzten Endes war auch sie nur ein Mädchen, das versuchte gegen eben jene Vorurteile anzukämpfen.
 

"Es tut mir so leid." Zum ersten Mal meinte sie ihre Entschuldigung von ganzem Herzen. Mehr noch, sie fühlte sich elend je mehr ihr einfiel, was sie alles gesagt hatte, und wie ihre Bemerkungen auf dünnes Eis getroffen waren; dünnes Eis, das verständlicherweise leicht brach.
 

"Daphnes Eltern wurden wochenlang verhört, damals als ... du weißt schon. Weil ihr Onkel als Todesser identifiziert worden war vermutete man, sein Bruder und dessen Frau gehörten auch dazu."
 

"Millicent, du musst mir das nicht erzählen." Eilig unterbrach Evelyn Millicents Erklärung, die sie leise, beinahe ehrfürchtig begonnen hatte vorzutragen.
 

"Ich möchte aber. Es ist eigentlich kein Geheimnis. Jeder von uns könnte dir etwas erzählen." Sie lachte trocken, ohne Humor in die Stimme zu legen. "Jeder weiß es. Nur sprechen wir nicht darüber. Es reicht, wenn die anderen über uns reden, verstehst du?" Sie hob ihren Kopf und sah zurück zum Schloss hoch, dessen grauer Stein und unzähligen Fenster im Licht der Sonne funkelte. Evelyn folgte ihrem Blick, konnte die malerische Szenerie vor ihr jedoch nicht wertschätzen, da sie verblüfft darüber war, wie erwachsen Millicent mit dem Thema umging. Es war klar, dass sie schon sehr früh mit Vorurteilen und wie die Gemeinschaft sie sah konfrontiert worden war. Evelyn hätte es sogar verstanden, wenn sie verbittert gewirkt hätte, ja sogar wütend. Doch das tat sie nicht. Stattdessen sah Evelyn nur ein gefasstes Mädchen, das sich mit erschreckender Gefühlskälte an den Hass gewöhnt hatte.
 

"Dann müssen wir auch nicht reden", versuchte sie es erneut, doch Millicents Kopfschütteln ließ sie verstummen.
 

"Du hast ja recht. Wir können nicht erwarten, dass du dich, ahnungslos wie du bist, wie wir verhältst." Millicent gluckste. "Soweit ich weiß sind die meisten Fawleys sowieso damals abgehauen. Kein Wunder, dass dir nie jemand etwas erzählen konnte von ... dem hier." Sie machte eine weit ausholende Geste mit ihrer Hand, die nie groß genug hätte sein können, um die komplette englische Zauberergemeinschaft mit einzuschließen.
 

Evelyn neigte beschämt ihren Kopf. Im Grunde hätte Millicent auch sagen können, dass sie genauso viel über sie alle Bescheid wusste, wie eine Muggelgeborene, die sie im Kern wenn auch unentdeckt von den anderen war. Ob Millicent die Wahrheit zu ihrer angedichteten Familie sprach, konnte Evelyn nicht beurteilen, also hob sie nur entschuldigend die Schulter und lachte schwach. "Was wurde aus Daphnes Eltern?", fragte sie schließlich, hatte jedoch Angst die Antwort zu hören.
 

"Offiziell geschah ihnen nichts. Inoffiziell", sie machte eine kurze Pause, in der Evelyn glaubte ihr Herz war über das Rauschen des Windes hinweg zu hören, "brachte man sie tief hinunter ins Ministerium. Dort befragte man sie ... mit Hilfsmitteln. Sie haben nie darüber gesprochen, doch meine Mutter meinte, Daphnes Mutter wäre seitdem ... anders. Auch äußerlich." Wieder senkte Millicent ihre Stimme zu einem Flüstern, sodass sich Evelyn leicht vorbeugen musste, um sie zu verstehen.
 

"Äußerlich?"
 

Sie nickte. "Sie hat schneeweiße Haare." Die Art wie sie es sagte machte deutlich, dass Daphnes Mutter eigentlich zu jung war, um weiße Haare zu haben. Vor allem wenn man Daphne mit ihren dunklen, langen Haaren kannte und vor Augen hatte. Evelyn formte ein stummes O, als ihr dämmerte, was passiert sein konnte.
 

"Daphne war gerade drei geworden und lebte praktisch im Ministerium, in der Obhut jener Männer, die ihre Eltern verhörten. Daphnes Mutter war zu dem Zeitpunkt hochschwanger", erklärte Millicent weiter, setzte aber einen markanten und gut hörbaren Punkt hinter ihre letzte Aussage.
 

Vielleicht erwartete Millicent nun zu hören, wie schlecht sich Evelyn für Daphne fühlte und wie furchtbar es gewesen sein muss in so einem Alter bereits so etwas zu erleben. Doch Daphne war nun mal nicht die einzige. Es war, wie Millicent sagte, jedem aus ihrem Haus irgendwann in irgendeiner Weise so ergangen. Vielleicht erwarteten sie kein Mitleid, auch wenn Evelyn es durchaus empfand. Vielleicht brauchten sie nur Verständnis und Akzeptanz.
 

"Danke, dass du mir das gesagt hast. Ich denke, ich verstehe jetzt einiges besser."
 

Sie verstand, dass es vieles gab, worüber man in Slytherin bewusst nicht sprach, da es alte noch lang nicht verheilte Wunden aufriss. Sie verstand, dass jeder Tag für sie ein Kampf gegen all jene war, die in ihnen nichts weiter als den Feind sahen. Sie verstand, dass es eine besondere, auf gemeinsamen Erlebnissen basierende, Gemeinschaft zwischen den Slytherins gab, in die sie nun wie ein Fremdkörper hineingeplatzt kam.
 

Wieder dachte sie an ihre Sortierung zurück, die ihr Leben so einfach hätte machen können. In Hufflepuff wäre sie als Fremdkörper beinahe nicht aufgefallen. Sie wäre nur eine Außenseiterin gewesen, ohne jemanden damit zu schaden. Hier jedoch, in Slytherin, könnte sie ein sorgfältig, aber dünn aufgebautes Konstrukt von Sicherheit mit ihrem Entschluss sich zu distanzieren zerstören. Als Slytherin hielt man zusammen, so wurde es ihnen gesagt. Eine sichere Insel, gegen das Meer an Hass und Abscheu gegen das, was sie darstellten, indem sie das grün-silberne Wappen auf der Brust trugen. Sie könnte all dies zum Einsturz bringen, wenn sie als erste in dieser langen Kette ausbrach und sich weigerte, aus welchen Gründen auch immer, einem Slytherin in Not zu helfen. Zum Beispiel, wenn sie mit einer harmlos gemeinten Bemerkung, über die man in Ravenclaw vielleicht nur müde gelächelt hätte, sich weigerte, ihre Hausaufgaben zu teilen.

Kapitel 29 - Faden

Ihr Gespräch hatte den Großteil ihrer Mittagspause beansprucht, sodass sie ohne Umwege zum Kräuterunterricht laufen konnten. Millicent plapperte in gewohnter Weise munter vor sich her, wie neugierig sie auf die Pflanzen war und ob die anderen wohl schon dort wären. Sie ließ sich nichts anmerken, ob das Gespräch sie mitgenommen hatte, oder nicht.
 

Evelyn nickte ab und zu, beachtete aber kaum, zu was sie "ja" oder "nein" sagte. Noch immer hielt eine eiserne Hand ihre Innereien in unbändigem Griff, so glaubte es Evelyn zumindest. Millicents Erzählung über Daphne und mit was die Slytherins – ihr Haus –, konfrontiert wurden, war schwer zu verarbeiten. Alte, als sicher hingenommene, Fakten und alteingesessenes Wissen kollidierte mit den von Millicent präsentierten neuen Erkenntnissen, sodass sich ein Strudel in Evelyns Kopf bildete.
 

Zwar hatte sie nur eine Geschichte gehört, ein Schicksal einer Schülerin von so vielen, doch sie konnte erahnen, dass es nirgendwo, auch bei den anderen nicht, nur schwarz und weiß, gut und böse, war. Die Welt war grau, schmückte sich jedoch gerne in den hellsten pastellfarben, um den ekligen Schmutz darunter zu überdecken. Schmutz, der sich wie ein dünner Film über die Gesellschaft gelegt hatte.
 

Der Großteil der Schule badete im Licht und rühmte sich damit zu den Kindern der Sonne zu gehören, während sie die Abtrünnigen mieden. Die Kinder des Kerkers, wo sie hingehörten.
 

Evelyn ballte ihre Hände, sodass ihre Knöchel weiß anliefen.
 

"Alles in Ordnung?" Millicent berührte sie kurz an der Schulter, ohne stehen zu bleiben. Das Gewächshaus war zwar nicht weit entfernt, doch die Zeit war wieder einmal knapp.
 

"Ja", versicherte Evelyn abwesend, "ja, alles in Ordnung. Es ... gibt nur viel zu verarbeiten."
 

Millicent senkte den Blick in dem Wissen, was Evelyn bewegte. "Denk nicht zu viel darüber nach. Es frisst dich sonst auf, glaub mir."
 

Nur ein weiterer Punkt auf meiner Liste der Dinge, die mich innerlich auffressen. "Das sagt sich so leicht. Meinen Ärger über mich selbst kann ich schlecht einfach beiseite wischen."
 

"Jetzt weißt du es ja besser", erwiderte Millicent mit einem aufmunternden Ton.
 

"Tu ich das wirklich? Millicent, es gibt so viel, was ich nicht verstehe. Ich dachte, ich hätte eine genaue Vorstellung wie man hier lebt, aber die habe ich nicht." Sie war sich bewusst, dass sie verzweifelt klang, und hasste sich nur umso mehr dafür vor Millicent eine derartige Szene zu machen. Diese neigte erwartungsgemäß verwirrt den Kopf.
 

"Dein Gehirn arbeitet zu viel, hat dir das schon mal jemand gesagt?" Evelyn rollte nur mit den Augen. Willkommen in meinem Leben. "Es ist der zweite Tag, niemand weiß, wie es ist, in Hogwarts zu leben. Naja gut, ein wenig schon, aber letztendlich muss jeder selbst die Erfahrung machen. Du wirst dich daran gewöhnen."
 

Millicent hatte offensichtlich nicht ganz Evelyns Aussage verstanden – woher auch –, wobei Evelyn es nicht für nötig hielt, sie zu berichtigen.
 

Die Gewächshäuser befanden sich auf dem sonnenzugewendeten Teil des Hogwarts-Geländes, weshalb die beiden die Gärten umrunden und den Innenhof hinter sich lassen mussten. Im Gegensatz zu dem Hügel, wo sie ihr Gespräch gehalten hatten, war der Innenhof voller Schüler, die ihre Zeit im Freien verbrachten. Beinahe alle hatten ihren Umhang abgelegt und die Blusen gelockert. Die einen sonnten sich auf steinernen von Efeu überwachsenen Bänken, die anderen ließen kleine Besen im Wettrennen durch die Gruppen an Schüler fliegen, die nichts weiter taten, als sich zu unterhalten.
 

Leider hatten sie keine Zeit den mit einer Figur geschmückten Brunnen zu begutachten, sondern sie eilten weiter eine Backsteinmauer entlang, die in unregelmäßigen Abschnitten durch gitterne Tore durchbrochen wurde. Im Laufen schielte Evelyn durch die Öffnungen und sah, dass jedes Tor in ein weiträumig angelegtes Beet führte, in dessen Herzen ein gläserner Komplex stand.
 

"Da müssen wir rein", sagte Millicent schließlich und schob Evelyn ungeduldig vor sich her. Das Gitter rasselte leise als sie es durchschritten.
 

Evelyn glaubte Archibald Cravens Geheimen Garten zu betreten, so unwirklich erschien ihre diese Welt hinter der Backsteinmauer. Weiche Erde federte jede ihrer Schritte, während sie umringt waren von mannshohen Pflanzen, kleinen Gestrüppen und Blumen mit Kelchen als Blüten. Immer wieder kreuzten dicke Wurzeln ihren Weg.
 

"Hast du so etwas schon einmal gesehen?" Millicent konnte ihre Verblüffung kaum verbergen. "Was ist das für ein Geruch?"
 

Evelyn schloss die Augen und atmete die Aromen ein, die aus allen Richtungen zu kommen schienen. Säuerlicher, beinahe fauler Obstgeruch vermischte sich mit den süßen Düften verschiedenster Sekrete. Inmitten des atmenden Gartens thronte ein gläsernes Bauwerk, das in der Sonne glitzerte. Annähernd rund erhob es sich aus den sich windenden Pflanzen, das Dach bestehend aus hunderten Glasplatten neigte sich leicht nach unten.
 

Zwischen den Beeten, in denen sich Pflanzen, Pilze und andere Gewächse dicht an dicht drängten, schwirrten unzählige Insekten, deren Farben und Artenpracht mit der der hier wachsenden Flora konkurrierten. Evelyn war kein Freund von Insekten, magischer Natur oder nicht, weshalb sie ihre Arme eng an ihren Körper presste, als sie zum Gewächshaus ging.
 

Durch das Summen der Tiere hörten sie bald das vertraute Gemurmel anderer Schüler, die sich bereits im Gewächshaus versammelt hatten. Die Tür war kaum als solche zu erkennen, sondern war nur ein Loch in einer zugewachsenen Hecke, durch die sie sich zwängten.
 

Das Gewächshaus war eine rund zulaufende Kuppel, gefüllt mit stapeln an Töpfen, sowohl ohne Inhalt, auch mit Erde und Setzlingen, und auf dem Boden türmten sich die Pakete verschiedenster Dünger, die einen unangenehmen Odor verströmten. Der Humus-Gestank überwältigte sie, sodass sie sich fast den Knoblauchgestank aus Quirrells Zimmer wünschte. Die schwüle Hitze, die sich drückend auf ihre Haut legte, verbesserte die Situation nicht. Nach nur wenigen Schritten schien ihr Umhang vollgesogen mit Wasser aus der Luft zu sein, so schwer hing er von ihren Schultern. Zu gerne hätte sie sich von ihm getrennt, schon alleine, weil sich Schweißperlen begannen zwischen ihren Schulterblättern zu bilden, doch ein Blick auf die wachsende Gruppe aus voll bekleideten Schülern vor ihr verriet, dass das Abnehmen des Umhangs nicht gestattet war. Sie alle versuchten sich auf die ein oder andere Weise Linderung zu verschaffen, sei es durch wedeln mit der Hand oder durch flatternden Bewegungen, um durch die Auf und Ab des Umhangs sich mehr Luft zu zufächern.
 

Mit gemischten Gefühlen folgte sie Millicent, die sich ohne zu zögern zu Pansy und Daphne gesellte. Sie würde auch mit ihnen sprechen müssen, doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dazu, was auch die beiden zu spüren schienen. Millicent ließ sich nichts anmerken, sondern redete aufgeregt über den Garten außerhalb des Gewächshauses. Evelyn konnte die Blicke auf ihrem Rücken spüren, was sie versuchte zu ignorieren. Stattdessen stellte sie sich an den groben Holztisch, der wie eine Tafelrunde den einzigen freien Platz im Gewächshaus ausfüllte.
 

Jeder Schritt unter ihnen schmatzte im feuchten Boden, und auch die Platte des Tisches schimmerte nass durch die vielen Tropfen, die auf sie herab fielen. Immer wieder traf warmes Wasser auf ihre Hände und ihr Gesicht, sodass sie es irgendwann aufgab es mit ihrem Ärmel weg zu wischen.
 

Es dauerte eine Weile, bis eine untersetzte Professorin in orangenen, mit Erde besudelten Roben, die sie wie ein Kürbis aussehen ließen, durch die Reihen an Töpfen gewatschelt kam und die sie mit einem warmen Lächeln begrüßte. Der kleine Spitze Hut, der sich schief über ihren Kopf neigte, wippte bei jedem ihrer Schritte. Sie schob sich zwischen die Schüler, die sie mit ihren grauen in alle Richtungen abstehenden Locken kaum überragte, und zog sich abgewetzte Handschuhe aus Leder über.
 

Ihr tapsiges Auftreten amüsierte Draco hinter ihr ungemein, jedoch sprang seine Freude auf kaum einen über. Die meisten, vor allem die Ravenclaw, mit denen sie sich den Unterricht teilten, schauten in angespannter Neugier der kleinen Frau zu, wie sie an jeden Töpfe so groß wie eine Kinderfaust verteilte.
 

Ohne zu wissen, was sie mit dem mit feuchter Erde gefülltem Topf anfangen sollte, drehte sie ihn fragend in ihren Fingern. Einige Schüler rochen sogar daran, doch bevor Evelyn es ihnen nach machen konnte, wurde sie von Professor Sprout scharf unterbrochen.
 

"Ich an Eurer Stellewürde Eure Nasen nicht sofort über einen Pflanzentopf hängen", sie hob mahnend einen Finger in ihrem Handschuh. "Noch wächst dort nichts Gefährliches, doch manche Pflanzen könnten Euch um eure Nasen erleichtert." Betretenes und irritiertes Schweigen machte sich breit, ehe Sprout erneut ein warmes Grinsen aufsetzte und sie freudig den Unterricht eröffnete.
 

Nach der Warnung der Professorin beeilte sich Evelyn den Topf aus ihren Händen zu stellen, wobei sie ihn zusätzlich von sich weg schob. Mittlerweile konnte sie nicht ausschließen, dass ein ausgewachsener Vertreter der Venusfliegenfalle aus dem bisschen Erde sprang und auf ihr Auge zielte.
 

Das Rätsel um die kleinen Töpfe ließ Sprout lange unbeantwortet, und so waren sie gezwungen ihr genau zuzuhören. Notizen zu machen war beinahe unmöglich in dieser feuchten Umgebung. Evelyn erwartete, dass das Pergament sich bereits zu kräuseln beginnen würde, sobald sie es aus der Tasche zog. Nicht zu vergessen der vom Tau feuchte Tisch, der zusätzlich mit Brocken feiner Erde besudelt war, sodass sie nur ungern ihr Papier dort ablegen würde.
 

Besonders einige der Ravenclaw schienen einen innerlichen Kampf zwischen dem Drang sich Notizen zu machen und der Abscheu ihre Ausrüstung auszubreiten zu führen. In einem schwachen Moment, in dem Sprout einen groben Überblick über die von ihr präsentierten roten Teufelsfinger gab, ließ sie ihren Blick hinüber zu bekannten Gesichtern schweifen. Anthony Goldstein hatte seine Hände unter seinen Umhang gezogen und sah nicht begeistert aus inmitten von Wasser, Dreck und mehr oder weniger lebenden Pflanzen zu stehen. Sue Li verzog frustriert ihren Mund und schielte ständig zu dem kleinen Topf, der vor ihr stand. Sie musste ähnliche Gedanken haben, wie Evelyn.
 

Das Stehen wurde nach einiger Zeit mühsam, sodass sie ihr Gewicht immer öfter von einem Fuß auf den anderen wechseln musste, wobei die ohnehin noch den Kater vom gestrigen Treppensteigen verkraften mussten. Ab und an hörte sie Millicent ungeduldig ausatmen und Evelyn war sich sicher, dass wenn Millicent eine Uhr am Handgelenk gehabt hätte, sie ständig überprüfen würde, wie lange sie noch ausharren mussten.
 

Beachtete man die ungemütlichen Bedingungen nicht und die Tatsache, dass sie vermutlich in altem Dünger von Merlin woher standen, gefiel Evelyn der Unterricht sehr. Es war abzusehen, dass sie alle sehr viele praktische Stunden erwarteten, und wenn es eben nur das Umtopfen einer Blume war. Evelyn konnte schon jetzt erkennen, dass sie von diesem Unterricht mehr halten würde, als von dem zähen Verteidigungslehren, von Geschichte ganz zu schweigen. Außerdem gefiel ihr die kleine Professor Sprout, wie sie Dreck beschmutzt hinter dem Tisch stand, irgendwelche rund hängenden und sich windenden Efeuranken in Händen hielt und mit einer Begeisterung darüber erzählte, egal was für Gesichter einige der Anwesenden machten. Ihre Leidenschaft für ihr Fach würde über kurz oder lang alle anstecken, die es zulassen würden.
 

"Bevor ich Euch entlasse, Schüler, wenden wir uns den Keramikschalen vor Euch zu." Die Köpfe aller drehten sich zu den kleinen Geschenken, die Sprout anfangs ausgeteilt hatte.
 

"Sicher wollt Ihr wissen, was das ist."
 

"Ein Topf mit Erde", gab Anthony zum Besten, was Sprout mit einem humorlosen Kichern zur Kenntnis nahm. Anthony wirkte erschrocken von seinen eigenen Worten, so als habe er nicht vorgehabt seine Gedanken laut auszusprechen.
 

"Danke, Mr Goldstein, für diese ausgezeichnete Analyse." Professor Sprout griff sich ein übrig gebliebenes Exemplar und hielt es ähnlich wie die Ranken eben nach oben. "Dies hier wird Ihre Hausaufgabe der nächsten Monate."
 

"Monate?", murmelte Crabbe besorgt und auch die anderen stellten sich ähnliche Fragen, sodass die Lautstärke abrupt anwuchs. Professor Sprout brachte sie jedoch mit nur einem Wort zum Schweigen.
 

"Ruhe!" Sie wartete einige Sekunden um ihrer Aufforderung Gewicht zu geben, ehe sie mit einem freudigen Grinsen weiter sprach. "Dies hier ist mein Willkommensgeschenk an euch, Erstklässler. Jeder von Ihnen darf sich in Zukunft um ein besonderes Exemplar kümmern. Keine Angst", sagte sie versöhnlich, "es wird Sie nichts beißen. Zumindest noch nicht."
 

Ihre letzten Worte brachten niemanden dazu in Jubel auszubrechen. Für Evelyn hatte sie in diesem Moment große Ähnlichkeiten mit Hagrid, der bekannt dafür war die blutrünstigsten Tiere schön und harmlos zu reden. Zwei Kämpfer auf dem Gebiet der unverstandenen Fauna und Flora.
 

"Verzeihung, Professor?", meldete sich Mandy schüchtern. "Was genau ist denn da drin?"
 

Eine berechtigte Frage, die – wenn Evelyn Sprouts Zwinkern richtig deutete – nicht beantwortet werden würde. "Das sollen Sie herausfinden." Sie straffte sich und redete nun in neutralem, belehrendem Ton weiter. "Jede Pflanze, jedes Gewächs, hat seine eigenen Ansprüche. Manche mögen kein Wasser, wie die Succulent, die ich Ihnen zu Anfangs gezeigt habe. Wieder andere beziehen ihre Nährstoffe durch Käse, wie das Penglai-Blatt von gerade eben. Ich möchte, dass Sie sich Ihrer Pflanze annehmen, und sie zum Gedeihen bringen. Wie, das werden Sie in meinem Unterricht lernen."
 

Evelyn starrte mit gemischten Gefühlen auf ihren Topf. Ihre bisherige Beziehung zu Pflanzen war eher nüchtern gewesen. Sie war durchaus in der Lage eine Pflanze am Leben zu erhalten, dass sie einen grünen Daumen besaß, würde sie jedoch niemals behaupten.
 

"Werden wir dafür benotet, Professor?", fragte Draco, der mit unergründlichem Blick seine Pflanze in Händen hielt.
 

"Nein, Mr Malfoy. Allerdings dürfte die Aussicht eine Pflanze gedeihen zu lassen Ansporn genug sein, hoffe ich." Das Kinn streng nach oben gerichtet, sprach sie nun an alle. "Keines Ihrer Exemplare ist anspruchsvoll, sondern sie alle sind für Anfänger wie Sie geeignet. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Sie es schaffen werden Ihr Exemplar erfolgreich heranzuziehen."
 

Betretenes Schweigen breitete sich aus, bis Sprout euphorisch in die Hände klatschte. "Es mag zwar keine Bewertung geben, doch seien Sie versichert, dass es keine schönere Belohnung gibt, als einem jungen Spross zuzusehen, wie er beginnt zu blühen. Und nun, auf auf, Sie werden sicherlich woanders erwartet."
 

Mit diesen letzten Worten in ihren Ohren wurden sie entlassen. Evelyn schnappte sich ihr eigenes Pflänzchen, welches sie unschlüssig was sie sonst damit tun konnte, in ihren Händen haltend hinaus trug. Mit so einem Geschenk hatte wohl niemand gerechnet, wobei die Reaktionen darauf nun nicht unterschiedlicher sein konnten. Sie beobachtete einige Ravenclaw dabei, wie sie beim Verlassen des Gartens einige in den Beeten hochgewachsene Pflanzen betrachteten und mit ihren kleinen Töpfen verglichen. Eine völlig sinnlose Aktion, wie Evelyn fand. Doch auch ihre eigene Gruppe, die ohne auf sie zu achten vorne weg lief, war weniger begeistert.
 

"Was soll ich damit anfangen?", murmelte Crabbe zu Zabini, der seinen eigenen Topf spielerisch in die Höhe warf, so als wäre es ein Schnatz.
 

"Wie wäre es mit gießen, Vinc?", erwiderte er mit einem Grinsen.
 

"Aber sie hat doch gesagt, manche Pflanzen brauchen kein Wasser", mischte sich Goyle ein. Auch er starrte nur skeptisch auf das Geschenk in seiner viel zu großen Hand.
 

Evelyn hörte Millicents vertrautes Gekicher. "Betonung liegt auf manche. Gieß es einfach. Wenn es wächst, dann hast du Glück gehabt. Wenn nicht, ... tja." Millicent ließ offen, was passieren würde. Nicht, dass es für sie alle eine Rolle spielte, immerhin wurde diese Aufgabe nicht benotet. Goyle grummelte etwas, was jedoch von niemandem verstanden wurde.
 

Gemeinsam kehrten sie zurück ins Schloss, wo es sofort merklich kühler wurde, als es draußen in der Spätsommerhitze war. Niemand sprach mit Evelyn und diese versuchte auch nicht etwas zu erzwingen. Im Moment war sie zufrieden damit als Mitglied in der Gruppe geduldet zu werden, was mehr war, als sie heute Morgen noch erwartet hatte.
 

Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie Daphnes Rücken anstarrte. Auch die anderen, die vor ihr scherzten, betrachtete sie hin und wieder. Jeder von uns könnte dir etwas erzählen, hatte Millicent gesagt und Evelyn zweifelte nicht daran, dass unter ihrer Fröhlichkeit einige Geschichten verborgen waren, ähnlich derer, wie Daphne sie erlebt hatte. Nach und nach verschwammen die Versionen dieser Charaktere, dieser Nebencharaktere im Leben eines Jungen, mit den Versionen, wie Millicent sie ihr nahe gebracht hatte.
 

Ihr Griff um ihren Topf wurde fester als sie erkannte, dass auch sie bisher von allen insgeheim nur von Charakteren gedacht hatte, über die sie in einem anderen Leben gelesen hatte. Zwei Tage war noch nicht wirklich genug, um sie kennen zu lernen, doch schon jetzt konnte sie sagen, dass Millicent nicht einfach die Dumme, oder dass Pansy die eiskalte Zicke, oder dass Daphne nur die stumme Mitläuferin war. Ihr Blick fiel auf Zabini, der schief grinsend nach dem Zauberkunst-Zimmer suchte.
 

Zabini hatte einen verspielten Charakter, beinahe so sehr wie Millicent. Daphne war sehr sensibel und Pansy war eine loyale Freundin, wenn man sie zur Freundin hatte. Sie musste lernen sie als Menschen zu sehen, und nicht nur als Schachfiguren dieser Geschichte, die sie an Ort und Stelle halten und jeden ihrer Züge kontrollieren musste. Sie hatte gedacht, dass sie während ihrer Zeit mit Ollivander bereits ihre Sichtweise geändert hatte, doch hier in Hogwarts, am Kern der Sache, musste sie erkennen, dass dem nicht so war. Der rote Faden, der unscheinbar und bisher kaum bedrohlich von ihnen allen ausging, schlängelte sich ungesehen durch die Zeit. Eine Zeit, die nur Evelyn kannte. Erneut wurde ihr klar, dass egal, wie sie handeln würde, sie im Endeffekt nur Fehler machen konnte. Die roten Fäden hatten bereits begonnen sich auch um sie zu winden, obwohl sie ein Fremdkörper in alle dem hier war. Ein Zug von ihr an einem dieser Fäden und das Gebilde würde sich verändern.
 

Die Finger ihrer freien Hand verkrampften sich um die Ränder ihres Umhanges, als sie von Millicent heran gewunken wurde sich neben ihr in einer Reihe niederzulassen.
 

Der Raum war aufgeteilt in drei lange Reihen Bänke, an deren Spitze ein einsamer Stuhl mit viel zu großer Lehne stand, der flankiert wurde von mehreren unterschiedlich großer Stapel Bücher. Direkt auf sie herab fielen die von den hohen Fenstern gebrochenen Sonnenstrahlen, die hoch über ihnen die Wände durchbrachen.
 

Wenn du das mal nicht irgendwann bereust, dachte Evelyn, als sie einen imaginären Faden nahm und daran zog. Mit festem Schritt ging sie auf die Reihe Slytherin zu und ließ sich neben einer quirligen Millicent nieder.
 

Diese Kinder, diese Menschen, hatten eine wichtige Zukunft vor sich, die Evelyns höchste Priorität auf lange Sicht war.
 

"Ich werde jedoch nicht in der Zukunft leben, sondern jetzt", murmelte Evelyn. Den Topf hatte sie vor sich abgestellt und drehte ihn mit den Fingerspitzen hin und her.
 

"Hast du was gesagt?", fragte Millicent. Evelyn blinzelte und schaute in die grau-grünen Augen des anderen Mädchens.
 

"Professor Flitwick lässt sich Zeit", wiederholte sie ihre falschen Worte. Kaum, dass die es ausgesprochen hatte, betrat der kleine Zauberer, dessen Umhang einem Kind kleiner als sie gepasst hätte, den Raum.
 

Ende Part 2

Interlude

Ihre Sicht verschwamm vor ihren Augen, Formen und Gestallten waren kaum zu erkennen vor dem dunklen Hintergrund. Lichter flammten in unregelmäßigen Abständen auf, doch kaum eines schaffte es die Dunkelheit zu durchdringen; sie waren zu weit entfernt.
 

Egoistisch.
 

Kalter Schauer fuhr ihr den Rücken entlang, doch sie konnte nicht unterscheiden, ob es der eisige Wind war, oder ihre eigene Anspannung, die ihre Nerven zum Beben brachte. Ihre Atmung war außer Kontrolle, genauso wie die ganze Motorik ihres Körpers. Jeder ihrer Finger zitterte und die Unruhe hatte sich bereits bis hin zu ihren Zehen ausgebreitet. Sie schmeckte Blut und spürte ihre schmerzende Zunge, auf die sie sich gebissen haben musste. Wann war das passiert?
 

Unter dem ansteigenden Gefühl sich übergeben zu müssen schluckte sie die Menge Blut hinunter und zuckte zusammen. Jede Bewegung ihres zitternden Körpers sendete neue Wellen des stechenden Schmerzes durch ihre Muskeln.
 

Schuld. Deine Schuld.
 

In dem Versuch die Schmerzen auszublenden, die sich tief in ihre Nerven gefressen zu haben schienen, presste sie ihre Augen zusammen. Doch die Lichter, die bisher kaum das dunkle Meer vor ihr durchstoßen hatten, drängten sich nun durch ihre Lider und begannen sie zu blenden. Stöhnend hob sie die Hände und presste in einem stummen Schrei ihre Handflächen gegen das Gesicht. Zumindest glaubte sie das. Denn im nächsten Atemzug stand sie unbewegt und wie eine Puppe an Ort und Stelle, die Augen starr nach vorne gerichtet. In der Dunkelheit geschah etwas, sie fühlte es, nein, sie wusste es, doch ... sie war unfähig es mit ihren Gedanken zu begreifen. Da war nur die stumme Ahnung eines weit entfernten Geschehens.
 

Selbstsüchtig.
 

Ihr Atem, wenn es denn ihr Atem war, rasselte. Wieder spürte sie etwas an ihrem Rücken, einen Druck, der sich ihre Wirbelsäule hoch fraß und schließlich kreisend in ihrem Nacken verweilte.
 

"Was dort noch alles verborgen ist, kleines Mäuschen?"
 

Egoistisch.
 

Unterbewusst lehnte sie sich nach vorne, um dem Griff, der sich bereits begann sich um ihren Hals zu winden, auszuweichen, doch der plötzlich aufflammende Schmerz ließ sie zusammenfahren, sogar beinahe umkippen. Sie wäre in die Knie gegangen, wenn der eisige Griff sie nicht halten würde, ihr dadurch jedoch die Luft abschnitt.
 

In dem Versuch etwas zu sagen öffnete sie den Mund, doch außer einem Röcheln brachte sie nichts hervor. Die Stimme, die sich in ihrem Kopf zu befinden schien, verspottete sie, den Druck verstärkend.
 

"Ja, ich weiß. Ich weiß. Du hast das einzig richtige getan, kleines Mäuschen."
 

Der Hohn in der Stimme sickerte in jede ihrer Poren, hinterließ jedoch das schwere Gefühl dieser Stimme bedingungslos vertrauen zu wollen, sich der Stimme hinzugeben. Die Stimme konnte dafür sorgen, dass es aufhörte. Dass der Schmerz aufhörte.
 

So töricht.
 

Die Finger um ihren Nacken verlängerten ihren Griff, bis sie ihre Wange erreichten. Beinahe zärtlich strichen die Finger die Linie ihres Gesichtes entlang, bis sie an ihrer Schläfe verweilten. Ein weiteres Paar Hände legten sich auf ihre Schulter und streiften ihren nackten Unterarm entlang, bis sie glaubte statt Finger würde sie Rasierklingen berühren, so unangenehm war ihr auch nur der geringste Kontakt.
 

"Zeig es mir, zeig mir mehr!"
 

Schuld.
 

Zufriedenes Gelächter verschiedener Stimmen um sie herum füllten ihre Ohren, doch sie fixierte gebrochen die Lichter im dunklen Meer. Regen hatte eingesetzt, der ungewöhnlich verlangsamt auf sie alle niederfiel und sie wie Staub bedeckte. Die Finger dutzender Hände malten Muster in die staubige Schicht des Regens, doch sie glaubte diese so zärtliche Geste würde sie bis hinunter auf die Seele brandmarken.
 

Wahl.
 

"Zeig es mir, kleines Mäuschen."
 

Es war ihre Wahl, ihre Entscheidung, aus freien Stücken hatte sie sich entschieden. Letztendendlich wollte sie hier sein, der Schmerz war nur eine Illusion. Wie konnte etwas schlecht sein, wenn sie sich dafür entschieden hatte? Sie formte Worte mit ihren spröden Lippen, die niemand verstanden, die noch nicht einmal ihre eigenen Ohren erreichte. Hatte sie etwas gesagt, oder war das auch nur eine Illusion gewesen?
 

Ihre leeren Augen fixierten noch immer das dunkle Meer, als sich ihr Gesicht zur Grimasse verzog. Sie lachte.
 

Beinahe im selben Augenblick blendete sie weiß grelles Licht, das innerhalb eines Lidschlages jeden Schatten vertrieb. Das Licht kam zuerst, dann der Lärm. Bisher war da nur die Stimme gewesen, wo war die Stimme? Sie wollte sich umdrehen, doch ihr Körper war wie paralysiert von dem Licht.
 

Du hast keine Wahl!
 

Ein Schlag traf sie gegen die Brust und sie glaubte Knochen brechen zu hören. Ausgerechnet nun war sie völlig taub, alles schien von ihr abzufallen, wie sie ähnlich langsam wie der Regen zu fallen begann. Die Finger an ihrem Rücken, im Gesicht und ihren Armen hatten sich genauso schnell zurück gezogen, wie das Licht aufgetaucht war. Etwas drückte sie nach hinten und sie erwartete gegen etwas zu stoßen, gegen das Etwas, das mit ihr im Verborgenen gesprochen hatte, doch der Aufprall kam nicht.
 

Du hast keine Wahl...

Kapitel 30 - Nervenkostüm

Unruhig trommelte sie mit ihren Fingern auf den Holztisch in der Großen Halle. Das Frühstück war beinahe beendet, doch Evelyn hatte kaum mehr als einen Bissen hinunter zwängen können. Selbst die Ankunft der Eulen, die sie bisher als unangenehme Störung wahrgenommen hatte, hatte sie heute nicht bemerkt. Mit glasigen Augen starrte sie auf den Inhalt ihrer Tasse, wo jede ihrer klopfenden Bewegungen den Kürbissaft zum Vibrieren brachte, sodass er hypnotische Kreise zog.
 

Noch immer spürte sie die Folgen der letzten Nacht, die ein so abruptes Ende genommen hatte...
 

Japsend riss sie die Augen auf und war für einen kurzen Moment völlig orientierungslos. Ihre Nachtkleider klebten nass von kaltem Schweiß an ihren Gliedern, sogar die Matratze unter ihr war unangenehm klamm.
 

Die Hand auf der Brust, wo sie ihren rasenden Puls nur allzu deutlich spürte, versuchte sie langsam zu atmen und ihre Gedanken zu ordnen.
 

Was ist hier los?, schoss es ihr durch den Kopf, während sie mit der freien Hand zur eigenen Beruhigung über die Bettdecke strich; mit wenig Erfolg. Sie konnte sich nicht erinnern, was sie gerade im Traum gesehen hatte, zumindest glaubte sie etwas im Traum gesehen zu haben. Alles, was geblieben war, war die Panik und das seltsame Gefühl nicht alleine zu sein.
 

Du wirst hier noch wahnsinnig.
 

Abwesend strich sie sich mit den Fingern über die Wange, eine harmlose Geste, die ihr plötzlich zuwider war. In der Hoffnung die Panikattacke zu überwinden schloss sie die Augen, legte ihr Gesicht in ihre Hände und versuchte ihren Geist zu leeren, was beinahe unmöglich war. In pfeifenden Geräuschen durchstieß ihr Atem die kleinen Zwischenräume ihrer Finger, die zitternd auf ihrer feuchten Haut lagen.
 

Sie hatte noch nie einen derartigen Albtraum gehabt, der sie schweißgebadet aus dem Schlaf riss, schon gar nicht die Art, die Panikattacken hervorrufen würde, und sie konnte sich nicht erklären, wieso sie ausgerechnet jetzt so etwas erlebt hatte. Gleichzeitig wünschte sie sich, nie wieder diese Erfahrung machen zu müssen. Obwohl sie sich an nichts erinnern konnte, so war das belastende Gefühl geblieben, das jede ihrer Innereien zu erdrücken schien.
 

Während die Sekunden verstrichen wuchs in ihr der Drang den Schlafsaal zu verlassen. Sie hoffte draußen, wo auch immer draußen war, einen klareren Kopf zu bekommen. Im Grunde war es ein Wunder, dass keines der Mädchen aufgewacht war. Evelyn glaubte ihr Atmen hätte laut genug sein müssen, damit man es selbst im Zimmer nebenan hören musste, doch auch das war wohl nur Einbildung während ihrer Panik gewesen. Barfuß und mit noch immer zitternden Händen verließ sie in wenigen Schritten das Zimmer. Ohne ein Ziel im Kopf zu haben lief sie die Treppe hinauf, ließ sich von ihren Füßen tragen, bis sie im völlig leeren Gemeinschaftsraum angekommen war. Das Feuer im Kamin war zu einem kleinen Gluthaufen geschrumpft, der keine Wärme mehr spendete. Auf einem der Sessel im Räum würde sie sich wie auf dem Präsentierteller vorkommen, auch wenn es niemand gab, der sie hätte sehen können. Ohne die bequemen Möbel zu beachten, steuerte sie zielsicher zu den großen Fenstern und griff nach den Kissen, die sie hastig zusammenschob, ehe sie sich darauf niederließ. Die Beine angezogen lehnte sie mit dem Rücken gegen das Glas, welches angenehme Kälte ausstrahlte.
 

Der Temperaturwechsel ließ sie erschauern und es dauerte nicht lang, bis sie nicht nur vor Anspannung zitterte, sondern weil sie fröstelte. Trotzdem verharrte sie an Ort und Stelle.
 

Tief einatmend fuhr sie sich durch die Haare, die an ihren Fingern kleben blieben. Ihr fehlten noch immer alle Details darüber, was sie derart in Angst versetzt hatte, doch sie bemühte sich nicht, sich zu erinnern. Das beklemmende Gefühl und die Panik waren genug um zu wissen, dass sie es vermutlich nicht noch ein zweites Mal sehen musste. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den dunklen Gemeinschaftsraum, der nur durch gedämpfte grüne Lampen gerade so viel erhellt wurde, dass man die Umrisse der Einrichtung sah. Hier würde sie warten, sagte sie sich. Darauf, dass sie sich beruhigt hatte, oder bis der Morgen kam, was auch immer zuerst eintreffen würde.
 

"Evelyn? Hey?" Ein leichter Druck gegen ihre Schulter riss sie aus ihren Erinnerungen der vergangenen Stunden. Blinzelnd fokussierte sie ihre Augen auf die Umgebung vor ihr, wendete sich von dem Saft ab und starrte in das Gesicht einer besorgten Millicent. Die Große Halle hatte sich deutlich um sie herum geleert.
 

"Wir müssen los", sagte sie und nickte mit dem Kopf Richtung Tür.
 

Evelyn schluckte den säuerlichen Geschmack, der sicherlich nicht nur vom Kürbissaft kam, hinunter. "Ja, entschuldige, ich bin heute nicht ganz bei mir", sagte sie vielleicht eine Spur zu nervös.
 

"Du hast auch kaum gegessen. Fühlst du dich nicht gut?"
 

"Nur etwas müde, es ist doch später als erwartet geworden, heute Nacht."
 

Die richtige Antwort wäre gewesen Ganz und gar nicht, aber sie hätte ja noch nicht einmal erklären können, weshalb sie innerlich aufgewühlt war. Dank der Strafarbeit für ihren Hauslehrer hätte sie erwartet eher von verärgerten Kesseln oder schmollenden Vertrauensschülern zu träumen als von dem, was auch immer sie so unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte.
 

Die Strafarbeit hatte sie einiges abverlangt. Nach Flitwicks Unterricht hatten sie direkt zum Abendessen gehen können, so spät war es geworden. Trotzdem war Evelyn eine der ersten gewesen, die sich zurückgezogen hatte in dem Wissen sich für Snape noch eine Strafarbeit in beachtlicher Länge aus dem Ärmel schütteln zu dürfen. Sie hatte noch nicht einmal einen Titel gehabt außer]Was es bedeutete sich Anweisungen zu widersetzen; ein Essay. Sie hatte gelernt in Essays und Hausarbeiten zu faseln, dafür hatten drei Jahre Leistungskurs Deutsch und die Not sich in sechs Stunden Klausur den größten Mist aus den Fingern auf das Blatt zu ziehen gesorgt. In diesem Fall hatte sie jedoch zu großen Respekt vor dem Empfänger gehabt, weshalb sich etwas in ihr sperrte und sich weigerte sinnlos zu schwafeln.
 

Die anderen waren keine Hilfe gewesen, sondern hatten Evelyn an ihrer persönlichen Kommode ungestört arbeiten lassen; wobei die Hälfte der Anwesenden sowieso agierten, als sei Evelyn gar nicht da.
 

Schließlich, aus Zeitnot heraus, hatte sie doch geschwafelt um die von ihm geforderte Länge zu erreichen und war als letzte zu Bett gegangen. Die vage Beschreibung zu erläutern was passierte, wenn man sich Anweisungen widersetzte, hatte ihr am Ende sogar geholfen.
 

Der Abend war rückblickend gesehen vollkommen normal gewesen. Während sie über ihrem Essay gesessen hatte, hatten die anderen gerätselt was sie mit den Pflanzen von Professor Sprout machen sollten, ehe sie in abendlicher Routine eine nach der anderen hinter ihren Vorhängen verschwunden waren. Es gab keinerlei besondere Vorkommnisse, für Hogwarts Verhältnisse ein friedlicher und normaler Abend sondergleichen und geradezu langweilig.
 

Du wirst wirklich noch verrückt, wiederholte sie ihre eigenen Worte vom Morgen in Gedanken, als sie zusammen mit Millicent hinunter in die Kerker schritt. Die metallenen Kessel und Rührsets, die an ihren Taschen befestigt waren, klimperten bei jedem Schritt. Glücklicherweise waren die topfgroßen Kessel weitaus leichter und handlicher zu transportieren, als das vermaledeite Teleskop.
 

"Bist du auch gespannt, wie Tränke wohl werden wird?"
 

Unverfängliches Gerede, das konnte Millicent. Evelyn nahm die Ablenkung gerne an und zog ihren Mund amüsiert zu einer schmalen Linie. "Ich denke, so heiter wie Zauberkunst wird es nicht werden."
 

Flitwick hatte die ganze gestrige Stunde über wie ein Honigkuchenpferd von einem Ohr zum anderen gegrinst und ausgiebige Gespräche mit jedem einzelnen geführt, was auf Dauer ziemlich ermüden geworden war. Es schien, als hätte er es sich zur Aufgabe gemacht jeden seiner Schüler persönlich kennen zu lernen, was sie eher Professor Sprout zugetraut hätte, und nicht dem Hauslehrer der Ravenclaw. Doch der kleine Mann hatte sich, ganz im Stil von Professor Binns, von dem sich häufenden Gähnen nicht aus der Ruhe bringen lassen und jeden von seinem Platz auf dem erhöhten Sitz aus interviewed. Evelyn war dabei fast ins Schwitzen gekommen, da er Fragen gestellt hatte, über deren Antwort sie noch nie nachgedacht hatte. "Kennen Sie einige französische Zaubersprüche, Miss Harris?", hatte er plötzlich euphorisch posaunt. "Unterscheidet sich unsere Magie von der Ihrer?" "Benutzen Sie andere Zauberstabbewegungen, gibt es die französische Art zu zaubern?", sind nur einige der Beispiele, mit denen er Evelyn gequält hatte. Sie hatte sich schließlich herauswinden können indem sie mehrmals betont hatte, noch keine Erfahrungen im Zaubern gehabt zu haben um diese Fragen zu beantworten; natürlich. Ein Seitenblick auf die auffällig stillen Klassenkameraden verriet, dass die Mehrheit natürlich ebenfalls noch keinerlei Erfahrungen gemacht hatte. Flitwick entschuldigte sich peinlich berührt, ehe er mit dem nächsten Schüler auf seiner Liste fortfuhr. "Ich habe keine Erfahrung im Zaubern, Professor", hatte sie Zabini neben ihr leise in gestellter Stimme sagen hören.
 

"Wir doch nicht", war Dracos Antwort gewesen.
 

"Nein, ich glaube Snape ist niemand, der gerne redet. Eine Fragestunde wird das wohl nicht." Millicents Kommentar holte sie in die Gegenwart zurück.

Du hast ja keine Ahnung, Kind.
 

Vorfreude machte sich breit, die sogar ihre düsteren Gedanken beinahe vertrieb. Sie brachte sogar ein echtes Lachen zu Stande.
 

"Was grinst du denn?", fragte Millicent, kurz bevor sie das Tränkezimmer erreichten, wo bereits ein großer gespaltener Haufen wartete.
 

"Das ist nur die Nervosität", log sie, den Kopf gesenkt.
 

Als sie ankamen, wurde die Luft um sie herum schlagartig dünner, und das lag nicht an dem Kerkergang, der sich unterhalb der Wasserlinie befand. Evelyn realisierte, dass sie heute eine Premiere hatte: dies würde die erste Stunde sein, in der nur Gryffindors und Slytherins anwesend sein würden, was ohne Hufflepuff oder Ravenclaw als neutrale Sperrzone eine explosive Mischung war. Es dauerte nicht lange, bis aus den feindseligen Blicken auf beiden Seiten die ersten Kommentare flogen.
 

Evelyn hingegen starrte zur in rot gekleideten Gruppe, so als sähe sie sie zum ersten Mal. Jeder einzelne sah so anders aus und doch erkannte sie jeden. Parvati, die gedankenverloren ihre zu einem dicken Zopf geflochtenen schwarzen Haare streichelte, stach besonders heraus, während sie mit Lavender redete. Man sah Parvati bereits schon jetzt an, dass sie zu einer natürlichen Schönheit heranwachsen würde. Ihre gebräunte Haut war makellos und ihre dunklen Augen funkelten jedes Mal, wenn sie blinzelte. Ein starker Kontrast zur beinahe biederen Lavender. Zu Evelyns Überraschung ähnelte Lavender ihr in dieser Form sogar, mit ihren kurzen blonden Haaren und hellen Augen.
 

Noch nicht die Freude am Schminken entdeckt, Lavender?
 

Ein Junge mit dunkler Haut stach durch seine schiere Größe heraus, Dean Thomas. Neben ihm, unverkennbar mit seiner schiefen Krawatte und zerknittertem Umhang, war Seamus Finnigan, dessen Sommersprossen auch im Fackellicht deutlich zu sehen waren. Abseits stand Hermine und dort, bei einem plumpen blonden Jungen, den Evelyn schon einmal mit seiner Großmutter in Ollivanders Laden gesehen hatte, stand der schlaksige Rotschopf Ron Weasley in seinem verbleichten Umhang und ein noch immer dünner Harry Potter, der aussah, als wollte er sich in seinen Mantel verkriechen und von niemandem gesehen werden. Evelyn überkam sofort ein nostalgisches Gefühl, als sie ihn zum ersten Mal so dicht sah und sie konnte nicht leugnen, dass sie den Wunsch hatte hinüber zu gehen und mit ihm zu reden. Und wenn es nur ein freundliches Hallo war. Doch das ging nicht. Sie gehörte nicht dort hin, sondern hierher.
 

Beide schielten zu ihnen herüber und immer wieder flüsterte Ron Harry etwas in Ohr, was niemand außer den beiden und vielleicht der rotbackige Neville verstand.
 

Mit einem Mal spannten sich die beiden an und als Evelyn sich umdrehte sah sie, dass das Erscheinen von Draco die Gemüter nur noch mehr erhitzte.
 

Jungs, wartet wenigsten fünf Minuten, bis ih-
 

"Hey, Weasley, hast du einen Kessel ohne Loch bekommen?", rief Draco unter dem Gelächter von Crabbe dem Gryffindor entgegen.
 

"Schön, dass ihr auch den Weg aus eurem Erdloch gefunden habt!", erwiderte Ron mit schriller Stimme. Evelyn musste sich ein Grinsen verkneifen, da die beiden Jungs, ohne im Stimmbruch gewesen zu sein, wie zickende Mädchen klangen. Mit tiefen Stimmen würde ihr Kräftemessen vielleicht eindrucksvoller sein.
 

"Kein Wunder, dass sie so blass sind, man hat sie ja in den Keller gesteckt." Und da sind die Mädchen.
 

Die Gryffindor lachten über Parvatis Bemerkung, sodass Millicent sich beschämt wegdrehte, wobei sie sich hinter ihren Haaren versteckte. Pansy hingegen baute sich vor den lachenden Gryffindor auf.
 

"Besser, als den ganzen Tag den Kopf in den Wolken zu haben, da verliert man den Anschluss an die Realität."
 

Seamus trat nach vorne und wirkte neben Pansy fast winzig. Trotzdem reckte er den Kopf, ehe er mit schwerem Akzent zu reden begann. "Will eine wie du uns etwas über Realität erzählen?"
 

Draco kam hinzu und schwellte die Brust. "Willst du damit etwas sagen, Finnigan?"
 

Gerade, als Ron sich zu der Gruppe gesellte und den Mund aufmachen wollte, sprang die Tür auf, in deren Schwelle ein in schwarz gekleideter Lehrer stand und die Gruppe missbilligend betrachtete.
 

"Was auch immer Sie sagen wollten, Mr Weasley, ich bin sicher es ist wert fünf Punkte abgezogen zu werden." Er ließ seine Worte kurz wirken, ehe er mit einem Schritt den Weg hinein in das Tränkeklassenzimmer frei gab.
 

"Euer Glück, dass Snape euch gerettet hat", fluchte Ron, als er hineinging, wobei er Evelyn mit der Schulter anrempelte, die im gleichen Augenblick wie er entschieden hatte das Zimmer zu betreten.
 

"Gerettet vor einer Horde unzivilisierter, sich aufplusternder Gryffindor? Mir schlottern die Knie", erwiderte Evelyn, die sich sofort eine Ohrfeige hatte geben wollen. Ihr Nervenkostüm war heute Morgen sowieso angespannt, was sie gefährlich schnell die Fassung verlieren ließ. Sie mahnte sich zur Ruhe und ließ Ron passieren, Millicent hingegen nickte belustigt, ehe sie sich auf den Platz setzte.
 

Das Zimmer war leicht abschüssig und von allen Seiten waren sie von Regalen voller Gläser umschlossen. In jedem der Gläser, klein oder groß, waberten die seltsamsten Dinge in halb transparenten Flüssigkeiten. Evelyn konnte nicht sagen, ob der Inhalt der staubigen Gläser, von denen manche ganze Augenpaare in sich trugen, nur zur Abschreckung gedacht waren oder tatsächlich Verwendung in Zaubertränken fanden. Beides erschien Evelyn logisch.
 

Ihre Reihen wurden in regelmäßigen Abständen durchbrochen. Dort, wo es Lücken zwischen ihren Tischen gab, waren kleine Löcher in den Boden eingelassen, über denen metallene Gestelle angebracht waren. Um die Löcher herum waren deutliche Brand- und Nutzungsspuren der letzten Jahrhunderte zu sehen, die sich auf ewig in den Stein der Schule eingefressen hatten.
 

Erstaunlicherweise roch es weder unangenehm, noch nach aromatischen Kräutern. Stattdessen hing ein eher neutraler Duft nach Öl in der Luft.
 

Evelyn tat es den anderen nach und hing ihren Kessel in das Gestell über dem Loch zu ihrer Rechten, als sich die Tür mit einem lauten Knall schloss, wodurch alle sofort verharrten und Stille herrschte. Sie hätte beinahe mitsprechen können, so genau kannte sie die Worte, die nun folgten.
 

"Jeder von Ihnen ist hier um die schwierige Wissenschaft und exakte Kunst der Zaubertrankbrauerei zu lernen." Jede Silbe war deutlich gesprochen, auch wenn es beinahe ein Flüstern war, während er die Reihen nach vorne durchschritt und sich vor ihnen aufbaute.
 

"In meinem Unterricht dürfen Sie nur wenig albernes Zauberstabgefuchtel erwarten, und deshalb werden viele unter Ihnen kaum glauben, dass es sich um Zauberei handelt."
 

Millicent schluckte schwer und rutschte mit blassem Gesicht auf ihrem Schemel hin und her. Evelyn griff mit ihrer Linken nach ihrer Hand, die eiskalt war, und drückte leicht zu. Snape war einschüchternd, das musste auch Evelyn zugeben, doch Angst musste Millicent nicht haben.
 

"Kaum einer von Ihnen wird es lernen die Schönheit des leise brodelnden Kessel mit seinen schimmernden Dämpfen zu sehen, die zarte Macht der Flüssigkeiten, die durch die menschlichen Venen kriechen, den Kopf zu verhexen und die Sinne zu betören..."
 

Ein unangenehmes Kribbeln fuhr ihr über die Haut als sie glaubte, ihre Tränke, die sie heute Morgen genommen hatte, würden sich jetzt in diesem Moment wie Kakerlaken durch ihre Adern fressen. Ein unschöner Gedanke.
 

"Ich kann Euch lehren, wie man Ruhm in Flaschen füllt, Ansehen zusammenbraut, sogar den Tod verkorkt – sofern Ihr kein großer Haufen Dummköpfe seid, wie ich ihn sonst immer das Vergnügen habe in dieser Klasse zu unterrichten."
 

Danke, für diese aufmunternden Worte, dachte Evelyn belustigt, als Snape geendet hatte und eher gelangweilt nach der Namensliste griff.
 

Ihre Klassenkameraden hingegen saßen wie Statuen an ihren Plätzen, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen. Von jedem kam nur ein heiseres anwesend, als Snape ohne aufzuschauen die Liste durchging. Nur bei einem hielt er erwartungsgemäß inne.
 

"Ah ja, Mr Potter, welch eine Freude eine wahre Berühmtheit unter uns zu haben."
 

Evelyn lehnte sich nach vorne und ließ ihre Feder gedanklich abwesend über ihrem Pergament kreisen, eifrig zu hören, was gleich passieren würde. Ihre Hand mit der Feder bewegte sich fast von allein.
 

"Sagen Sie, Potter, was bekomme ich, wenn ich einem Wermutaufguss geriebene Affodillwurzel hinzufüge?"
 

Auch ohne ihr Vorwissen sah Evelyn dem armen Harry an, wie verloren er war derart mit Fachwissen konfrontiert zu werden. Einerseits hatte sie Mitleid, andererseits war sie ähnlich euphorisch wie in dem Moment, als ihr Zauberstab zum ersten Mal Funken für sie gesprüht hatte. Hermine wedelte wild mit der Hand, was Professor Snape, der wie ein Schatten über Harry thronte, nicht im Geringsten interessierte.
 

Das ist besser als Kino!
 

Snape wartete kaum auf Harrys Entschuldigung, ehe er die nächste Frage stellte. "Schade. Versuchen wir es erneut, Potter. Wo würden Sie suchen wenn Sie einen Bezoar beschaffen müssten?"
 

Auch das konnte er nicht wissen, und so folgte schließlich die letzte Frage.
 

"Etwas Einfacheres, vielleicht? Was ist der Unterschied zwischen Eisenhut und Wolfswurz?"
 

Evelyn senkte den Blick und konzentrierte sich darauf eine neutrale Miene beizubehalten. Die Ironie der Szene vor ihr war beinahe zu viel für sie.
 

"Was ist los?", fragte Millicent leise. Nun war es an Millicent Evelyns Hand zu drücken, die noch immer auf der ihren ruhte.
 

"Nichts, ich habe nur Mitleid", versuchte sie mit einem Lächeln zu sagen, "mach dir keine Sorgen."
 

Gerade als Millicent etwas erwidern wollte, durchschnitten zwei Worte die Luft und ließ sie beide zusammenzucken.
 

"Miss Harris!" Die Köpfe ihrer Klassenkameraden wendeten sich in einer gemeinsamen Bewegung weg von Harry und, zu Evelyns eigenem Horror, direkt zu Millicent und ihr. Ihr Mund wurde trocken, als sie hastig ihre Hand von Millicents zog und sie flach vor sich auf das Pergament legte.
 

Sie starrte den Tränkeprofessor an, der sie mit Stille strafte und mit kalten Augen betrachtete.
 

"Verzeihung, Sir."
 

Professor Snape schritt langsam, mit hinter dem Rücken gefalteten Händen auf sie zu, bevor er vor Millicent und ihr stehen blieb. Mit jedem Schritt, den er gemacht hatte, hatte sie ihre Hand weiter auf ihr Pergament geschoben, ja sogar ihre zweite darauf gelegt, sorgfältig darauf bedacht jedes Wort zu bedecken, das dort stand.
 

"Wollen Sie der Klasse die Antworten nennen?"
 

Evelyn schluckte schwer, als die Frage gedämpft in ihr Bewusstsein drang.
 

Sag es, schoss es ihr durch den Kopf. Der Wunsch etwas richtig zu machen, das Verlangen eine richtige Antwort zu geben, war beinahe überwältigend. Sie wusste, was er hören wollte, jede einzelne Antwort stand vor ihr, auf dem Pergament, verdeckt unter ihren schwitzigen Fingern.
 

Sag es.
 

Sie wusste, was er hören wollte und sie wusste, von wem er es hören wollte.
 

"Nein, Sir", brachte sie schließlich heraus. Sie war erstaunt, wie fest ihre Stimme geklungen hatte. Eigentlich hatte sie erwartet nur ein Röcheln zustande zu bringen. Weder Millicent, noch sonst jemand wagte es auch nur laut zu atmen.
 

Genau denselben Effekt hatte auch McGonagall auf ihre Schüler, und doch konnten sie und Snape unterschiedlicher nicht sein.
 

"Nein, Sie wollen nicht?" Er neigte den Kopf leicht zur Seite, sodass ihm ein Teil seiner Haare über die Wange rutschte.
 

In diesem Mann steckt wirklich irgendwo ein Sadist.
 

Ihre Gedanken waren weitaus rebellischer, als sie es sich je trauen würde zu sagen. "Nein, Sir, ich kenne die Antworten nicht."
 

Ein zufriedenes Lächeln, das kaum die Augen erreichte umschmeichelte seine Lippen. Plötzlich streckte er ihr einen seiner bis ans Handgelenk zugeknöpften Arme entgegen.
 

"Ich hoffe doch sehr Ihre Strafarbeit ist aufschlussreicher, als Ihr wortkarges Gestammel." Ihr Puls stieg höher als sie realisierte, dass er den Aufsatz verlangte, der sich irgendwo in ihrer Tasche befand. Eine Tasche, die außerhalb ihrer Reichweite lag. Sie würde die Hände vom Tisch nehmen müssen um danach zu greifen, doch wenn sie das tat, ...
 

"Miss Harris, ich habe wichtigere Dinge zu tun, als hier vor Ihnen zu stehen." Ungeduldig fächerte er mit seinen schlanken, blassen Fingern vor ihrem Gesicht. Evelyn nickte und zog ihre Hände mit einem Ruck vom Tisch, als wollte sie sich beeilen seiner Forderung nachzukommen, und riss scheinbar ungeschickt das Pergament vom Tisch. Es segelte langsam zu Boden, was Snape desinteressiert noch nicht einmal zur Kenntnis nahm, während sie hastig nach dem Essay suchte und es ihm aushändigte. Ohne ein weiteres Wort nahm er es entgegen und kehrte nach vorne vor die Klasse zurück.
 

Hermine wedelte indes noch immer ungerührt von der Situation mit ihrem Finger, eifrig endlich die Antworten geben zu dürfen, die er suchte.
 

Alles spielte sich vor Evelyns Augen ab, die noch immer angespannt auf ihrem Platz saß. Die Szene war durchbrochen worden, einfach so. Es hätte anders verlaufen müssen und plötzlich wünschte sie sich, nicht in einem Unterricht zu sitzen, den sie bereits kannte.
 

Sie bereitete sich innerlich vor alles wieder auf Kurs zu bringen, öffnete bereits die Lippen, um die Worte zu sagen.
 

"Ich glaube Hermine weiß die Antwort, wieso nehmen Sie nicht sie?"
 

Erleichter den Satz aus Harrys naivem Mund zu hören, stieß Evelyn einen leisen Seufzer aus und lehnte sich ein wenig in ihren Sitz, während sich vor ihr das Drama weiter abspielte und sich ihre Nervosität langsam legte. Eine sanfte Berührung an der Schulter forderte schließlich zum zweiten Mal an diesem Tag ihre Aufmerksamkeit. Millicent hob ihr das Pergament entgegen, das sie absichtlich zu Boden gerissen hatte.
 

"Dank-"
 

Plötzlich stutzte Millicent und zog das Pergament abrupt zurück. Ungläubig starrte sie auf die wenigen Worte, die Evelyn einfältig und von der Situation mitgerissen geschrieben hatte. Antwort nach Antwort glich sie mit dem ab, was Snape just in diesem Moment für alle Ohren verkündete.
 

"Woher ... wieso, wieso hast du ihm nicht geantwortet?" Sie schüttelte fasziniert den Kopf. "Die ... das sind die Antworten! Alles richtig."
 

Mit einem Mal kam Bewegung in die Klasse, da alle nach einem Pergament griffen und hastig notierten, was ihr Lehrer ihnen gerade über Bezoare oder Wermut erzählt hatte.
 

Millicent wirkte nicht wütend, sondern ehrlich überrascht, als sie Evelyn endlich das Pergament zuschob. Ohne etwas zu sagen öffnete sich Evelyns Mund, nur um sich wieder zu schließen. Wie sollte sie ausgerechnet einer Slytherin erklären, dass sie freiwillig auf Lob verzichtet hatte?
 

"Er wollte die Antworten von Potter, nicht von mir!", gab sie zu, doch Millicent blieb stutzig.
 

"Aber er hat dich gefragt."
 

Darauf wusste sie nichts zu erwidern, weshalb sie es vorzog fürs erste zu schweigen.

Kapitel 31 - Letzte Sommertage

Hatte sie sich noch in den anderen Fächern mehr Praxis gewünscht, so kam die in Zaubertränke für viele zu plötzlich. Snape hatte nicht lange gewartet und sie beinahe sofort beauftragt ihren ersten Trank zu brauen; ein einfaches Elixier gegen Furunkel. Ihr Lehrer hatte es einen Test genannt und es dementsprechend nicht für nötig gehalten ihnen irgendetwas zu erklären.
 

Stattdessen war er durch die Reihen geschritten, hatte beinahe für jeden Kessel nur ein irritierendes Naserümpfen übrig und ansonsten mit Hilfestellungen gegeizt. Evelyns Erfahrungen im Zaubertrankbrauen waren sehr gering, doch ihre eigenen Studien vor dem Schuljahr hatten ihr wenigstens gelehrt, wie mit Zutaten umzugehen war und wie man sie entsprechend vorbereitete. Da konnte selbst der von Snape als einfach betitelte Trank zur Unmöglichkeit werden, wenn man die Zutaten in Stücke, statt in Hälften schnitt, oder die Zutaten in der falschen Reihenfolge hinzugab; so banal es klang.
 

Diese Erklärung hatte schließlich Evelyn übernommen, als Millicent bereits zu anfangs beinahe alles mit zermahlenen Nesseln ruiniert hätte. Zu zweit arbeiteten sie an ihrer Aufgabe, wobei Evelyn den Großteil der Arbeit übernahm. Sogar Pansy hatte, zu Daphnes Ärger, irgendwann Evelyn um Rat gefragt, als deren Trank transparent geworden war. Evelyn konnte zwar nur raten, wie man den Effekt rückgängig machen konnte, doch sie hatte nicht denselben Fehler gemacht wie noch am Vortag und geholfen, so viel sie konnte, was ihr ein neutrales Danke einbrachte.
 

So karg Snapes Erklärungen auch waren, sie musste zugestehen, dass der Trank tatsächlich einfach war. Es gab keine zusätzlichen Runenkreise, die es zu zeichnen galt, keine zeitlichen Einschränkungen oder magischen Steine, die als Sud-Verstärker eingesetzt wurden. Ihre eigenen Tränke die sie benutzte, um sich in kindlicher Gestallt in Hogwarts bewegen zu können, waren weitaus anspruchsvoller und feiner in der Zubereitung gewesen. Alles, worauf sie hier achten mussten, war die richtige Menge und Reihenfolge. Dennoch war Evelyn erstaunt, ja fast schockiert zu sehen, wie schwer es manchen fiel einem gewöhnlichen Rezept zu folgen.
 

Die erste Stunde war noch nicht vorbei, als ein hohles Zischen den Raum erfüllte und Nevilles Kessel, den er sich mit Harry teilte, mit einer gallertartigen Masse überlief. Für einen kurzen Moment blieb alles still, unfähig vor Schreck zu reagieren; bis auf ihren Lehrer. Snape handelte schnell und hielt die Masse mit einer Handbewegung davon ab sich ihren Weg weiter über den Boden zu suchen, und das war auch gut so.
 

Was auch immer Neville zusammen gerührt hatte, es brannte sich in die Möbel, ja sogar den Stein, sodass einige aus ihrer Starre gerissen wurden und mit ihren Taschen unter den Armen zurück wichen. Lavender, die mit Parvati dem Paar am nächsten war, stieg sogar auf ihren Stuhl, um dem missglückten Trank zu entkommen, der unter ihr schwelte. Zwar hatte Snape verhindert, dass er sich weiter ausbreitete, dennoch umfing sie alle jedoch bald ein unangenehmer Geruch nach Terpentin und Verbranntem. Nervös beobachtete Evelyn, wie die Masse innerhalb ihrer Barriere bereits die Feuergrube unter sich begruben hatte und die Flammen zum Ersticken gebracht hatte.
 

Wenigstens war es nicht entzündlich. Wobei, sie blickte zu Snape, der sich gerade in Fahrt redete, es wäre interessant zu sehen wie viel sein Schild aushält.
 

Evelyn hatte erwartet, dass Snape den Trank so schnell wie möglich komplett beseitigen würde, doch der hielt es wohl für wichtiger seine Frustration zuerst an Neville und schließlich an Harry auszulassen. Für sie sah es aus, als wollte Neville am liebsten in die ätzende Masse springen, als weiter vor Snape zu stehen.
 

"Verfluchter Idiot", hörte sie Millicent sagen, was ungewöhnlich harsche Worte für sie waren. Sie hatte leise nachgeplappert, was Snape gerade einem blassen Neville entgegen geworfen hatte.
 

"Sagt die, die vor zehn Minuten unseren Trank eingedickt hat", erwiderte Evelyn schmunzelnd. "Unser Professor hätte sich auch die Zeit nehmen können etwas zu erklären. Dann würde Lavender nicht auf ihren Tisch klettern mit ihrer Tasche in der Hand." Sie deutete mit ihrem Schneidemesser auf die Gryffindor, die unruhig hin und her tippelte, ehe Evelyn sich den Wurzeln irgendeiner Knolle widmete, die als nächstes in den Trank gehörten. Das letzte, was sie nun gebrauchen konnten, war ein weiterer Trank, der Überhitzte oder anders fehlschlug.
 

Pansy hatte ihre Konversation gehört und lehnte sich nun zu ihnen nach vorne. "Sag das dem Professor doch ins Gesicht, Harris!" Ihre Stimme klang herausfordernd. "Er wird sicher begeistert sein Unterrichtstipps von einer Erstklässlerin zu bekommen."
 

Die unterschiedlichsten Ausgangsmöglichkeiten eines solchen Gespräches schossen Evelyn durch den Kopf, mit einem einzigen für sie schrecklichen Ergebnis. Sie sah sich schon an Nevilles Stelle stehen. Kein Slytherin-Wappen der Welt würde sie vor den Konsequenzen retten können. Trotzdem amüsierte sie die Vorstellung, die wohl nur Fantasy bleiben würde.
 

Benimm dich, er ist jetzt dein Lehrer und am längeren Hebel.
 

"Verlockend, Pansy, aber ich denke ich verzichte."
 

Verzichtet hätten sie alle auch auf den Rest des Unterrichts, der geprägt war von einem noch dünnhäutigerem Snape und stoischen Umrühren inmitten eines Rauch verhangenen Kerkerraumes. Trotz des "Unfalls" hatte er die Klasse nicht entlassen, sondern unbeeindruckt weitergemacht, nachdem er endlich den Boden von der Katastrophe befreit hatte und erneut Punkte abgezogen hat, wobei er unmissverständlich klar gestellt hatte, keine derartigen Zwischenfälle mehr zu wünschen. Und es sollten keine mehr passieren. Millicent füllte stolz den fertigen Trank ab, während Evelyn die Arbeitsfläche säuberte.
 

Auch Pansy und Daphne hatten es geschafft ein gutes Ergebnis zu erzielen, was jedoch ebenfalls wie ihr eigener Trank nicht von Snape honoriert worden war. Alles, was er an Lob gesagt hatte, hatte Draco gegolten.
 

Selbst wenn du die Antworten gegeben hättest, er hätte dich nicht gelobt.
 

Ihre Weigerung am Anfang der Stunde hatte einen bitteren Geschmack hinterlassen, der noch immer nicht ganz verschwunden war. Sie wollte sich einreden, dass sie nichts hätte aufhalten können die Antworten zu geben, was natürlich nicht stimmte. Ziel der Fragen war immer vor allem gewesen Potter bloß zustellen, und dann auch sie. Antworten wollte er keine hören, im Gegenteil. Sie wollte sich nicht vorstellen was passiert wäre, wenn sie ihm erzählt hätte was sie wusste. Vermutlich hätte er die nächsten Wochen immer wieder aus dem Kontext gerissene Fragen gestellt, die Evelyn dieses Mal jedoch nicht beantworten konnte. Dass sie diese drei Antworten kannte, war Zufall gewesen, ja schon fast geschummelt, also war es besser so sich dumm wie alle anderen zu stellen, des inneren Friedens willen.
 

Und doch wünschte ein Teil von ihr den Mund aufgemacht zu haben und einfach alles gesagt hätte.
 

"Beeilt Euch, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit", hallte Snapes Stimme durch den Tränkeraum und forderte sie auf, ihre Sachen schneller einzupacken. Die meisten waren mit den Resten ihrer Zutaten überfordert und trugen sie unschlüssig wohin sie sie bringen sollten von einem Tisch zum anderen. Fast jeder Tisch hatte viel zu viel Abfall produziert, der sich nun überall stapelte.
 

"Werft es da hinein", sagte Evelyn zu Pansy, die einen Korb verschnittener Adern hob. Sie deutete auf eine Klappe unter dem Tisch, die sich nach innen öffnete. Ein Mülleimer, wenn man so wollte, den Evelyn zufällig entdeckt hatte, weil sie gewusst hatte, nach was sie suchen musste.
 

Pansy nickte stumm und schob alles andere auch hinein. Evelyn half ihr, damit sie alle endlich verschwinden konnten, und Pansy ließ sie machen.
 

Der Raum leerte sich, man spürte, dass sie Mehrheit es kaum abwarten konnten den Keller zu verlassen. Die Gryffindors waren schon verschwunden, was Evelyn nur recht war, das verhinderte weitere Zankereien, für die sie heute keine Geduld mehr hatte. Sie selbst mussten nun zu einem völligen Kontrastprogramm aufbrechen und hinaus zu den Gewächshäusern gehen, wo die letzte Stunde des Tages und auch der Woche auf sie wartete.
 

Glücklicherweise war der Freitag ein kurzer Tag, sodass sie schon bald ins Wochenende entlassen werden würden. Eine ruhige Zeit, die Evelyn nun brauchte. Ihren gereinigten Kessel an der Tasche schlenderte sie mit der Gruppe hinauf und zu ihrer zweiten Kräuterkunde-Stunde, von der sie sich erhoffte endlich mehr in die Materie einzusteigen.
 

Professor Sprout hatte sie bereits erwartet, als sie ankamen. Scheinbar hatte Snape tatsächlich ein wenig überzogen, oder aber sie waren zu langsam im Aufräumen gewesen. Sie hatten einen Nebel und nach scharfen Dämpfen riechenden Kerkerraum eingetauscht in ein helles, schwüles Gewächshaus, was aber beides immer noch besser war, als Quirrells Alternative.
 

Die Stunde verging und wie zu erwarten war, wurde erneut kein Zauberstab benutzt. Ein wenig ungeduldig wurde sie schon wenn sie daran dachte, dass sie nun die Woche beendet hatte, ohne auch nur einmal gezaubert zu haben; wenn man von dem Accio absah. Doch das würde sich sicherlich bald ändern.
 

"Endlich frei, was für eine langweilige Woche!", meinte Zabini, als sie sich zurück durch den Garten begaben. "Hausaufgaben für die nächsten zwei Tage, aber wirklich gelernt haben wir nichts."
 

"War ja auch zu erwarten. Vater hält nicht viel von Dumbledores Unterrichtsstil und ich finde, er hat recht", pflichtete ihm Draco bei. Pansy beeilte sich zu ihm aufzuschließen.
 

"Kannst du uns etwas beibringen, Draco?", fragte sie in ungewöhnlich hoher Stimme.
 

Er antwortete, ohne stehen zu bleiben. "Natürlich könnte ich das, aber ihr würdet es wohl noch nicht verstehen."
 

Evelyn verdrehte die Augen, unterließ es jedoch etwas dazu zu sagen.
 

"Du kennst sicherlich schon viele Zaubersprüche, oder Draco?"
 

"Den ein oder anderen. Vater hat mir ein paar gezeigt."
 

"Was zum Beispiel?", beteiligte sich nun doch Evelyn.
 

"Das Übliche eben."
 

Das Übliche, welch elegante Art einer Antwort auszuweichen. Evelyn war sich sicher, dass auch er einiges kannte, nur eben nicht so viel, wie er behauptete. Zabini klopfte ihm laut lachend auf den Rücken und bestätigte ihre Vermutung.
 

"Quatsch nicht, du kennst auch nicht mehr als wir."
 

Bevor Draco etwas erwidern konnte, schalt sich Millicent ein. "Evelyn kann zumindest einen Accio."
 

"Millicent!", mahnte sie Evelyn, doch der Schaden war angerichtet.
 

"Stimmt, der war sauber, hat dich ganz schön blöd aussehen lassen, nicht wahr Vince?"
 

"Nächstes Mal klappt's, warte nur ab", murmelte Crabbe zur Antwort, doch Zabini fuhr unbeeindruckt fort.
 

"Ich kann auch ein paar, nichts Schwieriges."
 

"Ich glaube wir würden tatsächlich weiter kommen, wenn wir uns gegenseitig unterrichten würden. Evelyn kann einen Accio, ich bin ganz gut im Rictumsempra, Daphne, was ist mit dir?"
 

"Densaugeo", sagte sie knapp, was ihr zweifelnde Seitenblicke einbrachte.
 

"Was ist das?", fragte Millicent.
 

"Der lässt Zähne wachsen", erklärte Blaise, ehe er sich wieder an Daphne wendete. "Warum kannst du den?" Sein Blick ging nach unten zu Daphnes Mund und Evelyn hatte den Eindruck, als wollte er ihre Lippen nach oben ziehen und hineinsehen. Auch Daphne fiel sein Verhalten auf, sodass sie sich beeilte zu antworten.
 

"Astoria kann ganz schön nerven. Mein Onkel hat mir den gezeigt, damit ich sie ruhig stellen kann."
 

Evelyn war sogar beeindruckt, als einer nach dem anderen verkündete, welchen Zauberspruch sie besonders gut beherrschten, auch wenn Draco angeblich nicht einen bestimmten Spruch nennen konnte. Schließlich hatte er sich auf einen Silencio beschränkt.
 

Die Diskussionen einer eigenen kleinen Lerngruppe bespaßte sie alle und aus der anfänglichen Schnapsidee wurde tatsächlich ein Plan, doch Evelyn hatte nicht vor das Ende der Unterhaltung zu hören. Als die anderen das Schloss betreten wollte überkam sie das ungute Gefühl noch nicht in den Gemeinschaftsraum zurückkehren zu wollen. Die Erinnerungen an heute Morgen waren noch zu frisch, stattdessen wollte sie lieber draußen bleiben, an der frischen Luft mit nichts als dem Himmel über ihr.
 

"Ich, ehm, ich werde noch ein bisschen hier bleiben. Die Sonne genießen, solange sie noch da ist", sagte sie, sodass sich alle umdrehten.
 

"Setzt du dich wieder ab?", fragte Daphne abfällig, doch Evelyn schüttelte den Kopf.
 

"Nein, ich komme nach. Nur jetzt noch nicht." Sie drehte sich zu Millicent. "Will mich jemand begleiten?"
 

Sie musste die Antwort der grinsenden Millicent nicht hören, um sie zu wissen. Die anderen Mädchen beobachten sie abschätzend.
 

"Ihr zwei könnt auch mitkommen, wenn ihr wollt", sagte sie an die beiden gerichtet. Ein Versuch ihnen die Hand zu reichen.
 

Doch Draco sprach dazwischen. "Macht was ihr wollt, mir ist es zu heiß, ich geh in den Gemeinschaftsraum." Er sollte das letzte Wort haben. Pansy folgte ihm und mit ihr auch Daphne, allerdings glaubte Evelyn Worte des Abschieds zu hören, womit sie sich fürs erste zufrieden gab. Millicent wandte sich um und wollte bereits wieder hinaus in die Gärten treten, als Evelyn sie aufhielt.
 

"Eigentlich, könnten wir runter zum See?"
 

"Klar, den hättest du aber auch bei uns im Kerker sehen können."
 

Evelyn schmunzelte nach Millicents Bemerkung. "Der Sinn ist, in der Sonne zu sitzen, weißt du?"
 

Auch an diesem Nachmittag war einiges los, viele Schüler hatten denselben Gedanken gehabt und sich bereits ein Fleckchen am Ufer unterhalb des Schlosses gesucht. Ein schmaler Kiesweg führte über weite Serpentinen den Felsen hinunter ans Wasser, wo es den Schülern erlaubt war sich aufzuhalten. Ein schlichtes Holzgeländer schützte sie, damit sie nicht abstürzten. Hogwarts, immer um die Sicherheit der Schüler besorgt.
 

Die Taschen mit den klimpernden Kesseln warfen sie, als sie unten angekommen waren, ins hohe Gras und setzten sich auf ihre Umhänge, die sie als Decke benutzen. Der Wind, der über den See strich, brachte den modrigen Geruch nach Algen und Fischen mit, doch trotzdem war er angenehm.
 

Millicent schmiss sich kurze Zeit später mit dem ganzen Körper ins Gras, wo sie beinahe verschwand. Nur ihre Silhouette war zu sehen.
 

"Schade, dass die andern nicht mit wollten. Ist wirklich schön hier", hörte Evelyn sie murmeln. Sie reckte das Kinn Richtung Sonne und genoss mit geschlossenen Augen die warmen Strahlen auf ihrer Haut, sodass sich langsam die Kälte, die sich seit ihrem Traum in ihre Glieder geschlichen hatte, aus ihrem Körper schmolz.
 

"Vielleicht ein anderes Mal, wir werden noch ein paar Sommertage haben, ehe es Herbst wird."
 

Sie öffnete die Augen und betrachtete das Wellenspiel des Sees auf dem sich das Licht spiegelte, ehe sie ihren Kopf nach oben drehte und erneut Hogwarts in all seiner Pracht begutachtete. Eine Woche von noch vielen lag hinter ihr. Sie hätte besser laufen können, aber andererseits hätte es auch schlechter sein können.
 

Plötzlich kam ihr ein Gedanke und sofort suchte sie auf allen Vieren zu ihrer Tasche krabbelnd ein leeres Pergament. Ihre Strümpfe rutschten dabei weit nach unten, sodass ihre Knie ganz schmutzig wurden. Immerhin passten sie jetzt zu den dreckigen Fingernägeln, die sie sich während Kräuterkunde zugezogen hatte. Der Rock rutschte ebenfalls gefährlich hoch, aber das machte ihr weniger etwas aus. Hier gab es niemanden, der viel hätte sehen können.
 

Mit dem Kräuterkunde Almanach auf den Knien als Unterlage, begann sie zögerlich einen Brief. Es wurde Zeit Ollivander von allem zu berichten. Hoffentlich wartete der nicht schon seit Tagen auf ein Lebenszeichen von ihr. Ein Blick zu Millicent, die noch immer im Gras versunken war und zu dösen schien, beruhigte sie, sodass sie frei schreiben konnte.
 

Hallo Mr Ollivander
 

Verzeihen Sie die späte Eule, aber ehrlich gesagt sind die ersten Tage regelrecht auf mich eingeprasselt, sodass ich erst jetzt eine ruhige Minute erlebe. Ich sitze am Ufer des Sees zu Füßen von Hogwarts, können Sie das glauben? Bis vor Kurzem hätte ich nur davon träumen können und ich kann es nicht oft genug sagen, dass ich ohne Ihre Hilfe niemals hier wäre, wofür Sie meinen ewigen Dank haben.
 

Die Reise war problemlos und, wie Sie gesagt haben, irgendwann nur noch ermüdend. Sind Sie sicher, dass es nur zehn Stunden Fahrtzeit war? Mir kam es länger vor, aber vielleicht war es auch die Vorfreude.
 

Wie es ist hier anzukommen, muss ich Ihnen nichts sagen, daher erspare ich es Ihnen erneute das Wunder mit Namen Hogwarts zu beschreiben. Möglicherweise ist es Ihnen ja egal, aber ich möchte Ihnen dennoch erzählen, welches Haus der Hut für mich gewählt hat.
 

Ich schäme mich Ihnen beichten zu müssen, dass e-
 

Evelyn stoppte und hielt ihre Feder unbewegt über dem nächsten Buchstaben. Sie las ihren letzten Satz noch einmal durch, ehe sie ihn großzügig durchstrich, dass man nichts mehr entziffern konnte, und noch einmal begann.
 

Ich freue mich Ihnen sagen zu dürfen, dass er Slytherin für mich ausgesucht hat. Die Dynamik innerhalb dieses Hauses ist wirklich erstaunlich und ich glaube mit etwas Glück hier wahre Freunde finden zu können. Ist es nicht das, was Slytherin ausmacht?
 

Der Unterricht ist bisher wenig anspruchsvoll, sodass ich Ihren Zauberstab bisher nicht verwendet habe, aber auch das wird sich ändern. Ich werde mein Bestes geben dem Zauberstab gerecht zu werden, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.
 

Ansonsten kam es zu keinerlei Komplikationen und es scheint alles zu funktionieren, wie wir uns das vorgestellt hatten.
 

Erneut setzte sie ab und sie überflog nochmal ihren Text, der mittlerweile das ganze Pergament füllte. Ein wenig schief sind ihre Zeilen geworden, aber alles lesbar. Sie war zufrieden.
 

"An wen schreibst du?" Millicent stand neben ihr, mit Gras in ihren Haaren.
 

"Ollivander, ich habe mich noch nicht gemeldet, seit wir hier sind."
 

"Ach ja stimmt, du lebst bei ihm, nicht wahr?"
 

Evelyn nickte und sah zu, wie sich Millicent auf ihrem Umhang niederließ und sich die Wiese aus den Strähnen fischte.
 

"Ein Fawley-Spross bei einem Ollivander, das ist wirklich mal was Neues."
 

Ihre beiläufig ausgesprochene Bemerkung ließ Evelyn stutzen. "Was meinst du damit?"
 

"Normalerweise haben die Fawley ein ziemlich enges Verhältnis zu den Macmillans und den Dowsons, wobei man von den Dowsons schon lange nichts mehr gehört hat. Der einzige Sohn soll sich abgesetzt haben, glaub ich. Und die drei Töchter haben außerhalb geheiratet."
 

"Außerhalb?"
 

"Ja, irgendwelche Muggelgeborenen, wobei die eine bei den Blishwicks untergekommen ist ... Könnte auch ein Montague-Cousin gewesen sein." Millicent verlor sich in ihren Gedanken, ehe sie mit den Schultern zuckte, so als ob der magische Klatsch und Tratsch nichts Besonderes wäre. Evelyn saß mit aufgerissenen Augen da und war erstaunt darüber was Millicent ihr gerade in Sekunden so nonchalant an den Kopf geworfen hatte. Viel wichtiger war Evelyn jedoch die Tatsache, dass Millicent "Muggelgeborene" gesagt hatte, ein Fakt, der sie innerlich mehr erleichterte, als sie sich eingestehen wollte.
 

"Was hat das mit den Ollivander zu tun", lenkte Evelyn das Gespräch in die Ursprüngliche Richtung, wobei sie sich mit einem Lächeln auf ihren Händen abstütze, den fast fertigen Brief auf den Knien liegend.
 

"Oh, das. Ja, um die Olivanders wurde es eigentlich auch ruhig, nachdem der Sohn ausgewandert ist, nach der Sache mit seiner Mutter."
 

Das Lachen verschwand aus Evelyns Gesicht. "Welche Sache?"
 

Millicent senkte den Blick und fuhr sich peinlich berührt durch die Haare. "Ollivander hat wohl nichts gesagt ... ich rede zu viel. Das steht mir nicht zu zu erzählen."
 

Dabei wollte es Evelyn jedoch nicht belassen. Sie legte das Buch samt Pergament beiseite und zwang Millicent ihr in die Augen zu schauen. "Lass mich hier jetzt nicht so hängen, welche Sache, Millicent?"
 

Millicent rang mit sich, öffnete ihre Lippen nur um sie wieder zu schließen. Die Worte die aus ihr kamen waren mehr als unverständlich, sodass Evelyn erneut jedoch energischer fragte. "Bitte!"
 

"Ich weiß auch nur Gerüchte, die Mum mir erzählt hat, aber ... Madam Ollivander ist wohl spurlos verschwunden. Eines Tages war sie einfach weg, niemand wusste, was passiert war, so sagte zumindest Mum. Man glaubt, dass es mit ihrer Tochter zu tun hatte."
 

Wieder schluckte Evelyn schwer. Je mehr Millicent erzählte, desto schlechter wurde ihr. "Tochter?", fragte sie mit hoher Stimme, ehe sie ihr komplett versagte.
 

"Sie, also die Tochter, sie starb sehr früh. Was genau passiert ist weiß ich nicht. Gaila hieß sie, glaube ich."
 

Galle kam ihr hoch, als Millicent diese Worte ausgesprochen hatte, die Evelyn wie durch einen Tunnel hörte. Die Wellen des Sees hatten mit einem Mal ihren Glanz verloren.
 

"Ich würde gern reingehen", murmelte sie und Millicent nickte, als sie mit gerunzelter Stirn ihre Sachen einsammelte.

Kapitel 32 - Zarte Pflänzchen

Unschlüssig drehte sie den gefalteten Brief mit ihren Fingern, die Beine vor dem Sessel weit ausgestreckt, in dem sie beinahe versank. Seit dem Gespräch am Ufer des Sees vor zwei Tagen trug sie ihn bei sich. Immer wieder öffnete sie das Pergament und war kurz davor all die Fragen zu stellen, die ihr auf der Seele brannten, aber wie sollte das aussehen?
 

PS: Ich habe gehört ihre Tochter ist tot und ihre Frau verschwunden, what's good?
 

Nein, ein solches Thema sprach man nicht in einem Brief an, und Evelyn zweifelte, ob sie überhaupt den Mut hätte Ollivander direkt zu fragen, auch wenn sie sich Aug in Aug gegenüberstehen würden. Es gab einen Grund, weshalb Ollivander nie etwas erzählt geschweige denn angedeutet hatte und sei es nur weil es privat war und Evelyn schlichtweg eine neue Bekanntschaft war, die ein solch intimes Thema nichts anging.
 

Sie fühlte sich buchstäblich unwohl in ihren Kleidern. Alles, was sie besaß, hatte seiner Tochter, Gaila, gehört. Verdammt nochmal, sogar ihren Zauberstab.
 

Seit dem Gespräch mit Millicent hatte sie ihn weder angefasst, noch angeschaut. Er war sofort zusammen mit dem immer noch beschmutzen Geschichte Hogwarts' in der Schublade der Kommode verschwunden, die sich zu einem Ort für unliebsame Dinge entwickelte. Evelyn hatte ihn seither nicht mehr herausgeholt. Der Gedanke ihn morgen schon im Unterricht der neu beginnenden Woche einsetzen zu müssen, ließ sie erschauern. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie sich auch ihrer Uniform und alles andere, das sie am Leib trug, entledigt, aber die konnte sie nicht einfach wegsperren, so gern sie wollte, wenn sie nicht nackt durch Hogwarts laufen wollte.
 

Bisher hatte Evelyn Gaila als rettenden Engel angesehen, die, unbekannt und namenlos, mit helfender Hand aus dem Hintergrund agiert hatte. Die neuen Erkenntnisse beunruhigten Evelyn jedoch schwer.
 

"Finger weg, hab ich gesagt!"
 

"Aber Draco hat gesagt, ich soll-"
 

"Ist mir egal, was er sagt. Meins wird nicht gegossen!"
 

Zabinis wütende Geschrei, das durch den Gemeinschaftsraum schallte, ließ jeden im Raum für einen kurzen Moment aus Verwirrung um den Tumult verstummen. Er hatte sich zischen Crabbe und der Reihe Pflanzentöpfe geschoben, die die Erstklässler in der Hoffnung ihnen etwas Gutes zu tun, an die Fensterfront gestellt hatten. Das Bild eines Crabbe, der einen mit Wasser gefüllten Eimer trug, und eines mit den Armen fuchtelnden Blaise, war äußerst skurril, sodass Evelyn ihre Gedanken für den Moment zurück stellte und stattdessen die Jungs beobachtete. Sie hörte, wie sich ältere Mädchen, die auf der Couch vor ihr saßen, belustigt abwandten und sich etwas zuflüsterten.
 

Draco, der scheinbar Schuld am Disput der beiden hatte, war nicht anwesend. Genauso wenig wie alle anderen ihres Jahrganges, denn die arbeiteten angestrengt an ihren letzten Hausaufgaben in der Bibliothek. Evelyn hatte angeboten zu helfen, doch Pansy hatte seufzend abgelehnt, obwohl Millicent ausgesehen hatte, als hätte sie liebend gerne den Aufsatz zu den Unterschieden der Zauberkunsts genommen, den Evelyn ihr entgegen gehalten hatte.
 

"Sag mal, sprech ich Parsel?"
 

Es war ungewöhnlich den ansonsten heiteren Blaise derart aufgebracht zu sehen. Das, was sie als Grund seines Ärgers vermutete, konnte sie ebenfalls nicht nachvollziehen. Seufzend erhob sie sich aus dem Sessel am Kamin, steckte den Brief in eine Innentasche ihres Umhanges und verabschiedete sich stumm von ihrem Platz, der mit Sicherheit schneller einem anderen Schüler gehören würde, als sie Stein der Weisen sagen könnte.
 

"Blaise, beruhige dich. Die anderen gucken schon", zischte sie ihnen entgegen, als sie die beiden erreicht hatte. Crabbe stellte den Eimer zwischen seine Beine, war aber zu stürmisch, sodass ein wenig überschwappte und die Enden seines Umhanges bespritze.
 

Zabini deutete erst auf die noch leeren Pflanzenkübel und dann auf Crabbe. "Ist mir egal, was die anderen machen. Aber der da will nicht verstehen, dass er meinen Kübel in Ruhe lassen soll."
 

"Du regst dich auf, weil Vincent deine Pflanzen gießen will?"
 

Crabbes Vorname fühlte sich seltsam auf ihrer Zunge an, doch ihr persönlich kam es noch seltsamer vor ihre eigenen Hauskammeraden mit Nachnamen anzusprechen, wenn es nicht sein musste.
 

"Draco sagte, ich soll mich heute um die Dinger kümmern", verteidigte sich Crabbe und stemmte die Fäuste gegen seine Hüfte, was ihn noch breiter aussehen ließ, als er schon war.
 

"Diese Dinger, Vincent, sind Pflanzen."
 

"Ach, soll er doch machen, aber er soll auch auf das hören, was ich sage!"
 

"Blaise, wo liegt dein Problem?", fragte Evelyn darum bemüht einen ruhigen Ton anzuschlagen, was ihr angesichts des kindischen Gezeters nur schwer gelang.
 

"Meine Pflanze wächst ohne Wasser. Wasser tötet sie."
 

Verblüfft hob sie die Augenbrauen. "Du weißt, was da drin ist?"
 

"Nein, keine Ahnung. Aber was es auch ist, ich werde es als Nachtfigur-Gewächs behandeln, das kein Wasser braucht."
 

"Du meinst Nachtschatten."
 

"Ja, hab ich gesagt. Sprout wollte, dass wir verschiedene Methoden ausprobieren. Ich probiere es eben auf die trockene Art." Zabini faltete mit verschmitztem Lächeln, mit dem Evelyn ihn kennen gelernt hatte, die Arme vor der Brust.
 

Sie schüttelte den Kopf, war aber beeindruckt davon, was hinter Zabinis Plan zu stecken schien. Ging die Pflanze ein, und die Wahrscheinlichkeit dafür war hoch, so könnte er sich mit seiner absolut gültigen Variante der Pflanzenpflege herausreden. Falls er entgegen allen Voraussagen doch Erfolg haben sollte, so würde er als Genie dastehen.
 

"Lass ihn, Vincent, du kannst dich aber um meines kümmern."
 

"Endlich hat es einer begriffen."
 

"Was ist hier los?" Mit strengem Schritt kam einer der Vertrauensschüler, Livinius Pucey wie Evelyn mittlerweile wusste, auf sie zu, den scheinbar ein besorgter Schüler gerufen hatte. Dieser blieb mit imposant geschwelter Brust vor ihnen stehen, das silberne P gut sichtbar, und bereit jeden Streit zu schlichten. Allerdings kam er dafür ein wenig zu spät.
 

"Nichts, hat sich erledigt, oder Vincent?"
 

Crabbe nickte stumm und griff nach dem Eimer unter ihm.
 

"Oh, na dann." Pucey räusperte sich und machte Anstalten auf dem Absatz zu drehen. "Keine weiteren Tumulte im Gemeinschaftraum", schob er hinterher, ehe er enttäuscht nun doch nichts zu tun zu haben von dannen zog.
 

"Was wollte denn Pucey jetzt hier? Habe ich so laut geredet?", erkundigte sich Blaise, doch Evelyn zuckte nur mit den Schultern.
 

"Ich glaube er wollte Autorität zeigen, ich muss es wissen, ich hab ein Essay darüber geschrieben."
 

Mit dem Verschwinden des Vertrauensschüler öffnete sich jedoch die Wand vor ihnen und eine gähnende Pansy kam zum Vorschein, gefolgt von Millicent und Daphne, die nicht weniger müde aussahen.
 

"Harris!", rief Pansy, als sie Evelyn mit Zabini und Crabbe am Fenster stehend entdeckt hatte, "wenn ich jemals wieder ablehnen sollte eine Hausaufgabe anzunehmen, erinner mich an diesen Moment."
 

Die Hand gegen die Stirn gepresst kam sie auf das Trio zugelaufen. "So schlimm?", fragte Evelyn vorsichtig, als Pansy in Hörweite eines normalen Gespräches ohne Geschrei war. Mit Pansy oder Daphne zu reden fühlte sich noch immer an, als würde sie über ein Minenfeld gehen.
 

"Schlimm? Wenn man drei Bücher in zwei Stunde durch wälzen und zusammen fassen muss, dann ja."
 

Was sie darauf erwidern sollte, wusste Evelyn nicht. Sie hatte weder andere Bücher benutzt, noch irgendetwas zusammen gefasst. Sie hatte beim Schreiben auf das vertraut, was ihr jahrelanges Fan Dasein und natürliche Neugier gelehrt hatten. Allerdings fühlte sie sich nun unsicher.
 

"Die Arbeit hat sich bestimmt gelohnt ", versuchte Evelyn sie aufzuheitern, doch Daphne, die mittlerweile dazu gestoßen war, grummelte für Pansy die Antwort.
 

"Wehe wenn nicht."
 

Schnell zog es sie alle Richtung Große Halle, wo ein reichliches Abendessen auf sie wartete. Nach Essen war Evelyn leider seit Tagen nicht und am liebsten hätte sie erneut ausgesetzt, wenn Millicent sie nicht kurzerhand mitgezogen hätte.
 

"Das läuft grad so gut, geh nicht weg", glaubte sie Millicent flüstern zu hören und fügte sich schließlich.
 

Ihr Verhältnis zu Pansy und Daphne konnte man noch immer als eisig betrachten, doch sie wechselten nun wenigstens die rudimentärsten Worte miteinander, wobei Millicent es sich wohl in den Kopf gesetzt hatte, die Sache noch ein wenig weiter zu bringen.
 

Überhaupt empfand Evelyn Millicent als überaus fürsorglich, wofür sie meistens auch dankbar war. Andererseits hätte sie auf eine Ersatzmutter auch gerne verzichten können. Du siehst nicht gut aus, willst du zu Madam Pomfrey? Alles in Ordnung, du bist so still? Hast du schon alle Hausaufgaben erledigt? Gut, letzteres hatte wohl eigennützige Gründe, wodurch ihr Slytherin Wappen wenigstens gerechtfertigt war. Man könnte sonst meinen sie wäre eine Hufflepuff. Allerdings hatte Millicent das Talent ständig da zu sein, wenn Evelyn eigentlich alleine sein wollte.
 

"Du isst schon wieder nichts, nimm doch wenigstens was vom Kartoffelbrei."
 

Und da war sie auch schon wieder, die fürsorgliche Millicent, wobei Evelyn ihr leider recht geben musste. Ihre anhaltende Appetitlosigkeit begann sich zu zeigen. Nicht nur, dass ihre Kleider lose an ihren Schulter hing, ihre Finger ähnelten dünnen Ästen, an denen sich die Gelenke unschön abzeichneten. Die Tränke, die sie einnahm, sorgten zwar für ein kindliches Aussehen, doch was nicht da war, konnte nicht verändert werden, was man besonders an ihren Händen sah. Sie waren kleiner, doch so dürr wie sie waren, sahen sie nicht aus wie die Hände eines Kindes.
 

Langsam zog sie die Finger unter die Ärmel ihres Mantels, sodass man sie nicht sehen konnte.
 

"Gib mir ein paar Minuten", versuchte Evelyn Zeit zu schinden. Der anhaltende Geruch nach Gebratenem trug nicht gerade dazu bei Evelyns Hunger zu fördern, im Gegenteil.
 

Millicent schluckte hinunter und legte ihre Gabel klirrend beiseite. "Es geht um das, was ich dir erzählt habe, oder?"
 

"Mach dir keine Gedanken."
 

"Doch, seitdem geht's dir nicht gut."
 

Demonstrativ griff Evelyn zu dem Kartoffelbrei und schaufelte sich eine große Portion auf den Teller, von dem sie sich einen gut gefüllten Löffel in den Mund schob. "Da, isch esche." Ihre Worte waren kaum verständlich und sie bereite es auch schnell gleich eine derart große Portion hinein geschaufelt zu haben.
 

"Hast du wenigstens den Brief abgeschickt."
 

Sofort glaubte Evelyn der Kartoffelbrei wäre bittere Asche auf ihrer Zunge und beinahe hätte sie ihn vor Ekel wieder ausgespuckt. Nur der Anstand und der Wille sich nicht die Blöße zu geben, hielten sie davon ab. Doch auch als sie es geschafft hatte zu schlucken, blieb sie Millicent eine Antwort schuldig und starrte stattdessen auf ihren Löffel.
 

"Also nicht", schlussfolgerte Millicent und seufzte. "Ich verstehe nur nicht, wieso dich das so mitnimmt? Das ist schon Jahre her, Ewigkeiten, du musst dich da nicht hinein steigern."
 

Natürlich konnte Millicent Evelyns Gefühle nicht verstehen ohne zu wissen, dass alles, was sie war, was sie sich innerhalb der wenigen Wochen aufgebaut hatte, auf dem Tod des Mädchens begründet war, ohne es zu wissen. Sie wusste nicht, dass Evelyn nicht ihre eigenen Kleider trug, oder dass sie nicht einen von Garrick Ollivander hergestellten Zauberstab besaß. Für Millicent war sie nur das Pflegekind von Ollivander.
 

Doch so fühlte sie sich nicht. Mit jedem Tag, den sie darüber nachdachte, kam sie sich eher vor wie das Ersatzkind, das sich Ollivander gewünscht hatte. Seine Hilfsbereitschaft, seine herzliche Begrüßung in seinem Heim ohne zu zögern, sein väterliches Lachen, all das bekam nun einen fahlen Beigeschmack. War sie nichts weiter als ein Ersatz gewesen für die Tochter, die er verloren hatte? Das schlimmste war, dass sie auf genau diese Gefühle vertraut hatte und sie ausgenutzt hatte. Schließlich hatte sie die Kleider, den Platz in seinem Haus und Ollivanders Vertrauen nur allzu gerne angenommen. Ja, weil du dachtest seine Tochter lebt noch.
 

Ständig kreisten ihre Gedanken um ein und dieselben Fragen und sie realisierte, dass nur ein Gespräch mit Ollivander ihr Ruhe geben konnte. Plötzlich schien der Brief in ihrem Umhang zu brennen. Sie spürte genau, wo das Pergament ihren Körper berührte.
 

"Mach das nicht", sagte Millicent. "Du versinkst schon wieder in irgendwelchen Gedanken. Rede mit mir."
 

Evelyn riss die Arme hoch. "Ich kann nicht, versteh das doch, du bist nicht meine Therapeutin, Millicent."
 

"Was ist das, Therapeutin?", fragte Millicent mit einer angeborenen Naivität, dass Evelyn sich für ihren Ausbruch sofort schämte.
 

"D-das, ehm, das ist jemand, dem man seine Probleme erzählt."
 

Millicent nickte stumm. "Doch, dann bin ich das. Ich würde Freundin dazu sagen, aber ich mag das Wort Therapeutin." Sie dehnte das für sie fremde Wort, wobei sie es ein wenig falsch betonte.
 

Für einige Sekunden konnte Evelyn nichts anderes tun als blinzeln. Zu ihrer Verwunderung schaltet sich nun sogar Pansy ein, von der sie erwartet hätte, dass sie ihnen keine Beachtung geschenkt hatte.
 

"Weißt du, Harris, es ist nicht gut alles in sich hineinzufressen, glaub mir." Ihr ernster Ton wollte nicht zu dem Kind passen, das sie eigentlich noch hätte sein sollte. "Rede, dann geht's dir besser."
 

Wer ist hier eigentlich das Kind?, fragte sich Evelyn plötzlich als ihr bewusst wurde, dass einige an dem Tisch vermutlich viel Schlimmeres erlebt hatten. Stopp, du spekulierst schon wieder, vielleicht war es auch einfach nur ein Rat ohne weitere Bedeutung. Beschämt und unfähig noch weiter Pansy anzuschauen, senkte sie den Blick.
 

"Ich wäre nicht hier, wenn es Ollivander nicht gegeben hätte. Er hat so viel für mich gemacht, mehr als ihm jemals zurück zahlen kann. Aber-", sie stockte. "Ich dachte, er-"
 

"Du dachtest, er macht das weil er so ein herzensguter Mensch ist?", vervollständigte Daphne den Satz mit ihrer gewohnten Direktheit, ohne sich beim Essen stören zu lassen.
 

Evelyn konnte nichts erwidern, also schwieg sie.
 

"Niemand tut etwas, ohne Gründe oder Hintergedanken", setzte Pansy nach. "Also, Ollivander kümmert sich um dich während du in England bist, so war es doch, oder? Und er sieht einen Ersatz in dir, na und? Selbst wenn, was ist so schlimm daran?"
 

Du rennst ja nicht mit ihren Kleidern durch die Gegend, dachte Evelyn, musste ihr ansonsten aber recht geben. Sie hatte geglaubt Ollivanders Herz war einfach zu groß, als dass er eine wild fremde Person auf der Straße hätte stehen lassen können, sie hätte es besser wissen müssen.
 

"Pansy hat recht", sprach Millicent Pansys Worte laut aus. "Ist doch nicht schlimm? Im Gegenteil, er fühlt sich bestimmt besser."
 

Tat er das?
 

"Hör auf dir Sorgen zu machen und steiger dich nicht in irgendetwas hinein." Pansy griff über den Tisch und schob Evelyns Teller näher an sie heran. "Iss!"
 

Nach kurzem Zögern begann sie schließlich unter den Augen der Mädchen zu essen, bis Millicent zufrieden nickte und sich schließlich selbst wieder ihrem Teller zuwandte. Allerdings kam Evelyn nicht herum sich zu wundern, was hier gerade passiert war?
 

Es war nicht unbedingt Millicents Ehrgeiz Evelyn aus der Reserve zu locken, die Evelyn irritierte, sondern Daphne und Pansy, die ansonsten nur das nötigste Interesse an Evelyn gezeigt hatten, jedoch tatsächlich auf ihre Art versucht hatten zu helfen. Ausgerechnet die zwei, die sie gemieden hatte. Zum ersten Mal seit Tagen war ihr nach einem Lächeln zumute, auch wenn sie es äußerlich nicht zeugte. Sie fühlte sich tatsächlich besser, obwohl sie nicht die ganze Geschichte erzählt und die anderen nichts das ganze Ausmaß begriffen hatten. Doch das war nicht nötig, dachte Evelyn, denn die Tatsache, dass Daphne und Pansy über ihren Schatten gesprungen waren wogte schwerer, als irgendwelche ihrer gesponnenen Fantasien zum Verhältnis zwischen ihr und Olivander.
 

Trotzdem, oder gerade deshalb, nahm sie sich vor, als sie gemeinsam mit vollen Mägen zurück in ihr Zimmer gingen, den Brief neu zu schreiben, und sei es auch nur, weil er durch Evelyns ständiges herumdrehen und falten mittlerweile ziemlich knittrig geworden war.
 

Sie würde ihn nicht bedrängen, sie würde ihn auch nicht darauf ansprechen, entschied sie, als sie im Schein der Lampen an ihrer Kommode saß, die Feder in der Hand und ein leeres Pergament vor sich. Die Schublade würde sie erst morgen öffnen, beschloss sie, solange konnte die Konfrontation mit ihrem Zauberstab noch warten.
 

Zunächst veränderte sie nichts an ihrem Brief, doch dann setzte sie an und fügte noch einen Absatz hinzu.
 

Wie es ist hier anzukommen, muss ich Ihnen nichts sagen, daher erspare ich es Ihnen erneute das Wunder mit Namen Hogwarts zu beschreiben. Möglicherweise ist es Ihnen ja egal, aber ich möchte Ihnen dennoch erzählen, welches Haus der Hut für mich gewählt hat.
 

Ich freue mich Ihnen sagen zu dürfen, dass er Slytherin für mich ausgesucht hat. Ich will nicht lügen, es dauerte ein wenig, bis ich mich mit seiner Entscheidung anfreunden konnte. Weshalb, muss ich Ihnen nicht sagen. Doch glauben Sie mir, dass es hier eine besondere Verbindung zwischen den Schülern gibt, die ich schlecht erklären kann, wenn man sie nicht selbst erlebt hat. Bisher sind es nur ein paar Tage, aber das Gefühl zu Hause zu sein, vielleicht sogar wirklich eine Familie gefunden zu haben, die Differenzen hinten anstellt für das Wohl ihrer Leute, ist überwältigend. Ich fühle mich wohl hier und kann mir eine Zukunft vorstellen.
 

Evelyn drehte sich um und betrachte ihre Zimmergenossinnen, die bereits auf ihren Betten saßen, die Vorhänge noch offen, und gerade über etwas lachten, was Daphne gesagt haben musste. Millicent fing Evelyns Blick auf und winkte sie zu sich.
 

"Fertig? Ich wollte dich sowieso fragen, was da heute im Gemeinschaftsraum los war?"
 

"Ja, Blaise wollte den Mund nicht aufmachen, aber anscheinend gab es Ärger mit Pucey?"
 

"Du warst dabei, oder? Erzähl."
 

Alle redeten sie auf sie ein, sodass Evelyn sie bremsen musste. Nein, sie war noch nicht fertig, jedoch beeilte sie sich auch den Rest zu Pergament zu bringen. Diesen konnte sie gerade so vollenden, da nun drei Stimmen mit ungewohnter Aufmerksamkeit auf sie einredeten, und Evelyn kam nicht umhin sich zu wundern, ob die Drei nicht vielleicht deshalb so redselig waren, um sie abzulenken.
 

Unter dem ansteigenden Druck, den die anderen auf sie ausübten, verstaute sie den Brief, den sie sich vornahm morgen endlich abzuschicken, und gesellte sich zu ihnen in die Runde, die schon erpicht darauf waren zu hören, was Evelyn zu sagen hatte.
 

"Es fing damit an, dass Draco Vincent wohl gesagt hatte, er soll sich um die Pflanzen kümmern..."

Kapitel 33 - Wer ist hier beleidigt?

Montags hatte Professor Flitwick sie schließlich zum ersten Unterricht der Woche begrüßt und verkündet, dass sie nun endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, mit den praktischen Übungen beginnen würden. Sofort wurde aufgeregtes Gemurmel laut als beinahe alle Anwesenden gleichzeitig zu ihren Stäben griffen und diese erwartungsvoll hoben. Und obwohl Evelyn sogar in Erwägung gezogen hatte ihren eigenen Stab dort zu lassen, wo er das Wochenende verstaut gewesen war, fanden ihre Finger nun die Wölbung ihres Umhangs, wo der Stab gegen den Stoff drückte.
 

"Ist das aufregend", flüsterte eine glückliche Millicent, die ungeduldig ihre dunklen Haare zurück band, so als bereitete sie sich auf eine schwere Aufgabe vor, was Evelyn nur mit einem Nicken kommentierte. Für eine Zauberschule hatte sie bisher nur wenig Leute gesehen, die tatsächlich einen Zauberstab hielten, so sah sie auch Millicents Stab zum ersten Mal: ein schlankes, fast filigranes Exemplar, das so gar nicht zu ihrer eher pummeligen Hand passen wollte, mit hellem Schaft und fast weiß matt-schimmernden Linien. Millicent fing Evelyns neugierigen Blick auf und schob ihr das Holz entgegen.
 

"Erle, 10 Zoll, Drachenherz", rezitierte sie stolz. "Meine Urgroßtante hatte auch Erle." Eine seltsame Information, fand Evelyn und es hatte den Anschein, als würde diese Information nur jemandem nützen, der wusste, wer ihre Urgroßtante war. Evelyn machte daher große Augen und tat so, als wäre sie beeindruckt, da diese Reaktion anscheinend von ihr erwartet wurde. Dabei zückte sie eher beiläufig den eigenen Zauberstab, da sie dies nun nicht mehr hinauszögern konnte, woraufhin Millicents Miene sich versteinerte und sich Evelyns Stimmung anpasste.
 

"Was ist das denn?" Sie zeigte mit einem angedeuteten Naserümpfen auf das Holz in Evelyns Hand.
 

"Sieht zwar nicht so aus, aber das ist meiner", erklärte Evelyn mit wenig Begeisterung.
 

"Das sieht aus wie ein Stock, funktioniert der?"
 

"Manchmal", gab Evelyn trocken zurück und drehte den groben Stab in den Fingern. Sie konnte es Millicent nicht verübeln, dass sie so herablassend von ihm sprach. Ihre Gedanken waren ähnlich gewesen, als Ollivander ihn zum ersten Mal präsentiert hatte. Millicent schien ihre knappe Antwort ebenfalls so zu deuten, dass Evelyn sich wegen des Aussehens schämte, obwohl das Gegenteil der Fall. Es hätte der schönste Stab aus poliertem Mahagoni sein können, er hätte sich genauso wie Sandpapier auf ihrer Haut angefühlt.
 

"Für die erste Übung möchte ich, dass Ihr eure Stäbe zum Reagieren bringt; Funken, Blasen, Scheinen, egal was", durchstach Flitwicks hohe Stimme den Raum. "Bevor wir mit den einfachen Zaubern beginnen, müsst Ihr lernen eure Magie fließen zu lassen." Dies waren Flitwicks Worte gewesen, mit denen Evelyns Leidenszeit begonnen hatten.
 

Illusionen hatte sie sich nie gemacht und Ollivanders Warnung, der Zauberstab würde womöglich nicht immer zuverlässig sein sprach für sich, doch was Evelyn nie erwartet hätte war, dass sie derart versagen würde, wie in dieser Stunde Zauberkunst. Es war nicht peinlich, es war vernichtend gewesen. In einer Unterrichtseinheit voller Ravenclaw und Slytherin hatte es nicht lange gedauert bis der Raum voll von Sternschnuppen, bunten Blasen, ja sogar pfeifenden Tönen war, die aus den Zauberstäben eines jeden quollen. Bei jeder neuen Reaktion war Flitwick aufgeregt aufgesprungen und lobte den Schüler, schon beinahe zu sehr für eine so banale Zurschaustellung von Magie. Mit jedem neuen Lob hatte es in Evelyn, die selbst daran kläglich scheiterte, mehr gebrodelt.
 

"Atme ruhiger, konzentrier dich", versuchte Pansy mit knappen Anweisungen zu helfen, die als eine der ersten die Übung erfolgreich absolviert hatte. Doch jedes Wort der anderen machte es schlimmer und Evelyn bemühte sich irgendwann nicht einmal mehr ihre Frustration zu verstecken.
 

Was auch immer sie tat, es passierte nichts, weder eine Reaktion des Stabes, noch ein Gefühl der Magie überkam sie. Selbst als sie Zauber versuchte, die ihr bereits in der Vergangenheit gelangen, passierte nicht die kleinste Regung, was sie mehr und mehr beunruhigte. Irgendwann war sie gezwungen gewesen stumm zuzusehen, wie die anderen ihren ersten Zauber lernten; den Lumos.
 

"Jeder hat einen schlechten Tag, Miss Harris. Üben Sie, nächste Stunde dürfen Sie es mir vorführen."
 

Evelyn hätte am liebsten laut los gelacht, als Flitwick sie und die anderen mit dem Versprechen entließ, dass sie sich nächste Stunde erneut zum Affen machen durfte. Wütend auf sich selbst warf sie den Stab in die Tasche.
 

"Wo waren deine Gedanken heute? Das war ja peinlich", tönte Draco, der seinen Stab erhellen und erlöschen ließ, wie es ihm passte, während sie durch die Gänge gingen.
 

Das weiß ich selbst, Malfoy, danke, dachte sie sauer, biss sich jedoch auf die Lippen um es nicht laut zu sagen.
 

Dass sie es nicht einmal geschafft hatte, wenigstens den kleinsten Funken zum Sprühen zu bringen, nagte sehr an Evelyn und ihrem Selbstbewusstsein. Wenn sie sich nicht sicher gewesen wäre zumindest ein wenig Talent für die rudimentärsten Zauber zu haben, hätte sie nun arg an ihrer Fähigkeit Magie zu benutzen gezweifelt. Umso unverständlicher war für sie nun die vehemente Weigerung des Stabes irgendeine Art von Magie zu zeigen.
 

"Weiß einer den Weg zum Eulenturm?", fragte sie in die Menge hinein um das Thema zu wechseln.
 

"Solltest du nicht lieber üben? Morgen ist schon die nächste Stunde und Flitwick hat gesagt-"
 

"Ich weiß, was er gesagt hat, Millicent", sagte sie kraftlos und hob abwehrend die Hände. Evelyn schluckte und versuchte sich zu beruhigen. Millicent konnte nichts für ihr Versagen. "Tut mir leid, aber ich will den Brief für Ollivander endlich abschicken."
 

Sie hatten einige Stunden frei, ehe sie zur nächsten Unterrichtseinheit mussten, wo Professor McGonagall mit Sicherheit für die zweite Blamage des Tages für Evelyn sorgen würde. Das dachte sie zumindest.
 

"Ich bring dich hin, ich wollte sowieso dort mal vorbei schauen", meinte Zabini und überraschte Evelyn damit. Sie hatte nicht erwartet ausgerechnet von ihm Hilfe zu bekommen, doch Millicent hatte ähnlich unwissend ausgeschaut, als es um die Eulerei ging. "Wir gehen in die Große Halle", sagte Daphne mit einem Schulterblick. "Kommt einfach nach, wenn ihr fertig seid."
 

Zu zweit sonderten sie sich ab und machten sich auf den Weg in den Eulenturm, den Evelyn ohne einen Führer in den drei Stunden, die ihr zur Verfügung standen, nicht gefunden hätte. Treppen, Gänge, Übergänge und sogar ein Durchgang waren nötig, um vom Süd- in den Eulenturm zu gelangen, an dessen höchsten Punkt sich die Eulerei befand. Evelyn hatte das Gefühl, dass es einen sehr viel einfacheren Weg geben musste, doch sie war nicht in der Position zu zweifeln. Die meiste Zeit zog es Zabini vor stumm den Weg zu weisen, was ungewöhnlich für ihn war. Bis er sie das zweite Mal an diesem Tag überraschte.
 

"Ich kann dir helfen bei der Sache mit deinem Zauberstab." Jede Silbe kam schwer über seine Lippen, als er nur kurz mit Atmen aussetzte, um zu sprechen. Sie befanden sich bereits mitten im Anstieg zur Spitze des Turmes und kletterten nun eine dünne Holztreppe nach oben.
 

Evelyn, die bisher in ihren eigenen Gedanken versunken war, schaute irritiert auf. "Helfen? Wie willst du das machen?"
 

"Ich kenne da ... ein paar Tricks."
 

Tricks? Das klang für Evelyn nicht unbedingt überzeugend, weshalb sie nur abwertend schnaubte.
 

"Alleine schaffst du das bis morgen nicht", beharrte er, als er kurz inne hielt und sich seine schmerzende Seite hob. "Ich bring's dir bei, Slytherin-Ehrenwort."
 

Auch Evelyn blieb nun einige Stufen unter ihm stehen und fing seinen Blick auf, war aber noch immer nicht überzeugt. "Wo ist der Haken?"
 

Blaise fasste sich empört an die Brust. "Was denkst du? Ich möchte einer jungen Dame nur helfen."
 

"Blaise, was willst du im Gegenzug?"
 

Er ließ die Hand fallen und zuckte mit der Schulter. "Na schön. In der letzten Zaubertrankstunde musste ich festsellen, dass ich gewisse Defizite habe. Mein Trank war ... nicht ganz so wie er hätte sein sollen."
 

"Es war die erste Stunde, was hast du erwartet? Das heißt noch gar nichts."
 

"Hast du dir selbst zugesehen? Du wusstest, was du tust, trotz erster Stunde."
 

Evelyn presste als Antwort nur ihre Lippen zusammen, sodass Blaise fortfuhr. "Wir würden beide profitieren. Ich zeige dir bis morgen, wie du Magie lenkst, zumindest soweit um Slytherin nicht noch mehr zu demütigen, und du bist später mein Trankpartner; am besten die ganze Woche."
 

Evelyn überging den Seitenhieb. "Trankpartner? Und was ist mit Draco? Das hat doch ziemlich gut mit ihm funktioniert, oder nicht?"
 

Gut funktioniert war untertrieben wenn man bedachte, dass Dracos Arbeit von Snape in höchsten Tönen gelobt worden war; und damit eigentlich auch Blaise selbst, als sein Braupartner.
 

"Draco ist ein Malfoy", erwiderte er schlicht, ohne es als etwas Schlechtes klingen zu lassen. "Der Trank war falsch, das habe ich gesehen. Die Wellhornschnecken hat er viel zu lange schmoren lassen, sodass sie völlig vertrocknet waren, nur um eine Sache zu nennen."
 

"Snape sagt da was anderes."
 

"Natürlich sagt er das. Draco ist ein Malfoy."
 

Darauf konnte Evelyn nichts erwidern, also sprach Blaise ruhig weiter. "Ich will nur die Grundlagen lernen, Harris. Das kann ich nicht, wenn Draco dabei ist. Ich habe nicht vor in irgendeinem Fach zu versagen, also tu ich was dagegen. Wärst du an einer solchen Partnerschaft interessiert?"
 

Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete sie Zabinis Hand, die er ihr entgegenstreckte und darauf wartete, dass sie einschlug. Die Stille wurde durchbrochen vom vereinzelten Geschrei von Eulen, die irgendwo in der Ferne zu hören waren.
 

"Bis morgen kannst du es mir beibringen?", fragte sie skeptisch, als sie ihre Hand kurz vor der seinen inne halten ließ.
 

"Versprochen."
 

Mit einem Ruck schlug sie ein. Sein Tränkeparner für die Woche zu sein war nicht schwer, allerdings hoffte sie, dass er Wort halten würde und sie lehren könnte, was sie bis morgen wissen musste.
 

Zabini zog grinsend zurück und wirkte erleichtert."Phew, ich dachte, das würde schwieriger werden."
 

Evelyn schubste ihn, damit er endlich weiterging. Je höher sie kamen, desto zugiger wurde es. Außerdem war bereits der säuerliche Gestank von Eulenkot zu riechen, weshalb sie hier schnell wieder weg wollte. "Das Schwierige kommt erst, keine Sorge", erwiderte sie, als sie sich wieder in Bewegung gesetzt hatten.
 

"Was, deinen Zauberstab zum Leuchten bringen? Quatsch, das geht ganz schnell." Sei dir da mal nicht so sicher, dachte sie, blieb ihm jedoch eine Antwort schuldig.
 

Das Holzgerüst um sie herum vergrößerte sich, bis sie schließlich auf die ersten Federn traten, die auf den Strohbedeckten Stufen lagen. Als sie ihre Köpfe in die Eulerei steckten, überwältigte sie beinahe der Geruch nach säuerlich Verwestem und anderen Hinterlassenschaften der Tiere. Das Rauschen schlagender Flügel war selbst über den Wind zu hören, der durch die vielen Öffnungen pfiff und an ihren Umhängen zog. Sie wagte einige Schritte hinein in den Eulenbau, wobei beinahe unter jedem Tritt etwas knirschte. Glücklicherweise bedeckte Stroh das meiste, sodass sie nicht sehen musste, was sie zertrat.
 

Ein langer, zum Ende hin hochgezogener Pfiff durchschnitt die Luft, der von einem Schrei hoch oben beantwortet wurde. Ein braunes Tier mit schwarzen Tupfen und schneeweißem Gesicht, aus dem die schwarzen Augen funkelten, segelte zu ihnen hinunter auf den ausgestreckten Arm von Zabini. Die Eule knabberte an dem Finger, den er ihr entgegen hielt und schließlich schmiegte sie ihren Kopf in seine Handfläche.
 

"Nikora", meinte er schlicht, als er sah wie Evelyn ihn beobachtete. "Sie ist ein Weißwangenkauz."
 

"Schönes Tier."
 

Evelyn hingegen hatte nicht den Luxus einer eigenen Eule – nicht, dass sie ihn gewollt hätte – und so musste sie sich eine Eule leihen. Fragte sich nur, wie sie das anstellte? Hauseulen und Privattiere lebten hier gemeinsam. Sie konnte sich nicht einfach eine Eule nehmen und darauf hoffen, dass sie niemandem gehörte.
 

"Nimm einen Keks da drüben." Zabinis Worte ließ sie den Blick von den Tieren über ihr abwenden und nach dem Ort suchen, den er anzeigte. An der Wand, hinter einem dünnen, rostigen Gitter, befand sich ein Behälter voll mit trockenen Keksen, von denen sie sich schnell einen herausfischte. Sofort brach Tumult unter den Eulen aus, als einige zu ihr herab flogen und sich anboten.
 

Den Keks eng an die Brust gepresst beobachtete sie die Tiere, wie sie um sie herumflogen mit einer Mischung aus leichtem Ekel und aufkommender Neugier. Vögel waren in ihren Augen schmutzige Tiere und der beißende Gestank gab ihr recht. Es kostete sie einiges an Überwindung den Brief mit einer dünnen Kordel an einem Bein einer der Eulen zu befestigen, während sie ständig versuchte nicht allzu genau die Krallen anzuschauen, an denen noch Reste des Eulen-Frühstücks hingen.
 

"Ehm, Vogel? Hi?", meinte sie vorsichtig, um die Aufmerksamkeit der Eule zu bekommen, die mit ihren großen Augen nur den Keks in Evelyns Hand fixierte. "Garrick Ollivander, Winkelgasse, hast du verstanden? Bring ihn zu Garrick Ollivander, Zauberstabmacher in der Winkelgasse."
 

"Er hat verstanden, gib dem Armen endlich den Keks", meinte Zabini amüsiert, der ihr dabei zugeschaut hatte. Sie warf den Keks in die Höhe, wo die Eule ihn im Flug auffing und schließlich durch eine Öffnung verschwand.
 

"Noch nie 'ne Eule gehabt, oder?"
 

"Nie."
 

Sie war froh endlich den Turm verlassen und zurück zu den anderen gehen zu können. Eine Frage brannte Evelyn jedoch noch auf der Zunge, seit sie von Zabini auf dem Weg hierher zum dritten Mal durch denselben Gang geführt worden war.
 

"Du warst noch nie hier oben gewesen, oder?"
 

"Nie", gab er scherzhaft zurück.
 

Zumindest erklärt das den seltsamen Umweg durch das gesamte Schloss.
 

"Ihr wart ja ewig unterwegs, habt ihr euch verlaufen?", wurden sie von einer ungeduldigen Daphne begrüßt, die gerade versuchte sich Crabbe vom Leib zu halten, der sie um ihre Verwandlungshausaufgaben anbettelte. Zabini schmiss sich dazwischen und verwickelte Crabbe in ein Gespräch, während Evelyn sich setzte.
 

"Blaise wollte etwas besprechen."
 

"Besprechen?"
 

"Ja, wie es aussieht will er mich als Tränkepartner, dafür will er mir mit meinem Problem helfen." Sie hob das Kinn und sprach nun lauter. "Womit wir auch gleich anfangen sollten!" Sie hoffte Zabini hatte sie gehört und den Wink verstanden.
 

"Er hilft dir? Das ist ja super, seine Mutter ist eine begnadete Zauberkünstlerin", meinte Millicent anerkennend. Pansy hatte allerdings eine für sie viel wichtigere Information aufgeschnappt.
 

"Merlins Bart, Blaise ist dein Trankpartner? Dann ist Draco frei?", sprach sie aufgeregt und drehte sich erwartungsvoll zu den Jungs, die von ihrem Gespräch nichts mitbekamen.
 

Evelyn zuckte mit den Schultern. "Denke schon", sie wandte sich an Millicent, "ist nur diese Woche, nächste Woche arbeiten wir wieder zusammen." Das hoffte Evelyn zumindest.
 

Ehe Millicent etwas erwidern konnte, war Pansy aufgesprungen und zu Draco gerannt.
 

"Sieht aus, als hätte meine Partnerin mich gerade auch versetzt", schnaubte Daphne belustigt, den Kopf auf ihre Hände gestützt, als sie Pansy nachschaute. Tatsächlich schien Draco derjenige zu sein, der den Wechsel am schlechtesten verkraftete. Sein beleidigtes Gezeter war kaum zu überhören, was Pansy kaum störte.
 

"Morgen haben wir Flugstunde", meinte Daphne plötzlich, als sie ihre Feder absetzte und den letzten Absatz prüfte, den sie gerade geschrieben hatte.
 

Evelyns Herz machte einen kurzen Aussetzer. "Morgen?", sagte sie heiser. Sie hatte gewusst, dass der Unterricht bevorstand, jedoch nicht schon so bald.
 

Auch Millicent stöhnte und senkte den Kopf. "Ich hasse fliegen. Wieso müssen wir überhaupt fliegen lernen, so ein Blödsinn." Evelyn gab ihr recht, doch Daphne war anderer Meinung.
 

"Sei keine Memme, oder hättest du lieber noch eine Doppelstunde Geschichte stattdessen?"
 

"Kannst du schon fliegen?", meinte Evelyn, als Millicent nichts erwiderte.
 

"Nein, nicht mit einem richtigen Besen. Ich hatte einen als Kind, der ist nur ein bisschen geschwebt." Es entging Evelyn nicht, dass ihre Augen leuchteten, als sie von ihrem Kindheitserlebnis berichtete. Sie war sich sicher, dass Daphne zu denen gehörte, die den Besenflug lieben würden.
 

Ein Klopfen auf die Schulter verlangte ihre Aufmerksamkeit und hinter ihr stand Zabini. "Wir sollten anfangen."
 

Statt gleich ans Üben zu gehen, stellte Zabini zunächst Fragen, deren Sinn Evelyn nicht wirklich begriff, sie jedoch trotzdem so ehrlich es ihr möglich war beantwortete. "Wie lange hast du den Stab?", "Hast du ihn oft benutzt?", "Was war die erste Reaktion des Stabs auf sie gewesen" und "Was für ein Wesen hat er?"
 

"Wesen, also wirklich, Blaise, woher soll ich das Wesen kennen?"
 

"Hat ein Zauberstab ein Wesen?", fragte Millicent, die ebenfalls zugehört hatte.
 

"Natürlich, jedes magische Holz ist beseelt, also auch die Zauberstäbe."
 

Millicent machte ein skeptisches Gesicht, doch Zabini fuhr unbeeindruckt fort. "Ich denke das Problem liegt darin, dass du keine feste Bindung hast."
 

Das ist dein Trick? Evelyn lehnte sich zurück und schloss die Augen. "Natürlich hab ich eine Bindung, sonst hätte der Stab mich nicht gewählt."
 

Blaise schüttelte den Kopf. "Manche Stäbe sind sehr stur und eigenwillig."
 

"Du redest wie ein Zauberstabmacher."
 

"Ich denke, dein Exemplar ist von der eigenwilligen Sorte." Das wusste Evelyn schon vorher, allerdings war sie noch immer keinen Schritt weiter.
 

"Hast du in letzter Zeit Wut gespürt, oder Frustration, wenn du den Stab in den Händen gehalten hast?"
 

Nun verdrehte Evelyn die Augen. "Heute Morgen in Zauberkunst, Blaise, ja! Wie hätte ich mich sonst fühlen sollen?"
 

"Hast du dem Stab die Schuld gegeben?"
 

"I-Ich", sie stockte und dachte nach. Hatte sie dem Stab die Schuld gegeben? Nein, sie wusste, dass sie selbst Schuld hat, wenn ein Zauber nicht funktioniert. Oder, wusste sie das wirklich? Zabini nahm ihr Schweigen als Antwort.
 

"Ein Stab macht das, was der Zauberer ihm vorgibt. Sanfte Stäbe vergeben Fehler und gleichen sie aus. Sture Stäbe müssen überzeugt werden und eigenwillige Stäbe können sehr schnell beleidigt sein."
 

Evelyn überkreuzte die Arme vor der Brust. "Hat dir das alles deine Mutter beigebracht?"
 

"Nein, Ehemann Nummer Vier, Frank hieß er glaub ich." Er hatte nach einem belegten Brot gegriffen, das zusammen mit verschiedenen Obstschalen vor ihnen auf den Tischen stand, und biss ein großes Stück ab.
 

"Gut, dass du dich an seine Lehren erinnerst, aber nicht an seinen Namen", amüsierte sich Millicent, die das Gespräch noch immer interessiert verfolgte.
 

"Du willst also sagen, der Stab ist beleidigt?", führte Evelyn die Unterhaltung wieder auf wichtigere Gefilde.
 

"Wäre meine Vermutung, ja."
 

Sie wandte sich ab und fixierte das Wappen über der Feuerstelle am anderen Ende des Raumes. So abwegig klang seine Erklärung nicht und Evelyn hatte das Gefühl, dass Ollivander etwas Ähnliches bereits in der Vergangenheit erzählt hatte. Innerlich rekapitulierte sie, wie sie in den letzten Tagen mit dem Zauberstab umgegangen war, weil sie den Anblick nicht ertragen konnte.
 

"Der Stab ist beleidigt", schloss sie trocken, als sie Zabinis Blick auffing. "Und was jetzt, soll ich mich entschuldigen?" Darin war sie ganz gut geworden, sie tat praktisch nichts anderes, seit sie in Hogwarts war. Zu ihrem Schrecken zuckte er nur mit den Schultern.
 

"Manchmal reicht das, manchmal muss man sich auch den Stab neu verdienen, das kann ich dir nicht sagen."
 

Sie spitze die Lippen und nickte. "Gut, also müssen er und ich ein ernstes Gespräch führen." Ihre Worte hatte sie sarkastisch gemeint, doch dieser Sarkasmus schien die anderen nicht erreicht zu haben.
 

"Solltest du am besten bis morgen machen." Zabini klopfte ihr aufmunternd auf den Rücken. "Das schaffst du schon." Kann nicht einfach mal etwas funktionieren?, dachte sie resigniert, den Blick auf den Zauberstab gerichtet. Du hast ja unbedingt nach Hogwarts gewollt.
 

An ihrer Situation konnte sie momentan nichts ändern, auch nicht am Voranschreiten der Zeit. Mit Verpflegung in der Hand machten sie sich auf den Weg zum nächsten Unterricht, von dem Evelyn ein ähnliches Ergebnis erwartete, wie am Vormittag. Sie freute sich sogar schon auf den Zaubertrankunterricht, denn dort war der Zauberstab in ihrer Tasche so nutzlos, wie sie sich momentan vorkam.
 

Doch Professor McGonagall schien ihre stummen Gebete erhört zu haben, denn obwohl Flitwick nun mit praktischen Übungen eingestiegen war, dachte sie noch nicht einmal daran die Schüler sich an einer Transfiguration versuchen zu lassen. Erneut stand Theorie auf dem Plan, für die Evelyn unendlich dankbar war und die sie bis zur letzten Minuten aufsog wie einen Schwamm. Zabini hingegen konnte es kaum erwarten endlich zur Zaubertrankstunde zu gehen und ließ sich auch von einem eingeschnappten Draco, der nun mit Pansy zusammenarbeiten durfte, die Laune nicht vermiesen.
 

"Also, womit fang ich an?" Er war voller Tatendrang und saß unruhig auf seinem Schemel, während Evelyn die Zutaten ausbreitete.
 

"Rezept lesen", meinte sie schlicht, schob ihm das Buch zu und griff sich das Raupensekret.
 

"Wie zu erwarten, war kaum ein Trank der letzten Woche auch nur annähernd zu gebrauchen", sagte Snape mit großer Enttäuschung, die ihm Evelyn jedoch nicht abnahm. "Außer Mr Malfoy sehe ich kein Talent in diesem Raum."
 

Evelyns Kopf schoss in die Höhe und fixierte den Rücken des Tänkeprofessors, der bereits begonnen hatte durch die Gänge zu marschieren. Ihr Ernst?!

Kapitel 34 - Q-u-i-d-d-i-t-c-h

Nochmal", sagte Zabini mit überraschender Ruhe, womit er das genaue Gegenteil von Evelyn war, die schwer atmend vor ihm stand, den Zauberstab in der Hand, und sich den Schweiß von der Stirn wischte. Beide waren früh aufgestanden, jeweils nur mit wenigen Stunden Schlaf, und hatten sich in den Gemeinschaftsraum begeben, wo Blaise geduldig sein Versprechen versuchte einzulösen. Leicht nach vorn gebeugt, die Hände wie zum Gebet gefaltet, beobachtete er jede von Evelyns Bewegungen.
 

Evelyn hingegen glaubte in den vergangenen Stunden, die sie nun hier waren, bereits Kilometer durch den Raum gelaufen zu sein. Unruhig hatte sie angefangen in den kurzen Pausen, die sie sich gönnte, herum zu gehen und Blaise hatte sie gelassen, ja sogar animiert sich zu bewegen.
 

"Accio", bellte sie mit kratziger Stimme, während sie auf ihren Pflanzentopf am Fenster zielte. Er bewegte sich nicht, wie schon die halbe Nacht lang nicht.
 

Blaise seufzte, als er sich kurz nach dem nicht-anfliegenden Topf umgeschaut hatte. "Hast du wirklich mit deinem Stab geredet?"
 

Evelyn starrte ihn nur von der Seite an, unwillig darauf zu antworten. Ja, sie hatte mit ihm geredet. Den ganzen gestrigen Abend und nach dem Aufstehen. Sogar Millicent hatte sich kurz hinab gebeugt und etwas geflüstert, was Evelyn vielleicht sogar verstanden hätte, wenn sie sich in diesem Moment nicht darüber lustig gemacht hätte, wie Millicent tat, als hätte das Holz Ohren.
 

"Nochmal", hörte sie ihn sagen und sie begann das Wort zu hassen.
 

Sie zeigte mit der Spitze des Stabes auf Blaise Stirn. "Wenn du das noch einmal sagst."
 

"Dann was?" Zabini zeigte sich völlig unbeeindruckt. Er streckte sich und lehnte sich nach hinten, wodurch er ein noch besseres Ziel abgab. "Du schaffst keinen Accio, was willst du schon anrichten?"
 

"Ich kann dich mit dem Stock hauen", murmelte sie, wobei sie gleichzeitig die nicht vorhandene Muskulatur ihres kleinen Körpers verfluche, mit dem sie kaum Schaden anrichten würde. Ich muss trainieren.
 

"Nochmal." Evelyn starrte auf Blaise hinunter, der sie mit seinen strahlenden Zähnen anlächelte und herausfordern auf ihren nächsten Zug wartete.
 

"Accio", sagte sie mit zusammengepressten Zähnen. Selbst wenn der Stab reagiert hätte, so hätte der Zauber nie funktioniert.
 

"Deutlicher!", forderte Blaise, doch bevor Evelyn seiner Forderung nachgehen konnte, erschien ein Schüler im Gemeinschaftsraum. Vollkommen verschlafen und mit schiefer Krawatte, die halb über dem Umhang zu sehen war, taumelte er ins Zimmer. Erst auf den zweiten Blick merkte er, dass er nicht allein war.
 

"Oh, wusste nicht, dass schon jemand wach ist." Er sollte nicht der einzige bleiben. Schüler nach Schüler, manche einzeln, manche in Gruppen, fanden ihren Weg aus den Schlafsälen und erinnerte Evelyn daran, wie wenige Zeit ihr noch blieb.
 

Zusammen mit Blaise wartete sie, bis sie familiärere Gesichter sah. Pansy war die erste, die sich zeigte.
 

"Wie ist der Stand?", wollte sie wissen, doch Evelyn schüttelte den Kopf. "Schande."
 

"Sie könnte, wenn sie nicht so stur wäre", meine Blaise, als er sich mit einem Ruck aufrichtete. "Wie der Zauberer so der Stab."
 

Evelyn fühlte sich zu erschöpft, um mehr zu erwidern, als einen unerfreulichen Blick. Es dauerte nicht lange, bis der Gemeinschaftsraum gefüllt mit Schülern war und man beschloss zum Frühstück zu gehen.
 

"Könnt ihr es auch kaum abwarten endlich Fliegen zu lernen?", fragte Daphne, die an diesem Morgen besonders aufgeregt war.
 

"Fliegen lernen? Ich muss es nicht lernen. Ich könnte bereits in der Quidditch-Mannschaft spielen, wenn sie es Erstklässlern erlauben würden", tönte Draco schon fast gelangweilt, was die anderen eher unbeeindruckt zur Kenntnis nahmen. Zumindest alle, außer Pansy.
 

"Man müsste eine Ausnahme machen. Wieso ignoriert man ein Talent wie dich, Draco?"
 

Pansy schien die einzige, die interessiert zuhörte, wobei Evelyn noch nicht gelernt hatte Crabbe und Goyles Gesichtsausdrücke zu deuten. Ihre stummen Gesichter könnten Neugier bedeuten, oder aber sie hielten einen stummen Disput darüber, wie es kleinen Besen möglich sein sollte ihre massigen Körper in die Luft zu heben, wer wusste das schon.
 

"Ihr Verlust", winkte er ab. "Ich bin schon in Höhen geflogen, da würde jeder professionelle Quidditch-Spieler neidisch werden, aber was soll man machen, wenn die Regeln mich in der Mannschaft verbieten."
 

Blaise wandte sich ab und verdrehte die Augen, wobei er ein stummes Wort formte, das verdächtig nach Angeber aussah.
 

"Wenn du zu hoch fliegst, erwischt dich ein Hubschrauber", sagte Evelyn, die das Gespräch halbherzig verfolgte. Allerdings realisierte viel zu spät, dass sie in völlig blanke Gesichter starrte.
 

"Was soll das sein?", fragte Pansy defensiv.
 

"Oh, die kenn ich", sagte Millicent aufgeregt, "das sind diese Dinger die aussehen, wie ein Berunda!"
 

"Ein Fluggerät", erwiderte Evelyn langsam, "der Muggel. Und nein, die sehen nicht aus wie Berunda." Was auch immer das ist. Zunächst gab es nur stilles Schweigen, bis Blaise laut los lachte.
 

"Das würde ich gerne sehen!"
 

Neben Blaise wirkte Pansy regelrecht angewidert von dem Gedanken, während Draco versuchte seine Fassung zu behalten.
 

"Eigentlich bin ich so einem Hubschrauber schon begegnet", sagte er mit fester Stimme. "Beinahe hätten sie mich erwischt, aber die Muggel waren viel zu langsam für mich."
 

Red dir das nur ein, dachte Evelyn, während sie sich an ihrem Tee wärmte, der ihr nach den Stunden des Übens gut tat.
 

Über ihr segelten die Eulen herein und brachten Briefe und Pakete. Seit dem ersten Tag gehörte das zu den schlimmsten Minuten des Tages für Evelyn. Das laute Flügelschlagen übertönte jedes Gespräch, was sie noch ertragen würde. Doch es gab nichts Schlimmeres als eine losgelöste Feder auf einem frisch gestrichenen Marmeladenbrot. Heute schaute sie jedoch nach oben in der Hoffnung, vielleicht bereits eine Antwort von Ollivander zu erhalten. Der einzige Brief, oder besser gesagt das einzige Paket, erhielt jedoch Draco, der den Inhalt vor allen genüsslich verspeiste. Crabbe war dabei nicht der einzige, der neidisch auf all die Leckereien schielte, die Mrs Malfoy ihrem Sohn geschickt hatte. Draco hatte derweil ganz andere Dinge im Auge.
 

"Seht ihr das?", fragte er alle Anwesenden, die sich daraufhin umschauten. Normalerweise vermied Evelyn es sich bei den anderen Tischen umzuschauen, erst recht beim roten, doch Dracos Worte hatten sie aufhorchen lassen.
 

Zwischen dutzenden Köpfe hindurch entdeckte sie einen runden Blondschopf, den sie zwar zur von hinten sah, der aber eindeutig einen Ball in die Luft hob, was von Harry und Ron neben ihm interessiert beobachtet wurde. Evelyn schmunzelte als sie sah, wie sich der Ball in der Hand des Jungen, bei dem es sich um Neville handeln musste, rot färbte.
 

"Was hat der Trottel da?", murmelte Goyle, als Draco sich plötzlich erhob.
 

Zabini sprang auf und versuchte ihn aufzuhalten. "Draco, lass es." Sein Blick ging hinauf zum Lehrerpult, wo beinahe jeder Lehrer seine Augen auf die Schüler der Großen Halle gerichtet hatte. Die Slytherin konnten jedoch nichts weiter tun als zuzusehen, wie Draco jede Warnung ignorierte und zu den Gryffindor marschierte, mit Crabbe und Goyle im Schlepptau.
 

"Man könnte meinen, er sei von Potter besessen", sagte Zabini, nachdem er sich wieder gesetzt hatte. Sofort verschluckte sich Evelyn an ihrem Tee, von dem sie nichtsahnend versucht hatte zu trinken, was ihr besorgte Blicke einbrachte. Es gab vieles, was sie gerne erwidert hätte: wie recht er hatte oder dass er das niemals zu Draco persönlich sagen sollte, doch der Hustenreiz und die Atemnot machten es praktisch unmöglich zu sprechen.
 

Dracos Verschwinden war gleichzeitig das Signal zum Aufbruch und ihre Gruppe bewegte sich hinaus zu den Gewächshäusern. Das morgendliche Wetter spiegelte Evelyns trübe Laune wider, als sie von einem mit dicken Wolken verhangenem Himmel begrüßt wurden. Zunächst standen zwei Stunden Kräuterkunde auf dem Plan, die jedoch – wie immer, wenn man Angst vor einem Ereignis später am Tag hatte – zu schnell vorbei waren. Und dabei hatte Evelyn das Zurückschneiden von Zitterbüschen regelrecht genossen. Alles war besser, als sich mit fehlendem Talent zu blamieren.
 

Viel zu schnell waren sie vor Flitwicks Klassenzimmer, wo Evelyn letzte Versuche unternahm den Stab zum Reagieren zu bringen, die leider ebenfalls erfolglos waren.
 

"Man könnte meinen, du bist ein Muggel." Draco brachte sich mit seiner Aussage selbst zum Lachen, doch nur Crabbe und Goyle unterstützten ihn. "Sie bringt Slytherin in Verruf", meinte er nun ernster und Evelyn konnte ihm kaum widersprechen, und so empfanden auch die anderen.
 

Zum gefühlt hundertsten Mal umklammerte sie den Schaft des Stabes und hielt ihn vor sich.
 

Nur ein Funken. Ein Blubbern.
 

Sie war zum Flehen übergegangen und konnte nur hilflos zusehen, wie die Gruppe hinein strömte. Sie hatte dieses Gefühl bereits in der Schule gehasst; zu wissen, dass man die Prüfung verhauen würde: wissend in einen Rum zu gehen, der die nächsten zwei Stunden ihr Gefängnis sein würde.
 

Blaise warf ihr einen letzten Blick zu, der jedoch wenig aufmunternd war.
 

"Und wenn es nicht klappt übst du weiter, du kannst es doch." Millicent war die einzige, die zumindest so tat, als wäre sie optimistisch. Ich kann es, sagte sie sich, doch wieder hatte sie das Gefühl, die Magie sei unerreichbar.
 

"Willkommen, Erstklässler." Kaum, dass Flitwick auf seinem erhöhten Stuhl erschienen war, verkrampften sich ihre feuchten Finger um das Holz.
 

Bitte, wir sind doch ein Team, versuchte sie es erneut, während Flitwick den heutigen Lehrplan erörterte. Wie der Zauberer so der Stab, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr Stab, wann hatte sie zuletzt von ihrem Stab gedacht?
 

"Miss Harris", verlangte Professor Flitwick ihre Aufmerksamkeit und einige Köpfe drehten sich zu ihr herum. "Sie dürfen sich nun beweisen. Ich bin sicher, Sie haben fleißig geübt?" Mit einer Geste seiner Hand bat er sie sich zu erheben, weshalb Evelyn nervös ausatmete. Das wird ja immer besser.
 

Evelyn fixierten den Stab – ihren Stab – und erkaufte sich einige Sekunden Zeit, indem sie sich nur sehr langsam und schwerfällig erhob. Dabei fixierte sie den hölzernen Tisch vor ihr um nicht in die Augen der anderen schauen zu müssen.
 

Du bist mein Stab, dachte sie und plötzlich glaubte sie zu wissen, womit sie ihren Stab verärgert haben konnte. Sie hatte geglaubt die zwei Tage in der Kommode hätten ihn entfremdet, falls es stimmte, was Blaise versucht hatte zu erklären. Doch ihr kam nun ein anderer Gedanke. Gaila, Gaila hat dich gemacht, aber du gehörst mir. Ihr Griff verfestigte sich. Du gehörst zu mir.
 

Ein Zischen ging dem leisen Plopp voraus, der sich an der Spitze ihres Stabes bildete. Ein Gebilde aus rötlichem Licht hing wie eine Christbaumkugel von dort herab, ehe sie sich los machte und langsam nach oben schwebte, wo sie verpuffte.
 

"Wie erfreulich! Hervorragend, Miss Harris." Er wandte sich nun an die ganze Klasse, was Evelyn nicht mehr mitbekam. Sie stieß Luft aus von der sie gar nicht bemerkt hatte, dass sie sie angehalten hatte, während sie sich auf ihren Platz zurück in die Menge setzte.
 

Millicent lehnte sich zu ihr und strich ihr über ihren Zauberstabarm. "Ich sagte doch, du kannst es."
 

In ihrem Rücken nickte auch Zabini zufrieden, der sich selbst gratulierte, allerdings hatte Evelyn nur ihren Stab fixiert. Sie lächelte sanft und dankte ihm still, dass er sie nicht im Stich gelassen hatte, wobei sie mit dem Finger über das grobe Holz strich.
 

Stur wie der Zauberer.
 

Es bedurfte ein langsames antasten, doch im Laufe der Stunde schaffte sie es sowohl den Lumos als auch den neu besprochenen Nox zu meistern, was sie mehr als erleichterte.
 

In der Mittagspause stürmte Zabini sofort auf sie zu und legte ihr den Arm um die Schulter, was Evelyn eher verhalten erwiderte. "Ich sollte Lehrer werden. Das war super, Evelyn. Er hätte dir auch Punkte geben können."
 

"Punkte? Sie hätte es erst gar nicht versagen sollen. Magie zu lenken ist ein Kinderspiel, dafür sollte man keine Punkte bekommen", sagte Draco, der an ihnen vorbei ging und ohne sich umzudrehen und mit Crabbe du Goyle verschwand.
 

Sein Gerede war Evelyn, die ähnlich wie er gestern die Spitze ihres Zauberstabes nach Belieben erhellen ließ und wieder löschte, ziemlich egal.
 

Ihre Hochstimmung hielt jedoch nicht sehr lange an, als nach Stunden des elenden Wartens die erste Flugstunde ihres Lebens bevor stand. Eine Erfahrung, die sie mit Freuden übersprungen hätte, womit sie beinahe alleine dastand. Daphne war ganz aufgeregt, als sich die Mädchen zum zweiten Mal an diesem Tag auf die Ländereien begaben, wo starker Wind ihnen ihre Haare ins Gesicht wehte. Wenigstens war es bisher trocken geblieben. Auch Pansy hatte sich von Daphnes Vorfreude und Dracos eigenen Lobpreisungen anstecken lassen und redete nur noch davon endlich selbst fliegen zu wollen.
 

Sie eilten einen leicht abfallenden Hang hinab, bis sie eine weite Rasenfläche nicht weit des Verbotenen Waldes erreichten, wo im frisch gemähten Gras eine Reihe wild aussehender Besen bereit lagen. Einen davon inspizierte Evelyn näher und konnte sich bei dem krummen, dünnen Besenstiehl nur noch weniger vorstellen, wie man auf den Dingern bequem fliegen konnte. Selbst Daphnes Freude wurde getrübt angesichts dieser alten Fliesenfeger.
 

Einige Gryffindors waren bereits anwesend, jedoch nicht die Personen, die eine Eskalation hervorrufen würde, wodurch es relativ ruhig blieb, bis Madam Hooch auf der Bildfläche erschien. Ihre gelben, falkenähnlichen Augen zogen Evelyn sofort in ihren Bann. Welchen Zauber Madam Hooch angewendet haben musste, um solche Augen zu bekommen?
 

Ihre Lehrerin ließ sich nicht lange bitten. "Na los, steht nicht so rum. Jeder nimmt sich einen Besen, hop hop!" Na guten Tag auch. Als ob nicht sie es gewesen war, die als letzte den Hang herunter gelaufen kam, kommandierte sie nun alle an ihre Plätze. Evelyn suchte sich einen Besen am Ende der Reihe, wobei sie darauf achtete einen guten Blick auf Harry zu haben. Das wird interessant. Sie hielt es für relativ sicher ihn von weitem zu beobachten, da sie hier wenig Potential sah, dass ihre Anwesenheit irgendetwas beeinflussen könnte.
 

"Stellt euch mit festem Stand neben euren Besen, hebt euren Arm, und sagt 'Hoch'!"
 

Von überall hörte sie, wie die Schüler der Aufforderung nachkamen. Ein Chor aus Stimmen, die alle dasselbe Wort immer und immer wieder riefen, erhob sich. Evelyn vergaß dabei selbst nach ihrem Besen zu rufen, während sie zu sah, wie Harrys Besen sofort in seine Hand schoss. Er wirkte dabei ähnlich überrascht wie Draco, der unweit von Harry ebenfalls die Szene beobachtete.
 

"Hoch!", sagte Millicent ihr gegenüber, doch der Besen neben ihr Sprang nur wie an Fäden hin und her. Daphne hatte derweil bereits ihren Besen erfolgreich in den Händen.
 

Schulterzuckend konzentrierte sie sich nun auf ihre eigene Aufgabe und sprach eher gelangweilt: "Hoch."
 

Geschockt stellte sie fest, wie der Besenstiehl sofort nach oben flog und gegen ihre Finger stieß, die sie gar kaum geöffnet hatte in Erwartung, dass der Besen sich nicht rühren würde. Mit irritiertem Gesicht schüttelte sie ihre schmerzenden Finger, während der Besen mit einem leisen Klong ins Gras zurück flog.
 

Kopfschüttelnd starrte sie ungläubig zu Boden. "Na, das war ja klar – das funktioniert", sagte sie leise zu sich selbst, als Madam Hooch den Griff jedes einzelnen überprüfte.
 

"Mr Malfoy, Sie fliegen einen Besen und machen kein Gewichte stemmen. Halten Sie ihn weiter unten und drehen Sie ihr Handgelenk", verbesserte sie Dracos Haltung, der mit jedem Wort der Lehrerin mehr Farbe aus seinem Gesicht verlor.
 

"Er ist einem Hubauber entkommen, ja klar", meinte Millicent mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht, wobei sie noch immer mit ihrem Besen kämpfte.
 

"Hubschrauber", verbesserte Evelyn und rief erneut ihren eigenen Besen, der wie zuvor in ihre Hände flog. Diesmal fing sie ihn auf.
 

Madam Hooch legte ein ordentliches Tempo vor und schon bald standen sie mit den Besen zwischen ihren Beinen geklemmt nebeneinander im Gras. Evelyn kam sich absolut albern vor, wobei der Gedanke heute sowieso noch nicht fliegen zu müssen beruhigend war.
 

Sie schaute zu einem rot angelaufenen Neville, der unsicher von einem Fuß auf den anderen tänzelte, seinen Besen hielt er dabei umklammert, als hinge von ihm sein Leben ab. Armer Neville.
 

"Hört alle auf meinen Pfiff. Auf mein Signal hin stößt Ihr euch mit aller Kraft vom Boden ab." Madam Hooch positionierte sich mit der Pfeife um ihren Hals griffbereit vor ihnen und schaute ihre Reihe entlang. "Ich will keine Höhenflüge. Ihr sollt eure Besenstiele gerade halten, ein Gefühl für das Schweben bekommen und sofort wieder landen. Lehnt euch dazu nach vorne. Auf meinen Pfiff! Drei-Zwei-"
 

Ein Schrei durchschnitt die angespannte Stille, den man beinahe für einen Pfiff hätte halten können. Parvati und Dean, die Neville am nächsten gestanden hatten, waren zur Seite gesprungen, als Neville in Schräglage begonnen hatte zu schweben.
 

"Mr Longbottom! Halten Sie sich gerade. Mr Longbottom, kommen Sie zurück!" Neville schwebte leise wimmernd und starr vor Angst höher, wobei er mit dem Körper zur Seite hing, unfähig sich fest zu halten. Ein Ruck schoss durch den Besen und er flog ungebremst in die Luft. Sein Flug dauerte nur Sekunden, da sein Griff sich bereits löste. Entsetzt sahen sie zu, wie er kippte und zu Boden fiel. Evelyn wandte sich ab und hörte nur den Aufschlag auf dem Gras.
 

Zu sehen, wie hoch sein Fall war, war erschreckend gewesen. Er hätte sich weit mehr brechen können, als nur sein Handgelenk.
 

"Was hat der denn gemacht?", hauchte Millicent erschrocken, die zu Evelyn gelaufen gekommen war.
 

"Zu eifrig", sagte Evelyn nur und zu zweit beobachteten sie, wie Madam Hooch die Menge, die sich um Neville zu bilden begann, auseinander trieb und ihn untersuchte.
 

"Er muss in den Krankenflügel", rief Madam Hooch über die Köpfe der Neugierigen hinweg. "Während ich ihn dort hin bringe, werden Ihr euch keinen Meter vom Fleck bewegen. Niemand rührt auch nur einen Besen an oder Ihr fliegt schneller von der Schule, als jemand von euch 'Quidditch' sagen kann!" Ihr strenger Ton brachte die meisten dazu, sofort ihre Besen aus der Hand zu werfen.
 

"Trottel, jetzt müssen wir warten, bis wir fliegen dürfen", murmelte Daphne mit verschränkten Armen als sie gemeinsam beobachteten, wie Madam Hooch mit einem weinenden Neville verschwand.
 

Draco gehörte zu den wenigen, die noch immer ihre Besen hielten. Es dauerte nicht lange, bis er laut zu lachen begann, was zum größten Teil auf Unverständnis traf. "Hab ihr gesehen, wie der Riesentrampel geschaut hat, als er mit seinem breiten Hintern auf dem Boden gelandet ist?" Mit verzerrtem Gesicht und gepressten Tönen imitierte Draco, was er glaubte gesehen zu haben. Daphne neben ihr versteckte ein Grinsen hinter den Händen. Diese Mühe machte sich Pansy nicht, die nun lauthals mit lachte.
 

"Sehr witzig, Malfoy. Halt doch einfach deinen Mund." Parvati war vorgetreten und versuchte Draco in seine Schranken zu weisen. Mit wenig Erfolg. Evelyn sah zu, wie das Drama seinen Lauf nahm.
 

"Wusste gar nicht, dass du auf diesen Lahmarsch stehst, Patil", waren Pansys Worte gewesen und Evelyn war beinahe froh, als Draco aufgeregt rief, er habe etwas gefunden.
 

Der Streit um das gläserne Erinnermich, das Neville beim Sturz verloren hatte, entfaltete sich vor Evelyns Augen, bis Draco in die Luft schwebte, gefolgt von Harry. Ein Raunen ging durch ihre Reihen, da sie alle nur zu gut wussten, was Madam Hooch ihnen angedroht hatten, falls sie es wagen sollten die Füße vom Boden zu nehmen.
 

Millicent schlug die Hände vor den Mund als sie sah, wie hoch die beiden stiegen. "Das gibt Ärger", murmelte sie, ihre Stimme gedämpft.
 

"Schaut euch Draco an!" Pansy verfolgte sie begeistert und auch Daphne war beeindruckt.
 

Evelyn interessierte sich derweil eher für die Figur im scharlachroten Mantel, die mit zum Himmel gerichteten Augen den Hang hinab gelaufen kam. Sie hatte eine Hand als Sonnenschutz erhoben, den sie bei dem wolkigen Tag gar nicht gebraucht hätte.
 

"Los Draco!", feuerte Goyle Malfoy an und wie aufs Stichwort sahen sie, wie etwas Glänzendes zu Boden segelte, Harry im Sturzflug direkt dahinter. Sein Umhang wehte im Flugwind und obwohl Evelyn wusste, dass er rechtzeitig hoch ziehen würde, riss sie die Augen auf als sie sah, wie nahe er dem Boden kam. Auch einige andere wurden unruhiger und kreischten auf, als er kurz vor dem Aufprall stand.
 

Keiner hatte bemerkt, wie Professor McGonagall sich abseits positioniert hatte und das Spektakel begutachtete, Zauberstab gezückt um im Zweifelsfall einzugreifen. Glücklicherweise war das nicht nötig. Harry landete mit dem Erinnermich in der Hand vor einer jubelnden Gruppe Gryffindor, nachdem er im letztmöglichen Augenblick mit einer Hand den Stiel umgerissen hatte.
 

"Verdammt, das war gut", gab Daphne zu und auch Pansy nickte. Draco stand mit grimmiger Miene einige Meter von ihnen entfernt und musste zusehen, wie Harry gefeiert wurde. Der Wind hatte seine ohnehin wilden Haare nach hinten geblasen, sodass sie ihm wie eine Föhnfrisur abstanden und die Narbe freilegten. Evelyn grinste und klatschte langsam anerkennend in die Hände.
 

"HARRY POTTER", meldete sich nun Minerva.
 

Sofort verstummte jeder und starrte auf die plötzlich in ihrer Mitte erschienene Professorin, die scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht war. So verhielten sich zumindest Seamus und Dean, da sie ihre Hauslehrerin mit offenen Mündern anstarrten, als sei sie ein Geist. Ohne zu zögern griff sie nach Harrys Schulter und zog ihn mit sich, weg von der Gruppe und Richtung Hogwarts, nachdem sie jeden Protest der Gryffindor im Keim erstickt hatte.
 

"Den haben wir wohl zum letzten Mal gesehen", sagte Millicent, die beinahe ebenso schockiert war, wie die Gryffindor. Draco hingegen winkte Harry mit triumphierendem Lächeln nach, wobei er nur ein Wort langsam und genüsslich formte: "Q-u-i-d-d-i-t-c-h."

Kapitel 35 - Er ist Harry freakin' Potter

Nur der Rivalität zwischen Gryffindor und Slytherin hatte Evelyn es zu verdanken, an diesem Tag nicht doch noch auf einen Besen steigen und fliegen zu müssen.
 

Wie erwartet war Madam Hooch, ohne Neville, auf die Rasenfläche zurückgekehrt, wo beinahe sofort alle auf sie eingeredet hatten. Ihr war nicht entgangen, dass einer ihrer Schüler fehlte, wofür sie sofort eine Erklärung verlangt hatte. Und die Schüler waren erpicht darauf gewesen ihr jede Art der Erklärung zu geben.
 

"Draco ist geflogen-"
 

"- das Erinnermich von Neville und -"
 

"- sind Lügen, Madam Hooch, Draco hat nichts gemacht!"
 

"Amanda hat mich geschubst!"
 

"McGonagall hat ihn mitgenommen!"
 

Alle wollten ihre Version der Geschichte am besten gleichzeitig erzählen, wobei ein Wulst an Rufen entstand, aus denen nur Fetzen verständlich gewesen waren. Madam Hooch hatte die Situation mit einem grellen Pfiff unterbrochen und alle zum Schweigen gebracht, ehe sie die Stunde kurzer Hand für beendet erklärt hatte und die Schüler in Gruppen getrennt zurück ins Schloss schickte.
 

"Den sehen wir nie wieder", feierte Draco und wurde von Crabbe gratulieren auf den Rücken gehauen.
 

"Schmeißt McGonagall ihn wirklich raus?", fragte Daphne skeptisch, doch Draco lachte nur.
 

"Ihr habt gehört, was Hooch gesagt hat. Der sitzt bald im Zug nach Hause."
 

Zabini war eher verhalten und beteiligte sich nicht am Jubel von Draco. "Du wärst aber auch beinahe mit ihm im Zug gesessen, Draco." Das ließ Draco empört zu ihm auf sehen.
 

"Ich! Dumbledore würde es wohl kaum wagen mich der Schule zu verweisen."
 

Evelyn schmunzelte. "Ach, aber du glaubst Dumbledore würde Harry Potter nach Hause schicken?" Ihre Stimme war leise gewesen, doch ihre Aussage schlug ein wie eine Bombe.
 

Sofort blieben alle stehen um beobachteten, wie Draco sich vor Evelyn aufbaute und sie erbost ansah.
 

"Was weißt du schon, Harris? Ich wäre an deiner Stelle nicht so aufmüpfig. Denk daran, wo dein Platz ist." Mein Platz? Nein, wie süß.
 

Evelyn zuckte mit den Schultern, die die hierarchischen Drohungen von Draco nur müde belächeln konnte. Ihr war trotzdem klar, dass es besser war aufzuhören zu reden, doch Blaise stellte sich neben sie, unwillig die Aussage des Malfoy-Erben stehen zu lassen. "Sie hat nicht ganz unrecht. Er ist Harry Potter."
 

"Potter, Potter, Potter, ich kann es nicht mehr hören!" Er hob seine Arme und begann vor ihnen durch das Gras zu tigern. "Schaut ihn euch an!" Seine grauen Augen blitzten vor unterdrückter Wut. "Jemand mit seinem Namen sollte nicht so ... nicht so ...", er suchte nach den richtigen Worte, die Evelyn ihm gerne gegeben hätte. Normal sein? Eingeschüchtert sein? Jung sein? Er war eben nicht der große Typ Zauberer, mit denen Kinder wie Draco vermutlich aufgewachsen waren. "Er ignoriert wer er ist und gibt sich mit der größten Schande der Zauberergesellschaft ab!"
 

Pansy versuchte ihn zu beruhigen. "Das muss doch nicht deine Sorge sein, lass ihn."
 

Ihre Versuche lösten sich in Luft auf. "Es ist aber meine Sorge! Ist dir klar, was für einen Einfluss er haben wird?" Evelyn atmete scharf ein und hob die Augenbrauen. Das ist ihm selbst noch nicht bewusst.
 

Während Draco sich in Rage redete, beobachtete Evelyn ihn und die anderen unauffällig. Draco schien der einzige zu sein, der offenen Hass gegenüber Potter verspürte. Crabbe und Goyle waren notorische Ja-Sager, Hauptsache Draco gefiel es. Daphne und Millicent wirkten, als verstünden sie seine Wut nicht. Nur Pansy war hin und hergerissen zwischen ihrem Wunsch Draco zu gefallen, und ihrer eigenen Einstellung, die wohl ähnlich wie die von Daphne, Blaise und Millicent war. Evelyn durfte sich hier keine Meinung erlauben, obwohl sie durchaus eine hatte.
 

Allerdings bewegten sie sich hier auf einem schmalen Grat und sie ahnte, dass hier der Grundstein der Feindschaft zwischen den beiden, den Harry bereits mit seiner offenen Absage zu Dracos Freundschaft gelegt hatte, fest in den Boden betoniert wurde.
 

Sie standen noch immer draußen auf dem Rasenstück, wo der Wind zunahm. Evelyn war froh einen Mantel zu haben, da sie bereits anfing zu frieren.
 

Dracos versprühte seine ganz eigene Kälte. "Nicht nur, dass er ein Potter ist", wütete er, "er ist der Potter."
 

"Draco, lass uns rein gehen."
 

"Nein!"
 

Er begann sich zu benehmen wie ein verzogenes Kind, das er, wenn Evelyn ihn ansah, auch schlichtweg war. Gründe für sein Verhalten gab es genug und Evelyn glaubte die meisten zu kennen: verletzter Stolz, falsche Arroganz und nicht erwiderter Respekt waren nur die offensichtlichen.
 

Sie seufzte und lehnte sich zu Millicent. "Man könnte meinen Draco hätte Angst um seinen sozialen Stand." Auch das war, so glaubte Evelyn, mit Sicherheit der Fall, aber das konnte sie schlecht laut sagen.
 

Millicent deutete ein Grinsen an, aber es schien, als traute sie sich nicht den letzten Schritt zu wagen, den man als Spott über einen Malfoy werten konnte.
 

Zabini versuchte es erneut mit Vernunft. "Steiger dich nicht so hinein, er wird bestraft werden wie jeder andere auch."
 

Erneut hob Evelyn die Augenbrauen, sagte jedoch nichts dazu. Ein Pokerface aufzusetzen müsste sie üben; noch etwas für die wachsende to-do Liste.
 

Draco nickte, doch es schien, als sei seine gute Laune Harry eins ausgewischt zu haben verflogen. Er marschierte trotzdem mit erhobenem Kinn voraus, hinein ins Schloss.
 

Sie wussten, spätestens während des Abendessens würden sie erfahren, was Professor McGonagall mit Harry gemacht hatte, wenn sich nicht schon vorher die Nachricht verbreitete. Gemeinsam zogen sie sich in den Gemeinschaftsraum zurück und warteten. Draco, der den Tag agil begonnen hatte, saß nun nur noch nachdenklich im Sessel und beäugte den Eingang, so als wartete er auf jemanden. Auch die anderen, verteilt auf zwei Couchs, horchten auf, wann immer jemand von außen hinein trat in der Hoffnung, dieser jemand brachte Neuigkeiten, doch es gab keine Neuigkeiten. Evelyn saß unter ihnen, das Verwandlungsbuch auf dem Schoß, und ging mit Pansy ihre Hausaufgaben durch.
 

"Sieht so aus, als führe er nicht nach Hause", meine Zabini vorsichtig. "Ganz Hogwarts wüsste es bereits, wenn-"
 

"Blaise", unterbrach ihn Draco mit ungewöhnlicher Härte, "sei still."
 

Erneut öffnete sich die Wand und sie erwarteten den nächsten Schüler, als überraschenderweise eine größere Figur den Raum betrat. Draco zog hörbar die Luft ein, während er sich aufrecht hinsetzte. Evelyn umklammerte ihr Buch und Pansy scherte sich nicht mehr um die Transfigurationsformeln, sondern sah wie alle anderen zu, wie ihr Hauslehrer langsam die kurze Treppe zu ihnen hinabstieg.
 

Sein Blick schweifte durch den Raum voller Schüler, die innegehalten hatten in dem, was sie taten. Kurz verweilten seine Augen auf ihrer Gruppe, wobei er Draco fixierte, ehe er sich an die unfreiwillig Versammelten wandte.
 

"Ich will mit Mr Flint sprechen."
 

Wie bereits während seiner Ansprache vor einer Woche hielt er seine Stimme leise.
 

"Flint?", murmelte Draco verwirrt als er erkannte, dass Snape nicht seinetwegen gekommen war.
 

Ein älterer Schüler nahe den Schlafsälen sprang sofort auf und verschwand im Laufschritt im Gang. Professor Snape faltete die Hände hinter dem Rücken, während er ohne weitere Worte wartete. Innerhalb des Gemeinschaftsraumes wirkte seine Präsenz beinahe deplatziert. Er gehört in sein Labor oder Tränkeraum, dachte Evelyn. Seltsam sich vorzustellen, dass er vor einigen Jahren selbst hier gewohnt hat. Sie schaute nach unten auf den alten und betretenen Teppich und schließlich auf das schwarze Leder der Möbel, das deutliche kleine Risse und Abnutzungsspuren der Generationen an Slytherin vor ihr hatte. Oder wer sonst alles noch hier gewohnt hat. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Draco sich erhob und sich zu Snape begab, der ihnen den Rücken zu streckte.
 

"Sir, verzeihen Sie, aber hat Potter mi-"
 

"Potter", spucke Snape aus, während er sich zu Draco wandte, "sollte nicht Ihre Sorge sein, Mr Malfoy." Beinahe dieselben Worte hatte Pansy zuvor benutzt, doch während Draco sie bei ihr nur als Quatsch abgetan hatte, beeindruckten sie ihn wohl weit mehr wenn sie aus dem Mund von Snape kamen.
 

"Ich hatte nur gehofft, dass-"
 

"Was Sie gehofft hatten, Mr Malfoy, spielt keine Rolle." Evelyn sah nun, wie angespannt Professor Snape seine Kiefer aufeinander presste, wann immer er schwieg. Auch Draco schien zu spüren, dass Snape heute gar nicht gut zu sprechen war. Langsam entfernte er sich rückwärts vom Tränkemeister, ehe er auf dem Absatz kehrt machte und wie ein getretener Hund zurückkehrte, wo Zabini ihn kichernd begrüßte. Sehr zu Professor Snapes Missfallen.
 

"Hören Sie auf so dämlich zu grinsen, Mr Zabini. Melden Sie sich nach dem Essen bei Mr Filch, der sollte Sie Respekt lehren." Er drehte sich zu den Schlafsälen. "Und wo bleibt Mr Flint!"
 

Millicent schaute zwischen ihrem Hauslehrer und Zabini, der blasser um die Nase geworden war, hin und her. "Was ist gerade passiert?", flüsterte sie so leise wie möglich aus Angst das nächste Opfer von Snapes schwelender Wut zu werden.
 

Ein bulliger Kerl mit kurz geschorenen Haaren, die seine breite Stirn nur noch markanter wirken ließen, kam keuchend angerannt. Evelyn öffnete schockiert den Mund als sie sah, wo er hergekommen war. Wie es aussieht gelten in Slytherin ganz andere Regeln, skandalös.
 

Sein Mantel war übergeworfen, sein Hemd steckte nur halb in seiner Hose und seine Krawatte war falsch gebunden. Alles an seinem Äußeren sprach nach einem überhasteten Aufbruch. Snape beäugte ihn und auch er betrachtete den Gang, aus dem er so eilig erschienen war – der des Mädchenschlafsaals –, wobei er keine Regung zeigte, bevor er sich wieder an Flint wandte.
 

"Wie schön, dass Sie es einrichten konnten, Mr Flint. Ordnen Sie Ihre Uniform und kommen Sie mit."
 

Er wartete nicht, bis Flint sein Hemd mit etwas mehr Kraft als nötig versuchte in seine Hose zu packen, sondern schritt bereits die Treppe nach oben. Zu allem Überfluss öffnete sich vor ihm der Eingang, wo eine arme unglückliche Seele die Personifikation des Sprichwortes zur falschen Zeit am falschen Ort wurde.
 

"Belby!", rief Snape als er gezwungen war stehen zu bleiben, um nicht in einen Jungen hinein zu rennen, der kaum älter aussah, als Evelyn. "Augen auf, wenn Sie laufen!" Er schob den überforderten Jungen unsanft aus seinem Weg. "5 Punkte Abzug!" Der Junge namens Belby sprang weiter zur Seite und beobachtete, zur Säule erstarrt, wie Snape mit Flint im Schlepptau den Raum verließ.
 

Bange Sekunden des Wartens wagte niemand sich zu rühren, bis feststand, dass ihr Hauslehrer nicht zurückkehren würde.
 

Schlagartig kehrte Leben in den Raum zurück, wobei die Irritation überwiegte. Man tuschelte untereinander, was er wohl mit Flint vorhatte, und vor allem, was Snape derart aus der Fassung gebracht hatte, dass er ihnen Hauspunkte abzog.
 

Ähnliches ging auch in den Köpfen von Daphne, Draco und den anderen vor. "Was meinte er mit 'du sollst zu Filch'?", wollte Millicent wissen.
 

"Ich glaube, ich habe ... Nachsitzen?" Eine Frage, keine Feststellung, so als sei sich Zabini selbst nicht im Klaren, was die Aufforderung zu bedeuten hatte.
 

"Da stimmt was nicht. Blaise bekommt Nachsitzen und Slytherin zieht er Punkte ab."
 

"Und er hat dich auflaufen lassen", ergänzte Daphne Dracos Aufzählung, der jedoch so tat, als hätte er sie nicht gehört. Evelyn sah zu dem Jungen, Belby, der noch immer wie erstarrt neben der Tür stand, die Finger in seinen Umhang verkrampft und den Kopf eingezogen, so als wolle er sich vor der gefährlichen Außenwelt schützen. Es sah aus, als ... Och, Kind, nicht weinen! Der Anblick des schluchzenden Jungens rührte etwas in Evelyn, sodass sie am liebsten aufgesprungen wäre, um ihn zu trösten. Die Tatsache, dass Evelyn jedoch jünger als er war und es damit nicht ihre Pflicht wäre sich um ihn zu kümmern, hielt sie davon ab.
 

"Was hat der gegen mich?", seufzte Zabini, der noch immer irritiert nach einer Erklärung für das gerade Geschehene suchte. "Zuerst bemängelt er alles, was ich im Unterricht tue, straft mich mit Blicken als würde ich falsch atmen, und jetzt brummt er mir Nachsitzen auf für ... für was eigentlich?"
 

"Du bist respektlos", half Evelyn nach, den Blick noch immer auf Belby gerichtet, um den sich nun eine Gruppe aus älteren Schülern gebildet hatte, die sanft auf ihn einredeten.
 

"Ach so", meinte Zabini, als sei dies ein logischer Grund.
 

"Er hat nichts gegen dich." Millicent, die versuchte Zabini aufzumuntern, wirkte jedoch selbst nicht überzeugt. "Er ... ehm." Sie gab Evelyn einen sanften Stoß mit dem Ellenbogen, sodass Evelyn nun Blaise anschaute.
 

"Er mag gar keinen", vervollständigte sie Millicents Satz unbekümmert, die allerdings so aussah, als hätte sie eine andere Antwort erwartet.
 

"Ach so", war erneut Zabinis einzige Antwort.
 

"Das ist doch völlig nebensächlich", mischte sich Draco nun ein. "Viel wichtiger ist, was er von Flint will?"
 

Bin ich die einzige die gesehen hat, wo Flint herkam? Reden wir nicht darüber? Nein? Naive Elf müsste man wieder sein.
 

"Vielleicht sind seine Zensuren miserabel?", sinnierte Pansy, wurde aber sofort von Draco unterbrochen.
 

"Nach nur einer Woche wird Snape wohl kaum persönlich hier erscheinen um mit Flint über seine Noten zu reden." Eine offene Ablehnung von Draco machte Pansy sehr zu schaffen und ließ sie beschämt verstummen.
 

"Flint ist Kapitän der Quidditch-Mannschaft."
 

Auch Daphnes Kommentar wurde von Draco mit einem Blick gestraft und abgeschmettert. "Professor Snape kommt doch nicht um diese Zeit in den Gemeinschaftsraum um mit Flint über Quidditch-Strategien zu sprechen."
 

"Aber irgendetwas muss Snape ja wollen!"
 

Betretenes Schweigen machte sich breit, in der Evelyn versuchte sich wieder auf ihr Verwandlungsbuch zu konzentrieren. Sie war die einzige die nicht nur ahnte, was Snapes schlechte Laune hervorgerufen hatte, sondern genau wusste, was diese schlechte Laune auch mit Flint zu tun hatte. Minerva will es also geheim halten, soso. Deshalb verkündet sie ihren neuen Sucher auch gleich vor ihren Kollegen.
 

Mit einem Lächeln auf den Lippen blätterte sie eine Seite um, was Draco nicht entging und sie erneut zum Ziel seines Temperaments machte. "Dich interessiert das Ganze wohl wieder nicht?"
 

Evelyn seufzte und erwiderte ruhig Dracos Blick, der ihr Schweigen zum wiederholten Male als Desinteresse gewertet hatte. "Doch, Draco, das tut es. Ich bin genauso neugierig wie du, weshalb unser Hauslehrer heute auf jede Höflichkeit verzichtet, die er ansonsten an den Tag legt." Sie sah, wie Zabini den Mund bedeckte um ein Grinsen zu verstecken, doch Draco blieb unbeeindruckt, weshalb sie schnell in versöhnlicherem Ton weiter sprach. "Raten, bringt uns nicht weiter. Außerdem müssen wir nur warten, bis Flint zurück kommt, der wird es uns schon sagen, was Snape wollte. Entspann dich."
 

"Wieso glaubt jeder mir heute sagen zu müssen, was ich tun soll?" Trotz seines Protestes lehnte er sich zurück und wurde still. Scheinbar hatte er erkannt, dass es in der Tat einfacher sein würde auf Flint zu warten, statt hier wild ins Blaue hinein zu spekulieren.
 

Wenn das Warten nur nicht so lange dauern würde. Ohne, dass sie von Flint etwas gesehen, geschweige denn gehört hatten, marschierten sie zum Abendessen. Draco hatte derweil nicht aufgehört sich Gedanken zu machen, die er nun auf dem Weg zur Halle schlecht gelaunt mitteilen musste.
 

"Das hat sicher etwas mit Potter zu tun."
 

Keiner blieb stehen, sondern lief einfach weiter, wobei Evelyn nicht sah, ob jemand außer ihr die Augen rollte.
 

Nur Zabini seufzte hörbar. "Es mag dich schockieren, aber nicht alles auf dieser Welt hat mit Harry Potter zu tun." Naja, wenn man es genau nimmt...
 

"Nein, aber anscheinend diese Schule."
 

"Ob er wohl beim Essen anwesend ist?", fragte Daphne.
 

"Pah, wenn er wirklich noch hier ist, dann wäre das ein Armutszeugnis für den alten Dumbledore."
 

Sie hatten die Tore erreicht, die vor ihnen verschlossen waren. Gespannt beobachteten sie, wie Goyle ihnen die Tür öffnete, wobei Draco bereits versuchte mit geneigtem Kopf durch den größer werdenden Spalt zu spicken.
 

Wie aufregend. Wer sitzt hinter Tür Nummer 1?
 

Selbst Evelyn, die bereits wusste, dass Harry hier sein würde, suchte den gut gefüllten Gryffindor-Tisch erpicht nach dem schwarzen Strubbelkopf ab. Doch es war Pansy, die ihn zuerst entdeckte.
 

"Da, rechte Seite. Er ist noch da und es sieht so aus, als amüsiert er sich köstlich."
 

Dracos Lippen verengten sich zu dünnen Schlitzen und seine Hände waren zu Fäusten geballt, er sprach allerdings kein Wort.
 

Zabini legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter. "Lass uns erst etwas essen." Mit gefährlich leuchtenden Augen schüttelte er Zabinis Hand ab und stürmte voran zum Slytherin-Tisch, seine zwei Schatten als ständige Verfolger mit dabei.
 

Während Zabini nur erleichtert ausatmete, schielte Evelyn zum Lehrertisch. Nicht nur Flint verspätete sich, sondern auch Snape, dessen Platz leer war, ebenso wie der von Dumbledore. Professor McGonagall unterhielt sich unterdessen gerade mit Professor Flitwick. Sie konnte sich denken, was sie dem Zauberkunst-Lehrer mit großen Gesten gerade wild redend verkündete.
 

"Seht ihn euch an, wie er grinst. Die Gonagall hat den Goldjungen wohl nicht einmal zusammengestaucht. Ekelerregend."
 

"Dann schau nicht hin."
 

"Fühlt sich wie der Größte", fuhr Draco trotz Zabinis Vorschlag fort. Während alle aßen, stocherte Draco nur lustlos auf seinem spärlich gefüllten Teller herum.
 

"Vielleicht wäre es besser Frieden zu schließen", meinte Goyle schmatzend. Nicht nur Evelyn starrte Goyle entgeistert an, der zum ersten Mal etwas zu dem Thema gesagt hatte. Pansy lachte trocken, während Daphne nur ungläubig das Gesicht verzog.
 

"Frieden schließen? Du dämlicher Trottel, wie oft soll ich noch sagen, du sollst erst versuchen zu denken und dann zu reden?"
 

Goyle schaute beschämt unter Dracos Blick auf seinen Teller, doch Zabini hob den Finger. "Eigentlich", begann er langsam, "ist das gar keine schlechte Idee."
 

Was!
 

"Was!"
 

Mit ähnlichem Unglauben starrten sowohl Draco als auch Evelyn Zabini an, während die anderen Anwesenden eher neugierig auf seine Erklärung warteten.
 

"Du hast doch selbst gesagt, Potter wird einmal sehr einflussreich sein."
 

"Und du musst mich daran erinnern, weil?"
 

"Wäre es da nicht besser sich gut mit ihm zu stellen?"
 

Nein. Evelyn bemerkte nicht, dass sie aufgehört hatte ihr Abendessen zu kauen.
 

"Das habe ich bereits versucht, falls es dir entgangen ist."
 

Zabini legte den Kopf schief, die Lippen gespitzt als redete er mit einem ungezogenen Kind. "Versuch es noch einmal. Vielleicht mit etwas mehr ... ich weiß nicht ... Freundlichkeit?"
 

Draco rümpfte die Nase. "Was nützt Freundlichkeit, wenn Potter nicht die einfachsten Regeln kennt, wie die Gesellschaft zu laufen hat?"
 

Mit einem Knall landete Zabinis flache Hand auf dem Tisch, sodass das Geschirr zum Klirren gebracht wurde. Überrascht schluckte Evelyn hinunter.
 

"Muss man denn alles vorsagen: entschuldige dich bei ihm, Malfoy!"
 

Mehrere Münder klappten vor Verblüffung auf, darunter auch eine entsetzte Evelyn. Die Richtung, in die das Gespräch ging, gefiel ihr gar nicht.
 

"Was?!"
 

Blaise ließ sich von den Reaktionen seiner Mitschüler nicht beirren. "Entschuldige dich. Zeig guten Willen. Potter ist simpel gestrickt, ziemlich simpel, also wird das funktionieren."
 

"Ich werde mich ganz bestimmt nicht entschuldigen. Wofür auch?"
 

Nein, das tut er nicht. Wird er nicht.
 

"Traust du dich etwa nicht?", forderte Zabini ihn heraus, was Draco nur mit verschränkten Armen zur Kenntnis nahm.
 

"Wirklich? Was glaubst du wer ich bin; ein dämlicher Gryffindor, der auf so eine billige Provokation anspringt?"
 

Blaise schloss die Augen und ließ seine Schultern resignierend fallen. "Mach was du willst. Aber so wie ich das sehe, kommst du um eine Entschuldigung nicht herum, wenn du dich mit Potter gut stellen willst."
 

"Ich verzichte."
 

"Schön", Blaise begann sich wieder seinem Teller zu widmen hielt dann jedoch erneut inne. "Wenn er will kann er bestimmt irgendwann Zaubereiminister werden. Dumbledore mag ihn schon jetzt, das ist mehr, als manch ein Zauberer im Zaubergamot von sich behaupten kann." Nervös beobachtete Evelyn Draco, der mit jedem Wort mehr mit sich rang. Draco wird doch nicht...?
 

Zu ihrem Schrecken beteiligt sich nun auch Daphne. "Jede Familie wird sich um ihn reißen, er ist ein begehrter Name, wer würde da nicht einheiraten wollen?" Millicent nickte stumm und Evelyn ahnte mit klopfendem Herzen, was passieren würde.
 

Ein kehliges Grunzen entwich Malfoy, als er sich mit beiden Händen vom Tisch abstieß und von der Bank kletterte. Crabbe und Goyle waren ihm sofort auf den Fersen und so wanderte die drei auf die andere Seite der Halle, zum Tisch der Gryffindor.
 

"Draco!", rief sie, wobei sie beinahe selbst aufsprang um ihn verzweifelt von dem Undenkbaren abzuhalten.

Kapitel 36 - Hilfestellungen

Zabini hatte völlig recht. Harry war simpel. Der arme Junge war kaum mehr als ein Monat aus seinem Schrank heraus und hatte bis dahin gedacht es wäre völlig normal schikaniert zu werden; und allen das Verhalten auch noch zu verzeihen. Evelyns Gedanken kreisten darum, wie Harry immer derjenige hatte sein müssen, der sich entschuldigte. Wie ihm eingebläut worden war, dass er es war, der falsch gelegen hatte und nicht Dudley. Er konnte elf Jahre dieser Erziehung nicht einfach vergessen, nicht jetzt; noch nicht. 
 

Wenn Draco das tat, was Evelyn vermutete, würde Harry ihm verzeihen, egal wie mies Draco heute und die Tage zuvor zu ihm gewesen war. Das durfte nicht passieren. 
 

"Das sollte nicht passieren", murmelte sie und spannte ihren Körper an, bereit Draco hinterher zu laufen. Eine Hand um ihren Unterarm hielt sie jedoch zurück. 
 

"Lass ihn, er muss das alleine machen." Millicents Einmischung konnte Evelyn in diesem Moment nicht gebrauchen. Kopfschüttelnd schaute sie in die naiven Augen des Mädchens und riss sich, unsanft, aus deren Griff. Ihr Mund war völlig ausgetrocknet, daher war sie unfähig auf die Proteste des Slytherin-Tisches etwas zu erwidern. Mit eiligen Schritten verfolgte sie Draco und seine zwei Schränke, die bereits den Gryffindor-Tisch erreicht hatten. Der größte Teil der Schülerschaft befand sich mitten im Essen, weshalb die Gänge leer und gut zu durchlaufen waren. Allerdings sowohl für sie, als auch für Draco. 
 

"Draco!", rief sie heiser. "Draco, warte!" Er hatte sie beim ersten Mal nicht gehört, blieb nun aber zu ihrer Erleichterung stehen. Sie versuchte ihre Lippen zu befeuchten, ehe sie sprach, was ihr kaum gelang. 
 

Sie standen bereits nahe an den Gryffindor, was einigen älteren Semestlern nicht entging. "Hey, habt ihr euch verlaufen? Schlangen sitzen am anderen Ende der Halle." Die unfreundliche Bemerkung von der Seite gab Evelyn wenigstens Zeit ihre Stimme wiederzufinden. Doch es war Draco, der die Gryffindor anfuhr. 
 

"Gut zu wissen, dass eure Augen funktionieren. Stellt sich nur die Frage, wie ihr eure Fratzen gegenseitig ertragen könnt?"
 

Er war sauer, das war deutlich zu hören. Ein Fakt, den Evelyn nur allzu gerne annahm. Wut war genau die Emotion, die sie in Draco benötigte. Sie nahm ihn am Ärmel und zog ihn einige Schritte beiseite, weg von den Gryffindor, die bereits eine Antwort auf den Lippen hatten. Flüchtig schaute sie nach oben zum Lehrertisch, wo noch immer sowohl Professor Snape, als auch Professor Dumbledore fehlten. Einige Augen waren in ihre Richtung gerichtet, was Evelyn nicht störte. Sie würde nur reden.
 

"Du willst dich doch nicht wirklich entschuldigen, oder?", sagte sie schließlich, als sie ihrer Stimme traute. Wirklich glauben, dass Draco sich entschuldigte, konnte sie nicht. Klein bei zu geben, vor Harry, wollte in ihren Augen nicht zu ihm passen.
 

Draco schnalzte mit der Zunge und zuckte die Schultern. "Wenn es das Beste für meine Familie ist, dann werde ich es tun."
 

Verdammt.
 

Sie nickte langsam und begann sich vorzustellen, was es bedeuten würde, wenn Draco und Harry, nicht gerade Freunde, aber auf neutraler Basis wären; und diese Vision gefiel ihr gar nicht. 
 

"Ist es denn das Beste?"
 

Draco runzelte die Stirn. "Was geht dich das überhaupt an?"
 

"Er ist ein Gryffindor." Kein gutes Argument, aber immerhin konnte sie damit seine Frage umgehen. Es geht mich sehr wohl etwas an, wenn du meine Timeline versaust! Der Gedanke in wie weit es ihre Schuld sein könnte, dass sie diese Konversation führen musste, kam ihr nicht. 
 

"Das Haus spielt in diesem Fall keine Rolle." Evelyn spürte, dass Draco wenig Lust auf diese Konversation hatte und stattdessen lieber die Sache mit Harry schnell hinter sich bringen wollte. Sie brauchte ein überzeugendes Argument. Schnell.
 

Denk nach, denk nach!
 

Ihr Mund öffnete und schloss sich, ohne dass sie etwas sagte. Draco wartete irritiert, doch schließlich drehte er sich um. Dann sprach sie ihren Trumpf aus. 
 

"Er ist Sucher!"
 

Prompt hielt er inne. Crabbe und Goyle schauten erst sie, dann Draco verwirrt an, dessen Gesicht vor ihr verborgen war. Sie wischte ihre vor Nervosität feuchten Handflächen an ihrem Umhang ab, als sich Draco zu ihr umwandte. Seine Miene war völlig neutral. 
 

"Wer ist Sucher?"
 

Triumphierend ihn endlich bei seinem Stolz gepackt zu haben, atmete sie erleichtert aus, ehe sie mit etwas ruhigerem Ton als bisher antwortete. "Harry er ... Potter. McGonagall hat ihn zum neuen Sucher der Gryffindor Mannschaft gemacht. Deshalb sitzt er noch hier." Dracos Blick wanderte zu Harry, der von ihrem Gespräch nichts mitbekam und sich stattdessen mit den rothaarigen Zwillingen unterhielt, dann wieder zu ihr. 
 

"Erstklässler dürfen nicht in die Mannschaft. Mein Vater hat versucht mich ... Er hat Dumbl-." Er stockte und schluckte, bemüht seine Fassung zu wahren. "Woher weißt du das; dass er Sucher ist?"
 

Unruhig trat Evelyn von einem Bein aufs andere. "Ich habe mir Gedanken gemacht. Du sagtest doch, wir sollten uns Gedanken machen, weshalb Snape mit Flint reden wollte."
 

"Und du sagtest, du willst nicht spekulieren." So etwas wie Hoffnung schien in Dracos Augen aufzublitzen als er erkannte, dass Evelyn womöglich nur eine Vermutung angestellt hatte. Eine Vermutung, mit der sie genauso gut auch falsch liegen könnte. 
 

Ein sanftes Lächeln erschien um Evelyns Lippen. "Ich spekuliere nicht. Ich schlussfolgere. McGonagall hat ihn fliegen sehen und wie er das Erinnermich knapp über dem Boden aufgefangen hat – eine Meisterleistung, wenn du mich fragst." Dracos Augenbraue hob sich. Die letzte Bemerkung hätte nicht sein müssen, jedoch brodelte es dadurch nur noch mehr in ihm. Ein Fakt, der Evelyn nur zugutekam. Sie fuhr fort:
 

"Snape ist deshalb natürlich fürchterlich schlecht gelaunt, weil die Regeln ausgerechnet für Harry Potter verbogen werden, nicht aber für einen seiner Schüler." Weit hergeholt, aber das machte es für Draco noch persönlicher. 
 

"Flint ist Kapitän unserer Quidditch-Mannschaft", kam es schließlich leise aus Dracos Mund, der resigniert zugeben musste, dass Evelyns Überlegungen, die gar keine Überlegungen sondern einfaches Wissen waren, stimmen mussten. 
 

Evelyn nickte und wartete auf seine Reaktion. Mit einem Wedler seiner Hand rief er Crabbe und Goyle zu sich und lief das letzte Stück, hin zu Harry. Evelyn blieb stehen, griff mit der rechten Hand an ihren anderen Oberarm und atmete durch. 
 

Sie war sich sicher, dass sie eine Entschuldigung verhindert hatte, Restzweifel waren jedoch noch immer vorhanden. Ein schlechtes Gewissen Harry ihm gegenüber als Sucher verpfiffen zu haben, hatte sie nicht. Sie redete sich ein alles zum größeren Wohl getan zu haben und war damit sogar erfolgreich. 
 

Fred und George liefen an ihr vorbei ohne sie zu beachten und auch sie schaute sich nicht um, wie die beiden als eine der ersten die Halle verließen. Sie entschied, dass sie genauso gut am Tisch bei den anderen warten konnte. 
 

"Was sollte das? Was hast du ihm gesagt?", wollte Zabini sofort wissen, als sie zurück gekehrt war. 
 

Pansy schüttelte empört über ihr plötzliches Aufbrechen nur den Kopf, während Millicent ihr auf der Bank Platz machte, damit sie sich setzen konnte. 
 

"Mir ist etwas eingefallen, das er wissen sollte."
 

"Was wissen sollte? Wer? Draco?" Daphne lehnte sich nach vorne, wurde aber von Zabini weg geschoben, der ebenfalls seinen Kopf interessiert vor streckte. 
 

"Wovon redest du?"
 

Sie konnte die Neugier der anderen nachvollziehen, im Moment interessierte sie aber eher Draco, der sich ihnen mit Crabbe und Goyle näherte. Das Gespräch schien kurz gewesen zu sein, bemerkte Evelyn. Gut
 

"Das kann er dir selbst sagen", wich Evelyn aus und lenkte die Aufmerksamkeit der anderen mit einem Nicken auf Draco. 
 

Sofort wurde Draco von den Anwesenden mit Fragen bombardiert. Vor allem Zabini machte sich bemerkbar.
 

"Wie ist es gelaufen, hast du dich entschuldigt?"
 

Dracos Hand, die er auf den Tisch gelegt hatte, ballte sich zur Faust. "Und wenn Potter Großmeister des Zaubergamot persönlich wäre, würde ich mich nicht derart erniedrigen." Einige Sekunden wirkten seine Worte, ehe Daphne nachfragte.
 

"Du hast dich nicht entschuldigt?"
 

Sein Schweigen war bereits mehr als eine Antwort, doch Crabbe glaubte für ihn sprechen zu müssen. "Nein, hat er nicht. Er hat ihn zu einem Zaubererduell aufgefordert."
 

Evelyns Augen schlossen sich und sie musste sich zusammenreißen nicht zu grinsen.
 

"Er hat was!", kam es empört von Zabini. "Du hast was?!"
 

Millicent bedeckte geschockt ihren Mund, während Daphne und Pansy sich still schweigend anschauten. 
 

"Was hast du ihm gesagt?", wurde sie erneut von Zabini gefragt, der von Draco abgelassen hatte und nun von Evelyn Antworten verlangte.
 

"Fawley hat ihren Kopf benutzt, im Gegensatz zu euch!", zischte Draco leise, in dem es noch immer brodelte.
 

Fawley? Ach ja, ich. Kurz war Evelyn von seiner Erwiderung irritiert gewesen. Benutz doch Harris und nicht den Namen meiner falschen Familie. Scheinbar war der Name ihrer vermeintlichen Reinblut-Verwandten gerade gut genug für ein Lob.
 

"Sie ist dahinter gekommen, was heute los war. Mit Snape und Flint und ... Potter." 
 

"Er ist Gryffindor-Sucher", verkürzte Evelyn die Sache, die sich den kleinen Triumph endlich von ihrem Wissen profitieren zu können nicht verkneifen konnte. Die Euphorie darüber Dracos vermeintliche Entschuldigung aufgehalten zu haben trug auch einen Teil zu ihrer Leichtköpfigkeit bei. 
 

Daphne runzelte die Stirn. "Harry? Gryffindor-Sucher? D-das macht-"
 

"-erstaunlich viel Sinn", vervollständigte Zabini Daphnes Satz, der die Zusammenhänge schneller als manch anderer am Tisch begriffen hatte. Dabei machte jedoch ein gequältes Gesicht. "Und das musstest du ihm jetzt sagen? Konnte das nicht bis später warten?"
 

"Später? Wieviel später? Nachdem ich mich bereits lächerlich gemacht hatte und vor Potter gebuckelt hätte wie jeder andere auch?" 
 

Es schien, als hätte Zabini nicht mit einem derartigen Gefühlsausbruch von Draco gerechnet. Sie hielt es für richtig einzuschreiten und sich zu erklären. "Ich wollte nicht, dass er Potter heute auch noch die Genugtuung geben würde, vor ihm zu kriechen. Potter wurde schon zum Sucher befördert statt von der Schule zu fliegen." Das entsprach natürlich nicht ganz der Wahrheit, würde ihr aber weitere Fragen ersparen, so hoffte sie. 
 

Ihr Blick wanderte zu Draco, der den Kopf in ihre Richtung neigte, was scheinbar ein "Danke schön" andeuten sollte. Sie erwiderte die Geste. Ob er ihr deshalb danken sollte, stellte sie in Frage. Auf lange Sicht gesehen wäre sein Leben wohl anders, besser verlaufen, aber sie konnte keine Rücksicht auf einen einzelnen nehmen.
 

Blaise schien zu resigniere. "Schön, fein."
 

"Was wirst du wegen des Zaubererduells machen, Draco?" Pansy wagte nun wieder etwas zu sagen.
 

"Was werde ich schon machen? Jemand muss Potter sein Maul stopfen."
 

Evelyn wurde hellhörig. "Warte, du hast vor hinzugehen?"
 

Mehrere Augenpaare schauten sie fragend an, ehe Draco sie ansprach. "Das hatte ich eigentlich vor, ja."
 

"Ein Duell ist ein Duell. Wer ist eigentlich dein Sekundant?", fragte Daphne, woraufhin Draco auf Crabbe zu seiner rechten zeigte, was Zabini grantig zur Kenntnis nahm.
 

"Vinc?", sein Blick viel auf den plumpen Jungen. "Na, du machst das, Kumpel."
 

Eine Diskussion entbrannte unter den Herren, wer denn nun als Sekundant geeignet wäre, was Evelyn nur mit einem Ohr verfolgte. Es war offensichtlich, dass keiner der Anwesenden daran zweifelte das Duell stattfinden zu lassen, was in Evelyn erneut die Galle aufstoßen ließ. Für heute hatte sie genug Aufregung gehabt, weshalb sie kurzerhand entschied das eher kleine Problem direkt anzusprechen. 
 

"Blaise hat Nachsitzen bei Filch", rief sie in die Runde, wobei sie den Namen des Hausmeisters betonte in der Hoffnung damit etwas in den Kindern zu regen. "Der kann kein Sekundant sein. Überhaupt, wieso willst du da überhaupt hin?"
 

"Spuck's aus, Harris, du hast doch was zu sagen." Daphne wurde ungeduldig. 
 

Die Hilfestellung schien nichts gebracht zu haben. Dann eben gerade heraus, dachte sie. "Wieso das Risiko eingehen sich nachts hinauszuschleichen zu ... weiß Merlin wohin? Snape ist sowieso schon mies gelaunt und egal wo das Duell stattfindet, du musst an seinen Räumen vorbei. Keine gute Idee, wenn du mich fragst."
 

Betretenes Schweigen machte sich breit, ehe Millicent das Wort ergriff. "Du klingst, als hättest du bereits eine Lösung, was schlägst du vor, Evelyn?"
 

Die überkreuzte die Arme vor der Brust. "Ganz einfach. Geh nicht hin."
 

"Ausgeschlossen", unterbrach Draco sie barsch.
 

"Lass mich ausreden. Geh nicht hin und lass Potter auflaufen. Blaise hier muss gleich zu Filch oder nicht?" Sie wartete einige Herzschläge bevor sie weitersprach um ihnen Zeit zu geben doch noch selbst auf die Lösung zu kommen; und tatsächlich Daphne grinste plötzlich breit.
 

"Blaise soll sie verpfeifen, bei Filch."
 

"Damit er sie suchen geht und erwischt", spann Millicent den Gedanken weiter.
 

"Während wir gemütlich in unserem Gemeinschaftsraum sitzen, in Sicherheit", beendete Draco. "Brillant."
 

Evelyn schnippte mit dem Finger und deutete auf Draco, der anerkennend den Mund spitze.
 

"Nicht schlecht, Fawley, mir gefällt wie du denkst. Du magst kein Talent fürs Zaubern haben, aber du weißt deinen Verstand zu benutzen."
 

Augenrunzelnd nahm sie die in Lob gepackte Beleidigung zur Kenntnis. Im Grunde stammte die Idee, hoffentlich, sowieso von Draco, daher wollte sie sich sowieso nicht mit fremden Federn schmücken. "Danke, Draco. Aber mein Name ist immer noch Harris."
 

"Bist du sicher, Harris ist so ... gewöhnlich."
 

"Bin ganz glücklich damit."
 

Er zuckte nur die Schultern. "Wenn du meinst. Harris hatte einen guten Vorschlag, so wird es gemacht."
 

Alle waren dem Plan gefolgt, bis auf Crabbe. "Aber wenn Filch Potter erwischt, dann kannst du doch gar nicht gegen ihn kämpfen."
 

"Es wird kein Duell geben, du Spatzenhirn!"
 

"Ich erkläre es dir nochmal, Vince." Evelyn bewunderte Zabini für seine Geduld, die sie wohl auf Dauer nicht aufbringen könnte, wobei sie Dracos Worte ein wenig zu harsch empfunden hatte. 
 

Etwa während der dritten Wiederholung und gegen Ende des Essens öffnete sich das Tor zur Großen Halle. Den Blick streng nach vorne gerichtet, auf den Lehrertisch fixierte, rauschte Professor Snape an ihnen vorbei und wirbelte einigen Wind mit seinem Umhang auf. Ihm auf den Fersen war ein blass aussehender Marcus Flint, der sich stöhnend auf den nächst besten Platz fallen ließ. Von allen Seiten redeten die Schüler auf ihn ein. Es hatte sich inzwischen überall in ihrem Haus herumgesprochen, dass ihr Hauslehrer ihnen einen Besuch abgestattet hatte, mit Laune auf dem Tiefpunkt, und Flint mitgenommen hatte. 
 

Wie bei der Flüsterpost wurden seine Nachrichten von Schüler zu Schüler gereicht. Gleichzeitig teilten Daphne und Pansy die Neuigkeiten um Harrys neuen Sucherstatus, bis der ganze Tisch informiert war. Unter vorgehaltener Hand diskutierte bald jeder Slytherin über den Skandal um Gryffindor. Evelyn hingegen lehnte sich zurück und beobachtete stattdessen den Lehrertisch, wo Snape nun angekommen war. Es schien, als interessierte er sich nicht am Essen, sondern als hätte er ganz andere Gründe hier in der Halle zu sein. Ohne auch nur zu versuchen sich auf Professor McGonagalls Augenhöhe zu setzen, blieb er neben ihrem Stuhl stehen und redete wütend auf sie ein. Diese erwiderte nicht minder wütend etwas zurück. Flitwick, der den Schlagaustausch aus nächster Nähe mitbekam, trank genüsslich aus seinem Kelch, als hätte er eine ähnliche Szene bereits einige Male erlebt und wäre es deshalb müde geworden, darauf zu reagieren. Auch keine der anderen anwesenden Lehrer schienen sich um den Streit der Hauslehrer zu kümmern und der einzige, der vielleicht etwas hätte ausrichten wollen und können, war nicht anwesend. 
 

"Du meine Güte, die haben sich ganz schön was zu sagen", meinte Millicent in Evelyn Ohr, als sie Evelyns Blick verfolgt hatte und die wütenden Lehrer sah. 
 

"Potter wird offensichtlich bevorzugt. Ich verstehe, dass ihm das nicht gefällt." Snape gestikulierte wild und deutete auf McGonagall, die seine Hand beiläufig weg schlug, um nun ihrerseits auf ihn einzureden. Beide standen mittlerweile, und keiften sich im Schutz des hohen Stuhl des Schulleiters an. Sie waren nicht zu hören, doch wer hinsah, konnte sie trotz Stuhls deutlich sehen. 
 

"Schon", gab Millicent ihr recht, "aber hast du gesehen, wie er den Ball gefangen hat?"
 

"Das Erinnermich."
 

"Ja, das war wahnsinnig gut. Ich schaffe es nicht einmal den Besen hochzurufen und er legt einen Sturzflug hin und zieht wenige Zauberstablängen über dem Boden nach oben." 
 

Daphne, die lieber ihnen als den Jungs zugehört hatte, wie sie Pläne für das nicht stattfindende Duell schmiedeten, nickte hinter Millicent. "Das war ziemlich nahe an einem perfekten Wronski-Bluff, nur ohne Schnatz. Bezweifle, dass Draco das gekonnt hätte", flüsterte sie, bekam aber von Pansy einen leichten Schlag auf den Hinterkopf. 
 

Die Lobpreisungen über Harrys Leistungen aus dem Mund ihrer Slytherin-Kameraden zu hören, verblüffte Evelyn, machte sie gleichzeitig aber auch stolz. 
 

Während Daphne Millicent erklärte, was ein Wronski-Bluff war, spürte Evelyn erneut einen Windstoß und sah nur noch den Rücken ihres Hauslehrers, wie er ohne etwas gegessen zu haben auf dem Weg war die Halle zu verlassen. 
 

"Verzeihen Sie, Professor!", rief Draco laut und deutlich, während er beinahe vor Aufregung hüpfte und sich groß machte. Er stand mitten unter ihnen und Evelyn war nicht die einzige die sich wünschte, er hätte an diesem Abend nicht erneut die Aufmerksamkeit von Snape auf sich gezogen. Schon gar nicht, während sie nur wenige Arm breit von ihm weg saßen und damit im Gefahrenbereich. Kollektives Aufstöhnen war zu hören, während Blaise das Gesicht in die Hand legte, unfähig sich die Szene anzuschauen. Pansy, hinter der Snape stehen geblieben war, lehnte sich unbehaglich zur Seite, bis sie beinahe auf dem Schoß von Daphne saß. 
 

Nur Draco mit Goyle und Crabbe zu beiden Seiten hielten Snapes Blick unbeirrt stand. Währenddessen runzelte Evelyn eher die Stirn über Snapes ungewöhnliche Blässe und eingefallenen Wangen. Hätte nicht geschadet, wenn Sie wenigstens ein bisschen gegessen hätten. Fürchterlich dürr, wenn das Molly sehen würde ...
 

Da es jedoch keine gute Idee wäre ihm Pudding anzubieten, blieb sie lieber still und ließ Draco sich um Kopf und Kragen reden. 
 

"Sir, stimmt es, was man sagt? Ist Potter tatsächlich Sucher?"
 

Direkter Angriff, keine gute Wahl, wie Evelyn fand, was sie mit einem scharfen Einatmen zeigte. "Ich wüsste nicht, woher Sie glauben solche Informationen zu haben, Mr Malfoy, oder weshalb Sie annehmen, dass ich diese Gerüchte auch noch bestätige."
 

"Sir, die Schule verbietet es Erstklässler in die Mannschaft aufzunehmen. Sicher wird Dumbledore noch nicht das letzte Wort in dieser Sache gesagt haben, oder?"
 

"Die Regeln dieser Schule sind mir durchaus vertraut, ich bin schließlich einige Wochen länger hier, als Sie. Desweiteren denke ich, dass Professor Dumbledore Ihnen gerne jede Ihrer Fragen beantwortet, vorausgesetzt, Sie finden ihn." Seine Augen glitten nach links hinauf zum Lehrerpult mit dem leeren Stuhl in der Mitte. 
 

Draco weigerte sich Ruhe zu geben und reckte sein Kinn nach oben, die Hände starr nach unten gedrückt. 
 

"Bei allem Respekt, Sir, Potter als Spieler zuzulassen ist-"
 

"Ihre Meinung ist mir völlig egal, Mr Malfoy." Er faltete seinen Umhang vor sich und wickelte sich damit ein. Oh nein, der Todesstoß. "An Ihrer Stelle würde ich mich eher fragen, was Sie anders hätten machen können, um diese ganze Sache zu verhindern. Und falls – ich sage falls – Potter wirklich Gryffindors neuer Wundersucher ist, dann sollten Sie Merlin danken, dass Sie nicht in diesem Moment mit ihm zusammen nach Hause fahren. Das wäre nämlich die Alternative und glauben Sie mir, ich wäre mit dieser Alternative mehr als einverstanden." Der hat gesessen. 
 

Das realisierte auch Draco, der sich langsam zurück auf seinen Platz gleiten ließ, den Kopf gesenkt. Millicent drehte sich zu Evelyn, weg von Snape, und formte ein tonloses "o". Der Schock stand auf ihrem Gesicht geschrieben. 
 

Mit einer Handbewegung befreite er sich aus seinem eigenen Umhang und wandte sich zum gehen, hielt dann noch einmal inne. "Wenn Sie also Beschwerde oder Verbesserungsvorschläge zur Situation haben, wenden Sie sich an den Schulleiter." Sein Blick schoss auf Zabini, der unweigerlich zusammenzuckte. "Ich glaube Filch wartet bereits auf sie, Mr Zabini." Ohne auf eine Reaktion zu warten, verschwand er so schnell, wie er aufgetaucht war. 
 

"Nun", begann Evelyn die seltsame Stille zu durchbrechen. "Das werte ich jetzt mal als ein Ja seinerseits."
 

Dracos Haut wirkte grau und farblos, was ihn beinahe wie ein Albino aussehen ließ. Die Worte Snapes mussten ihn mehr getroffen haben, als er zugeben wollte. Vermutlich realisierte er gerade, dass auch er nicht unantastbar und sogar knapp einem Rausschmiss entgangen war. Seine Zuversicht sein Name würde ihn schützen, hatte Snape, sein eigener Hauslehrer, gerade zunichte gemacht. 
 

"Ich denke", meinte Zabini langsam, während er sich erhob, "ich sollte gehen. Will nicht zu spät kommen."
 

"Wa-", Dracos Stimme war heiser und einige Oktaven zu hoch. Er räusperte sich und kämpfte damit seine Beherrschung nicht vor allen Augen zu verlieren. "Warte." Evelyn empfand regelrecht Mitleid mit dem Jungen, dem man nun ansah, dass er weitaus jünger war, als er sich gab. Auch Pansy versuchte die Hand nach ihm auszustrecken, doch er wies sie ab.
 

"Erinnerst du dich noch daran, was ich dir gesagt habe?" Man hörte deutlich Trauer und Enttäuschung, doch trotzallem wollte er die Sache mit Filch durchziehen. 
 

"Pokalzimmer, Mitternacht, Schüler aus den Betten, ich werde es nicht vergessen." Zabini nickte um schenkte Draco ein Lächeln, während er ihm auf die Schulter klopfte. "Mach dir nichts draus, Kumpel." Mit letztem Wink in die Runde, verschwand er zum Nachsitzen.
 

"Genau, lass uns in den Gemeinschaftsraum gehen. Blaise regelt das."
 

"Ich glaube ich habe einen Plattenspieler gesehen", meinte Millicent. "Wir könnten Musik hören und auf Blaise warten."
 

Daphne nickte. "Ja, im Schrank war einer, wir können es uns gemütlich machen. Die andern gehen bestimmt bald in ihre Schlafsäle."
 

Eifrig wurden Pläne ausgetauscht, wie sie die kommenden Stunden gestalten könnten. Jeder einzelne von ihnen versuchte Draco abzulenken, ihn aufzumuntern und versuchte ihn auf andere Gedanken zu bringen. Was für ein Bild. Sogar Goyle klopfte Draco immer wieder auf die Schulter und ermutigte ihn, bis auch er ein Lächeln zustande brachte.
 

"Plattenspieler?", beteiligte sich Evelyn nun mit heiterer Stimmung. "Den würde ich gerne sehen. Haben wir überhaupt Platten?"
 

"Ja sicher, müssten direkt daneben stehen", meinte Millicent. 
 

Evelyn schaute auf Draco, der wieder ein wenig Farbe ins Gesicht bekommen hatte. "Na dann los, was sitzen wir hier noch rum?"

Kapitel 37 - Herbsteinzug im Schloss

Leise, um die anderen nicht zu wecken, schlich sie zu ihrer Kommode und prüfte ihren Tränkevorrat, ehe sie ihre morgendliche Dosis nahm. Jeden Schluck trank sie ohne zu zögern, an den Geschmack war sie schon gewöhnt. Fast die Hälfte hatte sie mittlerweile aufgebraucht, doch bis Weihnachten würde es reichen. Trotz ihrer zwei Monate hier fühlte sich noch nichts selbstverständlich an. Jeder Morgen, an dem der seltsame Wecker aus dem Wasserbecken mitten im Raum aufstieg und in selbigem verschwand, war etwas Besonderes. Jeder Vortrag von Flitwick über die Entwicklung einer Zauberstabbewegung war unwirklich. Sie hatte geglaubt, dass trotz der anfänglichen Wunder sich dann irgendwann Routine einschleichen würde, die Zeit hatte sie jedoch Lügen gestraft.
 

Sie schloss die Schublade, in der sie ihre Sachen verstaut hatte und zuckte zusammen, als das Holz unangenehm quietschte. Angespannt lauschte sie auf Geräusche ihrer Zimmerkameradinnen, die bisher friedlich in ihren Betten geschlafen hatten. Millicents leises Schnarchen war deutlich zu hören, während jemand anderes sich in ihrer Decke bewegte.
 

"Evelyn?", durchbrach Daphnes vom Schlafen grobe Stimme die Stille. Einige Finger schoben sich durch den Vorhang ihres Bettes und öffneten diesen einen Spalt breit. "Gehst du wieder laufen?"
 

Das Becken umrundend ging Evelyn näher an Daphnes Bett um nicht zu laut reden zu müssen. "Ja", flüsterte sie, wobei sie bei Daphnes Anblick grinste. Die Arme konnte kaum die Augen auf halten, was kein Wunder war. Sie alle hatten eine lange Nacht der Sternenguckerei hinter sich. Obwohl Evelyn die Antwort glaubte zu wissen, stellte sie der Höflichkeit halber trotzdem ihre Frage. "Möchtest du mit?"
 

Daphnes Finger glitten zurück, sodass der Vorhang zu fiel. Nur noch ihr unverständiges Gemurmel war zu hören. 
 

"Wir sehen uns später", sagte Evelyn beim Gehen, bekam aber keine Reaktion. 
 

Fast schon wie bei einem Ritual band sie zuerst ihre Haare zusammen, die nun zu lang waren um sie ständig offen zu tragen, ehe sie den Sitz ihre Schuhe prüfte. Die engen Sportsachen waren ein starker Kontrast zu den weiten Schulsachen, besonders die Hose. Ständig einen Rock zu tragen war ermüdend, so empfand es zumindest Evelyn. Daphne hatte weniger Probleme damit ständig an sich herumzuziehen, ihren Rockboden zurecht zu zupfen und darauf zu achten, dass man ja nichts sehen konnte. Sie hatte sich sogar mehr als einmal beschwert, dass die Röcke zu lang seien, worüber Evelyn nur den Kopf schütteln konnte. 
 

Besonders beim Fliegen machte ihre Uniform ihr Probleme. Eine Woche nach dem Flugdebakel – nun ein Tabu Thema im Slytherin-Gemeinschaftsraum – war sie schließlich doch gezwungen gewesen auf einen Besen zu steigen. Einarmig hatte sie sich am Stiel festgeklammert, während sie mit der anderen den Stoff ihres Rockes gehoben hatte. An Lenken war in dieser Position nicht zu denken. Irgendwann hatte sie es geschafft den Rock so zwischen Besen und Schenkel zu klemmen, dass sie sich einigermaßen wohl gefühlt hatte zwei Hände beim Fliegen zu benutzen. 
 

Wie zu erwarten gewesen war, machte Harry mit einigen anderen eine besonders gute Figur, was ihm viel Lob von Madam Hooch eingebracht hatte. Evelyn hatte sich die meiste Zeit, in der sie sich nicht um ihre Uniform sorgte, für die Erfindung des Polsterungszaubers bedankt. Aus ihrer Gruppe hatte sich überraschenderweise Daphne als Talent erwiesen. Für Evelyn hatte sich nur bestätigt, dass sie selbst lieber beide Beine auf dem Boden hatte. Beine, die sie vor hatte zu benutzen. 
 

In den letzten Wochen hatte sie aus ihrer Angewohnheit früh aufzustehen das Beste gemacht und die Zeit mit ein wenig Sport vertrieben. Nachdem sie einige Morgen alleine im Gemeinschaftsraum verbracht hatte, mit nichts als dem Plattenspieler als Begleitung, war ihr schnell langweilig geworden und hatte angefangen durch das Schloss zu gehen. Die Sperrstunde war aufgehoben, doch das Schloss und die Gänge waren so gut wie leer. Ab und zu war sie den Geistern begegnet, hatte aber aufgepasst Peeves aus dem Weg zu gehen. Die eine Begegnung hatte ihr gereicht.
 

Das Buch, das nach Peeves' Attacke schon beinahe ruiniert gewesen war, hatte Evelyn Kopfzerbrechen bereitet. Zu gerne wäre sie erneut in die Bibliothek gegangen, wo sie sich hingezogen fühlte, doch das schlechte Gewissen, das sie wohl beim Anblick von Madam Pince übermannt hätte, hielt sie davon ab. Der Rückgabe Termin war unaufhörlich näher gerückt und sie hatte sogar in Erwägung gezogen mit Alkohol zu arbeiten um die Tinte von den Seiten zu bekommen. Falls der nicht geholfen hätte, hätte sie ihn wenigstens trinken können. 
 

Die Lösung war schließlich ganz einfach gewesen und hatte nur einen Sprung über ihren Schatten gefordert. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie niemandem von dem Buch erzählt, schon allein weil sie den peinlichen Moment vor versammelter Mannschaft Tinten überströmt gestehen zu haben nicht erneut zur Sprache bringen wollte. Im Endeffekt hatte es nur einen Scourgify bedurft, nachdem sich Evelyn Millicent anvertraut hatte und die das Buch zu Livinius Pucey, dem Vertrauensschüler, gebracht hatte, der sich ohne Fragen zu stellen darum gekümmert hatte. Obwohl die Tinte Zeit gehabt hatte sich tagelang in die Seiten zu trocken, war nichts mehr zu sehen gewesen, was Pucey eine Umarmung ihrerseits eingebracht hatte. Erleichtert konnte sie das Buch zurück geben, nachdem sie dann doch einige Blicke hineinwerfen hatte können; Madam Pince hatte nichts bemerkt.
 

Während ihrer einsamen Erkundungstour durch das Schloss hatte es sie recht früh auch in den siebten Stock gezogen, wo sie sich vor dem Portrait der Fetten Dame wiederfand. Der gesamte Aufgang zum Teil des Turmes, in dem sich der Eingang zu den Gryffindor versteckte, war nicht gerade unauffällig gestaltet. Rote Teppiche bedeckten den Boden, deren Mitte deutliche Nutzungsspuren aufwiesen. Die Fenster waren alle mit schweren Gobelins verhangen, die mit goldenen Kordeln zusammen gehalten wurden. Die Gemälde, die auch in diesem Teil des Schlosses fast jeden freien Platz an den Wänden einnahmen, stellten hauptsächlich höfische Szenen dar; Reiterturniere, Duellszenen, Bankette aller Art und sogar einige pompöse Picknicke. Evelyn Hauptinteresse hatte aber nur der schlafenden Frau in breitem Seidenkleid gegolten, über deren Kopf dichte Traubenranken wuchsen. 
 

Sie saß auf einer steinernen Bank ohne Rückenlehne, den Kopf auf die Schulter gekippt und schlief. Das üppige Dekolleté, das in dem Kleid arg zur Geltung kam, hob und senkte sich bei jedem Atemzug. Evelyn war langsam herangetreten und hatte den gold-glänzenden Rahmen vorsichtig mit den Fingern berührt und war ihn entlang gestrichen.
 

Ein Japsen verriet, dass die Bewohnerin des Bildes wach geworden war. Von einem Moment zum nächsten hatte sich Evelyn Aug in Aug mit der Fetten Dame wiedergefunden, die sich räusperte, ihre zusammengeflochtenen dunklen Haare zurecht machte und das Kinn reckte. 
 

"Ein wenig früh, um mich zu wecken, oder?", hatte sie gefragt, ehe sie Evelyn abschätzend prüfte. "Passwort?"
 

Evelyn hatte ihre Lippen befeuchtet und geschluckt. Die Versuchung war groß gewesen, sehr groß. Letztlich hatte sie die Arme vor der Brust verschränkt und die Schultern gezuckt. 
 

"Woher soll ich das wissen?"
 

Das wütende Gezeter der Fetten Dame, der es gar nicht gefallen hatte wegen nichts aus dem Schlaf gerissen worden zu sein, hatte Evelyn bis zur Treppe verfolgt. Dort war sie erneut stehen geblieben und hatte zurück geschaut, wo sie nur noch sah, wie die Fette Dame erneut ihr Kleid glatt strich und den Kopf schüttelte. 
 

Sie erkannte, dass alleine im Schloss zu sein ein zu großes Risiko bestand sich in bestimmte Ecken zu wagen, in die sie nicht hinein sollte. Als sie ernsthaft überlegt hatte einen Blick in den Verbotenen Korridor zu erhaschen, hatte sie eine Alternative gesucht, die sie eher aus dem Schloss heraus zog, statt sich im Innern aufzuhalten. 
 

Die Idee zu joggen war ihr gekommen, als sie die Quidditch Mannschaften beobachtet hatten, wie sie in aller Früh durch die Kerker gewandert waren, durch die Passage hindurch, die das Schloss unterirdisch mit dem Quidditch Feld verbannt. Sowohl Gryffindor, als auch Hufflepuff hatten einige Trainingseinheiten noch vor Beginn des Unterrichts gelegt, wovon sich Evelyn hatte inspirieren lassen. 
 

Als letzten Schliff schob sie ihren Zauberstab in ihren langen Ärmel hinein, der eng an ihrer Haut lag. Ende Oktober war es speziell nachts äußerst kühl, was man auch noch morgens spürte. Ihr Weg würde sie jedoch nah an den Wald führen und als Blaise gehört hatte, dass sie sich anfangs ohne ihren Zauberstab dorthin gewagt hatte, war er regelrecht hysterisch geworden. 
 

Die anderen hatten zum Großteil mit Unverständnis reagier, vor allem Millicent konnte nicht verstehen, wie jemand freiwillig Sport machen wollte. 
 

Evelyn lag es aber am Herzen ein wenig für ihre Fitness zu tun, da sie im Gegensatz zu den Kindern nicht mehr den Luxus eines übereifrigen Stoffwechsels hatte, und die üppigen Abendessen sich langsam bemerkbar machten. 
 

Springend nahm sie die letzten Stufen hoch in die Eingangshalle, die in sanftes Morgenlicht getaucht war. Sie genoss die Ruhe im Schloss, wenn dessen Bewohner noch schliefen. Es gab ihr das Gefühl Hogwarts nur für sich zu haben, wenn man von den Geistern absah. 
 

"Guten Morgen, Herr Baron. Bruder Anselm", rief sie mit geneigtem Kopf den beiden Hausgeistern zu, die gerade durch die Wand geschwebt kamen und in ein Gespräch vertieft waren. 
 

"Sei gegrüßt, mein Kind", erwiderte der Mönch, während der Blutige Baron sie abschätze, was Evelyn mehr und mehr unangenehm wurde. Bruder Anselm lächelte sie mit seinen Pausbacken an. "So früh auf den Beinen, Mädchen? Welch löbliche Eigenschaft."
 

"Tüchtig mag sie sein, doch ihre Bekleidung schickt sich nicht für ein Weib." 
 

Der Mönch klopfte dem Baron auf die Schulter, während er seinen runden Bauch hob. "Mein lieber Baron, sei nicht so griesgrämig heute. Das Mädchen hat vortreffliche Manieren, erweise ihr wenigstens Respekt. Außerdem hat Nicholas seinen Ehrentag heute, also solltest du dein Lächeln üben. Du weiß, wie eigen er ist."
 

"Wen ich meines Respektes für würdig erachte soll nicht deine Sorge sein." Er wandte sich ab und fuhr sich mit den Fingern über seinen feinen Bart. "Nicholas verliert wegen größten Nichtigkeiten sein Temperament, das hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben."
 

Bruder Anselm grinste verschmitzt. "Meinst du nicht eher, er verliert seinen Kopf?" Sein Lachen über seinen eigenen Scherz hallte durch die leere Halle, wobei der Baron nur unbeeindruckt die Augenbrauen hob. 
 

Die Angewohnheit der Geister über Personen zu reden, so als seien sie nicht im Raum, war nichts Neues, was es nicht einfacher machte damit umzugehen. 
 

"Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag", sagte sie in die Konversation der beiden hinein und hoffte sich davon stehlen zu können. 
 

Bruder Anselm winkte ihr zum Abschied. "Vielen Dank. Ein fröhliches Samhain, wünsche ich dir, Kind."
 

Samhain. Seit Tagen hörte Evelyn nichts anderes mehr. Die Vorfreude auf das Fest innerhalb ihrer Hauskameraden war deutlich zu spüren gewesen und erinnerte sie an ihre eigene Kindheit, in der sie die Tage bis Weihnachten gezählt hatte. Nur, dass es eben nicht Weihnachten war, sondern Halloween. Für sie war Halloween kein großes Fest und qualifizierte sich schon gar nicht als wichtiger Feiertag. Ihre persönliche Erfahrung beschränkten sich eher auf billige Kostümparties und auf einige wenige hartnäckigen Kindern, die es den Amerikanern nachmachen wollten und nach Süßigkeiten fragten, wobei die wenigsten tatsächlich verkleidet gewesen waren. 
 

Sie wusste, dass es hier anders war, dass man Halloween mit einem großen Bankett feiern würde, und genau das spiegelten die Schüler wider. 
 

Die kalte Morgenluft begrüßte sie, doch ansonsten war es trocken geblieben. Die Sonne war noch nicht komplett durch die Wolkendecke gebrochen und tauchte die Ländereien in bläuliches Licht. Über dem Gras und dem See hing dichter Nebel und machte den Abstieg hinunter zum Ufer schwer. Immer wieder rutschte sie auf dem nassen Gras aus oder erwischte einen Stein, an dem sie hängen blieb. 
 

Stück für Stück kämpfte sie sich nach unten, bis sie flachen Boden erreicht hatte. Anfangs hatte sie um das Schloss herum, durch die Gewächshäuser hindurch, einen Weg gesucht, doch das Gelände war zu uneben und zu bergig, um angenehm laufen zu können. Erstrecht für jemanden wie Evelyn, die erst wieder ins Training finden musste und keine Ausdauer hatte. 
 

Das Ufer um den See hatte sich daher als gute Alternative angeboten. Sie lief keine volle Umrundung, dafür würde sie wohl einen ganzen Tag benötigen, aber eine feste Strecke, die sie jeden Tag ein wenig erweiterte, ehe sie zurück kehrte. 
 

Der Kies knirschte unter jedem ihrer Schritte und das ein oder andere Mal hörte sie etwas aufs Wasser klatschen. Einmal hatte sie einen riesigen Tentakel gesehen, der sich weit aus dem See streckte und mit einem Schwarm Enten spielte, die jedes Mal panisch hochschreckten, wenn der Tentakel sich bewegte, nur um sich dann wieder auf den See zu setzen. 
 

Als sie Daphne heute Morgen gefragt hatte, ob sie sie begleiten wollte, hatte es Evelyn ernst gemeint. Daphne war mit die einzige, die Evelyns Morgensport unterstützte und ihr sogar das ein oder andere Mal bereits Gesellschaft geleistet hatte. Evelyn hatte geglaubt ihr Tempo an Daphne anpassen zu müssen, doch darin hatte sie sich schmerzlich geirrt. Daphne konnte ihr buchstäblich davon rennen, wenn sie wollte. Trotzdem mochte sie ihre gemeinsamen Läufe, in denen sie oft kein einziges Wort wechselten. Beide waren vollkommen zufrieden damit still nebeneinander her zu laufen. 
 

Wenn sie jedoch so wie heute alleine war, nutzte sie die Zeit um sich zu ordnen, nachzudenken und ihre nächsten Schritte abzuwägen. Natürlich hatte in den letzten Tagen das anstehende Halloween-Fest dabei ihre Gedanken beherrscht. Das Fest, das heute abgehalten werden würde.
 

Sie war zum Schluss gekommen, nicht viel beachten zu müssen. Für alle war es ein normaler Tag, wenn man von dem kleinen Zwischenspiel mit dem Troll absah. Aus ihrer Position als unbeteiligter Slytherin sollte sie kaum Einfluss nehmen können. Trotzdem würde sie darauf achten, dass Hermine sich am Ende des Unterrichts im Mädchenklo einschließen würde, und wenn nur um ihr eigenes Gewissen zu beruhigen. Stellte sich nur die Frage, welches Mädchenklo das sein würde?
 

Es gab einige im ganzen Schloss verteilt, darunter auch Myrtes Klo, das sie bisher großräumig vermieden hatte. Mit dem Eingang zur Kammer wollte sie im Moment nicht konfrontiert werden, das war ein Problem, das es in Zukunft zu bewältigen galt.
 

Seit Tagen schon überlegte sie, ob nicht vielleicht doch das Klo bekannt war, in dem Hermine sich verkriechen würde, doch egal wie sehr sie sich anstrengte, falls es eine Erwähnung gab, so konnte sie sich nicht daran erinnern. Sie musste sich eingestehen, dass 4000 Seiten zu viel war, um sich jedes Detail einprägen zu können, so sehr sie es auch versucht hatte. 
 

Der beste Kandidat war in ihren Augen das Klo im dritten Stock, das sich nahe dem Zauberkunst-Korridor befand. Angenommen sie wäre Hermine, ein verletztes junges Mädchen, dann würde Evelyn sich wohl ins erst beste Klo stürzen, das es gab. All das war aber nur eine Vermutung.
 

"Also wirklich", stieß sie schnaufend hervor, "woher wissen die Jungs in welches Klo sie rennen müssen? Es gibt dutzende!" Wenn ich an ihrer Stelle stehen würde, hätte ich mir gar keine Sorgen gemacht, solange Hermine nicht irgendwo im Kerker herumrennt, wo der Troll gewesen sein sollte. Gewesen sein würde? Würde gewesen sein? "Gott, die Sache mit der Zeit macht mich fertig!" 
 

Ihre Gedanken kreisten, bis die ersten Strahlen der Sonne schließlich den Tag ankündigten und den See orange glitzern ließen. Mit Blick auf das Schloss, um das sich die Bäume bereits braun färbten, kehrte sie zurück. Obwohl sie nun einige Wochen Training hinter sich hatte, schnaufte sie nach jedem Lauf schwer, japste regelrecht nach Luft. Sie wusste, dass sich daran nichts ändern würde, da ihre Lunge dank ihres jugendlichen Tabakkonsums nicht mehr ganz so zuverlässig arbeitete. 
 

Die Stufen hinein durch das große Eichentor erklimmend, wünschte sie sich nichts mehr, als einen Schluck trinken zu können, als ihr Professor Quirrell auffiel, der aus dem ersten Stock geeilt kam und scheinbar mit sich selbst sprach. Seine Hände hatte er eng an die Brust gepresst, während er leise seinen Mund bewegte. Jeder andere hätte geglaubt, dass Quirrell wieder eine seiner Panikattacken hatte, so perfekt spielte er seine Rolle, was Evelyn immer wieder erstaunte. 
 

Nie, weder im Unterricht noch auf den Gängen oder beim Essen, fiel Quirrell aus seiner Rolle. Selbst Evelyn, die von seiner Scharade wusste, ertappte sich ab und zu dabei, wie sie ihm seine Gebrechlichkeit abnahm. Auch jetzt wirkte er nur wie ein desillusionierter, kränklicher Mann. 
 

Bisher hatte er Evelyn nicht bemerkt und sie achtete darauf, dass es auch so blieb. Sie drückte sich in die Schatten einer Nische, in die das sanft flackernde Licht der Fackeln nicht reichte. Das Licht von draußen war noch nicht genug, um die Halle völlig zu erhellen, und so lief er an Evelyn vorbei, hinaus auf die Ländereien. Angestrengt hatte sie versucht zu hören, was er murmelte, konnte aber kein Wort verstehen. 
 

Jede Begegnung mit Quirrell war unangenehm, besonders da er immer wieder jeden Slytherin Schüler zu sich rief und sie fragte, ob sie etwas auf dem Herzen hätten, so als verstünde er sich als ihren Hauslehrer. Nach Evelyns Wissen tat er dies nur mit ihnen, und mit sonst keinem anderen Schüler aus anderen Häusern. Evelyn war jedoch zufrieden mit ihrem Hauslehrer, danke schön. Was genau er damit bezweckte konnte sie nur erahnen. Weshalb sie ihn aber heute so früh unterwegs sah, davon hatte sie eine ziemlich gute Vorstellung. Sie widerstand der Versuchung und statt ihm nachzugehen, schob sie sich von der Wand weg und kehrte zum Gemeinschaftsraum zurück. 
 

Noch war es ruhig, doch sie konnte bereits Geräusche und aufgeregtes Gerede aus den Korridoren der Schlafsäle hören. 
 

Bevor sie zu den anderen ging, ließ sie sich auf einen Sessel fallen und schloss zufrieden die Augen. Als sie sie einige Herzschläge später wieder öffnete, stand ein kleiner Servierwagen neben ihr, ein gefülltes Glas Wasser darauf, an dessen Rand Wasserperlen langsam nach unten flossen. 
 

Evelyn schmunzelte und nahm das Glas. "Danke, Neppy!", rief sie in den Raum hinein, ohne sich sicher zu sein, ob die kleine Hauselfe sie hörte. Nachdem Evelyn Neppy einige Male gebeten hatte ihr etwas zu trinken zu geben, hatte Neppy, zumindest nahm Evelyn das an, angefangen ihr ohne Aufforderung etwas zu geben. Eigentlich hatte Evelyn nicht erwartet, dass die Hauselfe auf das hörte, was sie sagte. Wenn sie sich daran zurück erinnerte, wie vehement Neppy jeden Befehlt von Daphne abgewiesen hatte, war das Glas Wasser nicht selbstverständlich. Es musste also einen Unterschied geben zwischen "Halte eine Schülerin mit Wasser am Leben" und "Helfe einer Schülerin ihre Kleidung aufzuheben".
 

Langsam erhellten sich die grünen Lampen um sie herum, das Feuer knisterte bereits einige Zeit im Kamin. Wenn sie nicht zu spät kommen wollte, musste sie sich fertig machen. Mit einem Blick auf den Gang zu den Schlafsälen, wo die ersten Gesichter auftauchten, leerte sie ihr Glas, ehe sie aufstand. Der Tag würde interessant werden.

 

Kapitel 38 - Keine Zeit zum Durchschnaufen

Die gelöste Stimmung der Schüler setzte sich am Frühstückstisch fort. Unter das ständige Klirren des Bestecks mischte sich heiteres Lachen, was um diese Zeit recht atypisch für die Häuser war. Für gewöhnlich war es morgens ruhig in der Großen Halle, die erst gegen Mittag wirklich auflebte. Pansy gehörte zu denen, die ohne Luft zu holen plapperten, während die Augen anderer Anwesenden regelmäßig zur Decke glitten, wo sich die grauen Wolken zu einer dicken Masse zusammengeschoben hatten.

 

Statt nach oben zu schauen, linste Evelyn zur Seite und wunderte sich über die Garderobe so manches Professors. Minerva McGonagall hatte sich eine breite Schärpe im roten Karo Muster umgeworfen, die mit mehreren Lederbänden an ihrer Hüfte festgehalten wurde. Die Hauslehrerin von Hufflepuff hatte mit einigen lebenden Ranken auf ihrem Hut zu kämpfen, die sich etwas von ihrem Frühstück schnappen wollten und ihre gierigen nach Sprouts Teller ausstreckten. Sogar Dumbledore, den Evelyn nur flüchtig im Auge hatte, hatte es geschafft mit seiner scharlachroten Robe, auf der glitzernde blaue Sterne gestickt waren, noch bunter zu wirken.

 

Die einzigen, die aussahen wie gewöhnlich, waren die Professoren Snape und Quirrell, wobei letzterer seinen matten Turban gegen einen neuen, blauen, ausgetauscht hatte. Das Bild eines grimmig dreinschauenden Snape, der nichts weiter tat als seine Tasse zu drehen, neben einem förmlich leuchtenden Flitwick ganz in Goldfarben gehüllt, ließ Evelyn schmunzeln.

 

"Da sind sie!" Millicent boxte Evelyn unsanft in die Seite, bevor sie wie wild mit dem Finger zur Decke zeigte. Dort versuchten sich hunderte Eulen gleichzeitig durch die schmalen Öffnungen direkt über den Fenstern zur Großen Halle zu quetschen. Es war ein Spektakel, wie es jeden Tag passierte und so gut wie nie den Trott des Morgens durcheinander brachte. Heute aber hielt jeder beim Frühstück inne und suchte begierig nach einem bekannten Vogel am falschen Himmel der Halle. Überall wurden die Hände erwartungsvoll nach oben gestreckt, als auch schon die erste Post zu fallen begann.

"Was zum ..." Mit halb offenem Mund konnte Evelyn nur staunen, wie quaffelgroße Pakete, die eben noch an den Krallen der Eulen hingen, in die Hände der umliegenden Schüler fielen. Einige waren in schlichtes Papier gewickelt, andere waren kunstvoll verziert.

 

"Uff." Die Arme weit geöffnet stemmte sich Millicent gegen das Gewicht des Pakets, welches ihr entgegen geflogen kam. Evelyn lehnte sich zu ihr und begutachtete neugierig den Karton, der mit dutzenden Bändern umwickelt war. Er wirkte ein wenig kleiner als der von Zabini, der mit buntem Papier beklebt war. Malfoy hatte sich bereits daran gemacht die Schleifen zu lösen.

 

Über ihnen segelten noch immer die kreischenden Eulen, auf der Suche nach den Empfängern, für die die Post an ihren Krallen bestimmt war. "Millicent", begann Evelyn zögerlich, den Blick nach oben gerichtet, "was ist das?" Kaum hatte sie ausgesprochen zuckte sie zusammen, als etwas Schweres auf ihren Schoß fiel. Der dazugehörige Vogel war bereits in der Menge verschwunden, als Evelyn nach oben blickte. Die Arme von sich gestreckt starrte sie überrascht auf das orangene Ding, das sich nun vor ihr befand.

 

Es war das erste Mal, dass eine Eule etwas für sie gebracht hatte. Einige Zeit hatte sie auf eine Antwort von Ollivander auf ihren Brief gewartet, doch die ist nie gekommen. Irgendwann hatte sie sich damit abgefunden, dass der Brief entweder verloren gegangen war, oder aber Ollivander ihr schlicht und ergreifend nicht schreiben wollte. Tatsächlich glaubte, oder hoffte sie, an ersteres, doch trotzdem war sie skeptisch, weshalb ein unfertiger Brief in ihrem Schlafsaal lag, den sie sich nicht traute abzuschicken. Umso neugieriger war sie nun zu sehen, was all die Aufregung zu bedeuten hatte.

Eilig schob sie ihre Finger zwischen die Falten des Papiers und riss es wie ein ungeduldiges Kind auseinander. Der Tisch füllte sich bereits mit abgerissenen Schleifen, Papierfetzen und unzähligen zusammengeknüllten Bändern, sodass das Essen beinahe nicht mehr zu sehen war. Es interessierte sich sowieso niemand mehr für Brötchen und Marmelade. Alle starrten mit leuchtenden Augen ins Innere der Kartons.

 

In ihrem eigenen fand Evelyn eine metallene Vase, die auf einem Moosbett drapiert war. Erdiger Geruch vermischt mit Kräutern, die sie nicht identifizieren konnte, kroch ihr in die Nase. Die Vase war eckig, hatte unzählige Löcher, die ungleichmäßig das ganze Gebilde durchzogen, und verjüngte sich nach oben hin, wo ein Pfropfen sie verschlossen hielt. Irritiert überlegte sie, weshalb ihr jemand eine Vase geschickt hatte, als sie einen Brief, an die Innenwand des Kartons geklebt, entdeckte. Ein dunkles Wachsiegel hielt das gefaltete Pergament verschlossen. Weder ein Empfänger, noch ein Absender war zu sehen. Als sie jedoch das Pergament öffnete, erkannte sie die eng geschriebene Schrift. Erleichtert fuhr sie sich mit einer Hand durchs Haar und stieß einen verblüfften Seufzer aus.

 

Liebe Miss Harris

 

Ich hoffe Sie haben nicht all die Wochen auf meine Antwort gewartet, ich bin wirklich untröstlich. Die Arbeit hat mich voll und ganz eingenommen. Man mag es kaum glauben, aber mein Vorrat an Buchenstäben ist auf unter 210 gesunken! Mein Vater, und bereits dessen Vater – und ich bin mir sicher dessen Vater auch –, hatte immer zu sagen gepflegt: Der Zauberstabmacher steht in der Pflicht des Zaubererwohls.

 

Sie sehen also, als ich meinen Bestand nach der Hauptsaison geprüft und festgestellt hatte, dass ein gravierender Mangel an Zauberstäben einer Art bestand, habe ich mich in die Arbeit gestürzt.

 

Zu allem Überfluss hatte ich vor wenigen Wochen auch noch eine Auseinandersetzung mit einem meiner Lieferanten. Kein einziges Einhornhaar konnte er mir zustellen. Angeblich herrscht Mangel am Markt, erklären konnte er es mir aber nicht. Er würde selbst schon seit Wochen auf Ware warten. Auf meine Frage hin, wie ich mich auf die nächste Saison vorbereiten solle, ohne ein Drittel meiner Produkt und mit zur zwei verfügbaren Zauberstabkernen, hat er mir ernsthaft ins Gesicht gesagt, ich solle auf andere Kerne zurückgreifen; wie Chimärenhaar. Chimärenhaar, so ein Stümper. Ich habe ihn daraufhin freundlich gefragt, ob er eine Ahnung hätte, wie unstabil Chimärenhaar mit machen Holzarten reagierte? Darunter zählt im Übrigen auch Buche.

 

Verzeihen Sie, ich berichte nur von mir selbst.

 

Es ist zwar schon eine Weile her, doch ich bin froh, dass Sie gut in Hogwarts angekommen sind. Da ich keinerlei Nachrichten, und damit beziehe ich mich auf schlechte, in letzter Zeit erhalten habe, gehe ich davon aus, dass alles nach Ihrer vollsten Zufriedenheit vonstattengeht. Ich muss Sie loben, Ihre Arbeit und ihre Vorbereitung haben sich wahrlich ausgezahlt und ich bin stolz darauf Ihnen auf Ihrem Weg zu helfen.

 

Vergeben Sie daher einem alten Mann, wenn er insgeheim gehofft hatte Sie in Ravenclaw zu wissen. Nichtsdestotrotz ist Slytherin ein würdiges Haus. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Alice Liddell oder Florence Nightingale, beides großartige Hexen in ihrer Kunst, die aus dem Haus Slytherin hervorgegangen sind, und mit außergewöhnlichen Zauberstäben. Es freut mich zu hören, dass in diesem in der Vergangenheit geplagten Haus nun ein Funken Glanz eingekehrt ist. Trotzdem ermahne ich Sie zur Vorsicht und ich möchte Sie daran erinnern, was ich über Ihren nun Hausleher gesagt habe.

Ich vertraue Ihnen und bin überzeugt, dass Sie darauf hören, was Ihnen Ihr Herz sagt.

 

Bitte zögern Sie nicht mir zu schreiben, falls Sie etwas belastet. Natürlich freue ich mich auch über Briefe, in denen Sie mir nur von ihrem Tag berichten.

 

Dieser Tuireadh Coinnlear soll Ihnen heute Freude bringen und Sie daran erinnern, dass Sie nicht allein sind.

 

Mit guten Wünschen

Garrick Ollivander

 

Der geschwungen geschriebene Text war schwer zu lesen, trotzdem las sie den Brief mehrmals durch, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Nach so langer Zeit doch noch etwas von Ollivander zu hören, war unglaublich erleichternd. Jetzt musste sie sich keine Sorgen mehr um eine Unterkunft in den Weihnachtsferien machen, da dies bereit eine Sorge in ihrem Hinterkopf geworden war. Dass sie an Weihnachten nicht im Schloss bleiben konnte stand außer Frage. Schon allein, weil sie neue Zutaten für ihre Tränke benötigte.

 

"Zeig her, wie sieht deine aus?", meinte Millicent plötzlich, ehe sie die Augenbrauen hochzog. "Was ist, du strahlst so. Zeig her, ist sie so schön?"

Evelyn hob den Brief ein wenig von sich, sodass Millicent nichts lesen konnte, da sie die Worte von Ollivander im Moment mit niemandem teilen wollte. Allerdings war das junge Mädchen neben ihr sowieso nur am Inhalt des Kartons interessiert, in den sie bereits ihre Nase steckte.

 

"Eckig", hörte sie Millicents gedämpfte Stimme. Sie hob den Kopf und starrte Evelyn nun ins Gesicht. "Deine ist eckig! Meine sieht aus wie ein Kürbis, da schau."

 

Sofort schob Millicent ihr das Packet entgegen, sodass sich Evelyn selbst davon überzeugen konnte, was genau aussah wie ein Kürbis. Im Innern sah sie ein ähnliches Gebilde wie das ihre aus löchrigem Metall. Evelyn biss sie auf die Lippen und schmunzelte. "Das sieht wirklich aus wie ein Flaschenkürbis."

 

Seufzend hob Millicent die Hände nach oben. "Nicht wahr? Schau dir Daphnes an, ihres ist wunderschön eingedreht und mit einem Bukett verziert. Das ist fast zu schade, zum Verbrennen."

 

Evelyn nickte und gab Millicent recht. Was genau das alles zu bedeuten hatte, war ihr völlig zu hoch. Aufgeregt tuschelten alle Anwesenden über den Inhalt des Kartons und als Evelyn sich in der Halle umsah erkannte sie, dass auch an anderen Tischen der ein oder andere Karton angekommen war, auch wenn ihr Tisch eindeutig in der Mehrzahl war. Erneut hob sie den Brief und überflog ihn ein weiteres Mal.

 

"Dieser Tuireadh Coinnlear soll Ihnen heute Freude bringen", zitierte sie leise. Es brauchte nicht viel um eins und eins zusammenzuzählen und die seltsame Vase mit dem noch seltsameren Namen in Verbindung zu bringen. "Tuireadh Coinnlear. Geht das auch in meiner Sprache?"

 

Sie hätte Millicent, oder jemand anderen am Tisch, natürlich fragen können, was genau es mit den Vasen auf sich hatte, stattdessen blieb sie jedoch still und schaute zu, wie nach dem Frühstück jedes Paket an Ort und Stelle zurück gelassen wurde, damit die Hauselfen es in die Räume bringen konnten. Was auch immer die Vasen waren, jeder behandelte sie als etwas Selbstverständliches. Da niemand überrascht gewesen war, eine Vase zu erhalten, ging Evelyn davon aus, dass jeder ganz einfach wusste, was sie bedeuteten, oder sie ähnlich wie Evelyn ihre Unwissenheit verschleierten.
 

So oder so, es wurden keine Fragen gestellt und Evelyn würde sich hüten damit anzufangen. Unwissenheit an der falschen Stelle könnte sie in arge Bredouille bringen, ja sogar ihre vermeintliche Herkunft aus einer Reinblutfamilie in Gefahr bringen.

 

Sie hatte gehofft womöglich über Gespräche einiges zu erfahren, doch bisher waren ihre Informationen nur spärlich.

 

Hinzu kam, dass ihre Gedanken wichtigere Dinge umkreisten und sie eigentlich nur darauf wartete, den Unterricht beenden zu können. Quirrell hatte den Unterrichtstag für sie begonnen und sie in Gruppenarbeit selbstständig einige Aufgaben bearbeiten lassen, während er selbst sie nur stumm von seinem Platz aus beobachtete. Die meiste Zeit wirkte er eher abwesend und reagierte nur bei Fragen.

 

Seit einiger Zeit bearbeiteten sie nun Lektion 2, nachdem sie die theoretische Unterscheidung und Identifizierung von Hexen und Flüchen abgeschlossen hatte. Nun standen gefährliche Kreaturen und wie man sich vor ihnen verteidigte auf dem Lehrplan, was in Quirrells Sprachschatz "wegrennen" bedeutete. Es ist kaum ein paar Tage her, als sie den einzelnen Kreaturen eine Klassifikation zuordnen sollten und Evelyn sich einen kleinen Spaß erlaubt hatte.

 

"Professor", hatte sie unschuldig gerufen, mit der kindlichsten Stimme, die sie im Stande war nachzuahmen, "sollen wir Unterscheidungen zwischen einem Berg- und einem Brückentroll machen oder sollen wir sie alle unter dem Begriff Troll klassifizieren?" Darauf hatte er nur ganz sachlich geantwortet.

 

Es hatte Evelyn überrascht, dass trotz seiner Fehlern Quirrell ab und zu sogar ein ganz passabler Lehrer sein konnte. Zugegeben, es dauerte, bis er eine Erklärung von sich gegeben hatte, was es schwer machte ihm zu folgen, aber seine Theorie hatte eine stabile Basis. Immer wieder kam ihr dabei ins Gedächtnis, dass ausgerechnet Voldemort sie gerade in Verteidigung unterrichtete, und er dabei sogar einen recht guten Job machte; was es nicht unbedingt leichter machte Quirrell in die Augen zu schauen.

 

Nichtsdestotrotz hatte sich das Fach, das sehr theorielastig war, sich zu einem ihrer Lieblingsfächer entwickelt, da Theorie ihr keine Probleme bereitete. Anders sah es in Zauberkunst aus, wo sie regelmäßig Zabinis Hilfe in Anspruch nehmen musste. Mit jedem Zauber tat sie sich schwer, womit sie gerechnet hatte. Für sie bedeutete das zusätzliche Arbeit und lange Nachtschichten, was sie gerne in Kauf nahm. Immer wieder bekam sie jedoch von Millicent zu hören, wie leid sie ihr tat. Selbst Daphne und Pansy bemühten sich aufmunternd zu sein. Eine nette Geste, die Evelyn nicht gebraucht hätte. Dass sie schlecht im Zaubern war, beschäftigte andere mehr, als sie selbst, was sie eher belustigend fand.

 

Auch Verwandlung stellte eine große Herausforderung für sie da, beinahe noch mehr als Zauberkunst. Während sie da wenigstens Zabini zur Unterstützung hatte, der in Zauberkunst geradezu brillierte, stand sie mit Verwandlung weitestgehend alleine da. Kaum einer konnte von sich sagen ein Talent für Verwandlungen zu haben.

 

Die erste praktische Transfiguration, die McGonagall sie hatte durchführen lassen, war beinahe überall eine Katastrophe gewesen. Dabei war die einzige Aufgabe gewesen aus einem runden Knopf einen gerade Gegenstand zu machen; im besten Fall ein Streichholz. Zunächst hatten sie sich aber nur darauf beschränken sollen die Form zu ändern. Evelyn war heilfroh gewesen, dass sie noch lange nicht mit lebendigen Tieren arbeiten würden. Auf die Sauerei konnte sie gut verzichten.

 

Nach Tagen des Übens hatte es schließlich jeder geschafft ein annehmbares Ergebnis zu erzielen. Alle, bis auf Evelyn, die selbst nach all der Zeit einen Bogen im Holzstück hatte, dem auch noch der Zündkopf fehlte.

 

Beinahe jede Stunde sah für sie gleich aus: während die anderen bereits an der neuen Transfiguration arbeiteten – aus dem Streichholz eine solide Nadel machen – übte sie noch an ihrem Knopf. Daran änderte sich auch heute nichts, trotz des Festtages. McGonagalls einziges Zugeständnis an den Feiertag war ihre auffällige Garderobe. Ihren Unterricht bestritt sie wie gewöhnlich. Gerade teilte sie die Aufsätze der letzten Woche aus, als sie vor Evelyn stehen blieb.

 

"Ausgezeichnete Arbeit, Miss Harris. Ihre Ausführungen zum Thema materieller Transfigurationen war bemerkenswert. Das ist 10 Punkte für Slytherin wert", meinte sie, als sie Evelyn ihre Hausaufgabe zuschob. Evelyn stutzte, als sie das Pergament entgegennahm, an dessen Ende nur Minervas elegante Unterschrift zu sehen war.

 

"Danke, Ma'am", brachte sie heraus.

 

"Ich würde gerne nach der Unterrichtseinheit mit Ihnen sprechen", sagte McGonagall mit einem angedeuteten Kopfnicken, ehe sie die Verteilung fortfuhr.

 

Zabini beugte sich nach vorne und klopfte Evelyn von seinem Platz hinter ihr auf die Schulter. "Gut gemacht, du Verwandlungs-Versager!"

Es waren die ersten Punkte, die Evelyn erhalten hatte, was sie innerlich auf mehrere Arten aufwühlte. Einerseits war sie stolz, von McGonagall Anerkennung für ihre Arbeit zu bekommen. Es war nicht üblich für schriftliche Hausaufgaben Punkte zu erhalten, was sie umso mehr freute; ausgerechnet ein Lob, und da hatte Zabini vollkommen recht, in Evelyns schwächstem Fach. Andererseits spürte sie, wie sie ein ungutes Gefühl überkam.

 

"10 Punkte", murmelte sie, wobei ihr das Pergament beinahe entglitt.

 

Sie hatte das Gefühl, als passierte alles auf einmal. Halloween war nur noch wenige Stunden entfernt, wobei sie noch sichergehen musste, dass Hermine wirklich im Mädchenklo verharren würde. Die Pakete vom Morgen waren immer noch ein Rätsel für sie und nun standen schon neue Probleme an. Sie musste diese Punkte loswerden.

 

Die Hauspunkte waren ihr bisher völlig egal. Es nahm ein wenig die Spannung wenn man den Sieger bereits vorher kannte. Gryffindor würde gewinnen, daran hatte für sie nie ein Zweifel bestanden. Zehn Punkte von Neville Longbottom würden den Unterschied machen. So sollte es sein und nicht anders.

"Großartig", sagte sie mit einem schweren Seufzer und bemühte sich den Rest der Stunde gar nicht erst ihren Knopf zu transfigurieren. Als es schließlich Zeit zur Mittagspause war, leerte sich der Raum schnell, bis nur noch Evelyn übrig war.

 

Professor McGonagall wartete an ihrem Pult, die Hände vor sich gefaltet, bis Evelyn Platz genommen hatte. "Ihre schriftlichen Ausführungen sind wirklich außergewöhnlich, Miss Harris. Sie argumentieren auf einem weitaus höheren Niveau, als es für einen Erstklässler üblich ist. Tatsächlich finden sich solche Arbeiten eher in NEWT-Klassen", begann die Professorin, ohne dabei eine Emotion zu zeigen. Evelyn trat sich innerlich selbst ans Schienbein, dass sie sich selbst hatte mitreißen lassen. Natürlich waren ihre schriftlichen Arbeiten besser, sie hatte zehn Jahre mehr Erfahrung im Verfassen solcher Texte, egal ob sie magischer Natur waren oder nicht. Sie hatte versucht einfach und simpel zu schreiben, baute ab und zu sogar absichtlich Rechtschreibfehler ein, doch ihre Bemühungen waren wohl nicht genug. "Umso mehr Sorgen", fuhr McGonagall fort, "mache ich mir um Ihre praktischen Fähigkeiten."

 

Evelyn nickte, blieb aber still.

 

"So bemerkenswert Ihre Hausaufgaben sind, Ihre Leistungen, die Sie im Unterricht zeigen, liegen weit hinter ihren Klassenkameraden zurück; und auch hinter den Erwartungen. Ich habe mit Professor Flitwick gesprochen und auch er berichtete mir Ähnliches."

Mit gesenktem Kopf ließ Evelyn die Ansprache über sich ergehen.

 

"Miss Harris, erinnern Sie sich noch daran, was ich Ihnen bei unserem ersten Treffen ans Herz gelegt habe, nachdem ich Ihrer Bitte Hogwarts besuchen zu dürfen nachgegeben habe?"

 

"Sie sagten, Sie erwarte, dass ich mein bestes gebe. Aber Professor", sie hob den Kopf und fing McGonagalls strengen Blick auf, "das tue ich. Ich bemühe mich."

 

"Das weiß ich. Doch wie ich das sehe, kommen Sie alleine nicht weiter." Mit einer Handbewegung schwebte ein Pergament unter ihrem Pult hervor, zusammen mit einer langen Feder. "Ich lege Ihnen nahe zusätzlichen Unterricht in praktischer Magie zu nehmen", sagte sie, während sie das Pergament beschrieb.

 

Nachhilfe, auch das noch.

 

"Terence Higgs wäre geeignet, doch ich fürchte er hat momentan nicht viel Zeit für Sie. Sie sollten sich den Namen trotzdem merken. Alternativ kann ich Ihnen William Booth vorschlagen, der bereits Erfahrung darin hat lernschwache Schüler zu unterstützen. Bei ihm wären Sie am besten aufgehoben."

 

Evelyn hob bei McGonagalls Bemerkung über lernschwache Schüler die Augenbrauen, was sie Lehrerin nicht bemerkte, da sie das Pergament fixierte.

"Sollte Mr Booth ebenfalls unpässlich sein, wovon ich nicht ausgehe, habe ich noch einen meiner Schüler in der Hinterhand. Percy Weasley, der mit bereits versichert hat sich Ihrer annehmen zu wollen."

 

Mit gezwungenem Lächeln nahm sie die kurze Liste entgegen, wobei sie den letzten Namen bereits kategorisch ausschloss. Ganz bestimmt nicht.

"Hilfe anzunehmen ist keine Schande, Miss Harris. Ich möchte, dass ihr ausgeprägtes Verständnis für magische Materie nicht wegen mangelnder Übung vergeudet wird. Sie dürfen nun in Ihre Pause gehen."

 

Sie schulterte ihre Tasche, wurde aber noch einmal von McGonagall zurück gehalten. "Oh, einen Moment noch. Würden Sie Miss Parkinson bitte ausrichten, dass sie in Zukunft ihre Hausaufgaben möglichst alleine machen soll?" Sie neigte den Kopf und schaute Evelyn schmunzelnd an, die sich ertappt fühlte.

 

"Ich werde es ihr sagen, Professor. Aber ich versichere Ihnen, sie schreibt jede ihrer Hausaufgaben selbst."

 

"Natürlich macht sie das", hörte sie die Lehrerin murmeln, ehe sie auf den Gang trat und sich auf in Richtung Halle machte.

 

"Booth, William, 6. Klässler, Hufflepuff", las sie vor und nickte erleichtert. "Das wird gehen." Terence Higgs war ihr völlig unbekannt, obwohl neben seinem Namen das Haus Slytherin vermerkt war. Er war ein Siebtklässler, so hatte es McGonagall geschrieben. Percy Namen ignorierte sie, da der für sie sowieso nicht in Frage kam. Sie hoffte darauf, dass William zusagen würde.

 

"Was wollte die Gonagall?", fragte Zabini, als sie sich zu den anderen gesellt hatte. Malfoy war nirgends zu sehen, wofür sie ganz dankbar war. Einen dummen Spruch von ihm brauchte sie im Moment wirklich nicht.

 

"Sie will, dass ich Nachhilfe nehme."

 

"Nachhilfe? Aber das machen wir doch schon", meinte Millicent empört, als sie das Pergament aus Evelyns Hand riss und es begutachtete. "Terence Higgs, wer ist das?"

 

Daphne reagierte sofort. "Higgs? Der Sucher?"

 

"Steht hier zumindest", verteidigte sich Millicent, ehe sie das Pergament an Daphne weitergab. "Wieso brauchst du Nachhilfe? Sie hat dir heute sogar Punkte gegeben."

 

"Professor McGonagall meinte, meine Leistungen reichen nicht aus." Sie wandte ihren Blick auf Pansy. "Oh, und sie legt dir nahe, deine Aufsätze selbst zu schreiben."

 

Pansy schlug empört ihre Hand gegen die Brust. "Das mache ich doch immer. Apropos, könnte ich deinen Text zu dieser Blattläuse Sache für Sprout noch einmal sehen?"

 

Während Evelyns kopfschüttelnd ihr Essay für Kräuterkunde, das heute nach Zauberkunst den Unterricht beenden würde, an Pansy weiter gab, schob ihr Daphne das Pergament mit Namen entgegen. "Higgs wird dir nicht helfen können, das erste Spiel der Saison steht an und die Mannschaft trainiert wie besessen."

 

Etwas Ähnliches hatte auch McGonagall gesagt und nun war Evelyn auch klar, was sie gemeint hatte. "Er ist Slytherin-Sucher?"

 

"Ja, dank ihm hat Slytherin die letzten drei Jahre den Pokal geholt. Er ist wirklich gut. Ich kann es kaum erwarten ihn in Aktion zu sehen."

Daphnes Liebe für Quidditch stieß bei Evelyn noch immer auf weitestgehendes Unverständnis, aber sie nahm die Information zu Terence dankend an. "Kennt einer William Booth?"

 

"Nein, nie gehört", antwortete Zabini, der auch für den Rest zu sprechen schien. "Wer er auch ist, er ist sicherlich besser, als diese Pfeife Weasley."

Zustimmend gab es einiges an Gelächter, wobei auch Evelyn schmunzeln konnte. Jetzt musste sie nur noch herausfinden, wer von all den Dachsen, die an der Schule die Mehrheit bildeten, nun William Booth war?

 

Kapitel 39 - Ein Troll im Mädchenklo

Je näher sie dem Abend kamen, desto stärker verbreitete sich der Geruch nach gebratenem Kürbis und süßer Tomatensuppe, gemischt mit frisch gebackenem Brot, was ihnen bereits Stunden vor dem Essen das Wasser im Mund zusammen laufen ließ. Einige beklagten sich, dass sie sich bei leerem Magen kaum konzentrieren könnten, worüber Flitwick nur amüsiert gluckste, sie aber trotzdem weniger streng bewertete. Es war eine Stunde, auf die Evelyn sich persönlich gefreut hatte und sie im Vorfeld einiges an Eigenarbeit investiert hatte. 
 

Ravenclaw und Slytherin gleichermaßen waren auf die Feder vor ihnen auf dem Tisch konzentriert und bemühten sich, sie in die Lüfte zu bekommen. 
 

"Denkt daran, Kinder, eine deutliche Aussprache und der Wille sie fliegen zu lassen sind das Wichtigste. Stellt euch vor, Ihr wärt die Feder. Seid leicht und spürt, wie sie sich vom Tisch löst und in die Luft schwebt." Die Augen geschossen hob er seine kurzen Arme von sich und formte fließende Bewegungen in die Luft, die an die Zauberstabbewegung erinnerte, die sie meistern sollten. 
 

"Wutschen und wedeln", sprach Evelyn leise und spielte mit ihrem Zauberstab, den sie wie einen Stift zwischen ihren Fingern auf und ab wippen ließ. Nichts von allem, was Flitwick ihnen erklärt hatte, war neu für Evelyn gewesen, im Gegenteil. Während ihren Übungen, ohne Zabini, hatte sie sich die letzten Tage nur auf den Wingardium Leviosa konzentriert, den sie als etwas Persönliches ansah. Der Accio war mit unter der einzige Zauber von dem sie behaupten konnte, dass sie ihn im Schlaf beherrschte. Da Accio und Wingardium beides Schwebe-Zauber waren hatte sie nicht geglaubt, dass der Wingardium große Schwierigkeiten machen würde. Andererseits hatte es eine Woche gedauert, bis ihr Lumos nicht mehr unkontrolliert geflackert hatte. 
 

Ihr Wille war jedoch ungebrochen und so hatte sie, meistens abends in ihrem Bett, wieder und wieder die Aussprache, die Bewegung und schließlich den Zauber an sich an einer Schreibfeder probiert. 
 

Mit triumphierendem Lächeln richtete sie ihren Stab auf die nun vor ihr liegende Feder. Einige Sekunden war nur die Aufgabe wichtig; kein Troll, keine Hermine, sondern nur die Feder. 
 

"Wingardium Leviosa." Es war keine Meisterleistung, die Feder flog nicht im hohen Bogen nach oben, wie es eigentlich der Fall hätte sein sollen. Doch sie schwebte langsam, aber stetig, nach oben, bis sie knapp über den Köpfen der Schüler zum Stillstand kam und wie ein Pendel zu schwingen begann. 
 

"Hervorragend, Miss Harris!", rief Flitwick, der seine Inspektion einer hoch fliegenden Feder einer Ravenclaw unterbrach und Evelyn ein aufmunterndes Lächeln schenkte. Es kostete einiges an Konzentration die Feder dort zu halten, wo sie war und Evelyn hatte das Gefühl eher einen Felsen schweben zu lassen, als eine leichte Feder. Der Flug dauerte nur wenige Sekunden, ehe Evelyn seufzend den Zauber löste und zuschaute, wie die Gravitation die Feder zu ihr zurück brachte. Sie bezweifelte, dass sie es in den nächsten Minuten ein weiteres Mal schaffen konnte. Das eine Mal war ihr vorerst mehr als genug. 
 

"Und die reden was von Nachhilfe", meinte Daphne, die sich auf ihre Feder konzentrierte und mit ihrem Zauberstab in der Luft von einer Seite zur anderen lenkte. 
 

Dass sie Flitwick nach nur einem gelungenen Zauber von der Idee abbringen würde sie in die Hände eines Nachhilfelehrers zu geben, bezweifelte Evelyn stark. Vor allem wenn man bedachte, dass es einige Stunden Übung im Vorfeld gebraucht hatte, für ihren kurzen und wackeligen Flug. "Im Vergleich zu dir war das eher schäbig", gab Evelyn ohne Scham zu, was Daphne zum Grinsen brachte. 
 

"Schwachsinn", hörte sie Draco murmeln, dessen Feder höher als alle anderen flog. "Mach deine Verdienste nicht kleiner als sie sind, Harris."
 

Erneut verblüffte Draco sie. Es war das zweite Mal, nachdem er die Nachrichten, sie müsse Nachhilfe nehmen, nur mit einem Schulterzucken abgetan hatte. Sie hatte abfällige Bemerkungen erwartet oder arrogantes Gehabe, doch stattdessen hatte er sich ungewohnt ruhig und besonnen verhalten. Wenn Nachhilfe nötig war um ein besserer Zauberer werden, so hatte er gesagt, dann sei es so. 
 

Nicht, dass Evelyn eine Wahl hätte. Was Professor McGonagall sagte, war praktisch schon entschieden. 
 

"Vergesst nicht über das Wochenende zu üben und denkt an den Vergleich zwischen Levitation und Fliegen", beendete Flitwick die Stunde, eher er sie mit Wünschen für ein fröhliches Fest zu ihrer letzten Stunde des Tages entließ, wofür sie das Schloss verlassen mussten.
 

Während die Schüler langsam in Festtagsstimmung kamen und fröhlich vom Essen träumten, spannte sich Evelyn innerlich an. Die folgenden zwei oder mehr Stunden würden entscheidend für so vieles sein, dass sie es kaum wagen wollte aufzuzählen was passieren würde, wenn etwas schief gehen sollte. Ihren kleinen Triumph in Zauberkunst zurücksteckend verhärtete sich ihre Miene, als sie den Weg hinaus zu den Gewächshäusern antrat. 
 

So still sie auch war, ihr entging nicht der Strom an Hufflepuff, gemischt mit Gryffindor, die ihnen auf der Treppe entgegenkamen, bereit ihre Zauberkunststunde anzutreten. Unter ihnen befand sich deutlich ein Rotschopf.
 

Sprouts Unterricht ging nur schleppend an Evelyn vorbei, die sich immer wieder den schnellsten Weg hinauf in den dritten Stock verinnerlichte. Das Thema Schädlinge und wie man sie von magischen Pflanzen entfernt, bekam sie nur am Rande mit. Noch am Mittag hatte sie vorgehabt Professor Sprout nach William zu fragen und ob sie ihr vielleicht helfen konnte ihn zu finden, immerhin war sie seine Hauslehrerin. Doch auch das geriet völlig in Vergessenheit als sie nur daran dachte, wie sie schnellstmöglich von den Gewächshäusern zurück ins Schloss und zum Mädchenklo kam.
 

Sie hatte sich auch einige Alternativen eingeprägt, falls das Klo im dritten Stock nicht das richtige war und hatte sich vorgenommen wenn es sein musste bis hoch in den siebten Stock zu rennen. Ihre Joggingrunde spürte sie trotz des Trainings noch immer in ihren Muskeln und speziell abends war aufzustehen relativ unangenehm, doch der Muskelkater war nur ein kleines Hindernis in Anbetracht dessen, was auf dem Spiel stand. 
 

Als Sprout schließlich die nächste Lektion erörterte, war dies der Startpfiff für Evelyns Scharade. "Mir geht es nicht gut", wiederholte sie mehrmals leise, damit Sprout nichts mitbekam, während sie theatralisch ihren Kopf hob und so tat, als hätte sie Schmerzen. Noch hatten die Zwillinge Kotzpastillen nicht erfunden, die echte Übelkeit hervorrufen konnten, weshalb sie auf die gute alte Art der Schauspielerei zurückgreifen musste. 
 

Übelkeit oder Kopfschmerzen jeglicher Art waren gar nichts Ungewöhnliches nach den Kräuterkunde-Stunden in den Gewächshäusern. Trotz des kalten Wetters herrschte in jedem Gewächshaus tropisches Klima, das manchen wettersensiblen Schüler arg zu schaffen machte. In der Vergangenheit hatte sich Evelyn tatsächlich oft schlapp nach Sprouts Unterricht gefühlt, weshalb Millicent nun sofort darauf ansprang. 
 

"Du bist auch ganz still", meinte sie und Evelyn nahm diesen Zusatz, den sie gar nicht mit eingeplant hatte, gerne an. "Leg dich lieber noch ein wenig hin, du musst fit für Samhain sein!" 
 

Evelyn hielt den Kopf gesenkt und verhielt sich auch ansonsten recht unbeteiligt, bis der Zeitpunkt gekommen war sich abzusetzen. Sie hob die Hand und rief nach Professor Sprout. "Verzeihen Sie, Professor. Dürfte ich früher gehen, mir geht es nicht gut."
 

Sofort verstummte die Lehrerin und die Augen aller richteten sich auf Evelyn, die plötzlich den Unterricht störte. Sie hoffte darauf, dass Sprout Verständnis zeigte, und in der Tat, sie zögerte kaum, ehe sie Evelyn entließ. "Natürlich, Miss Harris, wir sind hier fast durch, gehen Sie, wenn Ihnen nicht gut ist. Miss Bullstrode wird Ihnen alles Wichtige nachtragen."
 

Mit einem hastig gemurmelten Danke verschwand Evelyn aus dem Gewächshaus. Sie ging einige Schritte im gemäßigten Tempo, ehe sie nach der Hecke zunächst zu traben begann und schließlich die Treppen im Schloss hochsprintete. Der Weg war lang und trotz ihres Vorsprungs, waren die Gänge gefüllt mit Schüler, hauptsächlich aus Hufflepuff und Slytherin, die ihr entgegen strömten auf dem Weg hinunter ins Untergeschoss des Schlosses. Zähneknirschend kämpfte sie sich an den Massen an Schülern vorbei. Ich hätte noch früher losgehen sollen.
 

Die Treppen waren Stellenweise recht schmal, weshalb sie nur langsam vorwärts kam. Schnaufend und trotzdem erleichtert erreichte sie schließlich den dritten Stock, wo sie zielstrebig die Mädchentoiletten aufsuchte. Dabei passierte sie auch den verbotenen Korridor, der den ganzen Tag von Fackeln beleuchtet wurde. Trotz all ihrer Neugier, was Hogwarts betraf, hatte es sie dorthin noch nie gezogen. Sie mochte Hunde, aber einem ausgewachsenen Cerberus wollte sie nicht begegnen. 
 

Das würde sie dem Trio überlassen, sollte heute alles gut gehen.
 

Bisher waren ihr keine Erstklässler aus Flitwicks Zimmer entgegengekommen was bedeutete, dass sie bereits auf dem Weg nach oben in ihren Gemeinschaftsraum waren, oder dass Evelyn widererwartend doch zu früh war. Dafür hätte Flitwick überziehen müssen, was durchaus schon vorgekommen war. 
 

Mit klopfendem Herzen, das nicht nur wegen ihres Sprints pumpte, öffnete sie die Mädchentoilette, wo sie kurz den Atem anhielt. 
 

Sie konnte nicht rufen, also wartete sie darauf ob sie jemanden Schluchzen hörte. Mehrmals schluckte sie ihre Nervosität hinunter, während sie weiter in den Raum trat. Die Mädchentoilette war denkbar einfach gehalten und hatte keine Ähnlichkeiten mit dem prunkvollen Bad, das sie mittlerweile aus Slytherin gewohnt war. Ein schlichter Kronleuchter hing von der gebogenen Decke, die sich in der Mitte verjüngte. Fenster gab es keine, nur eine lange Reihe Spülbecken flankierte die eine Seite, geschlossene Kammern die andere. Als die Stille anhielt hatte sie Gewissheit: niemand war hier.
 

"Scheiße", murmelte Evelyn, die Hände in die Hüfte gestemmt. Sie hatte wirklich erwartet Hermine hier zu finden. Dass sie nicht hier war, erschwerte die Sache und gleichzeitig spürte sie, wie Panik in ihr aufstieg. 
 

Kopfschüttelnd ging sie an ein Waschbecken, wo sie ihre Hände unter kaltes Wasser hob. Das Strom Wasser hallte in dem leeren Raum und durchbrach die Stille. "Beruhig dich, du hast noch Zeit, du findest sie", sagte sie zu sich, ehe sie sich im Spiegel anschaute, der ohne Fassung die gesamte Wand bespannte. Noch war es zu früh zu spekulieren, ob Hermine vielleicht gar nicht emotional verletzt und enttäuscht weggerannt war. Dies war eine Möglichkeit, die Evelyn bedacht hatte, für die sie aber noch keine Lösung hatte. Zumindest keine die nicht beinhaltete den Gemeinschaftsraum der Gryffindor wie eine Wahnsinnige zu belagern und auf eine Gelegenheit zu warten mit Hermine zu sprechen. Sie war sich noch nicht sicher, was genau sie damit bezwecken wollte. Dazu musste es aber gar nicht kommen. 
 

Nun galt es mit Bedacht vorzugehen und sich die Toiletten systematisch vorzunehmen. Sie stieß sich gerade vom Waschbecken ab, als sie glaubte einen Schatten im Spiegel gesehen zu haben. 
 

Wieder horchte sie angestrengt nach Geräuschen jeder Art, während sie sich leise den Kabinen näherte. In einer der hinteren Kabinen sah sie schließlich die Bewegungen eines Schattens auf dem weißen Steinboden. Sie wartete einige Herzschläge ab, doch die Figur hinter der Kabine, von der Evelyn sicher war, dass sie da war, verhielt sich ruhig. Evelyn trat einige Schritte zurück und seufzte laut genug, damit jeder sie hören konnte, ehe sie schnaufend Richtung Tür ging. Diese schob sie unsanft auf, um sie dann ohne sich von der Stelle zu bewegen zurück fallen zu lassen. Der laute Knall der ins Schloss fallenden Tür hallte in Evelyns Ohr, die sich mucksmäuschenstill an die Wand lehnte und wartete. 
 

Es dauerte nicht lange, bis das Schluchzen begann und jemand ungeniert in ein Tempo schnäuzte. Stumm hob Evelyn die Hände zur Faust und atmete erleichtert aus. 
 

Natürlich konnte sich jeder hinter dieser Tür befinden, doch in Anbetracht der Umstände ging sie davon aus Hermine gefunden zu haben. Plötzlich merkte sie, wie sich die Tür abermals öffnete. Schnell entwischte sie in die erst beste Kabine und versteckte sich, vor wem auch immer. 
 

Sie kam sich albern vor, aber ein Risiko gesehen zu werden wollte sie nicht eingehen. 
 

"-tte er doch tatsächlich gesagt!"
 

"Nein!"
 

"Doch, und ich meine, hast du ihn dir mal angesehen?"
 

Evelyn erkannte zwei Stimmen, jung waren sie noch dazu. Sie ging weg von der Kabinentür und drückte sich weiter an den Rand, wo die Halterung des Klopapiers ihr schmerzhaft in den Rücken drückte, als das Wasser zu laufen begann. Scheinbar standen die beiden, wie sie eben noch, vor dem Spiegel. 
 

"Was denkt der sich eigentlich?"
 

"Nichts, das ist ja sein Problem."
 

Evelyn verdrehte sie Augen angesichts dieser gehaltlosen Konversation, bei der es ohne Zweifel um einen Jungen ging. 
 

"Ja, und jetzt?"
 

"Das darfst du mich nicht fragen. Mich geht es ja auch nichts an, aber ich würde Ron dafür eine verpassen."
 

Erschrocken blickte sie auf, wobei ihre Tasche bei der ruckartigen Bewegung von ihrer Schulter zu rutschen drohte. Aus Reflex beugte sie den Arm, schlug damit jedoch lautstark gegen die Wand der Kabine. 
 

"Hermine?", rief eine der jungen Stimmen, und Evelyn biss sich auf ihre Lippe.
 

"Hermine, bist du hier?", fragte die zweite.
 

"Geht weg!" Jemand Drittes meldete sich zu Wort. Eine kratzige, heisere Stimme, die kaum zu hören war.
 

"Hermine, komm raus."
 

"Ich sagte, geht weg!"
 

Kurz herrschte angespannte Stille, ehe die zweite Stimme zu murmeln begann. "Dann eben nicht. Evelyn hörte, wie die beiden, bei denen es sich vermutlich um Parvati und Lavender handelte, die Toilette verließen. Es dauerte nicht lange, bis das Schluchzen erneut einsetzte. 
 

Ihre Tasche zu Füßen setzte sie sich auf den geschlossenen Klodeckel und legte den Kopf in den Nacken. Immerhin hatte sie nun Bestätigung, dass es sich tatsächlich um Hermine handelte. Es war ein seltsames Gefühl alleine und nur wenige Meter von Hermine entfernt zu sein, wenn auch auf einem Mädchenklo. Schnell ermahnte sie sich ihre Aufgabe nicht zu vergessen, nämlich sicherzugehen, dass alles seinen Lauf nahm, was sie aber auch von draußen tun konnte. Sie schnappte sich gerade ihre Tasche, als Hermine erneut zu hören war. 
 

"Sie haben recht", meinte sie schniefend, "ich muss raus. Ich kann hier nicht sitzen und heulen. Reiß dich zusammen, Hermine."
 

Beinahe wäre ihr die Tasche wieder entglitten, als sie auch noch hörte, wie sich die Kabinentür öffnete. 
 

Stopp!
 

Nur Sekunden später öffnete Hermine hustend einen der Wasserhähne. Sie konnte nicht gehen, sie durfte nicht gehen. "Scheiße", fluchte Evelyn erneut leise, als Schritte durch den Raum hallten, die in ihre Richtung kamen. In Richtung der Tür. 
 

"Komm schon, komm schon!" Sie hoffte, dass jemand eintreten würde, dass etwas passierte, das Hermine davon abhielt den Raum zu verlassen. Doch nichts geschah. "Das darf doch nicht wahr sein!"
 

Mit einem Ruck öffnete Evelyn die Kabinentür und beinahe wäre Hermine dagegen gerannt. Rechtzeitig konnte sie zurück springen und sah Evelyn nun verblüfft und entsetzt zugleich an. Evelyn selbst versuchte ihren Schreck und ihre Panik hinter einer neutralen Miene zu verbergen. 
 

Hermine war klein, sehr klein, und ihr Kopf bestand beinahe nur aus Haaren. Das gerötete Gesicht mit ihren vom Weinen dicken Augen lugte gerade so aus der Mähne an braunen Haaren hervor. Die klügste Hexe ihrer Zeit, verängstigt angesichts von Evelyn. Ihr ist nicht entgangen, wie ihr Blick flüchtig zuerst auf Evelyns Umhang und schließlich auf das Wappen an ihrer Brust glitt. 
 

Die Stille zwischen den beiden dehnte sich aus, in der Evelyn unsicher ihre Worte abwog. Nun galt es zu improvisieren. 
 

"Was ist los, Granger? Hat die Realität dich eingeholt?" Evelyn hatte versucht den verächtlichsten Ton anzustimmen, den sie im Stande war zu formulieren. Langsam schob sie sich zwischen Hermine und der Tür, die Arme vor der Brust verschränkt, was Hermine nur noch mehr einschüchterte. 
 

"Lass mich vorbei, Harris." Ehrlich verwirrt zuckten Evelyns Augenbrauen. Es war seltsam ihren Namen ausgerechnet aus Hermines Mund zu hören, noch seltsamer, dass sie ihn zu kennen schien. Andererseits waren sie Klassenkameraden und sie traute Hermine zu, sich jeden Namen aller Erstklässler eingeprägt zu haben, also auch ihren. 
 

"Vorbei?", äffte Evelyn mit schiefem Grinsen nach. "Wo willst du hin, zurück nach Hause, wo du hin gehörst?" Es tut mir so leid, Hermine. Ihre Finger umklammerten die Ränder ihres Umhanges, was Hermine nicht bemerkte, die sie nur wütend mit ihren braunen Augen anfunkelte.
 

Es tat weh so mit ihr zu reden, einem kleinen Mädchen. Doch auf die Schnelle erschien ihr die beste Strategie genau das zu sein, was Hermine von ihr erwartete zu sein; eine eklige Slytherin.
 

"Ich sage es Professor McGonagall."
 

"Was willst du ihr sagen? Dass du armes kleines Schlammblut dich nicht aus der Toilette traust?" Oh Gott, es tut mir so leid. 
 

Hermines Gesicht verhärtete sich und Evelyn wurde sich ihres Fehlers bewusst. Sie hatte Hermine herausgefordert. Mist, ich muss zurück rudern. Schulterzuckend trat sie beiseite und gab den Weg frei. Ohne Eile wusch sie sich mit dem Rücken zu Hermine die Hände, wobei sie sie im Spiegel beobachtete. Sie pokerte hoch. "Aber bitte, geh. Geh und zeig allen dein verheultes Gesicht, Granger. Ich bin sicher sie wollen alle erfahren, weshalb du hier im Klo weinst."
 

Langsam verdünnte sich Hermines Mund zu einem Strich, wobei ihr Kinn gefährlich zu beben begann. Evelyn hatte aber nicht vor es dabei zu belassen. 
 

"Das Schloss wird sich das Maul zerreißen, einen guten Witz hört jeder gerne. Lass dich nicht aufhalten, geh." Mit der Hand deutete sie einladen auf die Tür. Geh nicht, geh nicht, geh nicht. 
 

Einige Sekunden starrte Evelyn auf Hermine, die wiederum hatte die Tür fixiert, ehe sie geschlagen den Kopf senken ließ. Evelyn schmunzelte und lachte ihr trocken ins Gesicht. "Ich werde hier nicht den ganzen Tag stehen. Komm raus, wenn du willst. Dein aufgedunsenes Gesicht sollte wirklich jeder sehen."
 

Ohne einen letzten Blick auf Hermine zu werfen schnappte sich Evelyn ihre Tasche und verschwand aus dem Raum, ehe sie kaum dass die Tür zu gefallen war um die Ecke ging und das Gesicht in ihren Händen verbarg, die noch ein wenig feucht vom Wasser waren. 
 

Sie fühlte sich schrecklich, aber wenn es Hermine dazu gebracht hatte in der Toilette zu bleiben, dann war es das wert gewesen. Den kalten Stein im Rücken wartete sie ab, ob sich im Gang etwas tat. Die Minuten zogen sie schmerzhaft hin, in denen Ungewissheit herrschte, jedoch egal wie lange Evelyn an der Mauer verharrte, es blieb alles still. Die einzigen, die sie sah, waren eine Gruppe älterer Schüler und ein Geist mit einer ebenso durchsichtigen Laier, der es nicht für nötig hielt Stufen nach unten zu benutzen, sondern es vorzog den direkten Weg durch den Boden zu nehmen. 
 

Der penetrante Duft nach Essen, der nun im ganzen Schloss hing, machte Evelyn klar, dass das Essen näher rückte. Hermine hatte sich nicht blicken lassen, womit Evelyn sich nun zufrieden gab. Der erste Teil des Abends war geschafft, und so trottete sie nach unten, Richtung Halle, wo bald das Festessen beginnen würde.

Kapitel 40 - Tuireadh Coinnlear

Sie beeilte sich einige Bissen hinunter zu schlucken, ehe Quirrell in die Halle stürmen würde. Das Fest war bereits im vollen Gange, doch sein Stuhl war als einziger leer geblieben. Evelyn bemühte sich nicht zu oft zur geschlossenen Tür zu schauen, sondern eher auf die dampfende Suppe vor ihr. 
 

"Wo warst du eigentlich?", fragte Daphne plötzlich, bevor sie sich ein Stück Brot abbrach. "Wir dachten, du wartest im Gemeinschaftsraum auf und, aber als wir vom Unterricht kamen, warst du nicht da."
 

Evelyn kaute langsam zu Ende, ehe sie sprach. "Um ehrlich zu sein, war ich beinahe die ganze Zeit auf dem Klo."
 

Die anderen verstanden, wie von Evelyn beabsichtigt, natürlich einen anderen Sinn und verzogen aus Mitleid das Gesicht.
 

"So schlimm?", meinte Millicent. "Du solltest viel trinken." Mit der Hand schob sie ihr die Karaffe mit Kürbissaft entgegen, die Evelyn widerwillig annahm. Das seltsame Gesöff war für Evelyn viel zu bitter, weshalb sie üblicherweise nur kalten Tee trank.
 

Pansy zuckte mit den Schultern und warf ihr ein Lächeln zu. "Sei froh, dass du zu Samhain wieder auf den Beinen bist." Wie wild fuchtelte sie mit ihrer Gabel herum, sodass Daphne, die sich in deren Reichweite befand, ein wenig zur Seite wich. "Wir haben dir übrigens deinen Kinlar mitgebracht."
 

Kin-was? "Wow, danke", erwiderte Evelyn, hatte aber keine Ahnung wovon Pansy sprach. Die hatte ihre Gabel noch immer erhoben und schien damit auf etwas hinter Evelyn zu deuten. Eilig schaute sich Evelyn um, da das wohl von ihr erwartet wurde und sah auf die Kartons vom Frühstück, die alle dort an der Wand aufgestellt worden waren. "Meinen Kinlar", formte sie leise mit der Zunge, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. "Mein Coinnlear!" So wird das Ding ausgesprochen! 
 

Sie konnte nicht anders als über ihren eigenen Fehler zu schmunzeln, was den anderen nicht entging. 
 

"Was ist so lustig?", wollte Blaise wissen.
 

Evelyn wanderte mit ihrem Blick von Millicent, über Daphne hin zu Blaise, die alle auf eine Erklärung warteten. "Ehm, ich dachte nur gerade, wie ich früher zu den ... wie ich sie früher genannt habe. Für ein Kind sind das ganz schöne Zungenbrecher."
 

Beinahe hätte sie den Coinnlear als Vase bezeichnet, konnte sich aber vorher bremsen. Dass es sich um Vasen handelte, war nur eine Vermutung von ihr, die gar nicht der Wahrheit entsprechen musste. 
 

Blaise war der erste, der die daraufhin herrschende Stille mit seinem Gelächter durchbrach, wofür sie ihm sehr dankbar war. "Das kannst du laut sagen. Ich habe ewig gebraucht mir das zu merken."
 

"Astoria sagt immer noch Tuirah Coin. Mutter hat es schon fast aufgegeben ihr die Aussprache beizubringen."
 

"Tuirah Coin, das habe ich auch noch nie gehört. So schwer ist es aber nun auch nicht, wie ihr behauptet", meinte Malfoy kopfschüttelnd, wobei auch er, trotz Humorlosigkeit in seiner Stimme, ein leichtes Grinsen auf den Lippen hatte. 
 

"Ist halt nicht jeder so perfekt wie du, Draco."
 

Evelyn war sich nicht sicher, ob Pansy ihre Aussage ernst gemeint hatte, oder ob sie mit den anderen über Draco scherzte. Allerdings kam ihr ein Gedanke.
 

"Ich kann den vollen Namen selbst heute nicht richtig sagen." Sie bemühte sich heiter zu klingen.
 

Blaise schlug lachend mit der Hand auf den Tisch, sodass die Teller klirrten. "Was! So schwer ist es nun wirklich nicht", mimte er Draco, der Zabini einen unbeeindruckten Blick zuwarf. 
 

"Mum hat es mir ganz gut erklärt", sagte Pansy und legte die Gabel, zum Glück, beiseite. Sie deutete mit dem Finger auf ihre Lippen. "Du musst das R an den Zähnen rollen, nicht am Gaumen. Die Zunge bewegt sich eigentlich kaum. Hast du das erstmal geschafft, ist es leicht."
 

Diese Erklärung brachte Evelyn nicht weiter. "Kannst du es mir vorsagen, bitte?"
 

"Twreth", sprach Pansy langsam. "Twreth Kinlar. Versuch es."
 

Kurz stutzte Evelyn, da sie beim ersten Mal tatsächlich Twitter verstanden hatte, aber dafür war sie zur völlig falschen, Zeit am völlig falschen Ort. "Twreth", wiederholte sie, stellte aber fest, dass es gar nicht so einfach war die exakte Aussprache von Pansy zu imitieren. 
 

"Fast, du musst es aber noch mehr rollen, so als ob du-"
 

Den Vergleich konnte sie nicht mehr aussprechen, da mit einem lauten Knall die Tür zur Halle aufflog und alle irritiert auf den Mann starren ließ, der wild fuchtelnd hineingestolpert kam. 
 

"Troll!", brüllte Quirrell heiser. "Troll, in den Kerkern. Ich ... Ich dachte, Sie sollten es wissen." Kurz schwankte er, ehe er mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden aufschlug. 
 

"Troll?"
 

"Hat er Troll gesagt?"
 

"Hier im Schloss?"
 

"Wo kommt der her?"
 

Hunderte Schüler redeten plötzlich durcheinander, schauten sich hilfesuchend bei ihrem Nachbarn um und sprangen von ihren Sitzen. Vereinzelt hörte man, wie Kelche, Besteck oder was auch immer die Schüler gerade in Händen hielten, achtlos auf den Tisch geworfen wurde. 
 

"Evelyn, die sind doch hoch gefährlich, oder?", fragte Millicent mit weit aufgerissenen Augen. Ihr war Quirrells Unterricht zum Thema Dunkle Geschöpfe noch allzu gut im Gedächtnis, und plötzlich hielt Evelyn das Thema nicht mehr nur für puren Zufall im Lehrplan. 
 

"Ja, sind sie", versuchte sie zu antworten, ihre Worte gingen aber im Geschrei unter. Überall kletterten ältere Schüler auf die Tische und versuchten die Menge unter Kontrolle zu halten. Sie sah Pucey auf ihrem Tisch beruhigend auf Jüngere einreden, und auch Percy Weasley versuchte sein bestes die Gryffindor zusammen zu halten. Es war erstaunlich, wie von einer Sekunde auf die nächste ein geordnetes Fest zu einem Ameisenhaufen werden konnte. 
 

"Ruhe!" Es war das erste Mal seit der Einsortierung, dass Albus Dumbledore direkt zu ihnen sprach, trotzdem reagierte niemand. Stattdessen schwoll das Geschrei immer weiter an, bis die Menge begann sich unruhig zu bewegen. Eine Massenpanik drohte. Evelyn zog Millicent auf die Bank um dem, im Moment noch harmlosen Drücken, zu entkommen. Pansy und Daphne taten es ihnen nach. Blaise war mit Malfoy und den anderen bereits in der Menge verschwunden. 
 

Laute Explosionen durchdrangen die Halle, die so plötzlich kamen, dass die meisten sich erschrocken die Hände auf die Ohren schlugen. Auch Evelyn, über deren Kopf eine der Explosionen hoch gegangen war, hob sich die schmerzenden Ohren. Über ihren Köpfen hüpften dutzende rot leuchtende Frösche, die einer nach dem anderen zerplatzten und in feinen Funken auf sie nieder regneten. Sie alle stammten aus Dumbledores hoch erhobenem Zauberstab. Es dauerte, bis die Knallfrösche alle zum Schweigen gebracht hatten und Dumbledore zu ihnen reden konnte. 
 

"Da ich nun eure Aufmerksamkeit habe möchte ich euch bitten, euren Vertrauensschülern in eure Schlafsäle zu folgen", meinte er ruhig, den Zauberstab noch immer sichtbar neben sich. "Die Lehrer, folgen mir." Das gesamte Personal, minus Quirrell, der Gesicht voran auf dem Boden lag, hatte sich bereits um den Schulleiter versammelt.
 

Die Vertrauensschüler der Häuser, die noch immer auf den Tischen standen, winkten nun die Schüler zu sich. Es dauerte nur Sekunden, bis die ersten halbwegs geordnet die Halle verließen, wobei einige ihre Zauberstäbe krampfhaft umklammert hielten. Mit ihnen stürmten die Lehrer hinaus, die sich Richtung Kerker begaben. 
 

Während die Halle sich leerte, standen die Slytherin unbeachtet von den anderen hilflos an ihrem Tisch. Pucey hatte gar nicht erst angefangen die Schüler um sich zu scharen, und die meisten Slytherin wären dem Befehl wohl sowieso nicht gefolgt. 
 

"Wir können nicht in die Schlafsäle", sprach Daphne aus, was viele dachten. "Unsere Schlafsäle sind in den Kerkern." 
 

"Was sollen wir tun?"
 

"Wir bleiben hier", meinte Evelyn sachlich, was ihr nur entsetzte Blicke einbrachte. 
 

"Wir können nicht hier bleiben!"
 

"Wir können aber auch nicht in die Schlafsäle."
 

Ähnliche Diskussionen machten sich überall breit, bis eine Gestalt zwischen den fliehenden Schülern auftauchte, die ihm wie selbstverständlich Platz machten. Evelyn atmete erleichtert aus, froh ihn zu sehen. 
 

"Mr Pucey", sprach ihr Hauslehrer, um die sich automatisch die Schüler hilfesuchend scharten. "Sie beaufsichtigen die Schüler hier und warten, bis ich zurück komme. Die Tür bleibt hinter mir geschlossen, haben Sie verstanden?"
 

Niemand wagte es ihm zu widersprechen. "Sir, was ist mit Professor Quirrell?" Pucey deutete dorthin, wo er erwartete Quirrell leblos liegen zu sehen, doch der war unbemerkt von allen verschwunden. 
 

Evelyn spitzte anerkennend die Lippen. Sie hatte nur Sekunden auf Snape geachtet und Quirrell dabei nur kurz aus den Augen gelassen, trotzdem hatte es für ihn gereicht sich abzusetzen. 
 

"Professor Quirrell scheint sich auf wundersame Art erholt zu haben." Snape ließ ein letztes Mal seinen Blick über die verängstigten Schüler schweifen, ehe er sich umdrehte und durch die Tür verschwand, die er hinter sich schloss. Die Schüler blieben unsicher zurück und der erste, der sich bewegte, war Pucey, der langsam vom Tisch kletterte. 
 

"Setzt euch hin und wartet", verkündete er laut. Seine Stimme hallte in dem nun völlig leeren Raum, in dem sich Evelyn nun ein wenig verloren vorkam. Überall stand noch das Essen auf dem Tisch, die Teller waren noch gut gefüllt. Es war eine Momentaufnahme des plötzlichen Aufbruchs gewesen. Über ihnen schwebte die Dekoration aus Kürbissen mit verschiedenen Fratzen, so als ob sie die übrig gebliebenen Slytherin verspotteten. 
 

"Er hat recht, wir sollten uns hinsetzen. Wir können nichts weiter tun, als warten." Damit meinte Evelyn mehr, als nur das Warten auf die Rückkehr ihres Hauslehrers. Sie hatte im Vorfeld überlegt sich an die Gruppe Gryffindor zu hängen, die in ihrer Panik und während ihrer überhasteten Flucht den Slytherin in ihrer Mitte nicht bemerkt hätten. Sie hatte sich dann jedoch dagegen entschieden. Hermine war in der Toilette, dafür hatte sie gesorgt; den Rest hatten Harry und Ron in der Hand. 
 

Der anfänglichen Unruhe folgte Langeweile. Niemand hatte mehr Appetit, und so stocherten viele lustlos in ihren Tellern herum, um sich abzulenken. Pucey patroulierte den Tisch entlang und schaute beinahe nach jedem Schritt zur Tür, die verschlossen blieb. 
 

Die Jungs hatten sie mittlerweile auch wieder gefunden, und so saßen sie schweigend da. 
 

"Daphne", meinte Evelyn irgendwann, die ihre eigene Wartezeit wenigstens ein wenig sinnvoll nutzen wollte, "kannst du mir sagen, wer Terence Higgs ist?" 
 

"Terence? Ja." Ihr Kopf ging nach oben um über die Menge hinweg sehen zu können. Es dauerte nicht lange, bis sie auf jemanden zeigte. "Der da, zwischen dem Dicken mit Krausehaar und dem Mädchen mit Zopf."
 

"Der kleine mit schwarzem Haar?"
 

"Ja, der."
 

Evelyn bedankte sich und lief auf den Slytherin Sucher zu, der einen Arm tröstend um die Schultern des Mädchens gelegt hatte. 
 

"Terence Higgs?", versuchte sie seine Aufmerksamkeit zu bekommen. 
 

Irritiert drehte er sich um, wobei er den Arm um das Mädchen geschlungen hielt. "Ja?" 
 

"Professor McGonagall schickt mich. Ich brauche ein wenig Nachhilfe in Verwandlung. Oder generell im Zaubern. Sie hat mich zu dir geschickt."
 

"Nachhilfe? Das frägst du jetzt?" Der Zeitpunkt war nicht ideal, zugegeben, aber irgendwann musste sie fragen, wieso also nicht während eines Trollangriffs. Er schüttelte energisch den Kopf. "Tut mir leid, Kleine. Aber ich habe einen straffen Trainingsplan. Du musst dir jemand anderen suchen."
 

Damit hatte Evelyn gerechnet. "Trotzdem danke."
 

Eine Abfuhr zu bekommen war zu erwarten gewesen, immerhin hatte Daphne sie bereits vorgewarnt und selbst Professor McGonagall bezweifelte, dass er Zeit haben würde. Ungeachtet dessen hatte sie gefragt, womit sie ihre Schuldigkeit McGonagall gegenüber erfüllt hatte. Sie müsste jedoch schnell herausfinden, wer Booth war. Hinzu kam noch ihr Problem mit den Hauspunkten. Vielleicht hätte ich doch gegen den Troll kämpfen sollen, dachte sie, während sie zurück auf ihren Platz ging. Das ist immerhin ganze zehn Minuspunkte wert. Welch harte Strafe. 
 

"Blaise?", rief sie, als sie sah, wie Zabini sich vom Tisch entfernte und kichernd hoch zum Lehrerpult rannte. "Blaise! Was wird das?"
 

Er war nicht der einzige. Einigen wurde das Warten zu lang, und so kletterten sie hinauf zum Lehrertisch, der in den Augen der Schüler beinahe ähnlich tabu war, wie der Verbotene Wald. Im Moment schiene all das vergessen. 
 

"Schaut her, ich bin der neue Schulleiter!"
 

Ehe Pucey eingreifen konnte, kämpfte die kleine Gruppe Ausreißer bereits um das Recht, sich auf Dumbledores Stuhl niederlasen zu dürfen. 
 

Kopfschüttelnd setzte sich Evelyn neben Millicent, die ein betrübtes Gesicht machte. Pansy versuchte bereits sie aufzumuntern, als Evelyn hinzukam. 
 

"Die Lehrer haben ihn sicherlich schon längst aus dem Schloss gebracht."
 

Millicent seufzte und zog die Augenbrauen zusammen. "Es ist nur, wo kam der her?"
 

"Aus dem Wald, denke ich."
 

"Den ganzen Weg hierher ins Schloss?" Millicent schien nicht überzeugt, und auch Daphnes Miene verfinsterte sich. 
 

"Millicent liegt gar nicht so falsch. Waldtrolle leben weit im Herzen des Waldes. Sie müssten Tage wandern, um den Rand zu erreichen."
 

Pansy ließ sich nicht beirren. "Professor Quirrell meinte doch, die wandern weite Strecken während ihrer Brunftzeit."
 

Ja, das meinte er. Die ist aber im Mai. Evelyn wagte es nicht ihre Gedanken laut auszusprechen. Außer ihr schien jeder mit Pansys Erklärung zufrieden zu sein. 
 

"Blaise, komm da runter, das ist doch lächerlich", rief sie stattdessen Zabini zu, der es sich auf Dumbledores Stuhl gemütlich gemacht hatte. 
 

"Sie sollten auf Miss Harris hören, Mr Zabini." Mehrere erschrockene Japser waren zu hören, als Snape unbemerkt von allen die Tür geöffnet und hineingetreten war und durch die Halle rief. Sein Haar wirkte zerzauster, als noch eben und er hob sich am Türrahmen. Kaum einer achtete auf Snapes Erscheinung, sie alle eilten ihn entgegen um Neuigkeiten zu erfahren. 
 

"Ist der Troll tot, Professor?"
 

"Ist es vorbei?"
 

"Haben die Lehrer das Schloss gesichert?"
 

Die Gruppe an Ausreißern nutzte die Ablenkung und stahl sich zurück zur Menge, ohne weitere Konsequenzen für ihren Schabernack. Snape wirkte abwesend, bemerkte Evelyn, die wissend kurz hinunter zu seinem Bein schaute. Sein Umhang hatte er darüber geworfen, trotzdem sah sie, wie er sein Gewicht nur auf ein Bein verlagert hatte. In seinem Gesicht suchte sie jedoch vergeblich nach Anzeichen des Schmerzes. 
 

"Um den Troll wurde sich gekümmert, doch der Schulleiter wünscht heute keine weiteren Aktionen mehr außerhalb der Gemeinschaftsräume", rief Snape über die Schüler hinweg. "Gehen Sie in ihre Schlafsäle und bleiben Sie dort." Er betonte seine Aufforderung mit Nachdruck.
 

"Moment, halt", flüsterte Millicent zu Evelyn, die sich bereit machte in den Gemeinschaftsraum zu gehen. "Was ist mit Samhain?"
 

Überall wurden Proteste laut, die Evelyn kaum nachvollziehen konnte; Samhain war vorbei, die Schüler in ihren Gemeinschaftsräumen. Doch der Großteil der Slytherin weigerte sich vehement einfach zu gehen. 
 

"Ruhe!", verlangte Snape, der für einen kurzen Moment die Augenschloss und sich die Schläfen massierte. Er atmet schwer. "Mr Pucey, bringen Sie die Schüler, die nicht teilnehmen wollen zurück in den Gemeinschaftsraum. Der Rest wird von mir begleitet." Als die Menge nicht sofort reagierte schlug er die Hände klatschend zusammen. "Schnell, bevor ich es mir anders überlege!"
 

"Komm, hol deinen Coinnlear!"
 

Millicent zog Evelyn Richtung Kartons, die kaum realisierte, was plötzlich um sie herum geschah. Dutzende Hände griffen nach den Paketen, und hoben vorsichtig die Coinnlear heraus. Erst jetzt sah Evelyn, wie divers und unterschiedlich die einzelnen Modelle waren. Ihr fiel auf, dass einige Kartons unberührt stehen blieben, die wohl zu Schülern aus anderen Häusern gehörten, die nun aber bereits in ihren Gemeinschaftsräumen waren. Es würde eine Veranstaltung werden, an der nur Slytherin anwesend waren. Was auch immer das hier wird. 
 

Pucey nahm die kleine Gruppe, und verschwand mit ihnen eilig nach unten, wobei er nicht begeistert aussah. Scheinbar wollte er zu denen gehören, die Samhain feierten, allerdings ging seine Pflicht vor und was Snape sagte, war sowieso Gesetz. 
 

"Beeilung", bellte Snape, an dem bereits die ersten Schüler, ihren Coinnlear an die Brust gepresst, vorbeihuschten. "Und keine Aufzählung Ihres kompletten Stammbaumes, damit meine ich besonders Sie, Mr Malfoy. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit."
 

Draco lief grinsend an Evelyn vorbei, der das Blut aus dem Gesicht wich. Stammbaum? Bisher hatte sie versucht das Gebilde von dem Moosbett zu heben, doch irgendwo schien sich das Gestrüpp verhangen zu haben. Nach Snapes Bemerkung, die beinahe ebenso rätselhaft war, wie alles andere, hatte sie schockiert inne gehalten. Ich habe keinen Stammbaum. 
 

"Was machst du denn?" Daphne kam hinzu und schubste Evelyn beiseite. Mit einem Griff zog sie den Coinnlear samt Moosbett heraus. "Hier, und jetzt komm." 
 

Sie schüttelte den Kopf, wurde aber mitgezogen. Sie sah kaum, wie sich das Moos, das sie für Gestrüpp und Füllmaterial gehalten hatte, langsam um das Metallteil legte. 
 

Snape folgte ihnen in einiger Entfernung, den Blick starr nach vorne gerichtet, während sie die Eingangshalle durchschritten und hinaus in die Dunkelheit traten. Es war windig geworden und erste Anzeichen für den Winter waren deutlich spürbar. Der Mantel, den sie an hatten und nur für Innen gedacht war, wo normalerweise immer irgendwo ein warmes Feuer brannte, war nicht geeignet um sie hier draußen effektiv warm zu halten. Evelyn zitterte und konnte nur hoffen, dass man es ihr nicht übel nahm, dass sie ihren Stammbaum nicht auswendig kannte. 
 

Sie sah kaum, wo sie hingingen und vertraute darauf, dass die vorderen Schüler den Weg kannten. Zielstrebig suchten sie sich einen Pfad abseits des Schlosses, das noch immer hell erleuchtet hinter ihnen stand. Bald sah sie, wie sich die Menge teilte und sich kreisförmig anordnete. Das Licht, das das Schloss auf sie warf reichte gerade so aus, um einige Schemen auszumachen. Evelyn glaubte einige Felsen im Boden zu sehen, und als sie näher kam, erkannte sie, wo sie waren. Sie war schon einmal hier gewesen, als Millicent ihr in den ersten Tagen mehr über das Leben als Slytherin erzählt hatte. Damals waren ihr die Felsen bereits aufgefallen, sie hatte sich aber ansonsten keine Gedanken darüber gemacht. Scheinbar war der Ort wichtiger, als sie vermutet hatte. 
 

Es waren deutlich mehr Schüler als Felsen hier, weshalb sich mehrere einen Stein teilten. Kurz schaute sie sich um, doch ihr Hauslehrer hatte sich abseits positioniert, die Arme verschränkt, und beteiligte sich ansonsten nicht. 
 

"Es geht los", flüsterte Millicent.
 

Erschrocken wich Evelyn einen kleinen Schritt zurück. Ihre Verwunderung schluckte sie so gut es ging hinunter als sie sah, wie die Felsen und Steine, die zum Teil tief in die Erde reichten, sanft in dunklem Blau zu leuchten begannen. Nach und nach erkannte Evelyn ein Muster. 
 

"Runen", murmelte sie beeindruckt, als sie die vielen verschlungenen Striche und Formen betrachtete. Manches war überwachsen und kaum als Schrift zu erkennen. Doch an anderen Stellen war der Runentext deutlich zu lesen. Zu gerne würde sie verstehen, was genau in die Felsen geritzt worden war, aber ihr Wissen reichte gerade einmal aus, um das Muster als Runen zu identifizieren. 
 

Die Szenerie vor ihr überforderte sie völlig. Die Anordnung, in der sie standen, und der Ort sprach für ein Ritual, ein altes noch dazu, und das erschrak sie. Andererseits war sie verblüfft und neugierig zugleich. Nie hatte es auch nur Erwähnungen eines solchen Rituals gegeben, das scheinbar Teil dieser Kultur war. 
 

"Ich fange an", meinte eine älter Schülerin, die ihren Coinnlear vor sich erhob. "Ich bin Rhea, Tochter des Amulius, Sohn des Castor, Sohn der Hatysa." Kurz hielt sie inne, ehe sie weiter sprach. "Cuiridh mi clach air a chàrn."
 

Der Junge neben ihr tat es ihr gleich. "Ich bin Coel, Sohn des Gwynn, Sohn des Thom. Cuiridh mi clach air a chàrn." 
 

Einer nach dem anderen, reihum, zählten ihre Vorfahren auf diese Art auf. Manche fügten mehr Namensketten hinzu, andere beließen es bei drei. Es war jedoch ein Schüler, kaum älter als Evelyn, der ihre Aufmerksamkeit erregte und die anderen zum Teil verächtlich schnauben ließ. 
 

"Ich bin Barrett, Sohn von Unbekannt. Cuiridh mi clach air a chàrn."
 

Kind von Unbekannt, das reicht aus?
 

Sie hinterfragte es nicht weiter, denn die anderen, so sehr er auch belächelt wurde keinen Vorfahr zu kennen oder aufzählen zu wollen, schienen diese Antwort zu akzeptieren. 
 

"Ich bin Millicent, Tochter der Hellen, Tochter des Orville, Sohn der Diantha. Cuiridh mi clach air a chàrn."
 

Als Millicent ausgesprochen hatte wurde Evelyn bewusst, dass sie nun an der Reihe war. 
 

"Ich bin Evelyn, Tochter von Unbekannt. Cuiridh mi clach air a chàrn." 
 

Sie bemühte sich den letzten Satz so gut nachzusprechen, wie sie ihn von den anderen gehört hatte, stolperte aber über die eine oder andere Silbe. Dass ihr dabei vor Kälte die Zähne klapperten, war sowieso eher hinderlich. Wieder schnaubten einige, doch Daphne übernahm, ohne dass es Proteste gab. Erleichtert atmete sie aus. 
 

Im Schein der Felsen harrten sie aus, auf zitternden Beinen, bis auch der letzte seine Ahnenkette vorgetragen hatte. Wie befürchtet hatte Draco das Gefühl sich beweisen zu müssen und trug mehr Namen vor, als alle anderen. Evelyn hatte irgendwann aufgehört zu zählen, doch es mussten mehr als zehn gewesen sein. Neben sich hörte sie Daphne stöhnen, und auch andere wirkten verärgert über Dracos Zurschaustellung seiner Familie.
 

"Jetzt kommt der beste Teil!"
 

Evelyn, die geglaubt hatte endlich ins Schloss zurückkehren zu können, versuchte ihre Enttäuschung vor Millicent zu verbergen. Wir sind noch nicht fertig? Komm schon, mir ist kalt.
 

Sie beobachtete, wie einer nach dem anderen den Coinnlear hob und sanft anpustete. Plötzlich ging alles ganz schnell. Jedes Gebilde fing Feuer in den Händen der Schüler und erhellte die Gesichter, in denen nun die Schatten der Flammen tanzten. Nur Sekunden später schwebten die brennenden Coinnlear nach oben in den Himmel. Ein angenehmer, undefinierbarer Geruch nach erdigen Kräutern umhüllte die Gruppe.
 

Eilig pustete Evelyn auf ihren eigenen Coinnlear, in dessen Innern zuerst Funken stoben, ehe die Flammen sich züngelnd ihren Weg um das gesamte Gebilde suchten. Sie widerstand dem Drang aus Angst sich ihre Finger zu verbrennen einfach loszulassen. Statt glühender Hitze spürte sie jedoch einen angenehm warmen Hauch auf ihrer Haut, der ihren eisigen Fingern gut tat. Wie die anderen Coinnlear auch erhob er sich in die Luft und wurde vom Wind hinüber Richtung Schloss getragen. 
 

Das Bild der brennenden Coinnlear im Dunkel der Nacht vor der Kulisse des funkelnden Hogwarts' war atemberaubend schön. 
 

"Cuiridh mi clach air a chàrn", hörte sie Daphne sagen, die ebenfalls staunend ihre Augen in den Himmel gerichtet hatte.
 

"Da, schaut!"
 

Ein ehrfürchtiger Ruf aus ihrer Mitte kündigte das nächste Spektakel an. Zwischen den Coinnlear leuchteten weitere Gebilde auf. Erst ganz schwach, doch dann glaubte Evelyn auf ein Meer von Sterne zu blicken. Leuchtkugeln, die ähnlich blau schimmerten, wie die Runen der Felsen, wurden wie Motten vom Licht der Coinnlear angezogen und umkreisten sie, wie in einem Tanz. Immer mehr dieser Kugeln leuchteten auf und fügten sich in die Reihe der sich umkreisenden Sphären ein. 
 

Evelyn vergaß in diesem Moment die Kälte, oder ihre Ängste um die Geschichte, in der sie sich befand, die ständig in ihrem Hinterkopf zu sitzen schienen. Die Schönheit des Lichterspiels über ihr war wie Balsam für ihre Seele, und der Geruch nach Kräutern, der in ihrer Nase hing, beruhigte ihren Puls, bis ihr Herz nur noch ganz langsam schlug. 
 

Sie spürte, wie kalte Finger die Nähe ihrer Hand suchten und sie nahm Millicents Hand gerne an. Auch Evelyn hatte plötzlich das Gefühl die Nähe einer anderen Person zu brauchen und war glücklich dafür, Millicent an ihrer Seite zu haben. Sanft drückte sie ihre Finger gegen Millicents und hoffte, Millicent verstand die Geste. 
 

Während alle weiterhin den Himmel beobachteten, glitt Evelyns Blick hinter sich, wo Professor Snape noch immer unbeweglich verharrte. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, doch sie war sich sicher auch er sah den Sphären zu.

Kapitel 41 - Tägliches Treiben

Um genug Licht zu haben, hatte sie ihren mit Lumos verzauberten Zauberstab zwischen die Knie geklemmt, und hielt das Buch vor sich. Die Buchstaben begannen bereits vor ihren Augen zu verschwimmen und die Sätze musste sie immer öfter erneut lesen, um deren Sinn zu verstehen, doch sie hielt stur gegen die Müdigkeit an. Nur weil heute ein Feiertag gewesen war, durfte sie ihre Übungen nicht vernachlässigen; wenn sie sich nur besser konzentrieren könnte, dachte sie frustriert, als sie sich mit der einen Hand die schmerzenden Augen rieb.
 

"Evelyn?"
 

Ein unerwartetes Flüstern durchbrach die Stille. Evelyn leuchtete mit der Spitze ihres Stabes zum geschlossenen Vorhang, der nun von kleinen Fingern aufgeschoben wurde. Im sanften Schein erkannte sie Millicents Gesicht, das von ihren langen Haaren eingerahmt wurde. 
 

"Was ist los, brauchst du etwas?", fragte Evelyn leise.
 

Millicent spielte mit den Falten des Vorhanges, während sie antwortete. "Nicht direkt, ich ... Ich will dich nicht stören, aber ...", sie seufzte und wich Evelyns Blick aus, "ich kann nicht schlafen. Darf ich heute vielleicht ... bei dir ... Ist nur für heute. Eine Ausnahme."
 

Im Dunklen, unbemerkt von Millicent, schmunzelte Evelyn über das unsichere Gestammel. "Ist es wegen des Trolls?"
 

"Nein, der ist ja nicht mehr im Schloss." Ihre Worte waren eine stoische Wiederholung dessen, was Evelyn Stunden zuvor zu ihr gesagt hatte, als sie in Begleitung Professor Snapes durch die Kerker zurück in den Gemeinschaftsraum gegangen waren. Millicent hatte Angst gehabt hinter jeder Mauer ein Monster zu sehen, den Bruder des Trolls, oder etwas gänzlich anderes, was sich möglicherweise mit eingeschlichen hatte. Evelyn hatte noch so oft betonen können, dass die Lehrer sich um alles gekümmert hatten, doch das Mädchen hatte sich an Evelyn geklammert und sich die schlimmsten Horrorgeschichten ausgemalt. Nachdem Snape schweigend in seinen Privatgemächern verschwunden war und die Schüler das letzte Stück hatte alleine gehen lassen, war es nur schlimmer geworden.
 

Wenn du wüsstest, was in den unteren Etagen von Hogwarts noch so alles wohnt, du würdest kein Auge mehr zu machen. 
 

Leise schnaubend legte Evelyn das Buch neben ihr Bett und rutschte an den Rand der Matratze, um Millicent Platz zu machen. "Ich stehe aber früh auf."
 

Sie hörte ein erleichtertes Glucksen, ehe Millicent sich durch den schmalen Spalt im Stoff schob und es sich unter der Bettdecke gemütlich machte. 
 

"Soll ich das Licht anlassen?", wollte Evelyn wissen, die den noch immer erleuchteten Zauberstab zwischen ihnen beiden griffbereit hielt. Doch Millicent rollte sich zur Seite, sodass sie Evelyn anschaute, und schüttelte den Kopf.
 

"Nein, kannst ausmachen."
 

Als Evelyn den Zauberstab zum Buch neben sich legte wurde ihr bewusst, dass es eine ungemütliche Nacht werden würde. Obwohl sie beide nicht groß waren, war es enger, als Evelyn erwartet hatte. Letztendlich lagen ihre Nasen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Sie fühlte sich in vergessene Zeiten zurück versetzt, als sie während eines typischen Mädelsabend die einzige verfügbare Schlafmatratze mit drei, manchmal mehr, Mädchen geteilt hatte. Viel geschlafen hatten sie selbstverständlich nicht. Man musste schließlich reden, scherzen und kalte Pizza essen und die Nacht durchmachen, wie es sich gehörte. 
 

Ein Kloß formte sich in Evelyns Kehle, als sie sich an damals erinnerte; damals, was ihr schon wie ein anderes Leben vorkam. Üblicherweise vermied sie es über ehemalige Freunde und Familie nachzudenken, weil diese Gedanken am Ende nur eine Ablenkung waren. Und Ablenkungen konnte sie in dieser Situation nicht gebrauchen.
 

In diesem Moment strömten jedoch die Erinnerungen ungezügelt auf sie ein, weshalb sie ihr Gesicht in der Decke vergrub, auch wenn Millicent wohl kaum etwas hätte sehen können.
 

Ihre Gefühle waren bereits durcheinander, nachdem sie das Ritual miterlebt hatte. Gerade noch war sie sorglos gewesen, hatte sich zugehörig und jemandem nahe gefühlt, als die Lichter im Himmel angefangen hatten zu verblassen. Mit dem schwindenden Schein der Felsen war auch ihre innere Ruhe verschwunden und die Sehnsucht nach Familie und Freunde war geblieben. 
 

"Was hast du gelesen?"
 

Es dauerte einige Sekunden, bis Evelyn in die Realität fand und sich räusperte. "Verwandlung leicht gemacht für besonders talentlose Idioten."
 

"So ein Buch gibt es?" Geschockt zog Millicent die Luft ein, was Evelyns Stimmung ein wenig erheiterte.
 

"Nein, aber im Prinzip, ist das der Inhalt. Es heißt natürlich anders."
 

"Du bist aber kein Idiot."
 

"An deinem Sarkasmus müssen wir wirklich härter arbeiten." Evelyn unterdrückte ein Gähnen. Mit jeder Sekunde fühlte sie sich sowohl körperlich, als auch geistig, mehr und mehr ausgelaugt. Der Schlaf drohte sie zu übermannen.
 

"Evelyn, weißt du wirklich nicht, wie deine Eltern heißen?"
 

Sie hatte bereits ein Kommentar für Millicent auf den Lippen, dass sie endlich still sein sollte und versuchen sollte zu schlafen, als die Frage langsam in ihr Bewusstsein sickerte. Erschrocken riss sie die Augen auf. "Was meinst du?"
 

"Während Samhain", erwiderte Millicent leise, "du sagtest "Tochter von Unbekannt". Das ... das ist eine Phrase für Elternlose und Kinder ohne Familiengeschichte." Alles andere ließ Millicent ungesagt, doch es war selbst für Evelyn, deren Geist leicht benebelt vor Erschöpfung war, eindeutig, worauf sie hinauswollte. Sie presste ihre Fingernägel in ihre Handflächen, damit der Schmerz half die Müdigkeit niederzukämpfen. 
 

"Ich bin elternlos, Millicent."
 

Es war schwer genug sich nicht schon bei völlig wachem Zustand in Widersprüche zu ihrer Herkunft zu verstricken. Sie hoffte Millicent würde bald einfach die Augen zu machen und schlafen. 
 

Ihre Hoffnung hielt nicht lange an. "Du musst doch wenigstens ihre Namen kennen."
 

"Nein." Evelyns Antwort war schroff, aber zu mehr war sie nicht fähig. "Können wir bitte aufhören zu reden, ich bin müde."
 

In der darauffolgenden Stille glaubte Evelyn Millicent endlich zum Schweigen gebracht zu haben, doch die ließ nicht locker. "Wirklich schade, Samhain wäre doch genau die richtige Nacht um ihnen zu gedenken."
 

Evelyn seufzte und drehte sich um, weg von Millicent. "Mag sein."
 

Kurz darauf spürte sie, wie die Matratze nachgab. "Mag sein?", wiederholte Millicent ungläubig und strapazierte damit Evelyns Geduld, die starr in die Finsternis schaute. "Eve, Samhain ist die Nacht der Toten!"
 

"Bitte, nenn mich nicht Eve."
 

Millicent überging den Einwand. "Du hast keine Ahnung, was Samhain ist, nicht wahr?"
 

Erschrocken riss Evelyn den Kopf herum und schaute dorthin wo sie glaubte Millicents Augen zu erahnen. "Was? Wie kommst du darauf?"
 

"Ich mag nicht so schlau sein wie du, aber ich merke, wenn mir jemand ausweicht. Wieso weichst du aus?"
 

Evelyn schluckte, als Millicent für ihren Geschmack zu laut ihre Vermutung äußerte. "Sei bitte etwas leiser, ja?" Von den anderen war kein Laut zu hören, doch das konnte täuschen. Vielleicht lagen auch sie wach und bekamen gerade Dinge mit, die Evelyn lieber ganz für sich behalten hätte.
 

"Da, schon wieder!" Dieses Mal hatte Millicent immerhin die Stimme gesenkt. "Sei ehrlich, hast du noch nie Samhain gefeiert?"
 

Panisch suchte sie einen Weg hinaus aus der Ecke, in die Millicent sie gedrängt hatte, doch ihr Verstand wollte nicht richtig arbeiten. Gleichzeitig hatte sie das innige Verlangen sich jemandem anzuvertrauen. Ob dies die Nachwehen des Rituals waren oder die Reste der Gefühle, die die Erinnerungen in ihr hinterlassen hatten, konnte sie nicht sagen. 
 

Sie befeuchtete ihre Lippen und wägte ihre Worte ab, während Millicent auf eine Antwort wartete. "Merlin, ja. Ja, ich habe vorher noch nie Samhain gefeirt. Zufrieden?"
 

Kaum, dass die Worte ihren Mund verlassen hatten, schlug Millicent triumphierend auf die Matratze, was Evelyn zusammenzucken ließ. 
 

"Pscht, leise", mahnte sie erneut, doch Millicent achtete nicht auf sie. 
 

"Ich wusste es. Ha! Ich spüre, wenn jemand etwas verheimlicht."
 

Der Fakt, dass Evelyn nie Samhain zelebriert hatte schien weniger wichtig zu sein, als ihr Triumph recht gehabt zu haben. Ein wenig beruhigte das Evelyns Puls. 
 

"Dir kann man einfach nichts vormachen", bestätigte sie Millicents Ego mit skeptischem Blick. 
 

"Nein, aber ...", endlich wurde Millicent wieder leiser, "du Ärmste; nie Samhain gefeiert. Dann war das heute dein erstes Mal!"
 

Evelyn glaubte es wäre besser nichts zu sagen und blieb still. Ihre einzige Reaktion war ein leichtes Neigen ihres Kopfes. 
 

"Ich versteh dich", fuhr Millicent fort. "Meine Eltern haben mich auch erst vor drei Jahren zu einem echten Samhain mitgenommen. Gar nicht so einfach heutzutage unbemerkt von den Muggeln eine Zeremonie abzuhalten."
 

Millicent gab ihr, ohne es zu merken, den perfekten Ausweg, den Evelyn nicht zögerte zu nehmen. "Ja, wir haben in der Nähe einer eng bewohnten Siedlung gewohnt. Samhain war bei uns nie ein Thema."
 

"Echt schade, dabei ist das so ein schönes Fest. Wie hat es dir denn gefallen? Ich habe mich so darauf gefreut, nachdem Papa erzählt hat, dass Hogwarts sogar einen eigenen Steinkreis hat. Ein echter Steinkreis, so etwas findet man heutzutage nicht mehr oft."
 

"Millicent, darf ich dich etwas fragen?" 
 

"Ja, sicher."
 

Kurz zögerte Evelyn, doch nachdem sie bereits so weit gegangen war, konnte sie auch gleich den letzten Schritt tun. "Kannst du mir sagen, was genau wir da eigentlich gemacht haben? Was haben die Lichter bedeutet?" Sie hatte vorgehabt sich nächstes Wochenende, wenn beinahe ganz Hogwarts draußen im Quidditchstadion das erste Spiel der Saison feiern würde, in die Bibliothek zu setzen und ein wenig zu forschen. Nun, da Millicent glaubte, sie hätte selbst noch nie etwas mit Samhain und dem dazugehörigen Ritual zu tun gehabt, fühlte sie sich sicher, direkt zu fragen. 
 

"Die Lichter waren Seelen."
 

"Was?" Die Antwort überraschte Evelyn. 
 

"Ja. Weißt du, in der Nacht von Samhain verschwimmen die Grenzen unserer Welt und die der Nachwelt. Wir gedenken den Toten, unseren Vorfahren, und halten ihre Erinnerung wach, damit ... mh ... ich weiß auch nicht. Mutter hat es mir erklärt, aber ... Bei ihr klang es besser."
 

"Ich kann mir denken, wieso man ihnen gedenkt. Aber was genau haben die Coinnlear damit zu tun?" 
 

"Es gibt tausende Seelen, die vergessen worden sind. Sie sind einsame Wesen und verloren im Nimbus. Wir halten unsere Vorfahren in Ehren, indem wir ihre Namen aufsagen."
 

"Aber irgendwann sind auch Namen vergessen", murmelte Evelyn, und Millicent gab ihr recht.
 

"Richtig. Die Coinnlear sind Kerzen, die in den Nimbus hineinleuchten und die einsamen Seelen zu uns führen. Sie kommen aus dem Vergessen und erfahren eine Nacht wie es ist im Licht zu wandeln. Meine Güte, wie das klingt." Millicent unterdrückte ihr Kichern mit den Händen.
 

Fasziniert lauschte sie ihrer Erklärung und dachte an die vielen Lichter, die den Himmel über ihnen erleuchtet hatten. "So viele Geister ..."
 

"Nein, keine Geister. Seelen", berichtigte Millicent sie. "Geister sind die, die sich weigern in den Nimbus zu gehen. Der Blutige Baron ist ein Widerhall dessen, was er im Moment seines Todes gewesen war. Er und die anderen Geister waren nie und werden niemals hinter die Schatten gehen."
 

"Sie sind keine Seelen?"
 

"Nein, sie sind nur eine Art, Abdruck."
 

"Dazu verdammt auf Erden zu verweilen", beendete Evelyn den Satz, glücklich endlich etwas Familiäres zu hören. 
 

Das Gespräch hatte Evelyns Müdigkeit völlig vertrieben, und so dachte sie über die Geister, oder Seelen, dieser Welt nach. Jene, die sie bereits getroffen hat und jene, die sie vermutlich nie zu Gesicht bekommen würde. 
 

Langsam formte sich in ihr ein Verdacht, den sie aussprechen musste, auch wenn sie dabei gezwungen war um einige Ecken zu reden. "Sind meine Eltern vergessene Seelen, weil ich nicht ihre Namen kenne? Oder weil ich seit ihrem Tod nie einen Coinnlear für sie habe aufsteigen lassen?" Sie fragte weniger für sich, da ihre vermeintlich toten Eltern nicht existierten, sondern aus Interesse an dem Thema.
 

Eine Hand schob sie zu ihr und umschloss ihren Unterarm. "Nein, keine Angst. Es gibt mehr Wege sich an jemanden zu erinnern, als den Namen. Samhain ist für die, die niemanden mehr haben, mit dem sie einen Moment hier im Jetzt geteilt haben. Deine Eltern sind bei dir, jeden Tag, nicht nur an Samhain." 
 

Evelyn fühlte sich schuldig die Worte Millicents nicht so würdigen zu können, wie es ihnen gerecht gewesen wäre. Millicent war noch ein Kind und doch war es genau das, was jemand in Evelyns Situation hätte hören müssen. Worte, die Harry hätte hören müssen. 
 

Sie glaubte, dass sich noch mehr hinter dem Ritual rund um Samhain verbarg, aber Millicent konnte ihr das Fest nur soweit erklären, wie sie es selbst verstand. Sie entschied sich es dabei zu belassen und stattdessen selbst ein wenig nachzuforschen. Vielleicht würde sie auch Ollivander bitten es ihr zu erklären. 
 

Ihre Gedanken wechselten zu dem Brief, den er ihr mit der Coinnlear geschickt hatte. Ein Brief, den sie glaubte nie mehr von ihm zu bekommen. Nun, da Halloween vorbei war und sie morgen, oder eher heute, hoffentlich Hermine zusammen mit den Jungs frühstücken sah, konnte sie sich wieder auf weniger wichtige Dinge konzentrieren. Tatsächlich würde sie das restliche Schuljahr kaum mehr Sorgen haben müssen, dass etwas anders verlief, als es eigentlich sollte. Bis zum Fund des Steins war das Jahr recht ereignislos und nun, da Hermine ihnen half, würden die Drei alle nötigen Informationen finden, die sie benötigten. Man könnte fast sagen, dass es ziemlich langweilig werden würde. 
 

Evelyn schnaubte. Hogwarts und langweilig, garantiert nicht. 
 

Sie selbst hatte trotzdem noch einiges zu tun. Allen voran musste sie die Punkte wieder ausgleichen. 
 

Ein tiefes Schnaufen neben ihr kündigte an, dass Millicent eingeschlafen war, was Evelyn schmunzeln ließ. Sie hatte sich bisher kaum bewegt und würde wohl morgen einige ihrer Knochen besonders spüren, aber was tat man nicht für Freunde?
 

Die Tage zogen an Evelyn vorbei, das Quidditchsspiel kam und ging. Daphne war von ihnen allen am enthusiastischen gewesen und hatte es kaum erwarten können zum Stadion zu gehen. Aus Evelyns Plan sich abzusetzen und das Spiel ohne sie passieren zu lassen war leider nichts geworden. Daphne hatte sie alle praktisch an den Mänteln hinaus geschleift, ohne auf Proteste zu achten. Evelyn hatte fürchterlich gefroren, da der Wind auf den offenen Tribünen jedem unbarmherzig um die Ohren pfiff. Sie hatte sich gar nicht ausmalen wollen, wie es für die Spieler auf ihren Besen sein musste. 
 

Das Spiel selbst hatte sie wenig interessiert und auch Lee Jordans Kommentare, die tatsächlich unterhaltsam gewesen waren, hatten sie nicht mitreißen können. Irgendwann hatten Pansy und Millicent gejubelt, wenn Slytherin einen guten Zug gemacht hatte, nicht dass sie es von sich aus erkannt hätten. Meistens hatten sie nur reagiert, wenn Daphne ihre Hände in die Höhe gerissen hatte. 
 

Anfangs hatte Evelyn versucht selbst nach dem Schnatz zu suchen, doch selbst, wenn die Wetterverhältnisse besser gewesen wären bezweifelte sie, dass sie das kleine Ding entdeckt hätte. 
 

Als Harrys Besen begonnen hatte seltsam zu hüpfen, war sie beinahe schon erleichter gewesen. Ihr Blick war sofort zur Lehrer-Tribüne gewandert, wo sie zwei Professoren entdeckte, die ihren Blick fest auf Harry gerichtet hatten. Nach Ron oder Hermine zu suchen war beinahe sinnlos, da die Gryffindor-Tribüne sowieso nur ein Meer aus Rot und Gold gewesen war, in denen man keine Gesichter hatte erkennen können. 
 

Hermine war, wie erhofft, seit Halloween immer in Begleitung der Jungs gewesen, womit Evelyn ihre Aufgabe als beendet angesehen hatte. Zumindest für dieses Schuljahr. 
 

Glücklicherweise hatte es von da an nicht mehr lange gedauert, bis Harry den Schnatz gefangen hatte. Daphne war am Boden zerstört gewesen ausgerechnet gegen Gryffindor verloren zu haben. "Aber, Merlin, Potter kann fliegen. Den Schnatz mit dem Mund gefangen; davon wird man in Jahren noch sprechen." 
 

Auch ihre Nachhilfe bei William hatte sie begonnen, nachdem sie schließlich doch Professor Sprout gebeten hatte ihr zu helfen ihn zu finden. Booth war ein kurz gewachsener Junge, mit langem, gelocktem Haar. Abgesehen von seiner wild gewachsenen Mähne, an die Molly Weasley mit Sicherheit gerne Hand angelegt hätte, war an ihm nichts Außergewöhnliches. Evelyn vermutete, dass er ein Muggelgeborener war, hatte aber nie gefragt. 
 

William hatte glücklicherweise sofort zugesagt, als sie ihn eines Morgens gefragt hatte, ob er ihr helfen würde. Sein Eifer hatte sich im Unterricht fortgesetzt, den er am liebsten noch am selben Tag begonnen hätte. Bis zu ihrer ersten Stunde hatte er einen Wochenplan für die nächsten Monate aufgestellt, den er Evelyn ohne auf eventuelle Widerworte zu achten in die Hand gedrückt hatte. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass er das nicht zum ersten Mal machte und hatte tatsächlich ein wenig Hoffnung, dass er ihr helfen könnte. 
 

Die ersten Übungen waren jedoch wenig vielversprechend gewesen, wobei sie ihm zugutehalten musste, dass er unermüdlich und geduldiger war, als Evelyn es in seiner Situation gewesen wäre. In seiner ruhigen Art hatte er ihr von Anfang an jedoch versprochen, dass sie mit seiner Hilfe keine Angst vor den Prüfungen haben musste. In dem Moment hatte sie es nicht übers Herz gebracht ihm zu beichten, dass die Prüfungen nie ihre Sorge gewesen waren und es vermutlich auch nie sein werden. 
 

Blaise hatte irgendwann behauptet, sie würde Williams Hilfe gar nicht benötigen, da sie mit ihm genauso gut gelernt und Fortschritte gemacht hatte, als mit dem älteren Hufflepuff. Allerdings musste Evelyn eingestehen, dass William weitaus besser erklären konnte – und ihr Dinge vorführen konnte – als Zabini, was dazu geführt hatte, dass er Evelyn einige Tage schmollend ignoriert hatte; nur um dann plötzlich beim Frühstück wieder mit ihr zu reden, als sei nie etwas passiert. 
 

Sie begann dieses ruhige Leben in Hogwarts zu genießen, in dem sie ihre Tage mit völlig gewöhnlichen Dingen verbrachte. 
 

Pansy hatte ihr sogar beigebracht, wie man Koboldstein spielte. Ein unter Slytherin beliebtes Spiel, was Evelyn arg an Murmeln erinnerte. Eigentlich hatten sie nur die hübsch glänzenden, mit seltsamer Flüssigkeit gefüllten und etwa walnussgroßen Kugeln interessiert, doch ehe sie sich versah, war sie von Pansy mitten in eine Partie geworfen worden, die sie haushoch verloren hatte. Pansy hatte sichtlich Spaß gehabt Evelyns Gesicht mit der Flüssigkeit im Innern der Kugeln, die sich als übelriechend und gar nicht mehr so hübsch herausgestellt hatte, zu bespritzen. Auch Zabini hatte sichtlich Freude an dem Spiel, weigerte sich jedoch nach einer blamablen Niederlage gegen Draco erneut gegen ihn zu spielen. Draco hatte sich als hervorragender Spieler herausgestellt, der selbst ältere Schüler mit Leichtigkeit schlagen konnte. Keine Partie hatte er bisher verloren, was Pansys Bewunderung für ihn nur noch mehr anfachte. 
 

Anfang Dezember hatte Pucey eine Liste im Gemeinschaftsraum ausgehängt für diejenigen, die über die Ferien in Hogwarts bleiben würde. Für Evelyn war das völlig uninteressant gewesen, und auch sonst war die Liste erstaunlich leer geblieben. Nur einige ältere Schüler blieben über die Ferien im Schloss, vermutlich um für ihre NEWTS zu arbeiten. Der Rest des Hauses würde wie Evelyn auch nach Hause fahren. 
 

Nach Hause, Worte, die sie oft benutzte, wenn sie mit den anderen über die bevorstehenden Ferien redete, doch eigentlich hatte sie nur eine Unterkunft, die man kaum als Zuhause bezeichnen konnte. Selbst den Luxus Hogwarts als ihr Zuhause bezeichnen zu können, hatte sie nicht. Es kam dem sehr nahe, keine Frage, aber insgeheim sah sie sich auch nach den drei Monaten, die sie hier nun schon hatte verbringen dürfen, als Fremdkörper. Dieses Gefühl würde wohl nie weggehen, dachte sie während einer ruhigen Minute, in dem ihr ihre sonderbare Existenz hier wieder ins Bewusstsein gekommen war. 
 

Trotzdem war sie zufrieden. Sie sah Harry, Ron und Hermine oft lachend durch die Gänge gehen, wobei die Drei meistens zu weit entfernt waren, als dass sie die Slytherin bemerkt hätten, die sie beobachtete. Jedes Mal freute sie sich das Bild zu sehen, dem sie nie müde werden würde. Nach und nach passte sich auch das Schloss der festlichen Stimmung an und kündigte für viele die ersten Ferien des Schuljahres an.

Kapitel 42 - Pause ohne Rast

Kurz vor Ferienbeginn fiel das Thermometer schließlich so weit, dass die komplette Oberfläche des Sees mit festem Eis bedeckt war. Eigentlich war es nicht gestattet worden daraufhin in die Nähe des Sees zu gehen, doch an einem sonnigen, wenn auch kalten, Wochenende hatte sich ein Großteil der Schule dort versammelt und die Nachmittage mit Schneeballschlachten verbracht. Ein weiteres Verbot, das die Schüler Hogwarts der Reihe an Dingen zugefügt hatten, die sie schlichtweg ignorierten. 
 

Für die Slytherin bedeutete die gefrorene Oberfläche des Sees ein Wechsel der Lichtverhältnisse, da das spärliche Licht sich zusätzlich am dicken Eis brach und in seltsamen Schatten bei ihnen ankam. Vor ihre Fenster verirrten sich kaum noch Seewesen, die sich nun alle tief unten am Grund verborgen hatten um zu überwintern. Die Schüler selbst hatten ebenfalls ihre große Mühe dem Winter zu trotzen.
 

Außerhalb ihrer Privaträume hatten sie Probleme sich warm zu halten und eilten vor Kälte bibbernd durch die Korridore des eisigen Schlosses. Während im Gemeinschaftsraum ein hoch loderndes Feuer für ständig angenehme Temperaturen sorgte, konnten die kleinen Fackeln im Rest des Schlosses dem Frost kaum etwas entgegensetzen, was die Slytherin, und Evelyn, besonders zu spüren bekamen. Der Rest des Schlosses war verglichen mit ihrem Teil des Schlosses – den Kerkern – geradezu kuschelig warm. Während sie die Korridore durchwanderten, um hoch in die Große Halle oder in den Unterricht zu gehen, hing ihr Atem in Nebelschwaden vor ihren Gesichtern und nicht selten gab es Beschwerden, dass jemand seine Zehen oder Oberschenkel nicht mehr spüren konnte. 
 

Seit Wochen schon hatten sie zu ihrer Winteruniform gewechselt, die in Evelyns Fall aus einer dicken, grauen Wollstrumpfhose und gefüttertem Rock bestand. Der Pullover hatte ihr nicht ausgereicht, weshalb sie zusätzlich nach dem Vorbild einer Zwiebel mehrere Schichten Textil am Leib trug, wobei es ihr dadurch allerdings im Gemeinschaftsraum schnell zu stickig wurde. Vor allem seit der ohnehin überlaufene Gemeinschaftsraum mit einer großen Kiefer geziert worden war, die einiges an Platz für sich einforderte. 
 

Ältere Schüler belegten sich ganz einfach mit einem Wärme-Zauber, womit sie selbst mit dünnen Shirts der Kälte trotzen konnten. Als Evelyn erfahren hatte, dass dies durchaus von Seiten der Schulleitung gestattet war, hatte sie sich geschworen, dass dies der letzte Winter werden würde, den sie zitternd in Hogwarts verbringen würde; sie hatte ein Jahr Zeit, den Wärme-Zauber zu lernen.
 

Da es besonders für morgendliche Laufrunden zu kalt geworden war, verbrachte Evelyn ihre letzten Tage aus Mangel an Wärme-Zaubern und auf Grund eines zu vollen Gemeinschaftsraum hauptsächlich in der Bibliothek, die glücklicherweise angenehm temperiert war, dafür hatte Madam Pince gesorgt. Allerdings war die Bibliothekarin eher am Wohl der Bücher interessiert, als daran es den Schülern bequem zu machen. 
 

Damit ihr nicht noch einmal ein Missgeschick wie während Samhain passierte, informierte sich Evelyn nun im Voraus über Yule und was auf sie zukommen würde. Nachdem mit der Kiefer einige Misteln und dezente Dekoration sowohl in ihrem Gemeinschaftsraum, als auch in ganz Hogwarts aufgetaucht waren, hatte sie schon mit den wildesten Erklärungen gerechnet. Nach dem gefühlt zehnten Buch zu dem Thema war sich Evelyn jedoch sicher, dass sich die Ausführung gar nicht so sehr von dem unterschied, was sie bereits kannte. 
 

Während sie jedoch einen geschmückten Baum der Ästhetik wegen aufstellen würde, gehörte auch dies zu einem größeren Brauch, der Teil der Erhaltung und Erneuerung alter Banne war, von denen es mehr als genug gab. Ihre Neugier war geweckt und sie hoffte einiges davon bei Ollivander beobachten zu können.
 

Die Dekoration war ein wenig ruhiger und unauffälliger als das, was sie von Weihnachten kannte. Neben Kerzen hingen mit Runen beritzte Holzstücke an den Zweigen der Bäume, zusammen mit aus Pinien gestalteten Figuren. Jeder Baum war mit einem Zauber belegt worden, damit er ständig von leichtem Schneefall umringt war, sodass stets eine dünne Schicht Eis und Schnee auf dem Baum lag. 
 

Einen Tag vor der Abreise herrschte Aufbruchsstimmung im Gemeinschaftsraum und in den Schlafsälen. Der Boden des Hauses Slytherin war übersät mit gepackten Taschen und verschiedenen Käfigen, in denen kleine Haustiere untergebracht waren. Entsprechend der Schulordnung sah Evelyn neben den erlaubten Kröten auch Taranteln, Ratten, Spinnen und sogar Tiere, die aussahen wie Igel. Eulen oder Katzen, waren jedoch nicht dabei. Die würden wohl entweder im Schloss bleiben, oder aber sie durften die Nacht noch außerhalb eines Käfigs verbringen. Wobei sie sowieso nicht viele Katzen während ihrer Zeit hier gesehen hatte. 
 

Evelyn hatte nichts dergleichen, um das sie sich kümmern müsste. Ihre Tasche war beinahe leer und beinhaltete nur das Nötigste, da sie ansonsten in zwei Wochen nur alles wieder nach Hogwarts schleppen müsste. Bis auf ein paar Bücher würde sie nur ihren Setzling mitnehmen.
 

Die Pflanzen, die Professor Sprout ihnen allen gegeben hatte, hatten in den letzten Wochen begonnen erste Triebe zu zeigen – mit Ausnahme eines noch immer kahlen Topfes von Zabini –, allerdings war Evelyn besorgt, dass die stickige Luft im Gemeinschaftsraum schädlich war, weshalb sie sich kurzerhand dazu entschlossen hatte, den Topf mit nach London zu nehmen. 
 

Sie hatte geglaubt, dass sie unruhig schlafen würde, so kurz vor ihrer temporären Rückreise, doch es waren eher die anderen, die noch lange wach gelegen hatten, weshalb Millicent jetzt gähnend in der Menge neben ihr stand. 
 

"Du kannst im Zug etwas schlafen", meinte Evelyn, die sich ihre Pflanze unter den Arm geklemmt hatte und darauf achten musste, dass sie niemand zerquetschte. 
 

Die Eingangshalle war so voll, wie Evelyn sie noch nie gesehen hatte. Sie glaubte, dass beinahe jeder Schüler des Schlosses hier anwesend war; bereit zur Heimreise. Die meisten hatten ihre Schuluniform schon gegen winterliche Zivilkleidung eingetauscht, wobei Evelyn in der Menge einiges an Mode sah, was sie als abenteuerlich empfand. 
 

Millicent rieb sich die Augen. "Ich hätte nie gedacht, dass ich mich so auf Zuhause freuen würde. Geht's dir auch so?"
 

"Im Moment siehst du eher aus, als würdest du dich auf ein Bett freuen." 
 

Die Antwort darauf war ein breites, schuldbewusstes Grinsen, das Evelyn versuchte zu erwidern, was ihr nur halbwegs gelang. Nach Millicents Bemerkung über "Zuhause" hatte Evelyn einen sauren Geschmack im Mund, den sie kaum hinunterschlucken konnte. Zuhause war da, wo die Familie war, so sagte man. Für Evelyn bedeutete das: nirgendwo. 
 

"Ihr wusstet, dass es heute von hier weg geht. Was habt ihr heute Nacht getrieben?", mischte sich Draco mit irritiertem Runzeln ein, was Blaise laut auflachen ließ. 
 

"Draco, man frägt nicht, was Mädchen nachts gemacht haben."
 

Daphne boxte Blaise für diese Bemerkung gegen die Schulter. "Das war unnötig, Idiot."
 

Gerade, als Blaise protestieren wollte, wurden sie von McGonagall, die die Abreise beaufsichtigte, angewiesen, sich aus dem Schloss zu begeben. 
 

Draußen standen, im Licht der Fackeln der Tore, dutzende führerlose Kutschen bereit, um die Schüler zu transportieren. Selbst im spärlichen Morgenlicht war zu erkennen, dass scheinbar nichts die Kutschen zog, was einige Erstklässler erstaunt Seufzen ließ. Evelyns Blick fiel auf den zertretenen Schnee, wo hin und wieder neue Fußabdrücke, ähnlich einer riesigen Ziege, hinzukamen. 
 

Sie konnte die Thestrale zwar nicht sehen, aber immerhin wusste sie, dass sie da waren. Länger als die paar Sekunden konnte sie sich aber nicht dem Anblick widmen, da nachkommenden Schüler es eilig hatten den kurzen Weg durch Schnee und Kälte hin zu den Kutschen schnell hinter sich zu bringen. 
 

Schnell hinter sich bringen wollte Evelyn vor allem die Fahrt, die doch ein wenig eng und unkomfortabler war, als sie erwartet hatte. Manchmal glaubte sie ein zischendes Schnauben zu hören, doch der Wunsch irgendetwas von den Thestralen mitzubekommen, konnte ihren Sinnen auch einen Streich spielen. Was sie definitiv hörte, war das Atmen der Lokomotive, das nach etwa zehn Minuten immer lauter wurde. Viel sehen konnte man nicht, die Sonne würde noch lange nicht aufgehen und selbst wenn, würde sie hinter dicken Wolken verborgen sein. 
 

Es war der Zug selbst mit seinen hell erleuchteten Fenstern, der ihnen ihren Weg beschien und sie mit nur wenigen Ausrutschern sicher zu den offenen Türen leitete. Evelyn spürte an dem Kribbeln in ihrem Gesicht, dass es erneut angefangen hatte zu schneien.
 

Kurze Zeit später waren sie alle im Zug, bereit zur Abfahrt, wo sie ungeduldig auf ein Frühstück warteten. Niemand von ihnen hatte bisher etwas gegessen, da das Frühstück noch gar nicht serviert worden war, so früh waren sie abgereist. 
 

Die Reise selbst war sehr ruhig und eintönig, da sie fast nichts außer einer sich kaum wechselnden Landschaft hatten um sich abzulenken. Irgendwann hatte die Müdigkeit gewonnen und die anderen Mädels waren eingeschlafen, während Evelyn weiterhin stumm die weiße Umgebung begutachtete, an der sie vorbeizogen. Nur einmal hatte sie das Abteil verlassen, als sie zur Toilette ging. Dort musste sie Schlange stehen, während auf der anderen Seite das Klo der Jungs so gut wie leer war. Gerade als sie ernsthaft überlegt hatte einfach dort hineinzugehen, verließ ein Mädchen mit großem Haarschopf die Kabine. Sie bemühte sich Hermine zu ignorieren, als sie an Evelyn vorbeilief. Ihr war ihr letztes Treffen in der Mädchentoilette noch immer unangenehm, und beinahe hätte sie Hermine aufgehalten, um sich für ihr Verhalten zu entschuldigen; beinahe. 
 

Es war später Nachmittag, als der Zug das Tempo verringerte und statt weite Felder erste Häuser zu sehen waren, durch die sie mittendurch zu fahren schienen, was niemanden störte. Die Skyline von London tauchte aus dem Schnee auf.
 

"Endlich sind wir da, das hat ja ewig gedauert."
 

"Du hast geschlafen, Pansy, du hast fast nichts mitbekommen", meinte Evelyn schmunzelnd, als sie sich ihre Tasche schnappte und auf den Gang trat, wo bereits großes Gedränge herrschte. Der Zug war noch nicht ganz angekommen, aber es würde sich nur noch um Minuten handeln. 
 

Durch die kleinen Fenster des Korridors sah sie bereits die Spitze des London Eye, wie es starr und unbeweglich an der Themse stand.
 

"Ich verstehe ja das Sentimentale hinter dem Hogwarts-Express", sagte Draco, "aber nach den Ferien werde ich Flohpulver benutzen." Er streckte sich und bog den Rücken durch, während er mit gequältem Gesicht seine Knochen versuchte knacken zu lassen. "Diese Fahrt ist eine Zumutung!" 
 

Evelyn runzelte die Stirn. Du bist elf Jahre alt, dir sollte der Rücken nicht weh tun. Frag mich mal. 
 

"Da! Wir halten!" Tatsächlich waren nun deutlich die Bremsen des Zugs zu hören und ein leichter Druck, der sie nach vorne lehnen ließ, war zu spüren. Einige Schüler drückten ihre Köpfe gegen die Fenster, um etwas zu sehen. 
 

"Tja, dann wünsch ich euch schöne Ferien", meinte Evelyn, die es für den richtigen Augenblick hielt mit den Abschiedsworten zu beginnen.
 

Kaum, dass die Türen geöffnet wurden, stürmte die Meute hinaus und Rufe wurden laut. Wo man auch hinsah fielen die Kinder ihren Eltern in die Arme, begrüßten Geschwister, oder herzten Haustiere, die nicht in Hogwarts erlaubt waren und Kindern gehörten, die sich an diese Regel hielten. 
 

Millicent war zusammen mit den anderen sofort verschwunden, und so stand Evelyn ein wenig verloren auf dem Gleis, das sie vor vier Monaten zum letzten Mal gesehen hatte. Am Ende der Menge war deutlich der Torbogen zu sehen, also entschied sie sich diese Richtung einzuschlagen. Erst einmal musste sie aus Euston heraus, dann würde sie schon einen Weg in die Winkelgasse finden.
 

"Evelyn!" Sie stockte. "Nun geh doch nicht gleich."
 

Millicent lief auf sie zu, eine ältere Frau mit kurzen Haaren zerrte sie hinter sich mit. 
 

"Schau, das ist Evelyn, Mama." Mama.
 

Schnell besann sich Evelyn auf ihre Manieren und straffte sich, ehe sie der Frau die Hand anbot. "Hallo, Mrs Bullstrode."
 

Millicents Mutter war kaum größer, als ihre Tochter, mit kastanienbraunen Haaren und demselben pausbäckigen Gesicht. 
 

"Evelyn, schön dich endlich zu treffen. Meine Tochter hat mir viel berichtet." Ein wenig unwohl war ihr schon, als die kühle Hand von Millicents Mutter die ihre entgegennahm. "Wie ich höre unterstützt du sie kräftig bei ihren Schulaufgaben."
 

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. "Ab und zu, Ma'am. Aber Millicent macht das schon ganz gut alleine."
 

Mrs Bullstrode legte einen Finger an den Mund und mit ihren dunklen Augen zwinkerte.
 

"Wo ist Dad?", meinte Millicent, die wohl das Thema wechseln wollte. 
 

"Du weißt, dass dein Vater nicht gerne in der Öffentlichkeit ist. Er wartet Zuhause, Schatz."
 

Millicent schien enttäuscht, brachte aber dennoch ein Lächeln zustande, ehe sie sich an Evelyn wendete. "Wirst du auch abgeholt?"
 

Die Augen der zwei Bullstrode-Damen ruhten auf Evelyn, die nun um eine Antwort rang. "Abgeholt? Bestimmt, ja, draußen."
 

Sie glaubte nicht, dass jemand hier auf sie warten würde, und druckste ein wenig unsicher um die Worte herum, was bei den beiden anderen sofort bemerkt wurde. Millicent griff nach dem Handgelenk ihrer Mutter und sie tauschten kurze Blicke aus.
 

"Du musst in die Winkelgasse, nicht wahr, Kind?"
 

Evelyn ahnte, worauf Mrs Bullstrode hinaus wollte. "Oh, ich warte einfach noch ein wenig. Ich will Sie nicht aufhalten."
 

"Mir ist nicht wohl dabei. Es wäre besser, wenn wir-. Oh, da ist er doch."
 

Er? Irritiert blickte Evelyn in die von Mrs Bullstrode angezeigte Richtung, und erkannte den alten Mann in Stoffhosen und gestricktem Pullover, der sich durch die Menge auf sie zu bewegte. Sie konnte nicht anders, als den Mund vor Verblüffung zu öffnen. 
 

Die Leute machten vor ihm Platz, ließen ihn durch, und winkten ihm zur Begrüßung, was Ollivander mit einem Lächeln erwiderte. 
 

"Evelyn, Kind, da bist du ja", rief Ollivander, als er in Hörweite war. Evelyn musste zugeben, dass es gut tat, sein Gesicht zu sehen. 
 

"Mr Ollivander, wie schön Sie zu sehen", warf Mrs Bullstrode ein, ehe Evelyn etwas erwidern konnte.
 

"Ah, Madam Bullstrode." 
 

Während Ollivander von Millicents Mutter in ein Gespräch verwickelt wurde, zog Millicent die noch immer leicht verblüffte Evelyn zur Seite. 
 

"Du schreibst mir, ja?"
 

Ein wenig amüsiert spitze Evelyn die Lippen. Sie fand diese Attitüde schon immer ein wenig überzogen. Kind, du siehst mich was, zwei Wochen nicht? Kein Grund sentimental zu werden. 
 

"Ich habe keine Eule, aber ich werde mir bei den Posteulen eine leihen, in Ordnung?"
 

"Du musst mir auf jeden Fall sagen, wie dein Yule war. Ich schicke dir Orrin, Mamas Eule. Der nimmt deine Antwort gleich mit."
 

Kurz darauf fand sich Evelyn in einer engen Umarmung wieder, die sie nach anfänglicher Skepsis schließlich erwiderte. Millicents war sehr anhänglich, was Evelyn immer weniger störte. 
 

"Der Laden ist nun schon eine Weile unbeaufsichtigt. Wir sollten gehen, Evelyn", hörte sie Ollivander sagen, woraufhin sie die Umarmung löste. 
 

"Wir sehen uns in zwei Wochen."
 

Millicent lief zu ihrer Mutter. "Mach's gut, Eve!"
 

"Nenn mich bitte-. Ach, was soll's." Millicent war bereits verschwunden. 
 

Ollivander legte seine Hand auf ihre Schulter. "Eve?"
 

"Fragen Sie nicht."
 

Mit Ollivander war es beinahe unmöglich unbemerkt aus Euston zu verschwinden, wie es Evelyn eigentlich vorgehabt hatte. Immer wieder wurde er angesprochen und war gezwungen wenigstens ein paar Worte mit den Leuten zu wechseln, wobei Evelyn stumm hinter ihm wartete. Dabei entging ihr nicht, wie sie von vielen abschätzend begutachtet wurde. Es war das erste Mal, dass man Ollivander offiziell mit Evelyn in der Öffentlichkeit antraf, was bei vielen Anwesenden Fragen aufwarf, weshalb der allein lebende Ollivander plötzlich in Begleitung eines Kindes war. Ollivander wurde nicht müde immer wieder aufs Neue in kurzen Worten zu erklären, dass er sich um die Tochter seines Sohnes kümmerte, solange sie Hogwarts besuchte. Die Reaktionen darauf waren verschieden, und alle waren Evelyn unangenehm. Der Zauberstabmacher war überraschend gut darin den aufdringlichsten Fragen geschickt auszuweichen, doch trotzdem oder gerade deswegen hatte Evelyn das Gefühl, das Klatschthema der nächsten Kaffekränze zu sein.
 

Irgendwann hatten sie es hinaus in den normalen Bau, und weg von der neugierigen Meute, geschafft, wo es nun zur Weihnachtszeit nur so von Reisenden wimmelte. Überall sah man festliche Dekoration, Weihnachtsmänner aus Plastik und Musikanten, die für diese Zeit typische Lieder zum Besten gaben; für eine kleine Spende, verstand sich. Nach Monaten in praktischer Einsamkeit mit nichts außer Wald und See um sie herum, war dieser plötzliche Geräuschpegel beinahe erdrückend. 
 

Sie war froh, als sie auch das hinter sich gelassen hatten.
 

"Danke, dass Sie extra hierhergekommen sind, aber das wäre nicht nötig gewesen", meinte Evelyn verlegen, als die beiden sich endlich ungestört unterhalten konnten. 
 

"Ich bitte Sie, das ist doch selbstverständlich. Was wäre ich denn für ein Vormund, wenn ich meine elfjährige Enkelin nicht abholen würde." Er betonte die letzten Worte mit einem verschmitzten Lächeln, was Evelyn erwiderte. 
 

"Die Enkelin, von der nun fast jeder weiß", sagte Evelyn, mit leicht besorgtem Ton.
 

"Jeder", berichtigte Ollivander, "als ich mit Mr Lufkin geredet habe, ist zufällig Madam Knatchbull an uns vorbei gelaufen – etwa vier Mal, wenn ich mich nicht verzählt habe. Ich bin sicher, schon jetzt weiß es die Hälfte aller Anwesenden auf dem Gleis, bis morgen hat die Kunde ... so ziemlich jeden erreicht." Die Tatsache, eine Sensation, vielleicht sogar einen Skandal losgetreten zu haben, schien Ollivander nicht zu kümmern. Im Gegenteil, er wirkte erheitert, was Evelyns eigene Nerven etwas beruhigte.
 

London war weniger schneebedeckt als das im Norden gelegene Hogwarts, und die wenigen Schneeklumpen hatten sich am Rand der Straßen zu matschigen Haufen geschoben. Sie hoffte, dass wenigstens die Winkelgasse einen schöneren Anblick liefern würde, doch vorher musste sie erneut die Tortur des Flohpulvers hinter sich bringen. Auf demselben Weg wie damals – durch die Kamine im Steinquader – kehrten sie zurück, direkt ins Wohnzimmer von Ollivander. 
 

Zunächst bemerkte sie kaum die ihr vertraute Luft nach staubigen Teppichen, da sie eher den Drang hatte sich zu setzen und mit ihrem zum Glück leeren Magen kämpfte. 
 

"Flohpulver bekommt Ihnen wohl nicht sehr", meinte Ollivander scherzend, als er neben ihr auftauchte und nach ihrer Tasche griff, um sie zur Seite zu stellen. 
 

"Vorsicht", sagte sie japsend. Vor ihren Augen drehte sich noch alles. "Da ist eine Pflanze drin."
 

Um sie vor dem Wetter zu schützen, hatte Evelyn den Topf kurz vor dem Ausstieg in ihre Tasche gestellt.
 

"Eine Pflanze?" Überrascht hob er die Augenbrauen.
 

"Würden Sie sie bitte herausholen?"
 

Ollivander, der gezögert hatte unaufgefordert Evelyns Tasche zu öffnen, tat, worum sie ihn gebeten hatte.
 

"Oh, ja wirklich. Wo haben Sie die her?"
 

Evelyn hob sich die Seite und versuchte ruhig zu atmen. Ihr Schwindel wurde nicht besser. "Sprout ... Professor Sprout hat sie uns gegeben. Wir sollen uns um sie kümmern."
 

Ollivander gluckste, als er den kleinen Setzling näher inspizierte. "Sieht Pomona ähnlich." Er stellte den Topf ans Fenster und holte eine Kanne mit Wasser, um die trockene Erde zu gießen. "Was ist es?"
 

"Ich hatte gehofft, Sie können mir das sagen."
 

"Oh, ein Mysterium. Wie spannend." Seine Augen blitzten vor Eifer das Rätsel um die Pflanze zu lösen. 
 

Evelyn, die begann sich ein wenig besser zu fühlen, wagte einige Schritte ans Fenster, wo Ollivander die Blätter des Triebes sanft berührte. Sie selbst war eher an dem Anblick vor ihr interessiert. 
 

Draußen erstreckte sich eine Winterlandschaft aus schiefen Dächern, aus deren Schneehauben dutzende Kamine ragten, die alle paffend Rauchschwaden ausstießen. Das Backsteinpflaster der Gasse war unter der Schneeschicht nicht zu sehen. Was sie jedoch vor Bewunderung scharf einatmen ließ, waren die unzähligen Girlanden aus saftig grünen Gewächsen, die die Türen der Läden schmückten, und von einer zur anderen Seite in regelmäßigen Diagonalen gespannt worden waren. 
 

"Warten Sie, bis es Nacht wird. Dann werden die Kerzen entzündet", sagte Ollivander, der ihren Ausdruck bemerkt haben musste. "Kein Vergleich mit Hogwarts, natürlich."
 

Evelyn schüttelte den Kopf. "Es ist wunderschön."
 

Einige Sekunden herrschte Stille, ehe Ollivander aufs Holz der Fensterbank klopfte und sich umdrehte. "Nun kommen Sie erst einmal an. Sie haben eine lange Zugfahrt hinter sich."
 

Evelyn riss sich vom Fenster los und folgte Ollivander durchs Wohnzimmer, vorbei am verblichenen Wandteppich, dem sie kaum Beachtung schenkte. Seine Wohnung sah aus, wie immer: keine zusätzliche Dekoration oder Beleuchtung, die den ohnehin düsteren Raum ein wenig erhellt hätten. 
 

"Ich entschuldige mich erneut, dass ich so selten geschrieben habe", sagte Ollivander, als er in der Küche heißes Wasser aufsetzte. "Sie müssen mir nun alles erzählen."
 

Für den Moment fühlte sich Evelyn erleichtert ein weniger ihrer Fassade fallen zu lassen. Statt wie ein Kind auf dem Stuhl zu sitzen, lehnte sie sich zurück und überschlug die Beine, eine Hand auf ihrem Knie. "Was möchten Sie denn hören?"
 

"Keine Lobpreisungen über Hogwarts? Keine Beschreibungen traumhaften Unterrichts? Ich bin enttäuscht, Miss Harris." Seine Worte waren nicht ernst gemeint und ließen Evelyn amüsiert kichern. 
 

"Hogwarts ist atemberaubend. Der Unterricht ist fantastisch und alles ist herrlich."
 

"So habe ich mir das vorgestellt." Er servierte den Tee mit einigen Knabbereien, die Evelyn jedoch zunächst ignorierte, bis sich ihr Schwindel ganz gelegt haben würde. "Den Schalk beiseite, wie ergeht es Ihnen in Hogwarts?"
 

"Ich werde nicht lügen; es ist anstrengend."
 

Ollivander gluckste und nickte, ehe er sich ihr gegenüber niederließ. "Hogwarts ist eine Schule für die Besten."
 

"Für die Besten, ja", sie senkte ihre Stimme mit jeder Silbe. 
 

"Wie ergeht es Ihnen im Hause Salazars?"
 

Sie war froh und erleichtert offene Neugier in seinem Ausdruck zu sehen, statt Besorgnis. Sein Brief hatte ihr bereits Mut gemacht, nun jedoch seine leuchtenden Augen vor sich zu sehen, ließ jeden letzten Zweifel sterben. "Es war nicht ganz leicht, aber ich denke ich weiß jetzt, wie ich mich verhalten muss. Meistens."
 

"Meistens?" Ollivander lachte laut auf. "Dabei hatte ich mir vorgestellt, dass die Verhaltensregeln heutzutage in Hogwarts nicht mehr so ernst genommen werden."
 

Darauf erwiderte Evelyn nichts, sondern trank stattdessen von dem süßen Tee, der sich wohltuend warm ausbreitete.
 

"Sie scheinen sich immerhin gut mit der jungen Miss Bullstrode zu verstehen. Das Mädchen mag Sie."
 

"Millicent", sagte sie mit einem Seufzer. "Sie ist sehr hartnäckig gewesen, aber ohne sie hätte ich es wohl nicht geschafft mich in Slytherin wirklich einzuleben." Erinnerungen daran, wie oft Millicent ihr bereits in der wenigen Zeit, die sie sich nun kannten, geholfen hatte, kamen ihr in den Sinn. "Sie wächst mir ans Herz."
 

"Was ist mit dem Unterricht, können Sie gut folgen trotz Ihrer, nunja?"
 

"Sagen Sie es ruhig; Unbegabung."
 

Er legte empört den Kopf schief. "Das wollte ich bestimmt nicht sagen, Evelyn."
 

"Verzeihen Sie, Sir, den Galgenhumor kann ich mir nicht abgewöhnen."
 

"Ich kann kaum glauben, dass Ihre Leistungen einen derartigen Pessimismus rechtfertigen können."
 

"In Teilen schon. McGonagall hat mich zur Nachhilfe verwiesen, weil ich hinter den Erwartungen liege." Es war seltsam ihm davon zu berichten. Ihr Kopf sagte ihr ständig, dass sie sich nicht vor ihm rechtfertigen musste, doch gleichzeitig glaubte sie ihn ein wenig mit ihren schlechten Leistungen zu enttäuschen.
 

Ollivander fuhr sich mit der Hand über das Kinn, wo ein kurz gewachsener Bart zu sehen war. "Minerva ist sehr streng, und fordert viel von Ihren Schülern. Ich bin sicher, sie möchte nur das Beste für Sie."
 

"Das weiß ich." Sie griff nun verlegen nach den Knabberein und nach dem ersten Bissen merkte sie, wie hungrig sie tatsächlich war. Während sie kaute herrschte Stille, bis Evelyn sie durchbrach. "Allerdings gibt es Hoffnung in anderen Fächern."
 

Sie beobachtete, wie Ollivander sich streckte. "So? Und die wären?"
 

"Verteidigung liegt mir. Geschichte", wobei das eher ihren eigenen Nachforschungen zu verdanken war, als an Professor Binns Unterrichtsfähigkeiten, "Oh, und Zaubertränke, denke ich. Ist nicht so, als würde mein Hauslehrer irgendwen loben, aber auszusetzen hat er auch nichts, was ich einfach mal als gutes Zeichen ansehe."
 

Sofort verzog Ollivander das Gesicht, hob sein Kinn jedoch triumphierend nach oben, so als sei er, stolz? "Sie geben ihr Bestes, da bin ich sicher. Achten Sie nicht auf das, was der Tränkemischer sagt. Apropos, haben Sie ihre heutige Dosis eingenommen?"
 

Evelyn senkte den Blick. "Ich musste ein wenig sparen, ansonsten wären meine Tränke zu früh ausgegangen. Merlin sei Dank, dass ich nun hier bin."
 

"Ich fürchte es wäre nicht klug die Tränke abzusetzen. Man weiß nun, dass Sie hier sind. Sie, die junge Evelyn, meine Enkelin." 
 

Enttäuscht ließ sie ihre Arme fallen. "Ich hatte gehofft wenigstens hier ein wenig ... ich sein zu können." Ollivander erwiderte ihren Blick mit einem entschuldigenden Ausdruck, ehe er den Kopf schüttelte. 
 

"Ich verstehe Ihren Wunsch, aber um Ihretwillen, sollten Sie auch weiterhin die Tränke nehmen."
 

Dass er recht hatte, stand außer Frage. Trotzdem traf sie die Entscheidung hart. Grob überschlug sie das kleine bisschen Rest, den sie noch übrig hatte, der kaum noch ausreichte, um sie über die Runden zu bringen. Gerade, als sie sich fühlte angekommen zu sein, überkam sie rastlose Panik. "Dann muss ich einkaufen, so schnell wie möglich."
 

Ollivander stand auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. "Darum können Sie sich morgen kümmern. Dank Yule sind die Öffnungszeiten etwas gekürzt, also können Sie heute sowieso nichts mehr besorgen."
 

Eigentlich hatte sie tatsächlich sofort den Drang gehabt aufzuspringen und die Winkelgasse nach ihren Zutaten abzusuchen. Ollivander hielt sie mit sanftem Druck davon ab. 
 

"Vergessen Sie nicht trotz allem Yule ein wenig zu genießen, Evelyn."

Kapitel 43 - Die Stechpalme trägt die Krone

Nichts hätte sie lieber getan, als ihre Zeit in der Winkelgasse zu genießen, doch Ollivanders Drohung, oder besser gesagt Vorahnung, sollte sich bewahrheiten. Gleich am nächsten Tag hatte sich Evelyn bei ekligem Graupelwetter aufgemacht in der Apotheke ihre mageren Vorräte aufzustocken, doch wo sie auch hinging, die Blicke der Passanten klebten an ihr. Niemand traute sich das arme Kind, wie sie von manchen genannt wurde, anzusprechen, was ihr zwar recht war, doch das änderte nichts daran, dass sie sich alle lautstark das Maul über sie zerrissen. 
 

"Ollivander hat sie von der Straße."
 

"Ich habe gehört es ist sein eigenes Kind."
 

"Die Mutter soll ihn erpressen."
 

Dass Evelyn, kaum einige Meter entfern auf der anderen Straßenseite, sie hören konnten, war ihnen nicht bewusst; oder es war ihnen egal. Als Evelyn ihnen einen Seitenblick zuwarf, verstummten sie und winkten ihr mit mitleidigem Grinsen. 
 

Widerwärtige Klatschziegen, dachte Evelyn, als sie ihnen mit der freien Hand winkte. 
 

Verglichen mit den Sommermonaten, war die Winkelgasse beinahe leer. Die Läden waren nicht über und über mit Käufern gefüllt und auch vor den Eingängen gab es keine zusätzliche Ware, die angepriesen wurde. Alles war den festlichen Girlanden gewichen, die, wie Evelyn nun bei näherer Betrachtung sah, von kleinen Kerzen ähnlich Teelichter umschlungen waren. Eine Idee formte sich in ihrem Kopf, als sie die festliche Dekoration sah. 
 

Kritisch prüfte sie den kleinen Beutel mit Münzen, den Ollivander ihr ohne auf ihre Proteste zu hören in die Hand gedrückt hatte. 
 

"Seien Sie doch so gut und kaufen Sie noch etwas für heute Abend zum Abendessen, wenn Sie fertig sind, ja?", hatte er einfach gesagt und war irgendwo zwischen seinen Regalen verschwunden. Sie hatte zwar ihre Einwände gehabt, aber insgeheim war ihr klar gewesen, dass sie sein Geld benötigte. 
 

Als die Verkäuferin in der Apotheke ihre Bestellung in einen großen Korb packte, war sie kaum mit den Gedanken hier. Sie hatte nun zwei Wochen in denen sie sich überlegen konnte, wie sie an Geld kam, auch wenn Ollivander davon nichts hören wollte. Sie wusste, ihm machte es nichts aus; aber es war sie, die ein Problem damit hatte. 
 

"Hier bitte, kleines Fräulein." Stumm bezahlte sie und schwang sich den Trageriemen des Korbes um die Schulter. Mist, das ist schwer.
 

Leider war das noch nicht alles. Sie benötigte noch ihre Geheimwaffe: Guinness.
 

Schwer atmend stapfte sie unter den stetigen Blicken der Zauberer durch den Schnee hinauf zum Tropfenden Kessel. Kurz überlegte sie, ob sie dort erneut als Kellnerin arbeiten könnte, aber nun, da sie offiziell erst elf Jahre alt war und gezwungen war diesen Schein zu wahren, würde sie sich das abschminken können. 
 

Die Päckchen und Phiolen im Korb schlugen bei jedem ihrer Schritte klirrend gegeneinander und bildeten somit einen gleichmäßigen Rhythmus, der sie von der Anstrengung das Zeug zu schleppen ablenkte. Immerhin war ihr nun auch nicht mehr kalt, obwohl der feine Regen unangenehm auf ihre Haut fiel. Vielleicht war es auch ihr Schweiß, so genau konnte sie das gar nicht sagen, bis sie oben ankam und durch den Hintereingang den Pub betrat.
 

Innen wurde sie sofort von stickig warmer Luft begrüßt, die vom Feuer unter dem riesigen, gesprungenen Kessel im Kamin her wehte. Es war noch früh und daher war noch nicht viel los. Besser gesagt war niemand hier. 
 

Sie stellte den Korb am Eingang neben der Kommode ab und ließ ihre geschundene Schulter kreisen. 
 

"Bist du nicht etwas zu jung, um hier alleine hereinzukommen, Kind?"
 

Sie erkannte sie Stimme und sofort breitete sich ein Grinsen, auf ihrem Gesicht aus. 
 

"Kann ich dir helfen, Mäuschen, bis du verloren gegangen?", meinte Margaret, die mit großen Schritten auf sie zugekommen war und sich nun ein wenig zu ihr hinab beugte. 
 

Beinahe hätte Evelyn sie begrüßt, doch gerade noch rechtzeitig erinnerte sie sich daran, dass sie nun ganz anders aussah. Allerdings wohl nicht anders genug. 
 

"Du kommst mit bekannt vor, wer sind deine Eltern?", fragte Margaret stirnrunzelnd. Ihre Augen glitten an Evelyn auf und ab, die ein wenig den Kopf senkte.
 

"Niemand, ich bin Ollivanders Enk-" Sie hatte den Satz nicht zu Ende gesprochen, da hatte Margaret sie bereits am Oberarm gepackt und sie kurzerhand wieder hinaus in den Hinterhof geschleift, wo Evelyn gerade hergekommen war. 
 

Erst als Margaret die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, ließ sie Evelyn los und sah sie nun stumm an. 
 

Evelyn rieb sich den schmerzenden Oberarm, wo sie morgen vermutlich Abdrücke von Margarets Fingern haben würde. "Spar dir das Schauspiel, Evelyn", sagte Margaret, die sie in eine Ecke gedrängt hatte; wortwörtlich. 
 

Hinter ihr spürte sie den kalten Stein der Mauer, während sie vor sich die kalten Augen Margarets ertragen musste, die sie unnachgiebig verurteilten.
 

Seufzend ließ Evelyn die Arme fallen. Irgendwelche Lügen zu erzählen, hatte keinen Sinn, das wurde ihr klar. "Was soll ich sagen, Margaret. Was willst du hören?"
 

"Wie wäre es mit 'Hallo, Margaret, nein ich halte dich nicht für einen dummen Troll'."
 

"Ich halte dich nicht für einen dummen Troll."
 

"So komme ich mir aber vor", sagte sie aufgebracht und stampfte bekräftigend mit dem Fuß auf den Boden. "Ich habe keine Fragen gestellt, als du hier plötzlich aufgetaucht bist. Ich habe keine Fragen gestellt, als du plötzlich nach ein paar Wochen wieder verschwunden bist, ohne zu erklären, wohin. Aber, bei Merlins Eiern, ich werde fragen, wieso du plötzlich als Ollivanders Enkelin durch London läufst! Evelyn Harris, haben sie gesagt, sei nun der neuste Ollivander Zuwachs."
 

Margaret redete sich in Rage, sodass Evelyn die Hände hob, um sie zur Ruhe zu bringen. Dass sie selbst aus Angst womöglich völlig aufzufliegen mit ihren Knien zitterte, versuchte sie zu überspielen. "Pscht, nicht so laut. Bitte."
 

"Das ist keine Antwort, Evelyn."
 

Nein, das war es nicht, und da war sich Evelyn auch bewusst. Doch dieses Gespräch wurde von Sekunde zu Sekunde gefährlicher für sie, und im Grunde auch für Margaret. Es war ihr Name, der sie verraten hatte, wurde ihr klar. Ein flüchtiger Fehler, der ihr nun das Genick zu brechen drohte. Natürlich hatte sich Margaret an sie erinnert, wie konnte sie nur hoffen, man würde sie vergessen? Sie war hier der dumme Troll anzunehmen, ihr Name würde untergehen; nicht Margaret. 
 

"Es hat sich so entwickelt, okay?"
 

"Entwickelt? Du bist also einfach zufällig in eine der ältesten Familien Englands hineingerutscht."
 

Evelyn öffnete empört den Mund, ehe sie leise antwortete. "Das hat damit nichts zu tun. Mr Ollivander hat seine Hilfe angeboten."
 

"Hilfe? Hilfe bei was; unter zu tauchen, ein neues Leben anzufangen mit Prestige und Ansehen als Teil der Achtundzwanzig?" Margaret war sauer, das hörte man bei jeder Silbe. Wirklich nachvollziehen, weshalb die eigentlich gutmütige Margaret derart erbost und verärgert war, konnte Evelyn nicht. 
 

"Prestige und Ansehen sind mir egal, Margaret. Beruhige dich und bleib auf dem Teppich."
 

"Rede nicht so mit mir, junge Dame." In der Stille, die darauf folgte, versuchte Evelyn Margaret ein wenig Zeit zu Atem zu kommen, auch wenn sie zunehmend weniger ängstlich als selbst wütend angesichts Margarets Anschuldigungen wurde. 
 

Schließlich atmete Evelyn lange aus, ehe sie erneut zu sprechen ansetzte. "Ich hatte eine Chance nach Hogwarts zu gehen. Und die habe ich ergriffen. Mr Ollivander hilft mir dabei."
 

"Hogwarts?", meinte sie überrascht und kniff die Augen zusammen. "Ach, ein zweiter Schulabschluss ist also besser, als einer in deinem neuen Leben?"
 

Evelyn fuhr sich frustriert durchs Haar. "Nein, Margaret. Ich war nie auf Hogwarts. Deshalb mache ich den ganzen Zirkus ja." Es war nicht die ganze Wahrheit, aber mehr Wahrheit würde Margaret nie bekommen. Nicht freiwillig.
 

Tatsächlich hatte diese Erklärung endlich die gewünschte Wirkung. Margarets Züge wurden weicher. Auch in ihrer Stimme fehlte der schneidende Unterton. "Du warst nie auf Hogwarts? Aber du ... oh." Erschrocken nahm sie die Hand vor den Mund. "Bist du ein Squib?"
 

"Was? Nein", – zumindest nicht völlig, dachte Evelyn. "Ich konnte einfach nur nie dorthin. Wurde nie ausgebildet." Sie entschied, dass Humor erneut der beste Weg war Frieden mit Margaret zu schließen. "Hast du nie bemerkt, wie miserabel ich mit dem Zauberstab bin?"
 

Erleichtert registrierte sie ein kleines Lächeln um die Mundwinkel der älteren Frau. "Ich dachte du wärst untalentiert."
 

"Bin ich auch. Ich muss mir von McGonagall erzählen lassen wie groß meine Defizite doch sind." Die Erwähnung der Professorin brach schließlich den Damm und Margaret lachte lautstark aus. Evelyn wagte es sogar ein wenig mit einzustimmen.
 

"Komm, lass uns reingehen. Hier wird es langsam kalt."
 

Margaret war nur in ihrer, zugegeben winterlichen, Arbeitskleidung unterwegs, und sie rieb sich nun fröstelnd die Finger. 
 

Nur zu gerne kam Evelyn dieser Bitte nach, und so folgte sie der Kellnerin hinein.
 

"Warte dort drüben auf mich. Hau ja nicht ab", meinte Margaret mit warnender Geste, für die Evelyn nur ein entschuldigendes Schulterzucken übrig hatte. In einer Wandnische wartete sie auf Margaret, die nur wenige Minuten später mit zwei dampfenden Bechern zurück kam, und sich zu ihr setzte. Evelyn nahm den Becher gerne entgegen, der herrlich süß roch. Punsch, dachte sie, als sie gekostet hatte, wobei sie sofort ein wenig das Gesicht verzog.
 

"Der ist mit Schuss", sagte sie gespielt empört. "Du gibst einer Minderjährigen Alkohol? Schämen solltest du dich."
 

Margaret warf ihr einen Seitenblick zu, überging den Scherz jedoch und kam gleich zur Sache. "Ist es nicht ein wenig riskant deinen Namen zu benutzen? Keine wirklich gute Tarnung, wenn du mich fragst."
 

Es gab keinen Grund das zu bestreiten, Margaret hatte völlig recht. "Ich hab das alles nicht geplant. Es ist einfach passiert und irgendwann war es zu spät. Glaub mir, ich bin auch nicht glücklich damit."
 

"Werden die Leute dich früher oder später nicht erkennen."
 

Das konnte Evelyn glücklicherweise verneinen. "Mich kennt hier niemand. Eigentlich bist du die einzige, die mich als ältere Evelyn kennengelernt hat." Ihr Blick fiel auf den Tresen, wo Tom ein wenig döste. "Naja, und er."
 

Margaret folgte ihrem Blick, winkte aber pfeifend ab. "Da brauchst du dir keine Gedanken machen. Tom vergisst seine eigene Tageskarte." Sie nahm einen Schluck ihres Punsches. "Und die hat er seit 13 Jahren nicht geändert."
 

Es klang ein wenig, als scherzte Margaret, aber in ihrem Blick sah Evelyn, dass sie es ernst meinte. "Da bin ich ja beruhigt."
 

Wieder schwiegen die beiden gemeinsam, bis Evelyn das Wort ergriff. "Hör zu, Margaret. Es ist wirklich sehr wichtig, dass du das alles hier für dich behältst."
 

Skeptisch lehnte sich die Kellnerin gegen die Wand, von der sie in ihrer Nische umschlossen wurden. "Wieso? Du sagtest doch dich kennt keiner. Wovor läufst du davon?"
 

"Ich laufe nicht davon. Ich versuche nicht aufzufallen, das ist ein Unterschied."
 

Amüsiert schlug sich Margaret aufs Knie. "Das machst du nicht sehr gut, Schätzchen. Es steht ein Artikel in der Hexenwoche über dich."
 

Davon hörte sie zum ersten Mal. "Was?!"
 

Ihre Finger klammerten sich an den Rand des alten Holztisches, während sie innerlich jeden verfluchte, inklusive sich selbst.
 

Margaret ließ sie einige Herzschläge zappeln, bis sie abwinkte. "Ich mach nur Scherze. Könnte aber, da stehen so einige Tratsch Themen über vermeintliche uneheliche Kinder so einiger höherer Tiere in der Gesellschaft. Alle paar Jahre werden neue unveränderte Ergebnisse berichtet zu der Frage, ob Guy Fawkes eigentlich Guy Selwyn hieß. Die Leute wollen so etwas lesen, weißt du?"
 

Die Erwähnung möglicherweise einen Artikel in der Hexenwoche zu zieren, hatte Evelyns Puls schlagartig in die Höhe getrieben. Noch immer spürte sie die pochenden Venen an ihrem Hals. Sie registrierte noch nicht einmal die Erwähnung eines ihr eigentlich bekannten Namen. 
 

"Tu das nie wieder."
 

"Sieh es als kleine Heimzahlung." Sie lehnte sich nach vorne und senkte ihre Stimme. "Nun aber Mal im Ernst. Was soll die Scharade?"
 

Vor dieser Frage hatte Evelyn sich gefürchtet. Sie kaufte sich einige Sekunden Zeit, in denen sie ihren Becher in den Fingern drehte, statt zu antworten. Letztendlich musste sie jedoch etwas sagen. "Es ist, wie ich es gesagt habe. Ich durfte nie nach Hogwarts. Hier habe ich eine Chance gesehen und sie ergriffen. Wenn es bedeutet so", sie deutete an sich herunter, "herumzulaufen, dann nehme ich das in Kauf."
 

"Und nebenbei wirst du von Ollivander adoptiert."
 

Diese Denkweise stieß Evelyn sauer auf, was sie ihr auch zeigte. "Zum letzten Mal, darum ging es mir nicht. Hogwarts zählt, sonst nichts."
 

Margaret wirkte skeptisch und ließ das Thema fallen. Sie glaubt mir nicht, bemerkte Evelyn.
 

"Ich habe noch nie gehört, dass sich jemand so in die Schule eingeschlichen hat", meinte Margaret stattdessen. "Ja, Hogwarts ist eine gute Schule, aber hättest du nicht einen Privatlehrer engagieren können? Wieso macht du so einen Aufstand, zwängst dich in diesen Körper vor allem, nur um da hin zu gehen." Sie faltete die Hände vor der Brust. "So toll ist es nun auch nicht, wenn du mich fragst." 
 

In Margarets Worte schwang Verbitterung mit, so als hatte sie tatsächlich schlechte Erfahrungen in Hogwarts gemacht. 
 

"Welches Haus warst du, Margaret, wenn ich fragen darf?"
 

Das überraschte die Kellnerin. "Mh? Oh, Hufflepuff." Sie klang nicht glücklich. Trotzdem nickte Evelyn und fuhr fort.
 

"Naja, Privatlehrer war keine Option. Ich bin ein wenig knapp bei Kasse, weißt du noch?"
 

Margaret formte ein lautloses O, scheinbar erinnerte sie sich. 
 

"Apropos", sagte Evelyn, "ihr sucht nicht zufällig Küchenhilfen?"
 

"Keine unter 17 Jahren", meinte Margaret schelmisch. 
 

Evelyn seufzte. "Natürlich." Nach einem weiteren schluck ihres Punsches, der leider viel zu schnell kalt wurde, entschied sie, das Gespräch zu beenden. 
 

"Margaret, es war einfach wichtig für mich da hin zu gehen, egal wie. Du musst mir versprechen es niemandem zu sagen", wiederholte sie ihre Bitte, während sie sich zu Margaret vorlehnte. Es dauerte einige Sekunden, bis die Kellnerin schließlich nickte. 
 

"Einverstanden, du wirst wissen, was du tust."
 

Erleichtert atmete Evelyn aus und lächelte Margaret an. "Danke." Sie stand auf und versuchte sich auf den Tisch zu stützen, wenn der nicht so hoch gewesen wäre. Ihr Blick ging suchend an die Kommode, wo sie sich versicherte, dass ihr Einkaufskorb noch an Ort und Stelle stand. Sofort wurden ihre Augen groß. "Das hätte ich beinahe vergessen!" Erneut fixierte sie Margaret, die noch am Tisch saß und sie beobachtete. "Kannst du mir ein kleines Fass Guinness besorgen?"
 

Irritiert starrte Margaret zurück. "Was willst du denn mit so viel Guinness?" Jedoch noch ehe Evelyn antworten konnte, riss Margaret die Arme nach oben. "Die Tränke!"
 

Sie war so laut, dass Evelyn erschrocken aufsprang. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Tom wach geworden war und die beiden nun neugierig anstarrte. Evelyn musste hier schnell raus. 
 

"Leise, Margaret."
 

"Das war es also, was du oben in deinem Zimmer veranstaltet hast. Du machst dich mit Tränken jünger!"
 

Evelyn war ehrlich überrascht, dass Margaret da nicht schon viel früher darauf gekommen war. "Jünger, unter anderem." Dass ihr die Kleinigkeiten wie eine veränderte Augenfarbe nicht sofort auffielen, nahm Evelyn ihr nicht übel. 
 

Margaret deutete mit dem Finger Richtung Kommode. "Dann sind das deine ganzen Zutaten? Phew, ich hoffe du weißt, was du tust."
 

"Hat ja geklappt, oder? Keine Angst ich habe einen Bezoar, für alle Fälle." Zumindest hatte ich den, bis Ollivander darauf bestanden hatte ihn bei sich zu behalten. 
 

Margaret stand leicht stöhnend auf, wobei sie nach den zwei leeren Bechern griff. "Wenn du mich fragst brauchst du kein Hogwarts, wenn du das ganz alleine geschafft hast." Sie nickte in ihre Richtung und meinte offensichtlich Evelyns veränderte Erscheinung.
 

Darauf erwiderte sie nichts, sondern folgte ihr zum Tresen. Tom, der nun, da er wach war, die Gläser neu sortierte, betrachtete Evelyn ungehalten. 
 

"Du bist zu jung für den Kessel, kleines Mädchen."
 

Das habe ich heute schon gehört danke. Das waren zwar ihre Gedanken, nach außen hin versuchte sie aber unschuldig zu lächeln. 
 

"Ich weiß, Sir. Ich soll etwas für meinen Opa holen."
 

Das Wort Opa kam ihr nur schwer über die Lippen, sorgte bei Margaret aber für stummes Stirnrunzeln. 
 

"Dein Opa?", fragte Tom, nun mit etwas besserer Laune. "Was könnte das nur sein?"
 

Als Antwort stellte Margaret, etwas zu laut, ein kleines Fass Guinness auf die Theke, direkt vor Toms Augen. 
 

"Oh", war alles, was Tom dazu zu sagen hatte. 
 

"Zahlst du gleich, oder lässt du es anschreiben." 
 

Es bedurfte einiges, dass Evelyn bei ihrer Bemerkung nicht mürrisch die Augen verdrehte. Diese Anspielung auf ihre Angewohnheit während ihrer Zeit hier als Kellnerin ihre Ausgaben anschreiben zu lassen, war ihr definitiv nicht entgangen. 
 

"Ich zahle gleich, danke", sagte sie mit Nachdruck, während sie in einer ihrer Manteltaschen nach dem Beutel mit Geld suchte um für ihre letzte Zutat zu bezahlen.
 

Mit Margaret, die angeboten hatte das Fass für sie zu tragen, machte sie sich auf den Weg zurück zu Ollivanders. 
 

"Heute Abend ist ein Fest im Tropfenden Kessel. Mit Musik und Tanz. Wenn du magst, kannst du kommen."
 

Evelyn schüttelte den Kopf, so gut es ihr mit dem Gewicht des Korbes an der Schulter möglich war. "Du hast Tom gehört: keine Minderjährigen. Außerdem möchte ich Yule mit Mr Ollivander verbringen."
 

Margaret schwieg einige Schritte, ehe sie antwortete. "Du bleibst also konstant so klein. Vermutlich besser."
 

Ihr Gespräch rief Evelyn jedoch etwas ins Gedächtnis. "Du weißt nicht zufällig ein Gericht, das ich Mr Ollivander heute Abend kochen könnte, oder?", fragte sie hoffnungsvoll. Sie hatte vor Ollivander eine kleine Freude zu bereiten. Außerdem hatte er ja auch darauf bestanden, dass sie für das Abendessen einkaufte. 
 

"Natürlich, erst letztens habe ich ein schönes Rezept gefunden."
 

"Lass mich raten: Hexenwoche?"
 

Gemeinsam erreichten sie Ollivanders Laden, wo Margaret das Fass abstellte. "Gib mir einfach ein Pergament, ich schreib es dir auf."
 

Einige Stunden später stand Evelyn in Ollivanders Küche, wo sie mehrere Töpfe auf einmal beaufsichtigte. In den einen köchelte Fleisch und Kartoffeln fröhlich vor sich hin, in den anderen hatte sie angefangen den Sud für ihre Tränke aufzusetzen. Sie hatte ein altes Tränke-Set gefunden, da sie ihr eigenes in Hogwarts gelassen hatte. Zur Not hätten es auch Koch-Töpfe getan, allerdings war sie doch ganz froh in denen nun nur ihr Essen zubereiten zu müssen.
 

Ollivander bekam davon nichts mit. Er hatte sich zurück gezogen und angekündigt erst später zu ihr zu stoßen. Das gab Evelyn Zeit sich um alles zu kümmern. 
 

Ein wenig Geld hatte sie noch übrig gehabt und hat daher noch Dekoration für Ollivanders Wohnung gekauft. Nicht zu viel, da sie ihn nicht erschlagen wollte. Nur diese Girlanden mit den Teelichtern, die ihr besonders gut gefielen. Zusätzlich hatte sie sich mit ein paar Runen behangen, die sie bereits als Baumschmuck in Hogwarts gesehen hatte. 
 

Margarets Rezept stellte sich als sehr einfach heraus und war verglichen mit ihren Tränkevorbereitungen geradezu ein Kinderspiel. Obwohl es so schlicht war hoffte sie jedoch, dass Ollivander es trotzdem mögen würde. 
 

In den Minuten, in denen sie sich nicht um ihre Töpfe und Kessel kümmern musste, stand sie am Fenster, sprach mit ihrem unbekannten Setzling, und betrachtete die Gasse. Der Tag ging zu Ende und nach und nach wurden die Fenster und Dächer mit hunderten Kerzen beleuchtet, die langsam in den Himmel aufstiegen, wo sie verweilten. Ollivander hatte nicht zu viel versprochen. Der Anblick der schwebenden Kerzen über der Winkelgasse, war atemberaubend. Ein wenig erinnerte sie das Bild an die Große Halle, deren Decke das ganze Jahr über tausende Kerzen schmückten.
 

Je länger sie nach draußen schaute, desto mehr wünschte sie sich es würde schneien. Doch leider herrschte im Moment noch immer der nasse Graupel vor.
 

Als der Geruch des fast fertigen Essens aus der Küche zu ihr strömte, knurrte ihr der Magen. Bereits beim Kochen hatte sie ein wenig genascht, hier und da. Jedoch nicht genug, um satt zu werden. 
 

Es dauerte dann doch noch eine Weile, bis Ollivander auftauchte und Evelyn hatte schon Sorge, dass das Essen völlig kalt wurde. Glücklicherweise hielt sich der Auflauf lange warm.
 

Ollivander bemerkte sofort die Änderungen in seiner Wohnung, zeigte aber keine Regung, was Evelyn plötzlich beunruhigte. Sie hatte keine Freudensprünge erwartet, aber nun da sie ihn sah kam ihr der Gedanke, dass sie womöglich etwas Falsches gemacht haben konnte. 
 

"I-ich kann es auch wieder entfernen, wenn Sie wollen?"
 

Ollivander hob die Hand und hielt Evelyn davon ab, die bereits begonnen hatte eine Girlande von der Decke zu nehmen. Langsam schüttelte er den Kopf, und schnupperte dann in die Luft.
 

"Das riecht herrlich. Ich hatte nicht erwartet, dass Sie bereits gekocht haben."
 

Glücklich darüber das Thema wechseln zu können, führte sie ihn eilig an den Tisch, der fertig gedeckt war. Das Feuer im Kamin hatte sie schon vor Stunden begonnen zu schüren. 
 

Sie wollte ihm etwas Gutes tun, eine Freude machen für alles, was er auf sich nahm. Als sie gesehen hatte, wie reserviert er reagiert hatte, waren ihr Zweifel gekommen. Mit dem Essen wollte sie wenigstens einen Teilerfolg erzielen.
 

"Shepards Pie", sagte sie fröhlich, als sie das Essen vor ihn stellte, "ich hoffe es schmeckt Ihnen."
 

Ollivander ließ den gefüllten Tisch ein wenig auf sich wirken, sagte aber noch immer nichts. Evelyn setzte sich skeptisch an den Tisch und wartete.
 

"Fröhliches ... Yule", sie wusste nicht, ob das ein passender Gruß war, aber irgendwie wollte sie die unkomfortabel Stille durchbrechen. 
 

Sie sah, wie Ollivanders Lippe zuckte, ehe er mit gebrochener Stimme endlich begann zu sprechen. "Es ist Jahre her, dass ich ..." Er räusperte sich, woraufhin er seine gewohnt freundliche Haltung einnahm. "Nun, wir wollen doch nicht, dass Ihr Essen schlecht wird. Greifen Sie zu, bitte." 
 

Die ganze Zeit über, blieb er verdächtig still, was Evelyn versuchte mit Gesprächen zu ändern. 
 

"Ich war heute im Tropfenden Kessel", begann sie vorsichtig, "und da habe ich Margaret getroffen. Die Kellnerin, wissen Sie noch?"
 

"Evelyn, ich lebe hier", meinte er kurz angebunden, wobei seine Augen schelmisch funkelten. 
 

Peinlich berührt spielte sie mit einer Strähne ihres Haares. "Natürlich, Verzeihung." Sie wartete kurz, ehe sie weitersprach. "Jedenfalls, sie hat mich erkannt. Naja, nicht unbedingt erkannt, aber sie hat mich noch gekannt. Der Name hat mich verraten."
 

Ollivander hielt inne. "Sie hat sich an Sie erinnert?"
 

"Ich fürchte ja; und Sie sagten, niemand wird sich nach ein paar Wochen an meinen Namen erinnern." Natürlich machte sie ihm keine Vorwürfe. Sie wollte ihn mit etwas Humor aus der Reserve locken. 
 

"Ein alter Mann darf sich irren", erwiderte er bloß.
 

"Sie hat mir versprochen, es für sich zu behalten." Sie schmunzelte. "Wobei ich wünschte einen Obliviate zu können, wenn ich ehrlich bin." Wo war die Pfeife Lockhart, wenn man ihn mal wirklich brauchte. 
 

"Madam Margaret ist eine gute Seele."
 

Im Nachhinein hatte sie auch überlegt Margaret in einen Unbrechbaren Schwur einzubinden, letztlich war ihr aber dieser Schritt für sie selbst zu ungewiss und zu gefährlich. "Ich vertraue ihr, Mr Ollivander. Die Situation gefällt mir zwar nicht, aber ich denke, sie wird es für sich behalten." Solange ihr viel größeres Geheimnis unentdeckt blieb, konnte sie mit diesem kleinen Problem leben.
 

Daraufhin verstummte Olivander erneut, während er langsam seinen Teller leerte. 
 

"Oh, heute Abend ist wohl eine Feier im Tropfenden Kessel. Margaret hat mich eingeladen."
 

"Jedes Jahr wird dort Yule zelebriert. Man sieht den Höhepunkt von hier aus. Wenn Sie wollen, können Sie aber gerne dem Tropfenden Kessel einen Besuch abstatten." 
 

Schnell schüttelte sie den Kopf. "Es ist mein erstes Yule. Hier, in der Winkelgasse", schob sie schnell hinterher. "Verzeihen Sie, wenn ich zu forsch bin, aber das würde ich gerne mit Ihnen verbringen."
 

Ollivander legte sein Besteck klirrend beiseite. "Sie haben sich viele Gedanken gemacht, Evelyn." Aus seiner Stimme konnte sie seine Gefühle nicht herauslesen. 
 

Sie tat es ihm nach und legte ihr Besteck nieder. "Ich wollte Ihnen damit eine kleine Freude bereiten, ich bin mir nur nicht sicher, ob es die richtige Idee war." Und sie hatte vorgehabt eine ruhige Atmosphäre zu schaffen, um ihn endlich nach seiner Tochter fragen zu können. In dem Moment, als sie seine reservierte Miene gesehen hatte, hatte sie diesen Gedanken aber schnell verworfen. Gaila war ein Thema für ein anderes Mal. 
 

"Mögen Sie Musik, Evelyn?", fragte er plötzlich. Damit hatte sie nicht gerechnet und stotterte daher ein wenig perplex. 
 

"Eh, mh, ja. Ja, natürlich."
 

Sie beobachtete wie er aufstand und zu einem großen Holzschrank ging. Das Holz hätte eine neue Polierung nötig, so matt und verblichen war es. Was genau er machte sah sie erst, als er sich zu ihr herumdrehte. In Händen hielt er – so zumindest vermutete es Evelyn – ein Instrument mit Bogen. 
 

Vorsichtig pustete er in den Klangkörper und Strich die Saiten frei von Schmutz und Staub. Den Blick auf das Instrument gerichtet, das aussah wie eine bauchige Violine, wartete sie, bis Ollivander sich gesetzt hatte. 
 

"Es ist eine Weile her, dass ich die hier ausgepackt habe", meinte er schmunzelnd, während er an den kleinen Wirbeln drehte und die Saiten stimmte. 
 

Evelyn bestaunte das Instrument, das in seiner Machart schlicht war. Wie er es hielt erinnerte sie es an ein Cello, nur war es um ein vielfaches kleiner. 
 

"Verzeihen Sie mir, wenn ich ein wenig eingerostet bin, meine Finger sind nicht mehr so flink, wie sie einst waren", meinte er entschuldigend, als er das Instrument in Position setzte.
 

Vorsichtig legte er den Bogen an und prüfte den Klang, bevor er erneut an den Wirbeln drehte. In Evelyns Ohren erinnerte sie das Instrument an eine Laute, aber sie war völliger Laie auf diesem Gebiet. Trotzdem konnte sie sagen, dass es weder den tiefen Klang eines Cellos, noch den klaren Ton einer Geige hatte. 
 

Sie räumte das restliche Essen ein wenig zusammen und stützte schließlich den Kopf mit ihren Händen auf dem Tisch ab darauf wartend, was Ollivander spielen würde. 
 

"Ich möchte Ihnen danken, Evelyn", meinte Ollivander schließlich, den Bogen von sich gestreckt und bereit zu beginnen. "Ich hätte nie gedacht, dass ich Yule noch einmal feiern würde." Seine Augen waren fest auf sie gerichtet, woraufhin sie nur lächelnd nicken konnte. Ihre Idee, an der sie schon gezweifelt hatte, schien doch nicht ganz falsch gewesen zu sein. Eine Wärme strömte durch Evelyn als sie sah, wie Ollivander sich für sie bereit machte zu spielen. 
 

Er räusperte sich, als auch schon die ersten Töne durch die Wohnung klangen. Es war ein langsames Lied, vielleicht auch nur, bis Ollivander wieder ins Spiel gefunden hatte. Sie glaubte, das Tempo wurde mit der Zeit schneller; so oder so gefiel es ihr. Womit er sie dann noch ein zweites Mal überraschte war, dass er begann zu singen. 
 

"The holly and the ivy, when they're both full grown. Of all the trees in the wood, the holly bears the crown..." Sie wagte nicht einen Ton zu sagen, sondern hörte ihm zu, wie er im Lied versank. Seine Stimme war nicht perfekt, brach hier und da, und doch genoss sie jede Silbe.
 

Zusammen saßen sie da, er mit dem Instrument und dem Lied auf den Lippen, und sie mit geschlossenen Augen, schweigend, bis Ollivander das Lied ausklingen ließ. 
 

"Sie sollten aus dem Fenster schauen, Miss Harris."
 

Ein wenig wehmütig, dass das Lied schon vorbei war tat sie, was er ihr vorgeschlagen hatte. Sie hatte geglaubt die Winkelgasse könnte nicht noch schöner werden. Als sie jedoch die leuchtenden Schlieren sah, die jedes Haus und die Gasse selbst sanft umgaben, wurde sie eines besseren belehrt. 
 

"Was ist das?", fragte sie Ollivander, der neben sie getreten war. 
 

"Die Banne werden erneuert." Sie erinnerte sich darüber gelesen zu haben. "Wir wollen doch nicht, dass jeder Muggel die Winkelgasse findet." Glucksend stand er neben ihr, die Arme hinter dem Rücken gefaltet, und betrachtete das Schauspiel, das Evelyn an goldene Nordlichter erinnerte.
 

Beinahe wünschte sie sich nun doch in den Tropfenden Kessel gegangen zu sein um zu sehen, was genau dort in diesem Moment passierte. Doch als Ollivander erneut sprach wusste sie, dass es die richtige Entscheidung gewesen war hier zu bleiben. 
 

"Fröhliches Yule, Evelyn."

Kapitel 44 - Fliegende Flucht

Der Rest der Ferien verging langsamer als gedacht und, möglicherweise auch langsamer als erhofft. Die meiste Zeit hatte sie in Ollivanders Wohnung verbracht, um den neugierigen Fragen und dem Geschwätz der Leute zu entgehen. Während der ersten Tage war sie vollkommen vom Brauen ihrer Tränken eingenommen worden, doch seit die in dutzenden Phiolen in ihrem Zimmer unter dem Bett verstaut waren, hatte sie Mühe sich zu beschäftigen. Die Hausaufgaben, die man ihnen über die Ferien aufgegeben hatten, hatte sie innerhalb eines regnerischen Nachmittages abgearbeitet, und nun hatte sie nichts weiter zu tun, als die Wohnung sauber zu halten. Doch den Boden, so schmutzig er auch war, konnte man nur sooft schrubben.

 

Unter dem Vorwand das leere Fass Guinness abzuholen, hatte Margaret Evelyn kurz vor Silvester besucht, obwohl sie sich darauf geeinigt hatten, dass es wohl unklug wäre sich zu oft zu sehen. In dem Moment war Evelyn aber froh um die Abwechslung gewesen.

"Ich gehe hier drin noch ein", meinte Evelyn müde. Sie hatte sogar schon daran gedacht der Muggelwelt einen Besuch abzustatten. London würde während der Weihnachtszeit sicherlich traumhaft aussehen, doch letztendlich hatte sich sie an ihre eigene Regel gehalten: die Muggelwelt war tabu.

 

Das schloss auch mögliche Jobangebote aus, obwohl sie bezweifelte, dass jemand eine 11-jährige anstellte.

 

"Du könntest einen Tag deine Tränke absetzen, ich geh mit dir aus. In der Nokturngasse gibt es einen tollen Nachtclub. Besseres Bier findest du in ganz London nicht. Auch wenn Tom gerne etwas anderes behauptet."

 

Evelyn senkte amüsiert den Blick. "Verlockend, aber du weißt, dass das keine gute Idee ist."

 

"Ach was, man sollte sich nicht immer an die Regeln halten."

 

"Sie sind eher Richtlinien", zitierte Evelyn mit erhobener Augenbraue, schüttelte dann aber den Kopf. "Wer hätte gedacht, dass du so rebellisch bist."

 

"Wer hätte gedacht, dass du dich in Englands bester Schule einschmuggelst?", gab Margaret zurück.

 

"Touché."

 

Sie schätzte Margarets Versuch sie aufzumuntern, allerdings hatte sie wohl selbst wenn sie ihre Tarnung nicht so strikt genommen hätte, ihr Angebot abgelehnt. Auszugehen war nicht gerade hoch angesiedelt auf ihrer Liste der Lieblingsaktivitäten, auch wenn es sich um einen Klub irgendwo in der Nokturngasse mit Namen Tanzender Hippogreif oder ähnliches handelte.

 

Sie hatte noch immer keinen Fuß in die Nebenstraße gesetzt und unter ihrem ersten Besucht stellte sie sich etwas anderes vor. Was genau, konnte sie nicht sagen, aber definitiv etwas anderes.

 

Margaret hob die Arme, ihre Niederlage akzeptierend. "Schön, dann lass mich wenigstens deine Haare machen, auch wenn du nicht ausgehen willst. Du siehst aus wie ein zweifarbiger Kniesel."

 

Unwillkürlich glitt Evelyns Hand an die Spitzen ihrer Haare. Die Farbe, mit der sie ihre dunklen Haare blond getönt hatte, hatte sich mittlerweile beinahe vollständig ausgewaschen.

 

"Blond steht dir nicht, Liebes", sagte Margarte, als sie bereits nach einer Strähne griff.

 

Was ihr stand war Evelyn ziemlich egal, immerhin sollte es nur der Tarnung dienen. Erneut wollte sie Margaret jedoch nicht vor den Kopf stoßen, weshalb sie nun klein beigab. "Wenn du magst, tob dich aus. Sie sind auch viel zu lang."

 

Empört öffnete Margaret den Mund. "Zu lang? Evelyn, du bist doch kein Junge."

 

Sie realisierte, dass Margaret sie gar nicht mit dem arg gekürzten Bob Schnitt gesehen hatte und schmunzelte daher über ihre eher konservative Meinung.

 

Letztendlich hatte sie Margaret schließlich doch noch, trotz Widerworte, dazu überreden können einiges abzuschneiden, und so hatte sie nun wieder recht kurze Haare, wenn auch in ihrer natürlichen Farbe. "Damit siehst du eher aus, als könntest du die Enkelin von Ollivander sein", hatte Margaret gemeint, obwohl Evelyn versucht hatte ihr zu erklären, dass das gar nicht relevant wäre.

 

Als sie gerade gegen die Wand gelehnt ein Buch las, was Ollivander ihr freundlicherweise geliehen hatte, ließ sie ein lauter Knall zusammen zucken. Ohne irgend eine Uhr zu haben, war es schwer einzuschätzen, wann genau es Mitternacht war, aber das nun große Feuerwerk, das über dem ganzen Himmel Londons zu sehen war, verriet ihr ohne Zweifel, dass das Jahr gerade zu Ende gegangen war. Sie beobachtete einige Minuten das Schauspiel, das den finsteren Nachthimmel erstrahlen ließ, kam aber nicht umhin Vergleiche zu den Ritualen zu ziehen, die sie in den letzten Wochen sehen durfte. So schön das Feuerwerk auch war, im direkten Vergleich mit Samhain und den tanzenden Lichtern, war es geradezu langweilig und mickrig.

 

"Ah, die Muggel machen wieder Radau", meinte Ollivander, der hinzugestoßen war. "Wahrlich eigenartig. Jedes Jahr aufs Neue feiern sie den Jahreswechsel derart ... aufdringlich. Man könnte meinen das ganze Spektakel hätte keinen anderen Sinn als möglichst laut zu sein." Amüsiert steckte er die Hände in die Taschen seiner Hose und beobachtete den Himmel.

 

Evelyn grinste und brachte es nicht fertig ihm zu erzählen, dass das in der Tat der einzige Grund war.

 

Einige wenige Zauberer standen wie sie am Fenster und warteten, die Köpfe Richtung Himmel erhoben, bis die Muggel ihr Feuerwerk beendet hatten, was lange genug dauerte. Auch wenn das meiste vorbei war, durchbrachen immer wieder vereinzelte Raketen die nächtliche Ruhe, sodass weder Evelyn, noch Ollivander wirklich ans Schlafen dachten. Bei Kerzenlicht saßen sie im Wohnzimmer und lebten stumm nebeneinander her. Während Evelyn zu ihrem Buch gegriffen hatte, arbeitete Ollivander an kleinen Holzstückchen, wobei er ein dickes Glas vor eines seiner Augen gespannt hatte, wodurch er Evelyn ein wenig an Mad Eye Moody erinnerte.

 

"Werden Ihre Augen nicht müde?", fragte sie ihn irgendwann, als sie selbst spürte, wie ihre Sehkraft nachließ. Mit den Fingern rieb sie sich die Augen und legte das Buch weg.

 

"Diese Kleinigkeit hält mich nicht davon ab gutes Holz zu bearbeiten."

 

Natürlich nicht, dachte Evelyn und sah ihm einige Minuten dabei zu, wie er mit einem dünnen Messer langsam immer tiefere Rillen zog, in immer derselben Bewegung. Es erstaunte sie immer wieder, wie geschickt Ollivander mit den Werkzeugen umging, ohne dabei auch nur im geringsten zu zittern.

 

"Was tun Sie da, wenn ich fragen darf? Das sieht mir nicht, wie ein Zauberstab aus."

 

Ollivander war umringt von vielen kleinen Holzstückchen, Bändern und allerhand filigranen Messern.

 

"Oh, das werden Sie bald sehen", antwortete er zwinkernd, ehe er sich streckte. "Allerdings muss ich zugeben, dass es in der Tat schon spät ist." Er verstaute das Messer, das Evelyn eher an ein Skalpell erinnerte, in einem Etui und ließ den Rest mit einer Handbewegung verschwinden. Alles, was auf dem Tisch lag, flog in die nächst beste Schublade der Kommode.

"Ist das Buch hilfreich?", fragte er, während er das Glas vor seinem Auge abnahm.

 

Bereits kurz nach ihrer Ankunft hatte er ihr das Buch aus seiner eigenen Sammlung gegeben in der Hoffnung, es könnte ihr mit ihrem Zauber-Problem helfen. Es beschrieb einfache Vorgänge unkomplizierter Zauber, zumindest in der Theorie.

 

"Nun, es ist definitiv interessant eine Erläuterung nach einem anderen Prinzip als dem "Spruch-Konzentration-Wirkung"-Schema zu lesen, allerdings wäre es deutlich besser, wenn ich einiges gleich ausprobieren könnte", sagte Evelyn. "Ich will aber nicht riskieren irgendwo im Ministerium eine Alarmglocke zu läuten, wenn ich die Spur austeste." 

 

Ollivander hielt inne. "Die Spur?" Sofort hallte sein Lachen durchs Wohnzimmer. "Wo haben Sie dieses Märchen denn gehört. Ich bezweifle, dass der Tränkemischer, der sich ihr Hauslehrer schimpft, Ihnen die Spur vorgehalten hat."

 

Irritiert schüttelte sie den Kopf. "N-nein, hat er nicht. Professor McGonagall hat uns mehrmals darauf hingewiesen, dass ... Märchen?" Sie dachte an die etlichen Male zurück, als McGonagall sie nach ihrem Unterricht daran erinnerte außerhalb Hogwarts' nicht zu zaubern.

 

"Minerva", sagte er mit einem schweren Seufzer in der Stimme. "Es sind Momente wie diese, die sie zu einer wahren Gryffindor machen." Schmunzelnd streckte er eine Hand aus und wartete, bis Evelyn sie ergriff. Seine Finger waren schwielig von jahrelanger Arbeit mit Holz und anderen Materialien, trotzdem waren sie warm.

 

"Kind, die Spur existiert nicht. Nicht wirklich."

 

"Was soll das heißen, sie existiert nicht?" Die Spur war nichts Unbekanntes für Evelyn, im Gegenteil. Meistens hatte sie McGonagall nicht einmal zugehört, wenn sie ihre Laier vorgetragen hatte: eine geschriebene Regel die besagte, dass das Zaubern für minderjährige außerhalb der Schule nicht gestattet war.

 

"Gerade Ihnen, die Monate mit Slytherin verbracht hat dürfte doch aufgefallen sein, dass die Spur nichts weiter als eine große Farce ist."

"Ist mir nicht aufgefallen." Zugegeben, möglicherweise wäre es ihr aufgefallen, wenn sie darauf geachtet hätte, aber es gab durchaus andere Dinge, die ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten.

 

"Wie stellen Sie sich das vor, dass es funktionieren würde?"

 

"Nun ich denke, die Spur wird ... mh." Sie überlegte, wie genau die Spur auf die Kinder kommen könnte, im selben Atemzug fielen ihr aber mehrere Argumente dagegen ein.

 

"Lassen Sie mich an ihren Gedanken teilhaben", bat Ollivander, dem es sichtlich Spaß machte Evelyn zu reizen.

 

"In Ordnung. Zuerst dachte ich, die Spur kommt direkt bei der Geburt auf die Kinder, wobei das ganz schön schwer wäre, wenn es sich um Muggelgeborene handelt. Demnach müsste es etwas sein, mit dem jeder magisch Begabte geboren wird, aber ..." Sie stockte.

 

"Aber?"

 

"Bevor man nach Hogwarts geht, erlebt jeder Magie, naja zumindest sollte sie jeder unbewusst eingesetzt haben; Dinge schweben oder der ein Glass verschwinden lassen." Sie erinnerte sich an Harrys erste Zeichen, die er in Mitten einer riesigen Ansammlung von Muggeln gezeigt hatte, dafür aber nie bestraft worden war. "Der Alarm – ich nenne es Alarm – im Ministerium würde in dem Fall nie still stehen."

 

"Weil Kinder bis im Alter von elf ihre Magie nicht kontrollieren können." Ollivander beobachtete sie, nun mit wachen Augen trotz später Stunde.

 

Es dauerte einige weitere Sekunden, bis Evelyn sich an ein weiteres Detail erinnerte und sie begann zu grinsen. "Die Spur ist unzuverlässig. Sie kann nur den Ort bestimmen, wo Magie ausgeübt wird."

 

Ollivander schlug mit der flachen Hand sanft auf den Tisch und nickte. "Absolut korrekt. Das heißt, selbst wenn sie existieren würde ...?" Er ließ die Frage offen, damit Evelyn sie beantworten konnte.

 

"Würde es hier in der Winkelgasse niemandem auffallen, wenn ein Minderjähriger zaubert, weil es zu viel Magie gibt."

 

"Wieder korrekt." Er lehnte sich zurück und hat nun wohl beschlossen den Rest der Erklärung zu übernehmen. "Die Spur ist eine Erfindung des Ministeriums. Verstehen Sie mich nicht falsch, es soll tatsächlich eine Abteilung geben, die Magieausübung ermitteln kann. Doch das hat nichts mit den Kindern an sich zu tun." Er legte den Kopf schief und sah sie von unten heraus an. "Es ist weitaus einfach ein Muggelhaus auf Magie zu überwachen, als einer ganze Horde Schüler einen ominösen Zauber aufzulegen. Wann soll das passieren; wenn sie durch den Torbogen zu Gleis 9 ¾ gehen?" Er lachte über seinen eigenen Vorschlag, und verstummte schließlich.

 

"Es geht also hauptsächlich darum, Muggelgeborene davon abzuhalten, zu zaubern?"

 

Ollivander nickte. "Davon darf man ausgehen. Ich bezweifle, dass Lucius Malfoy seinem Sohn verbieten würde Zuhause zu zaubern, genauso wenig wie irgendein anderes Elternteil ihrer Hauskameraden."

 

Sie dachte daran zurück, wie einige von ihnen bereits vor Schulbeginn den ein oder anderen Zauber beherrschten, was Ollivanders Vermutung nur bestätigte, und nickte.

 

"Magie ist durchaus gefährlich, weshalb manche für sich selbst entscheiden ihre Kinder nicht zaubern zu lassen, ehe sie nicht ausgebildet sind. Davon habe ich nie etwas gehalten." Er hob seine Hand einladen. "Sie dürfen also gerne ein wenig üben, wenn sie wollen."

 

Also, noch so eine Richtlinie, an der man sich orientieren kann, dachte Evelyn schmunzelnd, ehe sie sich schließlich verabschiedete.

Tatsächlich verbesserte diese Entdeckung ihre Laune erheblich. Sie konnte nun die Zauber wiederholen, die sie bereits gelernt hatte und neue Dinge ausprobieren, über die sie im Buch gelesen hatte. Da sie sonst auch nichts zu tun hatte glaubte sie, dass sie sogar einige Fortschritte gemacht hatte. In zwei von fünf Versuchen schaffte sie es das Streichholz, das zum Fluch ihres Daseins geworden war, in eine Nadel zu verwandeln, auch wenn sie sich danach jedes Mal gefühlt hatte, als sei sie mehrmals um den See gerannt.

 

Ollivander versuchte sie zu unterstützen, wo er konnte, und zeigte ihr öfters eine Bewegung, oder verbesserte ihre Haltung. Seiner Meinung nach kam viel Magie auch aus dem Bauch heraus. Mittlerweile hatte sie so viele Tipps und Tricks zum Verbessern der eigenen Fähigkeiten gelesene, dass ihr der Kopf schwirrte, und sie nicht mehr wusste, was nun richtig und was falsch war.

 

Irgendwann war die von Millicent angekündigte Eule, mit einem langen Brief, gekommen. Die Eule, ein großes Tier mit orangenen Augen, schien von Millicent den Auftrag bekommen zu haben erst dann zu fliegen, bis Evelyn eine Antwort geschrieben hatte. Den ganzen Morgen über war ihr die Eule nachgehüpft und hatte auf ihre Hand gepieckt, bis sie endlich ein Stück Pergament nahm und begonnen hatte zu schreiben.

 

Die Worte musste sie sich aus den Fingern ziehen, speziell da sie ihr kaum berichten konnte, was sie wirklich alles getan und erlebt hatte. Stattdessen hatte sie sich darauf beschränkt von Yule zu erzählen, wie es von Millicent gewünscht worden war, und fügte auch etwas über den "Muggellärm" hinzu, ohne es Silvester zu nennen. Am Ende beschwerte sie sich über die Hausaufgaben, und wie sie für die Stunden gebraucht hatte, ohne fertig zu werden. Eine Lüge, aber nachdem sie in Millicents Brief etwas Ähnliches gelesen hatte, hielt sie es für klug sich an diese Version zu halten.

 

"Haben Sie alles, was Sie benötigen?", meinte Ollivander nur wenige Stunden vor ihrer Abfahrt.

 

"Ja, danke. Die Tränke habe ich in meinem Zimmer untergestellt, nachdem Sie sie mit einem Stasis verzaubert hatten. Danke, nochmal."

 

"Nicht dafür."

 

"Ich nehme genug mit, um mich mindestens drei Monate halten zu können, aber ich schreib Ihnen rechtzeitig, damit sie mir gegebenenfalls etwas schicken können."

 

Sie standen im Wohnzimmer, Evelyns spärlich gepackte Tasche griffbereit und der Setzling, der sich in den zwei Wochen prächtig entwickelt hatte, daneben. Ihr Blick fiel auf den Kamin, wo bereits das Feuer loderte, um sie nach Euston zu bringen. Sofort spürte sie einen Stich in den Magen wenn sie daran dachte, erneut die Reise mit dem Flohpulver hinter sich bringen zu müssen. Wenn sie die Wahl hätte, würde sie im Gegensatz zu Malfoy immer die elf Stunden Fahrt im Zug dem Flohpulver vorziehen.

 

Sie riss sich los und konzentrierte sich auf Ollivander, der verdächtig still war. "Bald haben Sie wieder Ruhe", meinte sie schmunzelnd, woraufhin Ollivander den Kopf schüttelte.

 

"Hören Sie auf so zu denken. Sie sind keine Bürde, Evelyn." Er setzte sich leicht stöhnend auf einen Sessel und bat Evelyn mit einem Winken, sich zu nähern. "Bevor Sie gehen, möchte ich noch etwas sagen. Das stand lange genug zwischen Ihnen und meiner Person."

Überrascht kam sie der Aufforderung nach und setzte sich vor ihm auf den Boden, die Knie angewinkelt.

 

"Ich bin überzeugt, dass Sie während Ihrer Zeit in Hogwarts Dinge über mich gehört haben dürften." Schnell hob er die Hand. "Das halte ich Ihnen nicht vor, ich bin nur realistisch, angesichts Ihrer ... nunja, Angesichts Ihres Umfelds."

 

Evelyn schluckte schwer, ließ ihn aber weiter reden.

 

"Ich denke, der Name 'Gaila' ist ihnen nicht fremd."

 

Bei der Erwähnung seiner Tochter zog Evelyn scharf die Luft ein, woraufhin Ollivander nickte. Ihre Reaktion war Antwort genug auf seine Vermutung. "Mr Ollivander, ich wollte Sie nicht-"

 

"Es ehrt Sie, dass sie mich nicht darauf angesprochen haben. Ungesagt können wir es aber nicht auf ewig belassen, oder?" Er lächelte sie an, doch es wirkte gezwungen. Ein Bild, das Evelyn schmerzte.

 

Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Natürlich war dies ein Thema, das ihr ständig im Hinterkopf geschwebt war und das ihre Neugier anfachte, doch gleichzeitig fürchtete sie sich auch vor genau diese Konversation. Vor genau diesem Anblick eines verletzten Ollivanders, der schmerzliche Erinnerungen aufleben lassen musste.

 

"Mr Ollivander, Sie müssen nicht-"

 

Wieder unterbrach er Evelyn. "Ich muss nicht, aber ich möchte." Er nahm sich kurz zeit sich zu sammeln, was Evelyn ihm gerne zugestand, ehe er sprach. "Um es kurz zu machen, und ich bin sicher so ist es uns beiden lieber: ja, ich habe meine Tochter vor ihrer Zeit gehen lassen müssen. Falls dies in Ihnen den Eindruck erweckt haben sollte, dass ich Sie als Ersatz sehe, so möchte ich mich ausdrücklich entschuldigen."

"Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich weiß, dass Sie das sicherlich nie so gesehen haben."

 

"Wissen Sie, Evelyn, genau das war aber der Fall", meinte er schwach lachend. "Ihnen ist sicherlich nicht bewusst, wie sehr sie meiner Gaila ähneln."

 

Ihr ähneln?, schoss es ihr durch den Kopf, woraufhin sie sofort beschämt den Blick senkte.

 

"Es gab eine Zeit, da habe ich in jeder jungen Frau meine Tochter gesehen", fuhr Ollivander fort. "Damit habe ich mehr als nur mir geschadet." Die Stille, die für gewöhnlich in seiner Wohnung herrschte, wirkte nun nur noch erdrückender. "Ich habe vieles mit meiner Tochter verloren, doch man lernt, sich zu arrangieren. Dann, plötzlich, standen Sie in meinem Laden. Denselben Blick in Ihren Augen, voller Wunder und Ehrfurcht. Eine kindliche Seele, auf der Suche nach Führung."

 

Evelyn wagte es nicht ihn zu unterbrechen, doch sie spürte wie ihre Augen zu brennen begannen. Seine Erzählung ging ihr nah.

"Wie konnte ich Ihnen die Führung und Hilfe verweigern, die Sie so dringen benötigten. Dann hat sie ihr Stab ausgewählt, stellen Sie sich meine Verwunderung vor." Sie zwang sich sein schwaches Lächeln zu erwidern, fühlte sich aber elend.

 

"Es war so leicht die Grenze zu überschreiten, immerhin wusste ich nichts über Sie. Nur dass Sie ... plötzlich da standen und Freude in das Leben eines alten, törichten Mannes gebracht haben."

 

In diesem Moment öffnete Evelyn den Mund. Sie überlegte ernsthaft ihm alles zu erzählen, sich anzuvertrauen, so wie er es gerade tat; ihm die Wahrheit über sich zu sagen. Doch sie schloss ihn wieder, nur um etwas anderes zu erwidern. "Sie müssen sich nicht entschuldigen, Mr Ollivander."

 

"Dass sie meiner Gaila so ähneln, hat möglicherweise damit zu tun, dass kann und will ich nicht bestreiten. Sie verdienen die Wahrheit." Er lehnte sich vor und strich ihr über den Kopf, was Evelyn nur noch mehr ins schlechte Gewissen trieb. Er redete, damit sie die Wahrheit erfuhr, und sie saß da und hielt ihn gezielt im Dunkeln. "Nichtsdestotrotz habe ich Sie ins Herz geschlossen, Evelyn. Sie als Person. Das dürfen Sie nicht vergessen."

 

"Danke, Mr Ollivander", brachte sie gebrochen hervor.

 

Kurze Zeit später lehnte er sich in den Sessel und atmete aus, was Evelyn vorkam, als sei er erleichtert.

"Wären Sie so gut mir ein Glas Wasser zu bringen?", bat er sie, worauf sie ohne zu zögern aufsprang und seiner Bitte nachkam. Sie war froh wenigstens kurz den Raum verlassen zu können, um sich zu sammeln.

 

Sie selbst gönnte sich einen großen Schluck Wasser, ehe sie sich gegen die Spüle lehnte. Nun war sie umso erleichtert nach Hogwarts fahren zu können. Ollivanders Beichte mag für ihn befreiend gewesen sein, doch in ihr nagte nun zusätzlich Zweifel, ob es Richtig war, sich in sein Leben zu drängen.

 

Kapitel 45 - Wenn der Rubel rollt

 

Ihre zweite Reise zur Plattform verlief deutlich schneller, auch wenn sie die Nachwirkungen des Flohpulvers noch spürte. Ohne einen zweiten Blick auf das regnerische London zu werfen, das nur noch grau und schmutzig ohne Schnee vor ihr lag, eilte sie hinein in den Bahnhof, vorbei an den Muggeln und durch die Mauer aufs Gleis, wo sie direkt in eine Menschenmenge stolperte. Ollivander hatte sie nicht begleitet, da er sich nach ihrem Gespräch nach eigener Aussage zu erschöpft gefühlt hatte, was Evelyn ihm nicht verübelte.

 

Ihr Ziel war der Zug, in den sie so schnell wie möglich einsteigen wollte. Auf ihrem Weg schaute sie rechts und links in die Gesichter der umstehenden Menschen auf der Suche nach ihr familiären Personen, gab es aber recht schnell auf irgendjemanden finden zu wollen.

Erleichtert endlich für die restlichen Monate des Schuljahres nach Hogwarts zurückkehren zu können, ließ sie sich in ein leeres Abteil fallen, die Stirn gegen die kalte Scheibe gelehnt mit Blick über die Menge, die sich noch auf dem Gleis tummelte. Sie spürte die leichten Vibrationen der Dampfmaschine, die nur darauf wartete losfahren zu dürfen. Evelyn erging es ähnlich.

 

Das Gespräch mit Ollivander hatte ihr emotional arg zugesetzt, und belastete sie noch immer schwer. Sie machte Ollivander keinen Vorwurf, wie könnte sie auch nach allem, was sie von ihm gehört hatte. Dass sie sich nicht wohl dabei fühlte in seinen Augen möglicherweise nur ein Ersatz zu sein, stand außer Frage, wenn es ihn aber wenigstens kurze Zeit glücklich machte, würde sie das in Kauf nehmen. Es war das mindeste, was sie für ihn tun konnte.

 

Sie seufzte und schüttelte den Kopf über ihre eigene Lüge. "Red dir das nur ein, Mädchen." Die Worte kamen leise aus ihrem Mund, an niemand anderen gerichtet als an das eigene Spiegelbild, das sie im Fenster unscharf erkannte.

 

Langsam schälte sie sich aus ihrem dicken Mantel, der sie bis jetzt vor dem eisigen Wind der Großstadt geschützt hatte und beobachtete das Treiben unter ihr mit wenig Interesse. Ihre Finger strichen dabei über den weichen Stoff. Auch dieser Mantel hatte einst Gaila gehört, da war sich Evelyn sicher, auch wenn Ollivander ihre Vermutung nie bestätigt hat.

 

Sie war nicht Gaila, und sie würde es auch nie sein, egal was Ollivander sich vorstellte. Egal wie oft sie sich sagte, dass ihr vor allem Ollivanders Wohl am Herzen lag, letztendlich wusste sie, dass es gelogen war. In Wahrheit hatte sie keine Alternativen, zumindest keine in der sie sich nicht von Ollivander entfernte; der einzigen Unterstützung, die sie in dieser Welt hatte. Sie brauchte ihn und seine Hilfe, die er ihr anbot, und dafür würde sie einiges in Kauf nehmen.

 

Kurzerhand schmiss sie den Mantel auf die Gepäckablage und konzentrierte sich wieder auf die fröhlichen Gesichter außerhalb des Zuges. Familien nahmen Abschied, herzten ihre Kinder und nahmen ihnen das Versprechen ab ihr bestes in der Schule zu geben. Sie musste die Gespräche nicht hören um zu wissen, dass dies genau die Art der Konversationen war, die die meisten gerade führten.

 

Ihr Blick fiel auf eine leere Stelle etwas weiter links von ihr, wo eine Frau gerade ihren Sohn umarmte. Die Leute um sie herum gaben ihr wie selbstverständlich mehr Raum, als sie benötigte, so als würde ihre schiere Präsenz alle Anwesenden daran erinnern, wo ihr Platz war. Sie erkannte den Blondschopf, der die öffentliche Zurschaustellung von Zuneigung nur widerwillig entgegennahm. Es bedarf nicht viel um zu verstehen, dass die hochgewachsene Frau seine Mutter, Narzissa Malfoy, sein musste.

 

"Papa hat dich wohl nicht flohen lassen", meinte Evelyn leicht schadenfroh, wobei Lucius nirgends zu sehen war. Nur Draco mit seiner Mutter, die ihm zärtlich über die Haare fuhr.

 

Jede ihrer Bewegungen war sorgfältig ausgeführt, ihre Haltung in ihrem fein bestickten Robenkleid gekonnt einstudiert, ohne dabei kostümiert zu wirken. Sie wusste um ihren Namen und um ihre Ausstrahlung, das sah Evelyn ihr an.

 

Draco gab sich Mühe neben seiner Mutter zu bestehen, doch ihm fehlte die natürliche Ausstrahlung, die manche als Schönheit bezeichnen würden. Noch war er nur ein Junge, dem es wohl zuwider war in den Zug einzusteigen.

 

Während sie diese beinahe normale Szene zwischen einer Mutter und ihrem Sohn betrachtete, hätte sie beinahe die Bewegung zu Füßen von Narzissa nicht bemerkt.

 

Große Augen schauten ehrfürchtig hoch zum Zug, neben dessen schiere Größe der Hauself sich geradezu mickrig fühlen musste. Weder Narzissa noch Draco achteten auf Dobby, wie er an Fetzen seines alten Geschirrtuches spielte und sich langsam von ihnen entfernte. Evelyn behielt den Hauselfen im Auge, der sich von Neugier getrieben tapsig dem Zug näherte.

 

Manchmal verschwand er in der Menge, nur um wenige Sekunden später wieder aufzutauchen. Evelyn hatte Probleme ihm zu folgen, da er sich durch die Menschenmasse bewegte, ohne Aufsehen zu erregen, bis er direkt vor dem Ungetüm stand, das ihm den Dampf ins Gesicht blies.

 

Er stand direkt unter Evelyns Fenster, die schmunzelnd beobachtete, wie Dobby sich den Staub aus den Augen blinzelte.

 

Plötzlich trafen sich ihre Blicke, woraufhin Dobby aus Schreck den Kopf einzog und trotzdem ds Mädchen im Zug fixierte. Er schien nicht damit gerechnet zu haben beobachtet worden zu sein und fühlte sich nun ertappt. Sekundenlang bewegte sich keiner der beiden, bis Evelyn sich ein Herz fasste und die Hand hob, um ihm freundlich zu winken.

 

Als schien es ein Befreiungsschlag zu sein straffte sich Dobby, die Ohren spitz nach oben gestreckt, und erwiderte Evelyns Geste. Sie hauchte gegen das Fenster, sodass ihr Atem an der Scheibe kondensierte. Schnell, bevor das Wasser verdunstete, schrieb sie zwei Buchstaben hinein, damit Dobby sie lesen konnte: "Hi."

 

Der Hauself hüpfte, so als ob er kichern würde, ehe er verlegen seine knöchrigen Finger in sein Geschirrtuch vergrub. Ob Hauselfen überhaupt im Stande waren zu lesen, konnte Evelyn nicht mit Sicherheit sagen, aber Dobby hatte so oder so seinem Verhalten nach zu urteilen verstanden.

 

Ihr gemeinsamer Moment währte nur kurz. Ein Gewicht an ihrem Hals und zwei Arme, die sich um sie schlangen, forderten ihre Aufmerksamkeit. Sie sah nicht, wer sich leise quietschend auf sie geschmissen hatte, hatte aber eine gute Vorstellung davon, wer es sein konnte.

 

"Schön auch dich zu sehen, Millicent", sagte sie atemlos, weil Millicent ihr mit ihrer Begrüßung die Luft aus den Lungen presste. Schnell gab Millicent Evelyn etwas Raum und strahlte sie nun fröhlich an.

 

"Hier steckst du also, dachte mir doch, dass ich dich in den Zug habe gehen sehen." Sie streckte ihren Arm aus und zog sanft an Evelyns Frisur. "Deine Haare, du siehst anders aus."

 

"Ein wenig. Man hat mir gesagt, so ist es besser."

 

Millicent schien es egal zu sein, ob Evelyn nun blond oder brünett war, und statt etwas zu erwidern verstaute sie lieber ihre Tasche, die Evelyn größer vorkam, als noch vor zwei Wochen. Kurz schielte sie aus dem Fenster, die geschriebenen Buchstaben darauf waren bereits verschwommen und nur noch schwach zu sehen. Dobby war verschwunden.

 

Mit Millicents Eintreffen kündigte sich eine baldige Abfahrt an, da sich der Zug nun schlagartig füllte. Draco war einer der ersten, der sich zu ihnen gesellte, wobei er für jeden nur einen schlecht gelaunten Blick übrig hatte. Im Abteil wurde es schnell enger und spätestens mit Goyles Erscheinen, der beinahe für sich alleine eine Bank beanspruchte, wurde es eindeutig zu kuschelig. Die letzte, die sie fand, war Daphne, die erst in das Abteil stieß, als sie bereits London hinter sich gelassen hatten, allerdings nahm das Evelyn zum Anlass die Gruppe ein wenig aufzulösen.

 

"Bleib stehen", sagte sie zu Daphne, die bereits verzweifelt nach einem kleinen Platz für sich gesucht hatte. "Wir suchen und ein eigenes Abteil."

 

"Bleib doch hier, jetzt wird es doch erst richtig interessant!", protestierte Zabini, auf dem praktisch der ganze Crabbe saß. Evelyn ignorierte Zabinis scherzhaft gemeinten Einwand und verschwand mit Millicent und Pansy, die ihr folgten, hinaus auf den Gang.

 

"Und jetzt? Die meistens Abteile sind schon besetzt", sagte Daphne, die ihre Tasche mit beiden Armen hob. "Und die älteren Schüler werden uns nicht bei sich sitzen lassen."

 

Evelyn erinnerte sich an eine kurze Unterhaltung während ihrer ersten Fahrt, in der ein Drittklässler sie uncharmant des Abteils verwiesen hatte. "Wir werden schon etwas finden. So voll wird es schon nicht sein."

 

Gemeinsam marschierten sie los, doch Daphne sollte recht behalten. Egal wo sie hinkamen, es saßen bereits Schüler in den Abteilen, manchmal nur zwei, manchmal waren sie voll besetzt. Sie konnte sich gar nicht erinnern, dass so viele Schüler in die Weihnachtsferien gefahren waren.

 

"Man könnte meinen der Hogwarts-Express müsste seine Abteile magisch vergrößert haben", sagte Daphne müde.

"Hilft nichts, wir müssen uns irgendwo dazusetzen."

 

Daphne verdrehte unbeeindruckt die Augen nach Pansys Vorschlag, aber letztendlich konnte sie nichts erwidern, wenn sie nicht die ganze Fahrt über auf dem Gang stehen wollte.

 

Draußen zogen bereits die ersten Felder an ihnen vorbei und der feine Regen klatschte gegen die Scheibe. Das würde ihr Bild für die nächsten zehn Stunden sein.

 

"Hier sitzen nur zwei", flüsterte Millicent ihnen zu, die einige Meter hinter ihnen vor einer Tür stand und durch das getönte Glas spickte.

Evelyn zuckte die Schultern und mit Daphne und Pansy ging sie zu Millicent, die sich scheinbar nicht traute die Tür zu öffnen.

 

"Feigling", sagte Pansy und riss beherzt die Schiebetür zur Seite. Evelyn ahnte was kommen würde, und ehe Pansy, unfreundlich wie sie manchmal sein konnte, ihre Plätze aufs Spiel setzte, schob sie Evelyn an ihr vorbei und lächelte die zwei im Innern an.

 

"Dürfen wir uns dazu setzen, bitte?" Während sie sprach registrierte sie die Gesichter, die ihr mit entgeisterten Blicken entgegen starrten und es überkam sie ein Déjà-vu. Gutes Händchen, Millicent. Wirklich gutes Händchen.

 

"Eigentlich nicht", meinte Anthony Goldstein, der dieses Mal seine schiefen Zähne nicht in einem Lächeln zeigte. Mandy, die ihm gegenüber saß, nickte nur stumm, wobei Evelyn nicht sagen konnte ob das Nicken ihrer Frage, oder Anthonys Antwort gegolten hatte.

 

"Oh, stören wir etwa?", fragte Pansy hinter Evelyn, die nun ebenfalls einen Blick ins Abteil geworfen hatte. Evelyn verdeckte eilig mit ihrem Körper Pansys Blickfeld und versuchte es erneut.

 

"Ihr werdet uns gar nicht hören."

 

"Was ich gehört habe reicht mir schon völlig, danke. Meine Fahrt will ich eigentlich nicht mit einem Haufen Slytherin verbringen."

 

Daphne ballte die Hand zur Faust, ein Kommentar bereits auf den Lippen, während Millicent mit gesenktem Kopf von der Tür verschwand. Evelyn hielt sie am Handgelenk fest, die ihrerseits nun keinen Zwang mehr für Freundlichkeit sah. Sie schubste Millicent hinein, ehe irgendjemand reagieren konnte, und schloss hinter sich die Tür, als auch Pansy und Daphne sich gesetzt hatten.

 

"Na dann werden wir beide wohl oder übel die Existenz des anderen ertragen müssen, Goldstein."

 

Anthony sah sie eingeschüchtert an, als sie sich direkt neben die Tür setzte und ihre Tasche samt Setzling auf dem Boden abstellte. Evelyn schluckte und räusperte sich leise. In den letzten zwei Wochen hatte sie normal geredet, ohne ihre Stimme kindlich verstellen zu müssen. Sie realisierte, dass sie sich nach Anthonys überflüssiger Bemerkung vergessen hatte und einen dunklen Ton – den einer Erwachsenen – angewendet hatte.

 

Es herrschte daraufhin Ruhe in dem Abteil. Die zwei Ravenclaw starrten aus dem Fenster, während Evelyn, die Beine übereinander geschlagen, auf den Boden starrte. Pansy hatte irgendwann ein Schulbuch herausgeholt und versuchte trotz Fahrbewegung des Zuges etwas auf ein Pergament zu schreiben, was sie auf ihr Knie gelegt hatte. Millicent saß Evelyn gegenüber und schaute manchmal hinüber zu Pansy.

 

"Was machst du da eigentlich? Sind das Hausaufgaben?" Daphnes plötzliche Frage durchschnitt die verlegene Stille.

 

Mandy und Anthony warfen einen Seitenblick auf sie, ohne etwas zu sagen.

 

"Geschichte", klagte Pansy. "Dieser dumme Aufsatz."

 

"Hausaufgaben macht man normalerweise Zuhause", bemerkte Anthony selbstgefällig, was Daphne ebenso selbstgefällig mit einer Antwort erwiderte.

 

"Danke für deinen Einwand, Streber."

 

Evelyn glaubte bereits einschreiten zu müssen, doch die beiden waren genauso schnell ruhig, wie sie laut geworden waren. Pansy ignorierte das Geschehen und schrieb mit gequältem Gesicht weiter an dem Aufsatz. Es dauerte eine Weile, bis Millicent erneut einen Versuch machte ein Gespräch zu beginnen.

 

"Wie waren eure Ferien?"

 

Niemand riss sich darum mit dem Bericht anzufangen. Evelyn wüsste sowieso nicht, was sie ihr noch hätte erzählen können, schließlich hatte sie bereits alles in dem Brief geschrieben. Daphne wirkte, als wollte sie nicht in Anwesenheit Anthonys über ihr Privates reden.

"Gut", meinte sie nur, woraufhin Millicent, geschlagen über die kurze Antwort, nickte.

 

Evelyn verdrehte die Augen. Wenn das die nächsten Stunden so weiter ging, würde sie verrückt werden. "Das ist doch lächerlich", sagte sie leise und schaute Daphne an. "Erzähl, wie war dein Yule?"

 

Trotz Nachdruck, machte Daphne allerdings keine Anstalten etwas zu sagen.

 

"Soll ich ihn mit einem Muffliato belegen, damit du mir von deinen Ferien erzählst?"

 

Sie deutete auf Anthony, dem die Farbe aus dem Gesicht wich. Mandy, von der Evelyn gar nicht erwartet hätte, dass sie zugehört hatte, kicherte leise. Auch Daphne schüttelte amüsiert den Kopf.

 

"Als ob du Zauber-Niete einen Muffliato zustande bringen könntest."

 

Gespielt empört neigte sie den Kopf. "Wer sagt, dass ich in den letzten zwei Wochen nicht zum Profi geworden bin?"

 

Zufrieden stellte Evelyn fest, dass nun das Eis anfing ein wenig zu bröckeln.

 

"Dann fange ich lieber an zu erzählen, ansonsten muss der arme Anthony nach einem deiner missglückten Zauber noch ins St. Mungo, und das wollen wir doch nicht."

 

"Ich muss mir hier doch keine Drohungen anhören!" Anthony war aufgesprungen und suchte in seinem Mantel nach seinem Zauberstab, den er anscheinend nicht fand.

 

Bis auf ihn waren alle im Abteil ruhig geblieben. "Nein, Goldstein, das nennt man einen Scherz machen. Ich hatte geglaubt du lachst gerne, aber da habe ich mich wohl getäuscht", meinte Evelyn, ehe sie Daphne zuhörte, die nun endlich begann zu sprechen.

 

Von Minute zu Minute wurden die Mädchen gelöster, bis sie schließlich Anthony völlig ignorierten, der nur schmollend aus dem Fenster starrte. Irgendwann hatte Millicent Mandy mit ins Gespräch gezogen, die mit leiser Stimme ebenfalls von ihren Ferien erzählte. Evelyn hatte keine großen Berichte erwartet, und so sollte es auch bleiben. Alle schilderten mehr oder weniger das gleiche, selbst Mandy. Evelyn selbst blieb bei der Version, die sie Millicent in dem Brief geschrieben hatte, wobei sie sowieso lieber zuhörte, wie die Familien ihre eigenen Banne um ihre Anwesen erneuert hatten.

 

"-und das hat Astoria die Girlande runter gerissen", meinte Daphne schmunzelnd. "Vater ist ausgerastet, überall war Wachs. Sogar auf Astorias Gesicht, die fürchterlich geheult hat."

 

Die Mädchen lachten. Nachdem Daphne einmal angefangen hatte, hatte sie gar nicht mehr aufgehört, worüber Evelyn nur stumm lachen konnte.

 

"Wollen wir jetzt endlich mit den Geschenken anfangen?", meinte Pansy, die schon längst ihr Buch weggelegt hatte und nun in ihre Tasche griff.

 

"Glaubst du, du bekommst etwas?", fragte Daphne, allerdings tat sie es Pansy nach.

 

Ungläubig lehnte sich Evelyn zurück, während sie beobachtete wie jeder Päckchen hervor holte. "Geschenke?"

 

Millicent hob ihr eine kleine Schachtel entgegen. "Hier, für dich." Pansy drückte Daphne ebenfalls etwas in die Hand.

 

Sie schüttelte entgeistert den Kopf. Damit hatte sie nicht gerechnet. "Wofür? Nein, nein ich ..." Nichts war peinlicher als Geschenke zu bekommen, ohne selbst etwas für andere zu haben. Womit hätte sie das auch kaufen sollen?

 

"Wofür? Yule, natürlich. Glaubst du ich hätte kein Geschenk für dich?"

 

"Ja", meinte Evelyn ehrlich und starrte auf das Päckchen, das noch immer vor ihr Gesicht gehalten wurde.

 

"Nun nimm schon." Pansy hatte ihres bereits ausgepackt, was für Evelyn nach etwas aussah, das sie in die Haare machen konnte.

 

Evelyn druckste herum, doch Millicent warf es ihr irgendwann einfach entgegen, sodass sie es auffangen musste. Sie fühlte sich überrumpelt. An Geschenke jeglicher Art hatte sie gar nicht gedacht, vor allem weil Ollivander selbst keinerlei Anzeichen gemacht hatte.

 

Nun da sie es jedoch hatte, und Millicents Augen erwartungsvoll auf ihr ruhten, konnte sie sich nicht anders helfen, als es auszupacken. Kurze Zeit später hielt sie einen alten handflächengroßen Spiegel in den Fingern. Das Glas war fleckig und viel sehen konnte sie nicht.

 

"Ich habe auch so einen", erklärte Millicent und hob ihr das Gegenstück entgegen. Zwei Spiegel, die absolut identisch aussahen.

 

"Danke", brachte Evelyn hervor.

 

"Du sagtest doch, du hättest keine Eule. Mama hat sie für mich verzaubert. Du kannst hineinsprechen und ich bekomme die Sätze aufs Glas. Geht auch anders herum. Pass auf."

 

Sie demonstrierte es, indem sie direkt in den Spiegel hinein sprach, was Evelyn an ein Telephon erinnerte. Ihr Spiegel fing daraufhin an leicht zu vibrieren und im dreckigen Glas wurde dichter Nebel sichtbar, aus dem sich Wörter bildeten.

 

"Bekommen wir auch so eins?", wollte Daphne wissen, die neugierig auf Evelyns Spiegel starrte.

 

"Ich hatte nur zwei, tut mir leid."

 

"Nein, Millicent", versuchte es Evelyn erneut, allerdings wusste sie nicht wie sie den Mädchen erklären konnten, dass sie kein Geld hatte. Sicherlich zahlten ihre Eltern alles, oder aber sie bekamen Taschengeld. Sie konnte und wollte aber nichts von Ollivander annehmen, was für die Mädchen ohne Zweifel unverständlich wäre.

 

"Was ist los, Harris, du bist ganz weiß?", fragte Pansy, die ihrerseits Millicents Spiegel beschlagnahmt hatte. "Zu arm, um etwas zu schenken?"

 

Pansys Bemerkung war nicht ernst gemeint gewesen, doch trotzdem traf sie den Nagel auf den Kopf. "Ja, ja bin ich. Ich habe kein Geld."

 

Die Mädchen hielten überrascht inne. "Was soll das heißen?"

 

"Ollivander gehört zu den ältesten Familien Englands."

 

Wie erwartet traf ihr Geständnis auf Unverständnis. "Er sorgt für mich, aber ich wurde so erzogen, dass ich selbst für das arbeiten muss, was ich haben möchte." Eine bessere Erklärung fiel ihr für die Kinder aus sicherlich reichen Verhältnissen einfach nicht ein.

 

"Du hast also gar kein Geld?"

 

Verlegen verstummten alle, während Evelyn den Spiegel in ihrer Hand kreisen ließ. Irgendwann zuckte Millicent mit den Schultern und holte sich ihren Spiegel von Pansy zurück.

 

Anthony schien dies als die perfekte Gelegenheit zu sehen, zum ersten Mal auf dieser Fahrt sein verschmitztes Lächeln zu zeigen.

 

"Ein mittelloser Slytherin, hat man so was schon gehört? Pass ja auf, dass sich das nicht herumspricht", sein Ton ließ keinen Zweifel daran offen, dass er drohte selbst Anstoß für derlei Gerüchte zu werden. Gerüchte von denen er glaubte, sie wären für Evelyn von Belang. Als hätte sie keine größere Sorgen.

 

Unbeeindruckt runzelte sie die Stirn. "Sonst was, wissen alle, dass ich kein Geld habe? Du scheinst anzunehmen, dass mich das stört."

Anthony wirkte irritiert und suchte in den Gesichter von Daphne und Pansy nach etwas, mit dem er arbeiten konnte. Womöglich suchte er nach Schande in ihren Augen, oder nach Scham. "Aber du ... du wolltest nicht erzählen, dass ... wieso?" Ihm fehlten die Worte.

Kurz überlegte sie sie ihm den eigentlichen Grund für ihre frühere Nervosität zu nennen, entschied sich dann aber doch aus Mangel an Interesse dagegen. Daphne übernahm für sie das Wort.

 

"Dann ist sie eben mittellos, was interessiert dich das, Goldstein? Slytherin oder nicht. Haben wir hier etwa einen arroganten Ravenclaw vor uns sitzen?"

 

Pansy grinste. "Als ob das etwas Neues wäre."

 

Die arme Mandy sah aus, als würde sie ihren Kopf, der scharlachrot angelaufen war, am liebsten unter ihrem Mantel verstecken. Ein wenig tat sie Evelyn leid, da sie während der bisherigen Zugfahrt kein Problem mit Mandy gehabt hatte. Sie hatten sich sogar unterhalten.

Auch Anthony lief nun rot an, wodurch seine Ohren besonders hervorstachen. "Wie wäre es, wenn du in Gringotts einbrichst", sagte er an Evelyn gerichtet, "das wäre doch ganz euer Geschmack. Es soll in letzter Zeit ja einfach sein, sich dort zu bedienen."

 

Zweifellos sprach er den Einbruch an, der sich vor wenigen Wochen dort ereignet hatte und der für beinahe jeden Zauberer Englands noch ein großes Mysterium war. Selbst die jüngeren Schüler Hogwarts, die den Tagespropheten für gewöhnlich kaum mit dem kleinen Finger anfassten, hatten von dem Einbruch gehört. Immer wieder wurden neue Meldungen veröffentlicht, darüber wie die Auroren neuen Spuren nachgehen würden, die schließlich jedes Mal ins Leere verliefen. Evelyn war die Einzige, die ab und zu in einen Tagespropheten geschaut hatte, den jemand im Gemeinschaftsraum oder der Bibliothek hatte liegen lassen, auch wenn sie kaum erwartete die Schlagzeile zu lesen: "Verantwortlicher des Gringotts-Raubs festgenommen."

 

Evelyn lehnte sich nach vorne und stützte die Arme auf den Knien ab. "Weißt du, Anthony, das ist gar keine schlechte Idee." Überrascht glitten die Blicke aller Anwesenden auf sie. Selbst Pansy hatte mit so einer Reaktion Evelyns nicht gerechnet.

 

Wenn Anthony jedoch darauf bestand Häuservorurteile anzusprechen, würde Evelyn ihm etwas davon zurückgeben. "Du bist doch ein kluges Kerlchen, so als Ravenclaw. Da müsste dir klar sein, dass das eigentliche Problem ist aus Gringotts am Ende raus zu kommen. Drinnen ist man schnell." Sie achtete darauf mit ihrer kindlichen Stimme zu sprechen und nahm sich daher Zeit ihre Worte zu formulieren. "Dort unten wohnen Drachen. Manche von ihnen beinahe so alt wie die Verließe selbst. Angekettet und darauf abgerichtet jeden Unbefugten zu töten, der den Verließen zu nahe kommt. Weißt du, was unbefugt bedeutet?"

 

Der Ravenclaw wirkte nervös und unsicher. "Natürlich weiß ich, was das bedeutet. Du redest doch nur Quatsch. Drachen in Gringotts? Dass ich nicht lache."

 

Pansys Augen funkelten. "Dann macht es dir sicher nichts aus mit uns nachzusehen."

 

"Es war ja schließlich dein brillanter Plan", beendete Daphne. In der Stille, die daraufhin herrschte, konnte man deutlich Anthonys schweren Atem hören. Es dauerte nicht lange, bis er aufsprang und sich an ihnen vorbei zur Tür quetschte.

 

"Das würde ich euch auch noch zutrauen", meinte er leise, ehe er verschwand. Mandy folgte ihm stumm, den Blick gesenkt und darauf bedacht ihnen nicht in die Augen zu schauen. Scheinbar fühlte sie sich unwohl mit ihnen alleine im Abteil zurück zu bleiben.

 

"Da haben wir doch unser eigenes Abteil", verkündete Pansy triumphierend, die sich bereits auf der Sitzbank ausstreckte.

 

Die nächsten Minuten amüsieren sie sich über Anthonys Reaktion, was ihnen schon bald langweilig wurde. Evelyn hielt noch immer den Spiegel in der Hand, was der Auslöser für die ganze Szene gewesen war.

 

Sie erinnerte sich an Pansys Aussage, und wie sie vor Anthonys Partei für Evelyn ergriffen hatte und musste lächeln. Egal ob es nun ernst gemeint war oder nicht, es gab ihr ein gutes Gefühl. Seufzend steckte sie den Spiegel in ihre Tasche, wobei sie dankend in Richtung Millicent nickte, die mit einem Grinsen erwiderte.

 

Gleichzeitig suchte Evelyn in der Tasche nach ihren Aufzeichnungen, wobei ihr allerdings ein schwarzes Etui auffiel, das vor wenigen Stunden noch nicht dagewesen war. Unbemerkt von den anderen begutachtete sie das Etui in der Tasche, öffnete es jedoch trotzdem nicht. Ihr Name stand in silbernen Lettern darauf, was ihr eine Vorstellung gab, von wem das Etui stammte. Heute keine Überraschungen mehr, Ollivander, dachte sie und griff stattdessen zu den Pergamenten. Das Etui würde sie später öffnen, wenn sie in Hogwarts eine ruhige Minute für sich haben würde. Und wenn sie das Gefühl hatte mit dem Inhalt des Etuis konfrontiert werden zu können.

 

"Hier nimm, du willst es doch haben", meinte sie an Pansy gerichtet, die bereits gierig auf die Notizen starrte, die ihr Evelyn hin schob.

 

"Ich dachte schon, du würdest nie Mitleid mit mir bekommen."

 

Millicent beobachtete, wie Pansy erneut ihre unfertigen Hausaufgaben aufschlug, um nun mit Evelyns Aufschrieben zu arbeiten. Tatsächlich setzte sich Daphne nun neben sie und schien ihre eigenen Aufschriebe zu verbessern.

 

"Wie du bei dem senilen Geist aufpassen kannst, ist mir ein Rätsel", sagte Daphne, den Blick auf das Pergament gerichtet. Evelyn hob schweigend die Augenbrauen und ließ sie im Glauben, dass ihre Notizen aus dem Unterricht stammten.

 

Es war Pansy, die daraufhin das Wort ergriff. "Mir ist es egal wie sie es macht, Hauptsache sie teilt mit uns."

 

Nun, da es mehr Raum für sie alle im Abteil gab, rutschte Evelyn an den Platz am Fenster und lehnte sich mit dem Rücken an, sodass sie die Mädchen beobachten konnte. Anthony und Mandy würden sicherlich irgendwann zurück kommen, immerhin waren ihre Sachen noch da. Noch würden sie aber ein wenig Ruhe haben.

 

Seine Reaktion hatte sie ehrlich überrascht. Sie hatte ihn als offenen und heiteren Jungen kennengelernt, umso enttäuschter war sie nun auf seine ablehnende Haltung ihnen gegenüber. Während die anderen ihre Köpfe in die Bücher steckten, versuchte sie in ihren Gesichter herauszulesen, wie sie die Situation empfunden hatten, doch sie wirkten unverändert.

 

Daphne atmete schwer aus und schaute zu Evelyn auf. "Du hast nicht zufällig auch die Aufgaben für Sinistra schon gemacht, oder?"

Millicent boxte Daphne spielerisch gegen den Arm. "Macht eure Sachen doch zur Abwechslung selber."

 

"Machen wir, Evelyn gibt uns nur ein paar Inspirationen", verteidigte Pansy sich, wobei sie konzentriert die Feder über das wackelnde Pergament gleiten ließ.

 

Daphne strahlte über das ganze Gesicht, als Evelyn ihr die Aufgaben gab, um die sie gebeten hatte. "Ganz ehrlich, Harris, egal ob du Geld hast oder nicht. Allein wegen deinen Notizen bist du Gold wert."

 

Da das Lob von Daphne kam, wusste sie es durchaus zu schätzen. "Wenn meine Sachen nur wirklich Gold wert wären", scherzte sie zwinkernd, ehe sie sich wieder gegen die Wand des Zuges lehnte. Sie merkte nicht wie Millicents Augen mit jeder Sekunde größer wurden, bis sie schließlich die Notizen direkt unter Pansys Nase wegzog, die mehr als ärgerlich reagierte.

 

"Ich bin noch nicht fertig, Bullstrode, stell dich hinten an!"

 

"Was wären dir Evelyns Aufschriebe wert?", fragte Millicent ungewohnt schelmisch, während sie das Pergament weit außerhalb Pansys Reichweite hob. Irritiert von Millicents plötzlichem Benehmen runzelte Evelyn die Stirn.

 

"Was wird das, Millicent?"

 

Als Antwort bekam sie zunächst nur ein Grinsen. "Es ist eine ganz einfache Frage: was wären euch die Aufschriebe wert?"

Drei Augenpaare starrten ungläubig in Millicents Richtung, die geduldig auf eine Reaktion wartete. Als die jedoch ausblieb, fühlte sie sich gezwungen ihr Handeln zu erklären.

 

"Habt ihr nicht gehört, was Evelyn gesagt hat? Man muss selbst für etwas arbeiten, was man haben möchte." Sie wedelte zur Bekräftigung ihrer Worte mit dem Papier. "Das hier ist Evelyns Arbeit, die ihr euch verdienen müsst."

 

Nun hatte Evelyn das Gefühl einschreiten zu müssen. "Nein, Millicent, das ist in Ordnung." Nur zu gut erinnerte sie sich an die dicke Luft während der ersten Tage, nachdem sie aus einem Impuls heraus den anderen ihre Hilfe verwehrt hatte. Millicent war es gewesen die ihr geraten hatte ein wenig auf die anderen zuzugehen, und nun wollte sie, dass sie das Gegenteil machte?

Auch Pansy und Daphne wirkten verwirrt. "Verdienen?"

 

"Merlin, sag endlich was du willst!"

 

Erneut erschien ein schelmisches Lächeln auf Millicents Lippen.

 

"Fünf Sickel, pro Blatt."

 

Geld? "Millicent, hör zu, gib ihr einfach das Pergament", versuchte Evelyn die Lage zu entschärfen aus Angst vor einem möglichen Streit. Umso schockierter war sie, als sie von Daphne nur einen abschätzenden Seitenblick erhielt, ehe diese antwortete.

"Ein Sickel", meinte sie, was Pansy mit einem Nicken bekräftigte.

 

Schockiert öffnete evelyn den Mund, asu dem aber keine Worte kamen.

 

"Ein Sickel? Mehr ist sie dir nicht wert? Vier", war Millicents neue Forderung, ehe Pansy erhöhte.

 

"Drei."

 

Evelyn räusperte sich. "Millicent, das ist wirklich nicht-"

 

"Du wiederholst dich, Eve", sagte sie ehe sie sich erneut an Pansy richtete. "Pro Blatt."

 

"Einverstanden."

 

Zweifelnd, ob sie sich im Hogwarts-Express oder dem türkischen Basar befand, fuhr sich Evelyn durch die Haare. Vor ihr wurden bereits die Waren mit einem Handschlag ausgetauscht. Nun endlich riss sich Evelyn aus ihrer von Unglaube hervorgerufenen Starre und packte Evelyn am Arm. Stumm verließen beide das Abteil und ließen Daphne und Pansy zurück.

 

"Was soll das? Millicent so geht das nicht." Evelyn wusste nicht, ob sie ärgerlich, überrumpelt oder wütend sein sollte, entschied sich dann aber angesichts des breiten Grinsens, das ihr Millicent entgegen drückte, für wütend. Die klimperte nur mit den Münzen, die sie in ihrer Hand hielt.

 

"Hier, das sind deine."

 

Soweit es ihr in dem Gang möglich war, drückte sie sich von Millicent weg, sich weigernd auch nur einen Blick auf die Sickel zu werfen. "Ich nehme das nicht. Im Ernst, Millicent? Geld? Du warst es doch die gesagt hat, ich soll auf sie zugehen – soll ihnen helfen", sprach sie nun laut aus, was sie bereits innerlich gedacht hatte. Enttäuschung darüber von Millicent, der sie vertraute, derart bevormundend worden zu sein, mischte sich in ihr Gefühlschaos. Ihre Finger klammerten sich an den Holzrahmen der Fenster hinter ihr. "Du hättest das nicht tun sollen."

Die Euphorie, auf der Millicent geschwommen zu haben schien, war mit einem Schlag verflogen. Die Röte schoss ihr in die Wangen, während sie die Münzen betrachtete, sie sie nun nur noch zittern vor sich hob.

 

Langsam schien sie zu realisieren, was gerade passiert war. "Ich dachte ... oh Eve, ich wollte doch nur-"

 

"Das ist mir wichtig, Millicent. Du wolltest helfen, das verstehe ich, aber nicht so." Sie deutete kurz auf die Münzen. "Nicht so."

 

Als Millicents nichts erwiderte, bat sie sie mit einem Handzeichen hinein, um die Sickel zurück zu geben. Doch weder Pansy noch Daphne reagierte wie von Evelyn erhofft.

 

"Nimm es, Harris. Millicent hat recht."

 

"Das ist doch lächerlich", verteidigte sich Evelyn, stieß aber auf Granit.

 

Beide zuckten nur die Schultern und ignorierten jeden weiteren Ansatz von Evelyn die geschuldete Summe zurückzugeben, bis Millicent sich erneut an einer Erklärung versuchte.

 

"So abwegig ist es gar nicht. Du arbeitest hart, wovon wir profitieren; und das ist ein Weg dir dafür etwas zurück zugeben." Langsam ließ sie die Sickel in Evelyns Hand gleiten, die klirrend den Besitzer wechselten. "Wir Slytherin nehmen nichts für selbstverständlich und zahlen unsere Schulden, auf die ein oder andere Weise."

 

Gerade, als Evelyn etwas erwidern wollte, wurde die Tür aufgerissen und Anthony stand vor ihnen, mit Mandy im Hintergrund. Evelyn verfluchte sein Timing ausgerechnet jetzt aufzutauchen. Sein Grinsen war zurückgekehrt und mit ihm sein schlechter Humor.

"Wird Harris jetzt schon bezahlt?", rief er ihnen entgegen, als er die Münzen erkannte. "Wird heimlich etwas Geld zugesteckt, damit sich Harris etwas Schönes leisten kann?" Er schritt an den Anwesenden vorbei an seinen Platz am Fenster, wo er sich niederließ. Mandy tat es ihm nach, nickte jedoch Evelyn und den Mädchen zu, die ihren Gruß erwiderten.

 

Trotz Anthonys forschem Auftritt ließen sich die anderen nicht abbringen und arbeiten ungehindert weiter, was vor allem Mandy neugierig beobachte. Immer wieder wechselte ihr Blick zwischen Anthony, der stoisch aus dem Fenster schaute, hin zu den vollgeschriebenen Pergamenten, bis Daphne ihr Gestarre nicht mehr aushielt.

 

"Willst du mal sehen? Sind ziemlich gut, selbst für deine Ravenclaw-Standards, schätze ich."

 

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen und nahm einen Stapel entgegen, den sie mit ungewohnt forschen Griff einige Minuten studierte.

"Zerknitter es bitte nicht so sehr, ja?" Die Art, wie Mandy ihre Finger um das Papier klammerten, als würde sie es gar nicht mehr loslassen wollen, missfiel Evelyn.

 

"Die hast du geschrieben?", fragte Mandy unsicher, was Evelyn mit einem Nicken bejahte.

 

"McGonagall selbst lobt ihre Aufsätze. Du solltest ihre Essays für Zaubertränke lesen", mischte sich Millicent ein, die ihr Lächeln wiedergefunden hatte und es sichtlich genoss die Arbeiten anzupreisen.

 

Mandys dunkle Augen schossen nach oben. "Darf ich die kurz haben?"

 

Es waren Pansy und Daphne, die ohne aufzublicken wie aus einem Mund eine Antwort formten. "Das macht fünf Sickel."

 

Kapitel 46 - Konsequenzen unseres Handelns

 "Nehmen Sie dieses Trauerspiel von meinem Tisch, Mr Zabini", sprach Sprout in die Stille des Gewächshauses hinein. "Sechs Monate, sechs Monate und Sie haben es nicht geschafft auch nur einen einzigen Trieb heranzuziehen. Ich bin enttäuscht von Ihnen, Mr Zabini." Klappernd zog Blaise seinen Topf, in dem nichts zu sehen war außer trockener Erde, von der Platte. Seiner Miene nach zu urteilen war es ihm egal an ihrer kleinen Extraaufgabe kläglich gescheitert zu sein, doch Evelyn stellte sich vor, dass es ihn innerlich zerriss derart von Sprout vor allen Augen zurecht gestutzt zu werden.
 

"Aber Professor-", begann er, wurde von der kleinen Lehrerin jedoch kurzerhand unterbrochen.
 

"Sparen Sie sich Ihre sogenannte Slytherin-Logik, glauben Sie mir, egal was Sie sagen wollen, ich habe es schon gehört." Ihre Augen glitten zur Klasse, die alle unterschiedliche Ergebnisse vorzuweisen hatten, manche weniger beeindruckend als andere, doch niemand hatte eine derart gähnende Leere in seinem Topf, wie Blaise.
 

Daphne versteckte ein Grinsen, indem sie ihren Kopf neigte. Wie auch Evelyn hatten sowohl Daphne als auch alle anderen sich seit Wochen Zabinis glorreichen Plan anhören müssen wie er gedenke der Aufgabe geschickt auszuweichen, sobald auch nur einer in die Nähe der Töpfe kam. Nun das Bild eines stummen Zabini zu sehen, und wie seine Ausreden buchstäblich in der Erde versanken, das war für sie alle süßer als Kürbissaft.
 

"Ich habe Ihnen eine Aufgabe gegeben, und ich bin stolz zu sehen, dass die meisten von Ihnen bereits erste Erfolge vorweisen können. Das Jahr ist noch nicht vorbei und ich erwarte von Ihnen allen hervorragende Ergebnisse." Ihr Lächeln verschwand, als sie Blaise fixierte. "Was Sie angeht, Mr Zabini, verlange ich einen 50 Zoll Aufsatz darüber, welche verschiedenen Arten der Pflanzenpflege es gibt und eine Erläuterung darüber, was Sie hätten besser machen können."
 

Geschockt formte er eine "fünf" mit den Lippen, behielt aber jegliches Kommentar für sich.
 

Die Ergebnisse waren durchwachsen, das sah man mit einem kurzen Blick in die Töpfe. Es fiel auf, dass keiner der Ravenclaws einen Durchbruch erzielt hatte, dafür aber einige Pergamente an den Topf angebracht hatten, auf denen mit unleserlicher Schrift etwas geschrieben worden war. Evelyn konnte nur raten, dass die Ravenclaw herausgefunden hatten, was genau sich in ihren Töpfen verbarg. Allerdings schienen sie trotzdem Probleme zu haben, die Pflanzen am Leben zu halten.
 

Sie selbst hatte noch immer keine Idee, was genau sie heranzüchtete. Ihr einziger Anhaltspunkt war die kleine Notiz von Ollivander gewesen, die sie im Etui gefunden hatte, das Ollivander ihr in den Rucksack geschmuggelt hatte.
 

Ihre Linke ging zu ihrem anderen Handgelenk, wo sie einige dünne Lederbändchen verdeckte.
 

Kaum, dass sie Mädchen am ersten Tag nach den Ferien zu Bett gegangen waren, hatte sich Evelyn das Etui genauer angeschaut. Darin hatte sie das Armband gefunden, das mit vielen Holzkugeln verziert war, auf denen verschiedene Zeichen gebrannt waren. Sie hatte die Kugeln erkannt, immerhin war sie öfters dabei gewesen, als Ollivander konzentriert daran gearbeitet hatte. Neben dem Etui gab es nur eine kurze Notiz:
 

Ein kleines Dankeschön.
 

PS: Geben Sie ihrem Setzling Kaffee.
 

Ein Dankeschön, ein Yule Geschenk, egal wie er es nennen mochte, sie hatte keine Möglichkeit gehabt es abzulehnen. Irgendwo musste ein Slytherin unter der Ravenclaw-Haut von Ollivander stecken, hatte Evelyn am Abend ihrer Rückkehr gedacht, als sie resigniert das Armband anlegte und es seitdem nicht mehr abgenommen hatte.
 

"Die alte Kräuterhexe hat uns angelogen", wetterte Blaise auf dem Weg zurück ins Schloss. Kräuterkunde war die letzte Stunde der Woche gewesen und von nun an würden sie nur noch knapp drei Tage der Freiheit vor sich haben. "Es wird nicht benotet, hat sie gesagt. Es liegt an uns, wie wir unsere Pflanzen pflegen, hat sie gesagt." Kurzerhand ließ er seinen toten Topf am Wegrand fallen, sodass er zersprang und sich die Erde mit der des Gartens vermischte. "Fünfzig Zoll, pah."
 

Draco, der seinerseits kaum einen Finger für seine Aufgabe getan und stattdessen anderen die Arbeit überlassen hatte, lachte Zabini für seinen Ausbruch nur aus. Trotz Ollivanders Hinweis der Pflanze Kaffee zu geben, was gar nicht einfach zu beschaffen gewesen war, war es Crabbe, der von ihnen allen das beste Ergebnis vorweisen konnte. Er war es auch, der irgendwann wie selbstverständlich sowohl Goyles, als auch Dracos Pflanze umsorgt hatte. Man konnte sogar bereits erkennen, dass sein Exemplar wohl irgendwelche Blüten schlagen würde.
 

Evelyns Topf war verglichen damit beinahe kahl. Dutzende kleine Blätter tummelten sich an langen Ranken, die an manchen Stellen bereits braun wurden. Blüten, oder irgendein Anzeichen für Farbe, war nicht zu sehen.
 

Blaise sprang neben Evelyn und klopfte ihr auf die Schulter. "Du weißt doch sicher, was ich falsch gemacht habe, oder?"
 

Sie hob die Augenbrauen. "Ich denke, das wissen wir hier alle, Blaise."
 

"Richtig", meinte Daphne schadenfroh. "Du warst einfach zu faul."
 

Das wollte Zabini nicht auf sich sitzen lassen. "Ich war nicht faul, das war meine Strategie, die -"
 

Pansy stöhnte. "Ich schwöre, bei Merlins Eiern, wenn ich noch einmal deine dumme Ausrede hören muss, haue ich meinen Topf auf deinen sturen Kopf." Lautes Gekicher gab ihr recht, wobei sich Evelyn nicht sicher war, ob sie wegen der Aussage lachten, oder wegen des schlechten Reims.
 

Das schien Blaise zu beeindrucken. Er lehnte sich zu Evelyn und fuhr nun leise fort. "Fein, was den Aufsatz angeht ... kannst du mir ein wenig Inspiration geben?"
 

"An deiner Stelle würde ich eher Vincent fragen, der scheint ein Händchen dafür zu haben." Sie deutete mit einem Nicken auf den stummen Schüler neben Draco. Der Behälter, den sie alle von Sprout bekommen hatten, war irgendwann für seine Pflanze zu klein geworden, weshalb er ihn für einen größeren eingetauscht hatte. Mit all der Erde darin musste es schwer sein es zu tragen, selbst für den klobigen Crabbe.
 

"Vinc? Nein. Nein, nein, nein, sein kleiner Erfolg mit dem Grünzeug ist doch bloß purer Zufall. Du bist hier unser Genie. Was sagst du, ich geb dir das Doppelte?"
 

Evelyn verdünnte ihre Lippen zu einem dünnen Strich. In den letzten Monaten hatte sich die Kunde über ihre Hausaufgaben unter den Schülern verteilt wie Lauffeuer. Zuerst hatte Millicent kräftig Werbung gemacht, doch auch Mandy schien unter Ihresgleichen erzählt zu haben, was sie während der Zugfahrt gesehen hatte; oder besser gesagt in Evelyns Unterlagen gelesen hatte. Innerhalb weniger Wochen hatte Evelyn dutzende Anfragen aus allen Häusern, die sich ihre Notizen ausleihen wollten. Jeder einzelne von ihnen war bereit gewesen zu zahlen, wenn die Beträge sich auch voneinander unterschieden. Sogar Gryffindor hatten sich gemeldet, wenn auch nur zögerlich und über Dritte, doch Evelyn hielt ihre Aufschriebe weitaus besser im Auge, als ihre Mitschüler vermuteten. Ihr war nicht entgangen wie ihre Karten für Astronomie über die Hände von Sue Li zu Seamus Finnigan gelangten, der Sue Li gebeten hatte die Karten zu beschaffen.
 

Auch wenn es Millicent womöglich nicht klar gewesen war, aber sie hatte Evelyn die perfekte Lösung für ihr Geld Problem geliefert, obwohl sich Evelyn erst mit der Idee hatte anfreunden müssen.

Geld zu nehmen für schulische Leistungen war ihr anfangs unmoralisch vorgekommen, doch nachdem sie einige Regeln aufgestellt hatte, war es immer besser gelaufen. Eine dieser Regeln besagte aber auch, dass ihre Slytherin-Klassenkameraden nichts bezahlen mussten.
 

"Schreib einfach das auf, was du nicht getan hast. Das sollte genug für fünfzig Zoll sein", bemerkte Millicent mit breitem Grinsen, was Zabini nur ein müdes Augenrollen abgewann.
 

"Dich habe ich nicht gefragt", er stupste Evelyn in die Seite, "sondern sie hier. Sag schon, du hättest sicher kein Problem einen solchen Aufsatz zu schreiben, oder Evelein?"
 

Nun erkannte Evelyn worauf er hinauswollte. "Probleme? Nein. Keine Lust mein Wochenende dafür zu opfern? Ja." Sie blieb stehen und klemmte ihren Topf unter den einen Arm, während sie den anderen gegen ihre Hüfte stemmte. "Ich werde deinen Aufsatz garantiert nicht schreiben. Das hast du vermasselt, also darfst du auch ganz alleine daran arbeiten."
 

"Ich gebe dir das Doppelte", versuchte es Zabini nun verzweifelter. "Es ist doch Quidditch-Wochenende und du magst doch sowieso kein Quidditch. Wir sind doch Freunde." Die anderen waren einige Schritte vor ihnen stehen geblieben und beobachteten die beiden. Andere Schüler hatten Zabinis Ausbruch ebenfalls bemerkt und begannen zu tuscheln, als sie an ihnen vorbeigingen. Als sie antwortete bemühte sich Evelyn ruhig zu bleiben, was ihr aber nur schwer gelang. Zabinis Hartnäckigkeit machte sie nur wütender, hinzu kam die dämliche Verniedlichung ihres Namens, was ihr zusätzlich sauer aufstieß.
 

"Das ist mir egal, Blaise. Schreib das Ding selber. Ich fange nicht an eure Strafarbeiten für euch zu schreiben, damit das klar ist. Nicht für eine Galleone."
 

Endlich schien Zabini aufzugeben. "Fein. Liest du es wenigstens durch, nachdem ich fertig bin?"
 

Evelyn begann zu laufen und zu den anderen aufzuschließen. "Das mache ich sehr gerne."
 

Bis zum Gemeinschaftsraum trotteten sie stumm nebeneinander her, vorbei an den Scharen an Kindern, die noch auf dem Weg in den Unterricht oder aber, wie sie, für die Woche fertig waren.
 

Dort angekommen stellten sie all ihre Pflanzen zurück ans Fenster, wohinter nun immer mehr Wasserkreaturen zu sehen war. Der Winter hatte sich auch hier oben im Norden Englands nun immer weiter zurück gezogen und obwohl graues Wetter noch vorherrschte, rutschten die Temperaturen nur noch selten unter den Gefrierpunkt. Der See war größtenteils frei von Eis, wodurch dessen Bewohner nach und nach aus dem Winterschlaf erwachten. Der Kraken war der Erste gewesen, der sie alle mit seiner Präsenz vor dem Fenster begrüßt hatte. Sein Auge hüllte beinahe die gesamte Fläche der Scheibe ein, als er schließlich ganz dicht an ihnen vorbei geschwommen war.
 

Während Evelyn nun aus dem großen Fenster starrte in der Hoffnung möglicherweise etwas Lebendes zu sehen, hörte sie wie sich hinter ihr einige auf die Möbel schmissen, die quietschend nachgaben.
 

"Fünfzig Zoll", murmelte Zabini mehr zu sich als zu jemand anderem und vergrub daraufhin sein Gesicht unter einem grünen Kissen. Er selbst schien seine anstehende Aufgabe noch nicht verkraftet zu haben, doch Daphne ignorierte sein flehen nach Mitleid.
 

"Wer möchte morgen mit mir zum Quidditch gehen?", fragte sie in die Runde hinein und griff damit Zabinis vorige Aussage auf, was ihr aber nur ungläubiges Kopfschütteln einbrachte. Evelyn riss sich vom Fenster los und stellte sich hinter das Sofa, wo Millicent und Pansy einige Bücher und etwas zum Schreiben auspackten.
 

"Ich will", hörte sie Zabini undeutlich unter dem Kissen grummeln.
 

Wie auch Daphne achtete niemand auf Zabini. Draco stieß den Atem scharf aus, bevor er Daphne buchstäblich den Vogel zeigte. "Es spielt Hufflepuff gegen Gryffindor", spuckte er verächtlich aus, was Evelyn als ein klares Nein deutete.
 

"Ja und? Ich werde doch hoffen können, dass Hufflepuff Gryffindor schlägt. Außerdem: hast du vergessen, wer morgen das Spiel pfeifen wird?"
 

"Habe ich nicht", gab er nun etwas ruhiger zurück.
 

Evelyn schmunzelte nach Daphnes Erklärung, die scheinbar an einen Sieg von Hufflepuff glaubte. Erst letzte Woche hatte Slytherin Ravenclaw eindrucksvoll besiegt und sich so seine Chancen auf den Quidditchpokal trotz Niederlage gegen Gryffindor bewahrt. Nun hoffe sie wohl, dass Hufflepuff erneut Stärke zeigte, wie in ihrem ersten Spiel gegen Ravenclaw, wo sie haushoch gewonnen hatten, vielleicht auch mit etwas Hilfe von Seiten des Schiedsrichters. Evelyn wusste es besser, würde Daphne aber weiterhin im Glauben lassen, Hufflepuff könne Gryffindor schlagen.
 

"Ich komme mit", meldete sie sich, was ihr irritierte Blicke einbrachte. Millicent drehte sich schockiert um, die Feder zum Schreiben in der Hand.
 

"Du willst dir freiwillig ein Spiel anschauen?"
 

Sie zuckte mit den Schultern. "Soll ich mir die Gelegenheit entgehen lassen Snape auf einem Besen zu sehen?" Das war die reine Wahrheit, das Spiel interessierte sie nur marginal. Wirklich neugierig war sie darauf zu sehen, wie ihr aller Hauslehrer sich als vermeintlich neutrale Partie auf dem Besen machte.

Vor einigen Tagen wurde bekannt gegeben, dass Professor Snape an Hoochs Stelle das Spiel beaufsichtigen würde, was eine Welle der Entrüstung und Fassungslosigkeit durch die Schülerschaft hatte gehen lassen.

Daphne klatschte aufgeregt in die Hände. "Quidditch lässt eben nicht jeden auf ewig kalt."
 

"Ja", sagte sie schwach, "toll."
 

"Ich kann nicht, ich muss meinen Au-"
 

"Ja, ja. Wissen wir", unterbrach Pansy Zabini, der noch immer das Kissen auf seinem Gesicht hatte und kaum zu verstehen war. "Ich bin auch dabei."
 

Es überraschte Evelyn nicht, dass auch Millicent zusagte. Nur Draco zierte sich noch, da sein Groll über Harry alles andere zu überschatten schien. Goyle und Crabbe warteten nur auf Dracos Entscheidung, da die beiden sowieso das taten, was Draco ihnen vorgab.
 

"Es reicht, wenn ich das Narbengesicht im Schloss sehen muss. Ich will ihn nicht auch noch mit seinem arroganten Grinsen fliegen sehen."
 

"Bitte, Draco. Denk an all die Strafstöße, die Snape verteilen wird." Pansy schien daran interessiert zu sein Draco während des Spiels dabei zu haben. Der dachte aber nicht daran ihnen eine klare Antwort zu geben, wobei Evelyn vermutete, dass er die Aufmerksamkeit genoss.
 

Am nächsten Morgen musste er sich jedoch entscheiden und es überraschte Evelyn nicht zu hören, wie er ihnen am Frühstückstisch lang und breit erklärte, weshalb er sich doch dazu entschieden hat das Opfer zu bringen und mit ihnen zum Quidditch gehen würde. Sowohl an ihrem Tisch, als auch an denen der anderen, blieb Snapes bevorstehender Auftritt das Hauptgesprächsthema.
 

"Kann der überhaupt fliegen?", fragte Daphne mit Blick auf den Lehrertisch. Evelyn blieb der Tee im Hals stecken, woraufhin sie heftig husten musste.
 

"Atmen", meinte Millicent, die ihr besorgte den Rücken klopfte. Schüler um sie herum unterbrach nur kurz ihr Frühstück um zuzuschauen, wie Millicent der japsenden Evelyn versuchte zu helfen. Viel konnten beide nicht ausrichten, Evelyn musste warten, bis der Hustenreiz lange genug aufhörte, um zu atmen.
 

"Alles gut", meinte sie heißer mit der Hand wedelnd, "die Vorstellung ist nur ... seltsam." Mit Daphnes eigentlich unschuldiger Frage hatte sie nicht gerechnet, weshalb sie erschrocken Luft geholt hatte. Bilder und Erinnerungen kamen ihr in den Sinn, wie gut Professor Snape fliegen konnte. Es waren Momente wie diese in denen sie hoffte – ja betete –, dass Dumbledore nicht Legilimens auf seine Schüler gerichtet hatte. Solche Bilder und Erinnerungen würden sie in arge Erklärungsnot bringen.
 

Besorgt schaute sie zum Lehrerzisch, allerdings mied sie es Dumbledore direkt anzuschauen. Der schien im Gespräch mit Minerva, die heute ungewöhnlich blass war. Die beiden vertieft in einer Konversation zu sehen, war ein gewohnter Anblick, wobei Minervas Laune sich je nach Anlass änderte. Evelyn konnte sich vorstellen, wie ihre Laune heute Morgen sein musste.
 

Kurz richtete sie ihren Blick auch auf Professor Snape, der unbeeindruckt vom Getuschel der Schüler den Kopf gesenkt hatte und vermutlich Zeitung las. Die meisten Lehrer gingen ihrer morgendlichen Routine nach, wobei ihr nicht entging, wie Quirrell, der eigentlich neben Snape seinen Platz hätte einnehmen müssen, fehlte.
 

"Wahrscheinlich lernt er gerade die Regeln", meinte Millicent plötzlich in Evelyns Ohr, nachdem sie ihrem Blick gefolgt war.
 

"Wer, Quirrell?", sagte sie laut, ehe sie sich verstört an Millicent wendete.
 

"Eh, nein. Snape. Wieso Professor Quirrell?"
 

Sie erkannte ihren Denkfehler. "Entschuldige, ich war in Gedanken." Sie schaute erneut hoch. "Ich glaube nicht, dass er die Regeln auffrischen muss. Wird nur die Zeitung sein." Noch immer musste sie sich räuspern, das kratzende Gefühl im Hals wollte nicht verschwinden.
 

"Was meint ihr, wieso lässt Dumbledore das zu?"
 

"Es ist nur eine Zeitung, Blaise, die darf er lesen wenn er möchte", gab Evelyn schelmisch zurück und erntete einen müden Blick von Blaise. Kurz fing sie an zu lachen, was jedoch nur in einem zweiten, zum Glück kleineren, Hustenanfall endete.
 

"Witzig. Du weißt, was ich meine."
 

Natürlich wusste sie das. Sie wusste auch die Antwort auf seine Frage, doch was würde es ihm nützen, wenn er sie wüsste.
 

"Keine Ahnung, das hat er noch nie gemacht", sagte Daphne an Evelyns Stelle. "Vielleicht geht es Madam Hooch nicht gut?"
 

Draco deutete mit seiner Gabel in Richtung Außenrand des Lehrertisches, wo Madame Hooch angeregt mit Professor Sinistra sprach. "Glaub ich nicht, schaut sie euch an." Sinistra schaffte es kaum ein Wort vollständig zu formulieren und nickte nur ab, was Hooch ihr zu sagen hatte. "Sie scheint genauso wenig glücklich zu sein."
 

Daphne riss sich vom Lehrertisch los und zuckte mit den Schultern. "Wir können uns immerhin sicher sein, dass Hufflepuff gewinnt. Professor Snape wird Gryffindor keine Chance lassen."
 

"Wenn Harry den Schnatz fängt kann er auch nichts daran ändern", warf Blaise skeptisch ein, woraufhin Draco nur verächtlich schnaubte. Blaise hob defensiv die Hand." Hey, ich habe die Regeln nicht geschrieben. Die Chance besteht, dass Harry den Schnatz fängt."
 

"Wenn du Potter und das Fangen eines Schnatzes noch einmal in einem Satz erwähnst schläfst du die nächste Woche im Gemeinschaftsraum."
 

I dare you. I double dare you.
 

Kurz glaubte Evelyn in Zabinis Augen ein rebellische Blitzen zu sehen und erwartete, dass er Dracos Herausforderungen annehmen würde und hörte ihn in Gedanken schon den Satz sagen, als dieser plötzlich laut stöhnend sich mit beiden Händen durch die dunklen Haare fuhr. "Macht was ihr wollt, ich habe Dinge zu tun. Viel Spaß beim Spiel." Ein letztes Mal, ehe er sich vom Tisch entfernte, wendete er sich mit flehendem Blick an Evelyn. "Kann ich dich nicht erweichen, Eve?"
 

Kurz schnalzte sie mit der Zunge, ehe sie antwortete."Heute Abend erwarte ich einen fertigen Aufsatz, also", sie hob die Hände und klatschte mehrmals, "hopp-hopp!" Hilflos zuckte er mit den Schultern und murmelte im Gehen einige Worte, die im Lärm der Großen Halle untergingen.
 

"Ich erinnere mich nicht ihm erlaubt zu haben meinen Namen abzukürzen."
 

"Ja." Millicent hatte gerade eine große Gabel Rührei in den Mund geschoben, was ihre Aussprache nun arg behinderte. "Du hast es ja nichtmal mir erlaubt."
 

"Und rate, wer sich nicht daran hält." Noch während sie sprach kündigten sich die Posteulen kreischend an. Ihr Flügelschlagen war bereits zu hören, bevor sie zu sehen waren, doch es dauerte nicht lange, bis über ihren Köpfen die Vogelschar kreiste. Nach all den Monaten hatte sich Evelyn an die Existenz der Vögel gewöhnt, auch wenn sie jedes Mal froh war, wenn die Eulen ihren Rückflug antraten.
 

Ollivander schrieb ihr nun regelmäßig, und sie berichtete, was sie erlebte, was nicht viel war. Noch gab es keine Riesenschlangen, die Schüler versteinerten, Werwölfe als Lehrer oder ein Trimagisches Turnier, das das Schuljahr, nunja, interessanter gestalten würde.
 

Gerade, als Evelyn sich ihrem Frühstück zuwenden wollte, fiel ein dünner Brief von oben auf sie herab, traf sie am Kopf, und verfehlte daraufhin nur knapp ihr mit Marmelade beschmiertes Brot.
 

"Von deinem Opa?", meinte Millicent, bevor Evelyn auch nur nach dem Brief greifen konnte. "Nicht mal meine Eltern schreiben so viel, wie Mr Ollivander." Kurz suchte sie die mit Wolken verhangene Decke nach Anzeichen ab, ob sie auch Briefe von Zuhause erhalten würde, erkannte aber schnell, dass nichts für sie dabei war.
 

Neben Evelyn hat Draco erneut ein Päckchen bekommen, was beinahe jedes Wochenende passierte. Kekse, Muffins, Knabbereien aller Art wurden ihm in feinen Kartons geschickt. Selbstgemacht, wie Evelyn vermutete. Glücklicherweise teilte Draco seine Leckereien mit ihnen, aber erst, nachdem er selbst den Großteil gegessen hatte. Um nicht ansehen zu müssen, wie Draco sich bunte Kekse schmecken ließ, widmete sie sich ihrem Brief.
 

Liebe Evelyn
 

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich Ihre Frage zur menschlichen Transfiguration nicht beantworten kann, so sehr ich es gerne würde. Das Thema gehört ohne Zweifel zu den höchsten Künsten der Magie, die ich selbst nie erreicht habe; zumindest nicht auf diesem Fachgebiet. Noch dazu versteckt sich dahinter eine tiefergehende philosophische Frage, die ich nicht wagen würde mit einem klaren Ja oder Nein abzutun. Nichtsdestotrotz war Ihre Frage durchaus berechtigt und falls Sie wirklich auf eine adäquate Antwort hoffen, würde ich Sie an Professor Minerva McGonagall verweisen, die Ihnen sicherlich weiterhelfen kann.
 

Evelyn senkte enttäuscht das Pergament. Während ihren jüngsten Briefwechseln hatte sie mehr über Transfigurationen wissen wollen in der Hoffnung, dass sie dadurch ihre Leistungen verbessern könnte. Noch immer hatte sie schwer mit praktischer Magie zu kämpfen, auch wenn William sein bestes gab und er sogar einige Erfolge vorweisen konnte. Dank seiner Hilfe benötigte Evelyn nun keine Wochen mehr, um einen neuen Zauber zu lernen, sondern nur noch Tage. Leider wartete sie noch auf einen Durchbruch in Verwandlung.
 

Millicent hatte ihr Seufzen bemerkt. "Ist alles in Ordnung?"
 

"Ja, ja, keine Sorge. Sag mal, glaubst du ein transfiguriertes Tier hat als Objekt einen Herzschlag?"

Nicht nur Millicent stoppte ihre Bewegung, erstaunt über die plötzliche Frage.
 

"Woah, Harris. Wo kommt denn der Gedanke her?"
 

"Ich glaube ... nein", sagte Millicent zögerlich, was Pansy schockiert antworten ließ.
 

"Natürlich haben die das, sonst wären sie ja ..."
 

"Tot? Es sind Objekte."
 

Evelyn hob beschwichtigend die Hand. "Mädels, ganz ruhig. Ich hätte nicht fragen sollen." Ollivander hatte recht, das war wohl mehr als eine allgemeine Frage zur Verwandlung, was man nicht am Frühstückstisch diskutieren konnte. Schon gar nicht von Erstklässlern.
 

"Wieso willst du das überhaupt wissen?"
 

"Ich dachte wenn ich weiß, wie eine Transfiguration funktioniert, dann klappt es besser mit dem eigentlichen Zaubern."
 

Daphne war wenig beeindruckt und runzelte die Stirn. "Ich weiß nur, dass ich keine Ahnung habe, wieso das Streichholz zur Nadel wird. Es passiert einfach. Vielleicht ist das ja dein Problem." Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. "Du denkst zu viel! Lass die Magie einfach passieren."
 

Lass es einfach passieren. Genialer Vorschlag, als ob ich das nicht auch schon versucht hätte.

Statt ihre Gedanken laut auszusprechen, behielt sie die jedoch lieber für sich und wendete sich wieder dem Brief zu.
 

Leider sehe ich mich gezwungen trotz Rückstand meiner Produktion die Arbeit täglich einige Stunden zu früh niederzulegen da, wie Sie wissen, der Mangel an Einhornhaar mich arg einschränkt. Meine Gedanken wandern daher des Öfteren zu unseren Diskussionen.
 

Sie, so hoffe ich, konzentrieren sich besser als ich auf die Ihnen bevorstehenden Prüfungen. Examenszeit steht vor der Tür und ich lege Ihnen nahe, frühzeitig mit Vorbereitung zu beginnen.
 

Sie überflogen nur noch die restlichen Zeilen von Floskeln und Grüßen, ehe sie gezwungen amüsiert den Brief zur Seite legte.
 

Millicent schaute sie fragend an, neugierig was Evelyn derart reagieren ließ.
 

"Er sagt ich solle mit Examensvorbereitung beginnen", erklärte Evelyn knapp, was ihr einige schockiert Gesichter einbrachte. Daphne und Pansy hatten ihrerseits eine Diskussion über den Herzschlag von Objekten begonnen, ehe sie bei Evelyns Erwähnung von Prüfungen verstummten.
 

"Examen?" Pansy machte ein Gesicht, als hätte sie gerade in eine Zitrone gebissen.
 

"Das sind doch noch Monate, bis es soweit ist."
 

Drei, ein bisschen mehr, überschlug Evelyn in Gedanken und ließ eine Antwort offen. Wirklich lange war es nicht mehr, wie Daphne ihnen gerne glauben machen wollte.
 

"Ach was", sagte Millicent nervös, "wenn jemand keine Vorbereitung braucht, dann du, Evelyn. Du machst praktisch unserer ganzen Klasse die Hausaufgaben. "
 

"Ich bevorzuge das Wort Lernhilfe. Abgesehen davon haben wir doch gerade darüber geredet, wo ich noch kleine Schwierigkeiten habe, aber danke Millicent." Dass Millicent ihr mit ihren Worten scheinbar die Angst vor Prüfungen nehmen wollte, rührte Evelyn, allerdings hatte sie das Gefühl, dass es an ihr verschwendet war. Vor allem wenn sie in die bleichen Gesichter der Mädchen starrte, die verdächtig gleichzeitig aufgehört hatten zu essen.
 

"Habt ihr Angst?", meinte sie langsam.
 

Pansy winkte ab. "Angst, ach was. Wovor? Nein." Die anderen blieben ungewöhnlich ruhig, weshalb Evelyn die Augenbrauen hob und sich auf den Tisch lehnte.
 

Sie war früher genauso gewesen, hatte als Kind Panik vor jeder Prüfung gehabt. Für die meisten hier in ihrem vermeintlichen Alter, dürften die Examen die ersten wichtigen Prüfungen in ihre noch jungem Leben sein.
 

"Selbst schuld", bemerkte Draco, von dem Evelyn nicht erwartet hätte, dass er zuhörte. "Macht eure Sachen selbst, statt sich von Fawley helfen zu lassen." Eve, Harris, Fawley, war es denn so schwer sich einen Namen zu merken?
 

Sie schaute ihn stumm an, während er sich wieder seinen Keksen widmete. Draco gehörte zu den wenigen, die nie um Aufschriebe, Aufsätze oder anderen Aufgaben gebeten hatte, sondern hatte sie stets alleine gemacht, wofür Evelyn ihn tatsächlich bewunderte. Seine schulischen Leistungen nahm er sehr ernst.

Trotzdem gaben seine Worte ihr zu denken. Sie hatte gehofft, dass die anderen trotzdem etwas lernten, wann immer sie auf Evelyns Hilfe zurück griffen, allerdings musste sie sich wohl eingestehen, dass sie einfach nur glücklich gewesen waren ihre Hausaufgaben ohne großen Aufwand erledigt zu haben. Im besten Fall hätten sie die Aufschriebe studiert und sie gelernt, aber vor ihr saßen noch immer Kinder. Dass sie am Ende sogar durch die Examen fielen, konnte sich Evelyn nicht leisten.
 

"Vielleicht sollten wir doch mit Vorbereitungen anfangen", meinte sie mit Blick auf die Mädchen. "Niemand wird hier unvorbereitet in die Klausuren gehen."
 

"Ja, aber zuerst: Quidditch." Aufs Stichwort erhob sich ein Großteil der Schüler, bereit hinaus aufs Quidditchfeld zu pilgern. Daphne hatte dies zum Anlass genommen das Gespräch auf spaßigere Themen zu lenken.
 

Da nun ein Ruck durch alle ging, ließ Evelyn die Angelegenheit fallen. Gemeinsam mit den Mädels verließ sie die Große Halle, wobei sie seitlich einen Blick auf die riesigen Puntkegläser warf. Die glitzernden Smaragde im Glas ihres Hauses, das von einer steinernen Schlange umschlungen wurde, waren ohne Zweifel verglichen mit den anderen Gläsern in der Überzahl. Slytherin führte seit einigen Wochen, dicht gefolgt von Ravenclaw und Gryffindor, deren Punkte beinahe gleich waren. Sie hatte sich noch immer nicht darum gekümmert die Punkte loszuwerden, die sie angesammelt hatte. Zu allem Überfluss waren aus den zehn Punkten mittlerweile 15 geworden, nachdem ausgerechnet Quirrell ein Diagramm zu Hexen und Flüchen mit fünf Punkten belohnt hatte.
 

Sie hatte feststellen müssen, dass Punkte zu verlieren nicht so einfach war, wie es bei Harry den Anschein gehabt hatte. Nachts außerhalb der Gemeinschaftsräume durch das Schloss zu wandern, würde ihr zu viele Strafpunkte einbringen und je nachdem, welchen Lehrer sie das Missglück hatte zu treffen, würde sie zusätzlich noch eine Strafarbeit bekommen.
 

Selbst im Unterricht konnte sie nur schwer Minuspunkte machen, da sie Lehrer weitaus kulanter mit Fehlern war, als gedacht. Sie hatte bereits versucht falsche Antworten zu geben, ja sogar absichtlich einen Trank bei Snape sabotiert, doch sie hatte kein Glück gehabt. Snape hatte ihren Trank einfach verschwinden lassen und war mit einem missbilligenden Gesicht weitergegangen. Ein weiteres Mal hatte sie sich nicht getraut einen derart plumpen Fehler zu machen, letztendlich gewann ihre Sorge um ihre Zensuren dann doch die Oberhand.
 

Draußen angekommen, wo der Himmel sie düster, aber trocken begrüßte, füllten sich die Tribünen rasch, und auch die Lehrer nahmen ihre Plätze ein. Was Evelyn sehr genoss, war der riesige freie Raum, den sie alle auf den Tribünen hatten. Der Kreis der Zuschauer, der das Spielfeld umschoss, war groß genug um dreimal so viele Schüler aufzunehmen, als sie gerade waren. Gedränge und Geschupse gab es glücklicherweise nicht.
 

"Schaut euch das an, sogar Dumbledore will sich das Spektakel ansehen", meinte Daphne mit einem Nicken in Richtung des Schulleiters. Sein silberner Bart stach aus der Menge an bunten Roben heraus wie ein schwarzes Exemplar in einer Horde Schafe.
 

"Der will sicher sehen, wie Potter den Schnatz mit dem Mund fängt." Daphne redete noch immer von Harrys Glanzleistung, wenn auch nicht mehr in Anwesenheit von Draco. Den hatten sie auf dem Weg verloren und war nun verschwunden.
 

"Hey, was wurde aus 'Hoffentlich gewinnt Hufflepuff'?"
 

"Man kann ein Spiel auch gewinnen ohne den Schnatz zu fangen, liebe Pansy."
 

"Oder aber er will sehen, wie Harry vom Besen fällt", meinte Evelyn und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, das auch die anderen ansteckte.
 

Noch während sie lachten, erschallte die Stimme von Lee Jordan, wobei er alles übertönte.
 

"Hallo und herzlich willkommen zum zweiten Spiel der Mannschaften Gryffindor und Hufflepuff."

Sofort brach lauter Jubel aus, in den die Slytherin nur mit verhaltenem Klatschen einstimmten.
 

"Sowohl Gryffindor als auch Hufflepuff können ihren Vorsprung in diesem Turnier vergrößern, nachdem Slytherin ein gewaltiges Comeback in der letzten Woche mit einem Sieg gegen Ravenclaw von 210:70 gezeigt hat."
 

"Slytherin! Slytherin!"
 

Während ihre Hauskameraden eindrucksvoll ihre Stimmgewalt unter Beweis stellten, wunderte sich Evelyn über Lees Worte, die Slytherin tatsächlich in einem guten Licht darstellen ließen.
 

"Allerdings dürften unsere amtierenden Champion nach dem heutigen Ausgang erneut weit abgeschlagen sein."
 

Heftiges Buhen wurde um sie laut, was aber schnell geschluckt wurde, als Jordan die Ankunft der Spieler ankündigte.
 

"Und da betreten die Spieler auch schon den Rasen, angeführt vom heutigen Schiedsrichter: Professor Snape!"
 

Während die anderen Schüler die Spieler begrüßten, klatschten die Slytherin vor allem für ihren Hauslehrer, der verändert vorne mit dem Besen und dem Quaffel unterm Arm trottete. Seine lange Robe samt Umhang hatte er gegen praktischere Hosen eingetauscht, sodass er sich freier auf dem Besen bewegen konnte.
 

"Schaut ihn euch an", sagte Daphne, "er hat jetzt schon schlechte Laune."
 

In der Tat wirkte Snape, als hätte er nicht um die Ehre gebeten heute Aufpasser während des Spiels zu sein und schien genauso an einem schnellen Ende interessiert, wie die Mannschaften selbst.
 

Sie hörten nicht ob oder was er zu den Spielern sprach, als sich alle auf ein Stichwort hin in die Lüfte begaben.
 

"Und das Spiel beginnt!", rief Jordan enthusiastisch mit magisch verstärkter Stimme.
 

"Sieht aus, als hätten sie es alle eilig", bemerkte Millicent, die Augen auf den Quaffel gerichtet, der in schnellen Pässen den Besitzer wechselte.
 

"George Weasley hat seine Augen scheinbar auf ein bestimmtes Ziel gerichtet", hörte Evelyn Jordan sagen und suchte im Himmel nach den Zwillingen, die ihre Schläger eifrig fliegen ließen.
 

"Der Klatscher kommt angeflogen und George Weasley trifft mit einem wundervollen Schlag voll ins Schwarze."
 

Tatsächlich flog der Ball nun geradewegs in Richtung Snape, der jedoch lange genug Zeit hatte auszuweichen. Evelyn war beeindruckt zu sehen, wie er mit nur einer Hand am Besenstiel eine Ausweichkurve flog, und mit der anderen bereits nach seiner Pfeife griff, mit der er das Spiel für einige Sekunden unterbrach.
 

"Strafstoß zugunsten von Hufflepuff wegen Beeinträchtigung des Schiedsrichters."
 

"Habt ihr das gesehen? Weasley hat mit Absicht nach Professor Snape geschlagen", empörte sich Daphne lautstark und begann mit anderen aus ihrem Haus zu buhen.
 

Es dauerte nicht lange, bis Snape erneut das Spiel unterbrach und Hufflepuff einen weiteren Strafstoß zusprach.
 

Millicent schaute zu Daphne. "Warum hat er gepfiffen?", fragte sie mit gerunzelter Stirn.
 

"Ehm, ich glaube Johnson hat den Hüter behindert." Zweifel schwang in ihrer Stimme mit, allerdings fand sie ihre Fassung schnell wieder. "Ich hab doch gesagt, so schnell hat Gryffindor das Spiel nicht gewo-"
 

Sie selbst stoppte sich im Reden und sprang nach vorne, Augen auf Harry gerichtet, der plötzlich in einen steilen Absturzflug ging. Evelyn versuchte das Glitzern des Schnatzes irgendwo in der Richtung zu sehen, in die Harry flog, scheiterte aber kläglich.
 

"Vorsicht, er will Snape rammen!" Millicent griff nach Evelyns Arm, als ob sie etwas daran ändern könnte. Sie sah gerade noch, wie Snape den Besen herumriss und Harry nur Millimeter an ihm vorbei stieß.

Nur einen Herzschlag später war es vorbei.
 

"Harry Potter hat den Schnatz! Das Spiel ist beendet, in Rekordzeit will ich meinen. Gryffindor gewinnt das Spiel mit 180:20!"
 

Die Gryffindor-Kurve war nicht zu halten und alle stürmten von ihren Sitzen hinunter aufs Feld, wo Harry triumphierend den Schnatz präsentierte. Die Slytherin um sie herum waren wie erstarrt.
 

"Das ... das waren keine fünf Minuten." Daphne schüttelte schockiert den Kopf und auch Pansy wusste nicht, was sie sagen sollte.
 

Während Gryffindor jubelte segelten die restlichen Spieler zu Boden und mit ihnen Snape, der keinem von ihnen weitere Beachtung schenkte, sondern nur verächtlich zu Boden spuckte, kaum dass er gelandet war.

Evelyn klatschte langsam in die Hände, worin die anderen zögerlich mit einstimmten.

 

Kapitel 47 - Schlechter Geschmack

 

Mit einem derart schnellen Ende des Spiels hatte die Schülerschaft nicht gerechnet, was zur Folge hatte, dass die Gänge mit einem Mal mit Strömen an Kindern überflutet wurden, die nun nicht wussten, was sie mit ihrem restlichen Samstag anfangen sollten. Üblicherweise wurde das Spiel in dreifacher Länge erneut in den Gemeinschaftsräumen oder anderen Orten durchgesprochen und jeder Zug wurde mal mehr mal weniger fachmännisch analysiert. Doch es gab nur so viel, was in fünf Minuten passieren konnte, selbst in Quidditch, sodass man sich schnell langweilte.
 

Um sich draußen aufzuhalten, war es noch zu kalt, doch Evelyn konnte es kaum erwarten endlich den Frühling einziehen zu sehen. Hogwarts würde immer einen gewissen romantischen Touch haben, mit seinen Fackeln und knisternden Feuern an stürmischen Abenden, dennoch kam Evelyn nicht umhin sich besonders während der dunklen Monate von Zeit zu Zeit eingesperrt zu fühlen. Nun konnte sie nachvollziehen, weshalb die älteren Schüler die Wochenendausflüge nach Hogsmeade so herbeisehnten. Doch leider war sie noch zwei Jahre entfernt, in den Genuss dieses speziellen Tapetenwechsels zu kommen.
 

Eingesperrt war sich auch Zabini vorgekommen, bis für ihn völlig unerwartet die Hälfte der Slytherin durch das Portalloch strömten. Eilig schob er einige Pergament zurecht, die vor ihm auf dem Tisch lagen, als er auch schon Blickkontakt mit Evelyn hatte.
 

"Was ist los? Haben sie das Spiel abgesagt?", fragte er mit skeptischer Mine, was Evelyn nur mit einem Kopfschütteln erwiderte.
 

Daphne lag die Antwort bereits auf der Zunge. "Du hast gerade das schnellste Spiel in der Geschichte Hogwarts' verpasst. Die Mannschaften waren kaum in der Luft, da hat Harry schon den Schatz gefangen!"

Zabinis dunkle Augen wurden groß. "Gryffindor hat schon gewonnen?!"
 

Kurz sah er sich um, doch Draco hatten sie seit dem Frühstück nicht mehr gesehen. Sicherlich hatte er von seinem Platz, wo auch immer er gewesen war, Gryffindors Sieg mit angesehen, was sich mit Sicherheit negativ auf seine Laune auszuwirken würde. "Die nächsten Tage wird er wieder unausstehlich sein", meinte Zabini mit schwerem Seufzen, sprach aber keinen direkt an.
 

Pansy überging Zabinis Einwand und fuhr weniger begeistert, als Daphne, mit dem Bericht über das Spiel fort. "Snape hatte gerade einen Lauf und Hufflepuff einen dritten Strafstoß gepfiffen, als Harry ihn umgeflogen hat. Dann hatte der auch schon den Schatz."
 

"Umflogen", berichtigte Evelyn mit kurzem Blick auf Pansy, "er hat ihn umflogen nicht umgeflogen. Aber ja, war eine kurze Vorstellung."
 

"Wie hat sich unser Tränkeprofessor auf dem Besen gemacht?"
 

"Viel war nicht zu sehen", sagte Millicent, die sich gegen die Schar an Schüler behauptete und sich einen Stuhl geschnappt hatte. "Er war ja kaum im Einsatz."
 

"Schade eigentlich." Pansy zuckte mit den Schultern und nahm sich den Stuhl, den Millicent gerade erst gebracht hatte.
 

"Hey!"
 

Auf Millicents empörtes Stöhnen reagierte Pansy nicht und ließ sich rücklings auf den Stuhl fallen.
 

"Dann habe ich ja buchstäblich nichts verpasst!" Zabini ließ sein breites Lächeln sehen, ehe er Evelyn näher zu sich zog. Er war von seinem Stuhl aufgesprungen und hatte den Arm um Evelyns Schulter gelegt, noch bevor er seinen Satz beendet hatte. "Da du jetzt hier bist, kannst du mir doch sicher helfen?", sagte er. "Ich komme nicht weiter und so ein paar Beiträge deinerseits wären wirklich hilfreich."
 

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Millicent nun Zabinis Platz einnahm und sich die Aufschriebe anschaute.
 

"Der beste Weg eine Pflanze heranzuzüchten, ist ...", zitierte Millicent, was sie dort las, schmiss das Pergament aber schnell wieder auf den kleinen Holztisch. "Das ist alles? Mehr hast du nicht geschafft?" Daphne kam näher heran und schielte ihrerseits auf die paar Worte.
 

"Beeindruckend informativ."
 

Zabini befreite Evelyn aus der Umarmung um Millicent nun einen missbilligenden Blick zuzuwerfen. "Der Anfang ist immer das Schwerste. Mach es doch besser, Bullstrode!"
 

"Netter Versuch", sagte Evelyn, "aber niemand wird hier deine Aufgabe machen." Evelyn schob das Pergament ein wenig zur Seite, wodurch darunter ein weiteres, etwas zerknittertes, Stück Papier zum Vorschein kam, in dessen Ecke ein kleines geschmackloses Kunstwerk aus Tinte prangte.
 

"Ja ich seh' schon, du hast hart gearbeitet." Naserümpfend verdeckte sie das Bild mit dem, was irgendwann mal Zabinis Aufsatz werden sollte.
 

"Ach kommt schon, was erwartet ihr? Ihr wart kaum eine halbe Stunde weg. Hätte ich da einen Roman schreiben sollen?"
 

Pansy lehnte sich zurück und grinste breit. "Na, für Kunst hattest du genug Zeit."
 

Ihr Lachen steckte die anderen an, allerdings unterbrach Evelyn sie, ehe es zu weit ging. "In Ordnung, Mädels. Mr Zabini muss arbeiten, kommt."
 

So schnell wollte Zabini sie aber nicht gehen lassen. "Moment! W-was, was ist jetzt mit etwas Hilfe?"
 

"Ehrlich gesagt, nein, Blaise. Du schaffst das schon. Ich wollte sowieso nochmal raus."
 

Pansy spitze die Ohren. "Raus? Wir sind doch gerade erst gekommen?"
 

"Bibliothek, wohin sonst sollte sie gehen", beantwortete Daphne die Frage mit einem leichten Nicken.
 

"Ja genau." Evelyn sah keinen Grund zu widersprechen. Sie wandte sich ab, bereit zu gehen. "Heute Abend werde ich mir deinen Aufsatz durchlesen, Blaise", rief sie über die Schulter, bevor sie aus dem Blickfeld der anderen verschwunden war.
 

Da sie heute nun einige Stunden Zeit hatte, würde sie sich erneut daran versuchen Hauspunkte abgezogen zu bekommen. Allerdings fiel ihr nichts Besseres ein, als einfach durch die Gänge zu wandern, auf der Suche nach möglichen Opfern. Sie hoffte womöglich einem Lehrer über den Weg zu laufen, vor dessen Augen sie auf ganz banale Art und Weise jemanden ärgern könnte.
 

"Lass den Bully heraushängen. Kanalisiere deinen inneren Goyle", sagte sie leise zu sich, dachte aber gleichzeitig auch, was für ein dämlicher Plan das doch war. Das letzte Mal, als sie das Ekelpacket gemimt hatte, hatte die Hermine in einem Klo zum Weinen gebracht, und auch wenn sie einen guten Grund dafür gehabt hatte, hatte sie sich wochenlang elend gefühlt.
 

Sie lief an einer kleinen Gruppe Ravenclaw vorbei, die die Köpfe zusammen gesteckt hatten und miteinander diskutierten. Allerdings waren sie zudem auch einige Klassen über Evelyn.
 

Vorsicht, die kleine Erstklässlerin will sich mit jemandem anlegen.
 

Sie blieb stehen, suchte sich eine Säule und lehnte sich dagegen. So hatte das keinen Sinn. Zum einen war sie absolut nicht der Typ, der aus dem Nichts Streit anfangen konnte. Pansy war diejenige, die gerne Mal über die Stränge schlug, genauso wie Draco, wenn es der Anlass erforderte. Doch sie selbst war glücklich einfach in Ruhe gelassen zu werden. Zum anderen wäre es kaum eindrucksvoll wenn jemand wie sie, der den meisten Schülern hier in Hogwarts kaum an die Brust ging, begann zu pöbeln. Dazu hatte sie buchstäblich nicht das breite Kreuz. Statt Punkabzug zu bekommen, würde sie sich nur zum Affen machen.

Aus ihrer Position heraus beobachtete sie die anderen Schüler und wog ihre Optionen ab. Im Moment befand sie sich auf der vierten Ebene, im breiten Korridor, der den Westturm mit dem der Gryffindor verband. Die meisten Gryffindor nutzten diesen Weg, um zu ihrem Gemeinschaftsraum zu kommen, weshalb es nicht verwunderlich war, dass hauptsächlich rote Roben an ihr vorbei wanderten. Beinahe jeder hatte breite Schals mit dem Wappen des Hauses umgeworfen, und jeder Zweite hatte ein selbstgebasteltes Fähnchen in der Hand. Das Spiel war noch nicht lange her, daher waren sie bester Laune.
 

Ihre kleine Säule konnte man nicht als Versteck bezeichnen, weshalb aufmerksame Schüler sie durchaus dort warten sahen und irritiert die Stirn runzelten. Die Blicke wurden ihr zunehmen unangenehmer.
 

"Hier stehen bringt auch nichts", murmelte sie und lief erneut den Korridor entlang, diesmal jedoch in die andere Richtung zur großen Treppe.
 

Sie sah sogar einige Lehrer, Professor Vektor war in einem Gespräch mit einem älteren Schüler an ihr vorbei gelaufen, aber was hätte sie tun sollen? Die beiden von hinten anspringen?
 

Was sie brauchte war eine Idee, und während sie am Geländer der Treppe stand und auf die unteren Treppen hinabsah, öffnete sich eine Möglichkeit.
 

"Peeves." Eilig sprang sie am Geländer vorbei und rannte so schnell sie sich traute die Treppe zwei Stockwerke hinab, vorbei an empörten Gemälden die sie ermahnten, langsamer zu gehen. Sie hatte den Poltergeist giggelnd ein einen Nebenkorridor schweben sehen, an dessen Ende eine schmale Treppe hinunter zur Bibliothek führte.
 

Auch von der aus Position, an der Evelyn gestanden hatte, hatte sie gesehen, dass Peeves etwas in seinen kleinen Fingern getragen hatte. Schwer atmend kam sie im Korridor zum Stehen und suchte nach dem Geist. Andere Schüler kamen ihr im Eiltempo entgegen, als würden sie fliehen. Hier war sie richtig. Links von ihr wechselten sich staubige Bücherregale mit unbequemen Bänken ab, die so gut wie nie benutzt wurden, während sie dem Geräusch nachging. Peeves schien sich bereits prächtig zu amüsieren.
 

Um eine Biegung sah sie ihn, wie er vor einem riesigen Polyptychon der Gründer schwebte, einen buschigen Pinsel in der Hand, und der armen Helga gerade mit roter Farbe ein Pferdemaul zeichnete. Das Polyptychon war eines der Gemälde Hogwarts' die sich nicht bewegten, sondern nur starr eine Momentaufnahme dessen war, was vor hunderten Jahren war.
 

Es war keine gute Arbeit und Evelyn bezweifelte, dass die einzelnen Teile des Gemäldes die Gründer tatsächlich so darstellten, wie sie einmal gewesen waren. Wenn es dennoch eine exakte Abbildung sein sollte, war dieses dunkle Loch am Ende des Korridors ein unwürdiger Platz für ein solches Werk. Nichtsdestotrotz faltete Peeves seine künstlerische Freiheit völlig aus und verschönte, in seinen Augen, die Gründer. Für Slytherin hieß das: fluffige Hasenohren. Die giftigen Dämpfe, die von der Farbe aus dem Eimer in Peeves' Hand ausströmte, trieben Evelyn die Tränen in die Augen.
 

Wo hat er die nur her?
 

Sie stellte sich vor, dass ein Filch nun in irgendeiner Abstellkammer stand und die Ersatzfarbe suchte, als sie sich räusperte. "Mh, Peeves?" Aus Angst statt Tinte dieses Mal womöglich mit Farbe übergossen zu werden, hielt Evelyn gebührenden Abstand zu dem knubbeligen Poltergeist.
 

"Peeves! Peeves, Pee-we, das bin ich!", rief er mit dem Pinsel fuchtelnd. Große Platscher Farbe tropften sowohl auf Wand, als auch auf den Boden unter ihm, und bestätigte Evelyns Entscheidung einige Meter hinter ihm stehen geblieben zu sein.
 

Noch rang sie mit Worten. Sie wusste nicht, wie genau man mit Peeves sprechen musste. "Ja, Peeves. Mr Peeves, guten Tag, ich wollte fr-"
 

"Pah, Mister Peeves ist beschäftigt", schnappte er. Die kleine Glocke an der Spitze seines Hutes läutete bei jeder seiner Bewegungen. "Mister Peeves hat Dinge zu tun. Lass Mister Peeves in Ruhe, kleine Göre."

Evelyn knabberte an der Lippe, als sie zusah, wie sich Peeves von ihr abwandte. Sein erhabenes Getue war schlecht geschauspielert und ließ ihn nur unberechenbarer erscheinen.
 

"Peeves, was würdest du vorschlagen, wenn ich gerne Punkte verlieren würde?" Viel Gerede würde sie hier nicht weiterbringen, also kam sie ohne Umschweife zur Sache. "Hast du einen Tipp für mich?"
 

In der ganzen Schule gab es niemanden, der so viel Schaden anrichtete, wie Peeves, ausgenommen vielleicht die Weasley-Zwillinge, obwohl Evelyn sich bemühte beiden Parteien nie allzu nahe zu kommen. Ein Vorsatz, den sie gerade ignorierte. Wenn sie sich ansah, wie Peeves nun interessiert mit dem tropfenden Pinsel ihr näher kam, seine orangenen Augen wild funkelnd, wünschte sie sich beinahe nicht hier zu sein.

Nervös betrachtete sie den Pinsel, wagte es aber nicht ihn darauf anzusprechen aus Angst ihn vielleicht sogar auf dumme Gedanken zu bringen.
 

"Wieso erfragst du die Hilfe des großen Mister Peeves?"
 

Dann spiele ich eben mit. "Niemand ist derart berüchtigt darin Schabernack zu treiben."

Peeves schnalzte mit der Zunge, ließ das Malwerkzeug einfach fallen, und rückte seine bunte Fliege zurecht, ehe er die Mütze abzog, wodurch deine Halbglatze zum Vorschein kam. "Nack, Nack! Schabernack." Sein dicker Bauch wippte, während er tonlos lachte. "Genialer Peeves, schlauer Peeves, doch was will das kleine Schülerlein wirklich?" Plötzlich wirkte er ernst. Evelyn hatte sich nie vorstellen können, dass Peeves je ernst sein konnte.
 

"Punkte, Peeves. Ich will Punkte verlieren", widerholte sie.
 

"Ist es nicht eure größte Freude wertvolle Pünktchen zu sammeln, statt sie zu verlieren? Auch wenn das bei weitem nicht so viel Spaß macht."
 

"Berechtigte Frage." Mehr sagte sie nicht, was auch Peeves verstörte, der anscheinend auf eine längere Antwort wartete.
 

Langsam schwebte er zu Boden und griff nach dem Pinsel, in dessen nasses Ende er kurzerhand griff. Seine Finger waren nun beschmiert mit Farbe, sodass es aussah, als hätte er seine Hände in einen Eimer Blut getunkt. Die kamen Evelyn nun immer näher.
 

"Ungezogener kleiner Slytherin", tönte er, den ausgestreckten Zeigefinger nur Zentimeter von Evelyn entfernt. Zusätzlich machte er dunkle Zischlaute, die seine gelben Zähne in einer breiten Fratze zeigten. Da bemerkte Evelyn auch schon das kalte Gefühl einer nassen Substanz auf den Wangen.
 

Im großem Bogen verteilte er die Farbe in Evelyns Gesicht, die resigniert die Lippen spitzte. Wenn sie eine Antwort von ihm wollte, müsste sie weiterhin mitspielen, auch wenn das bedeutete, eklig feuchte Farbe auf der Haut zu spüren.
 

"Danke", sagte sie knapp, was Peeves erneut giggeln ließ. Sie wollte gar nicht wissen, was er ihr auf die Backe gemalt hatte.
 

"Gern geschehen."
 

So kommen wir nicht weiter. "Da wir das nun geklärt hätten und du mich sowohl mit Tinte, als auch mit Farbe bekleckert hast, noch bevor das Jahr vorbei ist, hättest du vielleicht auch einen Vorschlag, wie ich-"
 

Der Poltergeist riss nun Grimassen. "Bla, bla bla, Mister Peeves ist gelangweilt vom schwatzenden Slytherin und die säuselnden Sätze der Sinnlosigkeit."
 

Evelyn konnte ihre Verwunderung nicht verbergen. "Das, ehm. Wow." Der kennt solche Wörter?

Leider schien Peeves auch wieder das Interesse an ihr verloren zu haben du widmete sich nun lieber wieder dem Bekritzeln des Gemäldes.
 

"Wie kann ich denn jetzt Punkte verlieren?" Ein letztes Mal wollte sie einen Versuch starten eine Antwort zu bekommen, doch auch das scheiterte.
 

"Sei wie Mister Peeves, Mister Peeves ist der Beste!"
 

Sie entschied, dass es keinen Wert hatte und entfernte sich langsam, zunächst mit Blick auf Peeves, ehe sie sich schließlich umdrehte und mit dem Rücken zu ihm den Korridor verließ. Im Laufen fasste sie sich ins Gesicht, wo die Farbe bereits begann zu trocknen. Die kleine Aktion hatte absolut nichts gebracht außer, dass sie erneut völlig besudelt worden war. Memo an mich, von nun an wirklich von Peeves fernhalten.
 

Immerhin schien dieses Mal ihre Kleidung verschont geblieben zu sein, weshalb das Debakel mit ein wenig Wasser ins Gesicht wieder bereinigt sein sollte. Während sie sich den Plan von Hogwarts ins Gedächtnis rief, fiel ihr ein winziges, jedoch umso wichtigeres Detail ein, was sie resigniert die Hände in die Luft zucken ließ.

"Myrtes Klo ist das nächste. Natürlich." Sie hatte nun die Möglichkeit ein Waschbecken im Badezimmer von Myrte aufzusuchen in der Hoffnung, dass die ewige Bewohnerin der Toilette gerade nicht anwesend war, oder aber sie entschied sich für den weiteren Weg. Dies wiederum würde bedeuten, dass sie die Treppen benutzen musste und dadurch dem Spott der Schüler ausgesetzt war.
 

Die Wahl war schnell getroffen. "Auf zu den Treppen."
 

Sie war bereits voller Tine durch die ganze Schule gewandet, da machte das bisschen Farbe auch nichts mehr aus. Es war gar nicht so ungewöhnlich Opfer von Streichen, sei es von Peeves oder anderen Unruhestiftern, durch Hogwarts wandern zu sehen. Wenn sie Myrte vermeiden konnte, würde sie das tun; um jeden Preis.
 

Der Samstag war noch jung und das Wetter hatte sich nicht gebessert, weshalb einiges auf den Treppen los war. Ein wenig senkte sie den Blick, damit sie das Kunstwerk im Gesicht nicht zu sehr zur Schau stellte, und auch wenn die meisten kommentarlos an ihr vorbeigingen, musste sie sich von hier und da Seitenblicke gefallen lassen.
 

Ihr Weg führte sie hinauf, wo sie eilig ein Waschbecken mit Spiegel aufsuchte. Was sie dort sah, ließ sie die Ränder des Waschbecken vor Scham umklammern.
 

"Blaise hatte das hübscher gemalt", meinte sie augenrollend und versuchte mit schnellen Bewegungen ihre Backen von dem Schandfleck zu befreien.
 

Von der Menge an Wasser, die sie sich immer wieder ins Gesicht spritzte, wurden ihre Haare nass, doch schließlich war sie zufrieden. Das Bild war verschwunden, trotzdem konnte sie nicht sagen, ob die Röte in ihrem Gesicht Reste der verwischten Farbe, oder aber ein Überbleibsel ihres heftigen Schrubbens war.
 

Das Erlebnis mit Peeves hat ihr die Lust genommen noch weiter zu versuchen Punkte zu verlieren, zumindest für heute. Resigniert trat sie ihren Weg zurück in den Gemeinschaftsraum an, wo sie Zabini helfen würde. Immerhin er würde sich dann freuen und ihr Tag war nicht vollends verschwendet gewesen.

"Mister Peeves ist gelangweilt vom schwatzenden Slytherin", äffte sie leise beim Gehen den Poltergeist nach. Sie hätte wissen müssen, dass ein Gespräch sinnlos war. Seit hunderten Jahren ließ der Geist nicht mit sich reden, wieso sollte er das jetzt tun?
 

Sie schob sich gerade die noch feuchten Haare mit der Hand zurück hinter die Ohren, als sie am Ende des Korridors ihren Hauslehrer sah, der in dieselbe Richtung wie sie lief. Er hatte seine Hosen zurück zu seinen üblichen Roben getauscht, die sich hinter ihm nun aufbauschten. Bei seinem Anblick lief sie automatisch langsamer, wie beinahe jeder Schüler Hogwarts. Man wartete, bis er irgendwo verschwunden war, bis man seinen Weg fortsetzt, was besser für jeden beteiligten war. Ihr kam jedoch ein Gedanke.
 

"Sei wie Peeves", waren seine letzten Worte gewesen. "Was würde Peeves tun?" Der knubbelige Geist hatte keinen Respekt, vor niemanden, also gab es so einiges, was Peeves an ihrer Stelle nun tun könnte.

Es gab auch so einiges, womit die Slytherin selbst bei Professor Snape ohne Strafe durchkamen, außer er hatte einen schlechten Tag. Tagen an denen, zum Beispiel, Gryffindor im Quidditch gewonnen hat.
 

In ihr herrschte ein Gefühl wirbelnder Unsicherheit. Einerseits hätte sie tatsächlich die Gelegenheit endlich einige Punkte loszuwerden, andererseits musste man bescheuert sein Snape zu provozieren.
 

Ihre Füße begannen schneller zu gehen, ehe sie Snape aus den Augen verlor. Zuerst mit Peeves reden, dann das. Du bist lebensmüde, ermahnte sie sich, doch gleichzeitig kam ihr eine noch verrücktere Idee, wie eine Provokation möglicherweise aussehen konnte. Nach all den Monaten ohne Erfolg war sie verzweifelt, die Punkte mussten weg! Nein, du bist nicht lebensmüde, du bist ein unvorsichtiger Gryffindor.
 

Ihr Vorhaben war leichtsinnig, und die Liste, was alles danebengehen konnte, war länger als Zabinis Aufsatz.
 

Sie hörte bereits seine hallenden Schritte im Korridor, die sie schnell versuchte mit den ihren zu synchronisieren. Vom Weg nach zu urteilen war er wohl in Richtung seines Büros unterwegs, was sie das Tempo anziehen ließ: sie würden sein Büro bald erreicht haben und dann wäre er hinter der Tür verschwunden. Sie musste es jetzt tun.
 

Nur noch wenige Meter trennten die beiden, es verlangte Evelyn einiges ab, um mit ihm Schritt zu halten.

Tu es!
 

Doch sie traute sich nicht. Sie hatte ihren Blick auf ihr Ziel fixiert, dem Saum seines Umhanges, doch sie wagte nicht den letzten Schritt zu tun. Immer wieder glitt ihr Blick nach ob zu seinem Hinterkopf und halb erwartete sie, dass er plötzlich stehen blieb, da er ihre Präsenz bemerkt hatte. Sie war sich sicher, dass er ihre Präsenz bemerkt haben musste, wirklich leise war sie nicht. Wieso bleibt er nicht stehen?

Der ganze Plan, wenn man es so nenne wollte, war mies. Kopfschüttelnd verlangsamte sie ihren Schritt mit Gedanken ihr Vorhaben abzubrechen. Es würde sich eine andere Gelegenheit ergeben, eine, die nicht beinhaltete in einem Bienennest zu stochern. Was bist du, ein Gryffindor? Das kannst du besser.

Gerade, als sie überlegte, welchen Weg sie nun nehmen sollte, traf sie etwas Hartes an die Nase. Gleichzeitig hatte sie das beklemmende Gefühl eine ähnliche Situation schon einmal erlebt zu haben.
 

"Autsch", stieß sie aus und hob sich die Nase, wobei sie merkte, wie unter ihrem Fuß versuchte etwas frei zu kommen.
 

"Passen Sie doch auf!", hallte Snapes Stimme durch den leeren Gang, als Evelyn sah, dass gerade ausversehen das passiert war, was sie eben noch gewollt vorgehabt hatte.
 

Peinlich berührt hob sie ihren Fuß, sodass Snape seinen Umhang darunter vorziehen konnte, allerdings prangte dort nun ein staubiger Abdruck ihres Schuhs auf dem Schwarz.
 

"Ich ... es tut mir leid."
 

Snape zog sich den Kragen zurecht, der ihm wohl schmerzhaft in die Kehle gezogen worden war, als Evelyn ihm während des Laufens auf den Umhang getreten war.
 

"Sind Sie denn sogar zum Laufen zu dämlich?"
 

Evelyn schluckte und sagte nichts, wobei sie den Steinboden fixierte. Jede Frage aus seinem Mund, die nicht im Unterricht gestellt worden war, war im Grunde eine rhetorische Frage, also bemühte sie sich nicht.
 

"Zehn Punkte Abzug!"
 

Ja!
 

"Tut mir leid, Professor", sagte sie erneut schuldbewusst. Zwar freute sie sich, dass es geklappt hatte – in gewisserweise – andererseits musste sie nun auch wieder aus der Situation herauskommen. "Ich war in Gedanken."
 

Sein Blick sagte alles: überflüssige Information. "Wenn das noch gleichzeitig beim Laufen funktionieren würde, wären Sie ein funktionierendes menschliches Wesen."
 

Sie biss ihre Zähne fest zusammen, um sich jedes weitere Kommentar, das es an dieser Stelle nur schlimmer machen würde, zu verkneifen. Obwohl ihr einiges als Antwort einfallen würde, was angesichts der unnötigen Beleidigung gerechtfertigt gewesen wäre.
 

"Gehe Sie zurück in ihren Gemeinschaftsraum", sagte er und wandte sich zum Gehen, als Evelyn frustriert die Worte herausrutschten.
 

"Da wollte ich ja sowieso hin."
 

Sie hatte leise gesprochen, doch in dem Gang war jeder einzelne Buchstabe zu hören gewesen. Snape bemühte sich nicht, sich umzudrehen. "Nachsitzen, Miss Harris. Melden Sie sich heute Abend bei Filch." Verdammt.
 

Um jede weitere Konfrontation zu vermeiden, schloss sie die Augen und wartete, bis Snapes sich entfernende Schritte nicht mehr zu hören waren.
 

"Sei wie Peeves", begann sie zu flüstern, während sie auf dem Absatz kehrt machte und sich den Weg in den Gemeinschaftsraum suchte. "Geniale Idee, sei wie der Poltergeist, der keinerlei Konsequenzen befürchten muss."
 

Ganze zehn Punkte war sie losgeworden, auch wenn sie nun heute Abend zu ihrem ersten Nachsitzen erscheinen durfte. "Er hätte wenigstens noch weitere fünf abziehen können. Das hätte uns einiges erspart."

Eine direkte Begegnung mit Snape war immer beunruhigend, und im Nachhinein fragte sie sich, was sie geritten hatte ein derart hohes Risiko einzugehen.
 

Wieder einmal brillant, Mädchen. Tritt Snape auf den Umhang, großartig.
 

Sie würde sich in Zukunft nicht nur von Peeves fernhalten, sondern auch nicht mehr auf seine wertvollen Ratschläge hören.
 

"Fragt mich, ob ich ein funktionierendes menschliches Wesen bin", kurz schielte sie über die Schultern, um sicher zu gehen, dass er noch irgendwo stand und sie hörte. "Fass dich an deine eigene enorme Nase, Snape."

 

Kapitel 48 - Ultimatum

Im Nachhinein bereute sie ihre Provokation zutiefst, nicht nur, weil sie nun Nachsitzen musste, sondern auch, weil sie schockiert war wie leichtsinnig sie gewesen war. Dass sie dabei nur mit Nachsitzen bestraft worden war, konnte man fast als Glück bezeichnen. Ja, sie wollte diese Punkte endlich von ihrem Konto haben, aber ausgerechnet Snape zu nutzen, erschien ihr nun äußerst dumm. Ihre Aktion war zwar teilweise ein Erfolg gewesen, aber Evelyn würde sich hüten sie zu wiederholen. Stattdessen würde sie sich an Professor McGonagall halten, um die letzten Punkte abzuziehen.

 

"Melden Sie sich heute Abend bei Filch", wiederholte Sie in Ihrer besten Snape Stimme, "wann soll das sein? Vor dem Essen, nach dem Essen? Für jemand der alles so genau nimmt, ist das recht unspezifisch."

 

Millicent lächelte müde. Daphne hatte sie dazu gebracht den Tag über mit ihr einige Flugübungen zu machen, da Millicent noch immer nicht richtig auf dem Besen sitzen konnte. Evelyn selbst war nicht gerade stolz sagen zu können, im Flugunterricht keine Probleme zu haben, allerdings war von ihnen allen Daphne die beste Fliegerin, weshalb sie Millicent ein wenig unter die Arme griff. "Ich denke davor", sagte Millicent mit breitem Gähnen.

 

"Glaub ich nicht, ich musste damals nach dem Essen gehen", antwortete Zabini, der als einziger in ihrer Gruppe gut gelaunt war. Als Evelyn von ihrer kleinen Tour zurückgekehrt war, hatte er ganz alleine am Tisch gesessen und versucht einen Satz zu formulieren. Evelyn hatte befürchtet er würde in Tränen ausbrechen, als sie sich schließlich stumm zu ihm gesetzt hatte. Mit ihrer Hilfe hatte er den Aufsatz nach wenigen Stunden beendet, den er nach eigener Aussage wohl nie alleine bewältigt hätte. Evelyn waren einige Kommentare auf der Zunge gelegen, angesichts ihres eigenes Patzers des Tages, sparte sie sich jedoch jedes Wort. Es stand ihr heute nicht zu jemanden zu kritisieren.

 

Den anderen gegenüber hatte sie ihre Begegnung mit Snape als Unfall geschildert, was es zum Teil auch war. Ihre Unterhaltung mit Peeves, der sie erst auf die glorreiche Idee gebracht hatte, dank der sie nun auf dem Weg zu ihrem Nachsitzen war, hatte sie verschwiegen.

 

"Es wäre besser, wenn du vorsichtshalber jetzt schon zu Filch gehst."

 

Pansy hatte recht, entschied Evelyn. Sie wusste nicht, wann genau Filch sie erwartete, also war es besser zu früh zu erscheinen, als zu spät, wobei sie nicht erwartete ihn in seinem Büro anzutreffen.

 

Filch war jemand, der zu jeder Zeit durch die Gänge des Schlosses patrouillierte, auf der Suche nach Unruhestiftern. Egal zu welcher Zeit, man fand ihn immer irgendwo im Schloss, wie er auf der Lauer lag, und manchmal sogar, wie er Staub wischte, was in einem so alten Gemäuer wie Hogwarts eine Sisyphusarbeit war.

 

Als sie die Eingangshalle erreichten, nickte Evelyn geschlagen. "Fein, dann werde ich eben jetzt gehen." Auch wenn er nicht in seinem Büro wäre, so wäre es besser für sie und ihre Gesundheit wenigstens kurz vorbeizuschauen.

 

Sie verabschiedete sich von den anderen, die mit der Masse in der Großen Halle verschwanden, während sie den Gang entlang ging, hinein in einen schmalen Korridor, der die Eingangshalle mit den zum größten Teil leer stehenden Klassenzimmern im Erdgeschoss verband.

 

Die Mehrzahl der Zimmer im Schloss wurden nicht genutzt, dafür war die Masse an Schülern viel zu klein. Evelyn vermutete, dass es eine Zeit gegeben haben musste, in der pro Jahr Tausende hier unterrichtet worden waren, doch verglichen damit war das Hogwarts heute nur zu einem Bruchteil gefüllt. Sie sah es täglich in der Großen Halle, die weitaus mehr Platz bot, als sie tatsächlich benötigten. Das Erdgeschoss war praktisch unbenutzt, weshalb sie sich beeilte den dunklen Gang hinter sich zu bringen.

 

Es hingen einige Gemälde hier, allerdings fehlte in beinahe jedem das Bild. Überall sah sie nur leere Landschaften, verlassene Pavillons oder vergessene Stuben. Es schien beinahe so, als seien die Bewohner der Gemälde dauerhaft umgezogen.

"Da ist ja in unserem Kerker mehr los", murmelte sie, als sie an einem leeren Rahmen beäugte, der unter einer dicken Schicht Spinnenweben verschwand. Ein seltsames Gefühl überkam sie, so als ob kleine Tierchen über ihre Haut krabbelten. Das bildete sie sich natürlich nur ein, dennoch ergab sie sich dem Drang ihre Arme zu kratzen.

 

Hier hindurch zum Büro zu gehen, empfand Evelyn als Strafe genug, aber sie war sicher, dass Filch noch so einige Ideen in petto hatte.

 

Mittlerweile hatte sie ihre Meinung geändert und hoffte, dass Filch im Büro anwesend war. Ein zweites Mal wollte sie nicht den Weg hinter sich bringen, wenn es nicht sein musste. Bereits die letzten Meter zur unscheinbaren Tür, legte sie im Eilschritt zurück, ehe sie ohne zu zögern klopfte.

 

Bitte sei da, bitte sei da, bitte sei da.

 

Quälend lange Sekunden hörte sie nichts, und genauso wenig passierte auch, bis die Tür aufgerissen wurde und ein heller Lichtstrahl von innen sie blendete.

 

"Was ist?" Die krächzende Stimme war beinahe eine Erlösung, allerdings wusste Evelyn nicht genau, was sie sagen sollte. Sie hatte keine Erklärung vorbereitet.

 

"Mr Filch?", fragte sie, noch immer stark geblendet, wobei ihr bewusst war, wie überflüssig die Frage eigentlich war.

 

"Bist du die Slytherin, die mir heute Abend helfen soll?" Jedes Wort war ungläubig von ihm gedehnt worden, so als ob er genauso unerfreut wäre sie zu sehen, wie Evelyn sich fühlte.

 

"Eh, ja?", war alles, was sie erwiderte. Immerhin sah sie nun den alten Hausmeister besser, der das faltige Gesicht zur Fratze verzog.

 

"Ergh, du bist zu früh." Er schüttelte den Kopf, ließ die Tür zu seinem kleinen Zimmer jedoch auf, damit sie hineintreten konnte. "Nichtmal in Ruhe essen lassen sie einen."

 

Filch ging zu einem überfüllten Schreibtisch, wo nur ein bisschen Platz geschafft worden war, um einen Teller abstellen zu können. Interessanter fand sie jedoch die leise klimpernden, glänzenden Ketten, die hinter ihm an der Wand drapiert waren. Der Wind, der nun durch die offene Tür zog, in der sie stand, hatte sie in Bewegung gesetzt.

 

Ringsum standen hölzerne Aktenschränke, die allesamt beschriftet waren, sich jedoch vom eigenen Gewicht zur Seite neigten. Das Licht, das Evelyn gerade noch so hell erschienen war, kam nur von einer kleinen, unscheinbaren Öllampe, die direkt unter der Decke hing. Fenster gab es keine, daher war Evelyn nicht verwundert abgestandene Luft zu atmen, die ein wenig nach Fischstäbchen roch. Kurz schaute sie auf Filchs Teller, der noch gut gefüllt war, allerdings entgegen Evelyns Annahme gar keine Fischstäbchen enthielt.

 

"Hey!", rief Filch und ließ Evelyn zusammenzucken. "Nicht herumschnüffeln!"

 

Er beeilte sich einige Werkzeuge zusammenzusuchen, ehe er Evelyn unsanft hinaus schubste und die Tür sorgfältig mit einem rostigen Schlüssel verschloss.

 

"Folg mir."

 

Freundlich wie eh und je, dachte sie, hatte aber auch keine andere Reaktion seinerseits erwartet. Kurz suchte sie den Boden nach Mrs Norris ab, musste aber feststellen, dass seine Katze nirgends zu sehen war. Seltsam.

 

"Du hast heute die schöne Aufgabe die Kamine zu putzen", meinte er, ohne sich umzudrehen, "nach dem Winter sind sie immer so verstopft." Über verschmutzte Kamine zu reden, schien Filchs Laune etwas zu verbessern, wohingegen Evelyn wortlos die Stirn runzelte. Sie hatte noch nie im Leben einen Kamin reinigen müssen und sah dieser ohne Zweifel dreckigen Aufgabe nicht entgegen.

 

Mit einer vergilbten Lampe aus Glas ging er voran, wobei er Evelyn auf dem exakt selben Weg zurückführte, auf dem sie gekommen war, bis sie vor der Großen Halle standen. Die Türen waren geschlossen, doch man konnte das dumpfe Gemurmel im Innern hören. In der Eingangshalle selbst hing der Geruch nach duftendem Essen.

 

"Weiter." Unbemerkt von Evelyn hatte er einen schmalen Durchgang neben der Halle geöffnet, wo er nun mit seiner Lampe hinein leuchtete.

 

"Wie haben Sie das gemacht?", wollte Evelyn wissen, doch Filch drängte sie nur weiterzugehen.

 

"Keine Fragen, geh rein."

 

Mit Filch auf ihren Fersen zwängte sie sich in den Freiraum, der kaum breiter war, als ihre ausgestreckten Arme. Sofort schlug ihr ein unangenehm beißender Geruch entgegen, der sie die Hand vor die Nase nehmen ließ. Viel sah sie glücklicherweise nicht, da die Lampe und Filch hinter ihr waren und sie daher weite Schatten warf, denn sie befürchtete halb verweste Gebeine auf dem schmutzigen Boden zu entdecken. Immer wieder spürte sie, wie etwas unter ihren Füßen zerbarst und sie hoffte, dass ihre Fantasy ihr einen Streich spielte und es sich nur um kleine Steinchen handelte, die von den Wänden abgebröckelt waren.

 

Der Weg war ging immer geradeaus, als Filch sie barsch zum Halten brachte und ihr die Werkzeuge vor die Brust hob.

"Die gehören die nächsten Stunden dir", sagte er grinsend und nickte zu seiner Rechten. "Das Schloss wird mit diesen Rillen warm gehalten, allerdings sind die natürlich jetzt verschmutzt. Viel Spaß beim Putzen, und keine Magie."

 

Filch wandte sich um, aber Evelyn wollte ihn nicht einfach gehen lassen. "Moment, stopp. Die Rille zieht sich über die gesamte Länge. Das soll ich alles putzen?" Schockiert betrachtete sie die Wand, wo sie den kleinen Vorsprung bemerkte, der eher aussah, als wäre er ein mittelalterliches Abflusssystem.

 

"Hättest dir eben vorher überlegen sollen, ob du Ärger machst", war alles, was er antwortete, ehe er die Lampe zu Evelyns Füßen stellte und im Dunkel verschwand. Kurz verharrte sie, die Kiste mit verschiedenen Werkzeugen ungläubig in Händen, ehe sie kopfschüttelnd erneut die Rille, wie Filch es nannte, im Dunkel begutachtete.

 

"Das ist kein Kamin!", sagte sie laut. Ihre Worte hallten leicht von den nackten Wänden. "Ein Kamin hat eine Feuerstell", sie setzte die Kiste ab, "in der kann ein Feuer brennen." Unschlüssig nach was genau sie suchte, kramte sie in dem Sammelsurium an Zeug. "Der Rauch wird dann in einem Schornstein abgelassen, wo ist hier der Schornstein?" Sie fühlte sich veralbert. Als er gesagt hatte, sie würde Kamine säubern, hatte sie an die Feuerstelle in ihrem Gemeinschaftsraum gedacht, die in der Tat den gesamten Winter über befeuert worden war: nicht an dieses abgewandelte Aquädukt für Ameisen. Wütend trat sie gegen die Box, die laut unter ihrem Fuß schepperte. Sie war auf einiges gefasst gewesen, aber sie hatte nie damit gerechnet an diesem stinkenden Ort vertrockneten und eingebrannten Ruß beseitigen zu müssen.

 

Mitten in dem winzigen Gang stehend versuchte sie zu vermeiden etwas anzufassen. Alles hier erschien ihr klebrig verdreckt. Sie schlang die Arme um sich selbst, während sie versuchte ruhig durch den Mund zu atmen. Ihre Nase begann bereits zu brennen und sie redete sich ein den sauren Geschmack auf der Zunge nicht zu bemerken.

 

Sie wünschte sie könnte sagen, sie wäre wütend auf Filch, es wäre sogar einfach zu behaupten, sie wäre wütend auf Snape, doch sie wusste, dass sie eigentlich wütend auf sich selbst war. Filch tat nur das, was man ihm aufgetragen hatte, obwohl sie sein gehässiges Grinsen anwiderte. Sie war in diesem dunklen Loch, weil sie aus einem Impuls heraus Snape provoziert hatte, ein Schachzug, der sie selbst mattgesetzt hatte. Sie hätte es besser wissen müssen als ausgerechnet ihrem eigenen Hauslehrer buchstäblich auf den Schlips zu treten, und diese Tatsache war es, die ihr am meisten zusetzen. Nicht, dass sie hier gleich im Schmutz wühlen würde, obwohl auch das nicht angenehm werden würde, sondern es war die Tatsache, dass ihr Leichtsinn arg an Dummheit grenzte.

 

"Idiot, das ist deine eigene Schuld", stieß sie frustriert aus, ehe sie beherzt nach einer runden Drahtbürste griff.

Sie erkannte die meisten Utensilien in der Box: Bürsten verschiedener Größen, Handschaufeln, und Schwämme, manche grob manche fein. Nach all der Zeit hier, in der sie gesehen hatte, wie nur mit einem Spruch selbst das schlimmste Chaos beseitigt werden konnte, oder wie nach einem Schwenker mit dem Zauberstab Zerbrochenes wieder ganz gemacht werden konnte, löste der Anblick dieser handelsüblichen Ausrüstung ein heimisches Gefühl aus.

 

All ihr Groll half nichts, sie musste sich an die Arbeit machen; ob sie wollte, oder nicht. Sie setzte sich die Lampe zurecht, sodass sie sich einen Überblick über die Verschmutzung machen konnte. Es sah aus, als wären die Rillen bedeckt mit einer dicken Schicht teerartigem Zeug, was es vermutlich auch war. Überall, selbst an der Wand hinter ihr, waren Rußrückstände zu sehen, die sie aber nicht vorhatte ebenfalls zu entfernen. Das schien ihr Schmutz von Jahrhunderten zu sein.

 

Eher widerwillig näherte sie sich mit dem Finger dem schwarzen Teer in der Rille.

 

"Woah, eklig", sagte sie, als ihre Fingerspitzen die klebrige Masse berührten.

 

Langsam gewöhnte sie sich an den modrigen Geruch, doch trotzdem sah sie sich nun nach einem Tuch um, das sie sich vor den Mund binden konnte. Sie würde hier einigen Schmutz aufwirbeln, den sie nicht vorhatte einzuatmen. Es überraschte sie kaum zu sehen, dass es zwar Reinigungstücher aus Leder gab, jedoch nichts, womit sie ihr Gesicht schützen konnte, aber sie wäre kein Muggel für zwanzig Jahre gewesen, wenn sie sich nichts einfallen lassen würde.

 

Kurzerhand schlüpfte sie aus ihrem Pullover und griff nach dem Ärmel ihrer Bluse. All ihren aufgestauten Frust über sich selbst legte sie in eine Bewegung. Quälend langsam gaben die Nähte nach, wobei sich der Stoff Stück für Stück in Evelyns Fleisch grub, bis auch der letzte Faden riss, der den Ärmel an den Rest der Bluse gebunden hatte. Schnell rieb sie beide Hände zusammen, um den Schmerz ein wenig zu lindern.

 

Die hässlichen Fransen verbarg sie unter ihrem Pullover, ohne den es sowieso zu kalt wäre. Ironischerweise wusste sie einen Zauberspruch, mit dem sie nun aus dem Ärmel ein Tuch machen konnte, das lang genug wäre, um es einmal um den Kopf zu wickeln, allerdings versuchte sie sich noch nicht einmal an einem Diffindo, den sie kaum bewerkstelligen konnte. Stattdessen griff sie nach dem einzigen in der Kiste, was halbwegs scharf aussah. Zuerst hatte sie geglaubt, Filch trug einen Hufkratzer mit sich herum, doch auf den zweiten Blick, war dieses gebogene Messer dafür viel zu groß. Damit schaffte sie es mehr schlecht als recht sich endlich ein Tuch zu basteln, welches sie eilig anlegte. Es wurde Zeit an die Arbeit zu gehen.

 

Filch hatte ihr nicht erklärt, wie genau sie vorgehen sollte, außer der netten Bemerkung keine Magie zu benutzen, worüber sie nur schmunzeln konnte.

 

Als sie eine Bürste nach der anderen herausholte, fiel ihr Blick auf ihr Armband, welches sie von Ollivander bekommen hatte und nun unter ihrem Pullover hervor lugte. Sie hatte kein Interesse Teer oder anderes auf das Armband zu schmieren, weshalb sie es zum ersten Mal in Wochen abnahm und sich an einen Knopf band, um es nicht zu verlieren.

 

Schnell wurde ihr klar, dass eine kleine aber nicht unwichtige Komponente völlig fehlte: Wasser. Sie hatte Tücher, Lumpen, Bürsten und sogar eine kleine Schaufel, aber nirgends fand sie auf nur einen Eimer, mit dem die Wasser transportieren könnte. Wenn sie jedoch darüber nachdachte, war das wohl gewollt so.

 

Sie nahm sich eine der großen Drahtbürsten und begann an Ort und Stelle in der Rille zu schrubben. Immer wieder blieben einige der dicken Haare in der Masse kleben und zuerst glaubte Evelyn hier rein gar nichts zu bewirken, doch nach und nach trug sie den Schmutz ab, der sich in kleinen Klumpen überall auf dem Boden, und auf Evelyn verteilte. Ihre Entscheidung sich wenigstens ein bisschen vor dem Staub zu schützen, war die richtige gewesen. Bald schon waren ihre Hände und vermutlich auch der Teil des Gesichtes, der frei lag, schwarz vor Ruß. Trotzdem glaubte sie, dass sie noch zu viel des Staubes einatmete, da sie mit der Zeit immer mehr husten und sich räuspern musste.

 

Nichtsdestotrotz kam sie voran. Sie hatte sich ein System erarbeitet, nach dem sie zunächst das Gröbste abtrug und dann mit dem Messer, das sie als Hufkratzer verwechselt hatte, die schmalen Rillen regelrecht auskratze. Den Abfall, den sie dabei verursachte, bürstete sie ohne Reue einfach über den Rand auf den Boden. Ihre Aufgabe war es die Rille zu säuber, nicht den ganzen Gang.

 

Je mehr Zeit sie hier verbrachte, desto klarer wurde ihr, weshalb Filch von "Kamin" geredet hatte. Die Rillen, es waren mehrere, zogen sich bis in den Stein hinein, was katastrophal zu reinigen war. Wenn sich Evelyn nicht irrte, stand sie vor der Grundheizung des Schlosses. Einzelne Räume, wie ihren eigenen Gemeinschaftsraum, hatten sie mit der Feuerstelle warm halten können, doch der Rest des Schlosses war für vereinzelte Feuerstellen zu groß. Über diese Rillen, in denen Teer verbrannt worden war, gelangte Wärme direkt in den Stein und hielt das Schloss so in den kältesten Monaten davon ab von innen einzufrieren. Evelyn erinnerte sich, wie sie trotzdem jedes Mal gefroren hatte, wann immer sie die Wärme ihres Hauses verlassen hatte. Sie wollte sich gar nicht vorstellen wie kalt es in dem Gemäuer geworden wäre, wenn sie ihre Generalheizung nicht gehabt hätten.

 

Das ganze Schloss musste, unsichtbar für die Schüler, durchzogen sein mit diesem einfachen Mechanismus, und Evelyn hoffte inständig, dass sie nicht jede einzelne dieser Rillen säubern musste.

 

Irgendwann, sie konnte nicht sagen wie lange sie schon unbemerkt von Evelyn dagesessen hatte, hatte sie eine stumme Zuschauerin bemerkt. Mrs Norris' gelbe Augen waren beinahe das einzige, das man in dem fahlen Licht erkennen konnte. Beinahe wie eine Puppe saß sie da und beobachtete Evelyn bei ihrer Arbeit.

 

"Du könntest dein Herrchen für mich fragen, wie lange ich hier noch putzen soll?", fragte sie Mrs Norris schwer atmend. Mittlerweile kam ihr die Strafarbeit wie Schwerstarbeit vor. Ihr Arm schmerzte und jeder Muskel fühlte sich zum Bersten gespannt an. Der Schweiß perlte ihr schon von der Stirn und verklebte ihre Haare. Zudem hatte sie seit einiger Zeit fürchterlichen Hunger. Das Abendessen war sicherlich schon lange beendet worden.

 

Mit der Bürste in der Hand, hielt sie inne. "Ich kann nicht mehr." Sicherlich hatte sie bereits mehr Kraftreserven, als ein Kind, doch die eintönige Arbeit gab ihr nun den Rest. Wie Kinder diese Arbeit bewerkstelligen sollten , war ihr ein Rätsel und grenzte in ihren Augen beinahe an Folter.

 

Sie nutze ihre kurze Pause und streckte langsam die mit Dreck besudelten Finger nach Mrs Norris aus. Im Endeffekt war Mrs Norris eine normale Katze, wenn auch mager und ein wenig strubblig. Ihr Fell wirkte staubig, allerdings konnte Evelyn nicht sagen, ob ihre Augen ihr nur einen Streich spielten, oder ob sich Reste des Rußes auch auf Mrs Norris abgesetzt hatten.

 

"Gesprächig bist du nicht gerade." Noch immer hob sie der Katze die Finger entgegen, die Mrs Norris völlig ignorierte. "Oder beweglich. Sollst du aufpassen, dass ich arbeite?"

 

Langsam hob sie ihren Schwanz und wickelte ihn sich um ihre Vorderbeine.

 

"Ja, wir wollen beide nicht hier sein. Wobei es vielleicht wenigstens ein paar Mäuse für dich gibt. Isst du Mäuse? Wahrscheinlich nicht." Sie gab es auf Mrs Norris locken zu wollen, und trotz ihrer anfänglichen scheu sich nicht auf den Boden zu setzten, ließ sie sich an Ort und Stelle nieder. Sie war ohnehin schon völlig verdreckt.

 

"Weißt du, wenn man mir vor einem Jahr gesagt hätte, dass ich heute genau hier sitzen würde, hätte ich ... ja was hätte ich eigentlich? Wie reagiert man wohl, wenn man gesagt bekommt, man würde in einem Buch landen."

 

Sie lachte trocken, wobei sie mit einem Hustenanfall bestraft wurde. Nicht nur der Hunger trieb sie, sie würde momentan auch alles für ein Glas Wasser geben.

 

"Du weißt nicht, was ein Buch ist, oder?" Mit wenig Elan schmiss sie ihre Werkzeuge, die sie benutzt hatte und nun überall um sie herum lagen, zurück in die Kiste. "Nein, du fragst dich wahrscheinlich, was der blöde Mensch von dir will?" Sie zog das Tuch vom Mund, sodass sie freier atmen konnte. Ein wenig schockiert war sie schon als sie sah, wie der weiße Stoff ihrer Bluse völlig schwarz war.

 

"Der blöde Mensch will eigentlich nur, dass dieser beschissene Tag vorbei ist." Sie konnte sich kaum vorstellen, wie sie heute Morgen noch im Quidditch-Stadion gestanden und Gryffindor beim Sieg zugesehen hatte. Nichts schien ihr im Moment verlockender zu sein, als sich in ich Bett zu verkriechen und den morgigen Sonntag in selbigem zu verbringen. Schon jetzt wusste sie jedoch, dass ihr das nicht vergönnt sein würde. William hatte einige Übungen für morgen eingeplant, die sie mit dem bevorstehenden Muskelkater nur umso schwieriger bewerkstelligen würde.

 

"Niemand hat gesagt, das Leben als Zauberer sei einfach, was?", versuchte sie ein letztes Mal mit der Katze zu kommunizieren, ehe sie sich stöhnend erhob. Mrs Norris tat es ihr nach, ihre Bewegungen waren hingegen weitaus eleganter, als die von Evelyn.

 

Mit wenig Überzeugung für das, was sie tat, griff sie erneut nach der Bürste, die ihr bereits schmerzhaft in den Fingern lag, und begann ohne Elan über den Stein zu putzen, ohne wirklich etwas zu bewirken. Falls Filch zurückkommen sollte, worauf Evelyn immer stärker hoffte, sollte er sie nicht untätig auf dem Boden sitzen sehen. Sie hatte nicht gemerkt, wie Mrs Norris in der Dunkelheit verschwand und sie abermals alleine ließ.

 

Wie viel sie in der Zeit geschafft hatte, konnte sie schlecht einschätzen. Sie hatte sich monoton Stück für Stück weitergearbeitet, sah aber nirgendwo ein Ende. Sie glaubte nicht, dass Filch erwartet hatte, dass sie die volle Länge reinigte, möglicherweise war das aber auch nur Wunschdenken.

 

Tatsächlich dauerte es nun nur noch Minuten, bis sie endlich den Klang hallender Schritte durch den Gang hörte.

 

"Das reicht, weg mit dir. Ab!" Ohne Begrüßung tauchte Filch aus der Dunkelheit auf, gefolgt von seiner Katze. Evelyn fragte nicht weiter nach, ließ alles stehen und liegen und wünschte ihm eine gute Nacht, was er nicht erwiderte.

 

Auf dem Hinweg war sie noch vorsichtig gewesen, wo sie hintrat, nun aber lief sie ohne Rücksicht auf das knirschende Geräusch unter den Füßen durch den schmalen Gang, bis sie endlich den Ausgang erreichte.

 

In der Eingangshalle verharrte sie kurz und streckte sich. Die Decke im Gang war zwar meterhoch gewesen, dennoch hatte sich Evelyn eingeengt gefühlt. Nun in der Weite der Eingangshalle zu stehen, war mehr als befreiend. Dass sie den unangenehmen Geruch hinter sich lassen konnte, war ein willkommener Bonus, auch wenn es einige Zeit dauern würde, bis sie ihn vollständig aus der Nase hatte.

 

Kurz schaute sie im Schein der Fackeln an sich herunter und erschrak als sie sah, dass ihre Schuluniform über und über mit schwarzen Klumpen bedeckt war. Ihre Finger und Nägel waren völlig verschmiert und verklebt, sodass sie dem Drang widerstehen musste, sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Allerdings befürchtete sie, dass sie im Gesicht genauso schwarz aussah.

 

"Wenn Blaise mich so sieht, wird er mich das wochenlang nicht vergessen lassen", sagte sie leise, als sie sich endlich zurück zum Gemeinschaftsraum begab.

 

Die Große Halle war bereits verlassen, weshalb sie sich nicht die Mühe machte dort etwas zum Essen zu suchen, sie würde bis morgen warten müssen. Sie beeilte sich hinunter in die Kerker zu kommen, wobei sie glücklicherweise niemanden traf. Es würde reichen, wenn sie sich dem Spott von Blaise und Pansy aussetzen musste, da konnte sie darauf verzichten auch noch-

 

"Miss Harris!"

 

Sie schloss resigniert die Augen und schluckte schwer.

 

Nein, nein bitte. Nicht nochmal. Schnell hob sie die Arme und drehte sich zum Ursprung der Stimme um.

 

"Sir, ich bin gerade auf dem Weg zurück, ich komme von der Strafarbeit", die Sie mir auferlegt haben vielen Dank auch, "ich bin mir der Sperrstunde bewusst."

 

Die genaue Uhrzeit kannte sie nicht, da sich jedoch niemand mehr auf den Gängen aufhielt standen die Chancen gut, dass es bereits zu spät war.

 

Professor Snape war einige Meter hinter ihr aufgetaucht und hatte die nächtliche Ruhe mit seinem Ruf gestört.

 

"Folgen Sie mir!"

 

Neeeein. "Sir, darf ich mich wenigstens umziehen?" Sie deutete auf ihre verdreckte Kleidung, ein letzter verzweifelter Versuch sich eine Gnadenfrist zu erbitten, was Snape kaum wahrnahm.

 

"Sie dürfen nicht."

 

Ich darf nicht, natürlich, was frage ich auch?

 

Sie beeilte sich zu ihm aufzuschließen, riss jedoch hinter seinem Rücken Grimassen.

 

"Halten Sie Abstand. Sie werden die nächsten Monate in diesem Zustand zurück zu ihrem Haus gehen, wenn sie mir noch einmal auf die Robe steigen."

 

'Tschuldigung.

 

Stumm, mit genug Entfernung zu ihrem Hauslehrer, folgte sie ihm, wobei sie sich fragte, was genau sie schon wieder falsch gemacht hatte. Vielleicht hatte sie zu laut geseufzt, als sie daran gedacht hatte, erst in einige Stunden Essen zu bekommen?

Mulmig war ihr schon, als sie direkt vor seinem Büro stand, das sie bisher glücklicherweise nie von innen gesehen hatte; das würde sich nun ändern.

 

"Rein, aber fassen Sie nichts an!" Missbilligend schielte er auf ihre verklebten Finger, so als sei es ihre Schuld, dass sie so aussahen. Moment, das hatte sie ja bereits geklärt: es war ihre Schuld.

 

Eher zögerlich trat sie durch den runden Türbogen, hinein in die Höhle des Löwen.

 

Sie schluckte einen Wortwitz hinunter, der selbst in Gedanken unangebracht für die Situation gewesen wäre. Nun musste sie sich konzentrieren, so gut es in ihrem jetzigen Zustand ging.

 

Kurz traute sie sich nach links und rechts zu schauen, war aber wenig überrascht nichts weiter als dutzende Regale voller Reagenzien zu sehen. Man hätte meinen können, sie wären im Klassenzimmer, wären da nicht die Sitzmöbel, die spärlich, aber dennoch, anwesend waren. Der Geruch nach getrockneten Kräutern und moosigem Holz, der in der Luft hing, war tatsächlich Balsam für ihre Nase, nachdem sie Stunden in dem muffigen Loch verbracht hatte.

 

Hinter einem großen Tisch aus dunklem Holz waren zwei Pokale drapiert, die im gedämpften Licht schimmerten. Der schlankere, höhere der beiden, musste der Hauspokal sein, während der eher plumpe mit kleinen Besen als Henkel der Quidditch-Pokal war. Für Evelyn sah dieser eher aus wie ein zu groß geratener Trinkbecher.

 

Nichtsdestotrotz war Snape wohl stolz darauf beide Auszeichnungen in seinem Büro zeigen zu können. Sie waren so ziemlich das einzige Dekor, das sie finden konnte; abgesehen von dem dunklen Läufer, auf dem sie stand.

 

Ohne Worte umrundete er seinen Schreibtisch und beugte sich daraufhin leicht nach vorne. Evelyn überlegte kurz sich auf den Stuhl vor ihm zu setzen, hielt dies dann aber für eine schlechte Idee. Das dunkle Leder, mit dem der Stuhl überzogen war, benötigte keine extra Schicht Ruß.

 

"Ich werde Ihnen nun eine Frage stellen und ich will, dass Sie ganz genau nachdenken, was Sie mir antworten", begann er leise, den Blick auf eine seiner Schubladen gerichtet. Evelyn hatte begonnen nervös an ihren Fingernägeln zu ziehen. Ihr Puls beschleunigte sich.

 

Er weiß es, schoss es ihr durch den Kopf. Nein, das kann nicht sein. Woher?

 

Sie senkte den Blick, was nicht nötig gewesen wäre. Er fixierte noch immer seinen eigenen Schreibtisch, trotzdem konnte sie sich nicht sicher sein, ob er nicht in diesem Moment unbemerkt ihre Gedanken durchforstete. Kurz hatte sie befürchtet er hätte sie durchschaut, doch das konnte nicht sein.

 

Denk an Hundebabies.

 

"Ihre Antwort könnte möglicherweise Ihre zukünftige Schullaufbahn beeinflussen, als wägen Sie Ihre Worte gut ab."

 

Er weiß es!

 

Während sich seine Rede Buchstabe für Buchstabe unter ihre Haut gegraben hatte, hatte ihre Atmung drastisch zugenommen. Sie traute ihrer eigenen Stimme nicht, weshalb sie nur die Zähne zusammenbiss aus Angst, ihr Unterkiefer könnte zittern.

 

"Miss Harris", begann er. Jetzt kommts, was sagst du? Sagst du die Wahrheit? Nein, der glaubt dir doch kein Wort. Scheiße! "Halten Sie mich für bescheuert?"

 

Ihre Kehle war völlig vertrocknet und ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen. Am liebsten hätte sie sich geräuspert, doch sie hatte Angst auch nur einen Mucks von sich zu geben. Seine Frage geisterte ihr durch den Kopf, doch sie suchte vergeblich nach einem Sinn. Er wartete auf eine Antwort, die ihm Evelyn nicht geben konnte.

 

Der Drang etwas zu sagen wurde größer mit jeder Sekunde, die Snape geduldig die Stille aussaß. Evelyn hingegen glaubte ihr Herzklopfen müsste bald laut genug sein, dass selbst Snape es hören konnte. Mehrmals öffnete sie die Lippen, doch es gelang ihr nicht ein Wort zu bilden.

 

"Soll ich ihre Stille als ein Ja werten, Miss Harris?"

 

Es war unmöglich herauszuhören, ob er wütend war, amüsiert oder angewidert. Seine Emotionen hatte er hinter einen Maske und einige fetten Strähnen seiner Haare versteckt, während Evelyn gerade jegliche Beherrschung entglitt. Aus dünner Kehle schaffte sie es endlich etwas zu erwidern.

 

"Professor, ich verstehe Ihre Frage nicht, was wollen Sie von m-"

 

Mit einer schnellen Bewegung öffnete er die Schublade und Evelyn glaubte schon, die Spitze seines Zauberstabes auf sie gerichtet zu sehen.

 

"Sie sind doch sonst so ein schlaues Köpfchen", sie hatte panisch die Augen geschlossen und wartete auf das Unausweichliche, als ein dumpfer Schlag sie zusammen zucken ließ. "Schauen Sie mich gefälligst an, wenn ich mit Ihnen rede."

 

Sein Gewicht stützte er auf einige seiner Finger auf der Tischplatte ab, während er ihr mit der anderen Hand einen Stapel Pergamente hinwarf, die verstreut vor ihr liegen blieben. Sie waren voll beschrieben, manche mit unschönen Tintenflecken und Fingerabdrücken, mache mit scharlachroten Bemerkungen an den Rändern. Sie erkannte ihre Schrift unter den vielen.

 

"Eine weitere Frage, Miss Harris, und ich hoffe für Sie, dass Sie die beantworten können." Langsam stieß er sich von der Tischplatte ab. "Was haben Sie hier vor sich?"

 

Im Moment fiel es ihr äußerst schwer sich zu konzentrieren, doch die wenigen Sätze, die sie lesen konnte, kamen ihr dennoch vertraut vor.

 

"Ich glaube, das sind die Aufsätze zum Thema leicht verderblicher Zutaten und deren Gärprozesse."

 

"Schön, dass Sie bewiesen haben, dass Sie durchaus in der Lage sind, eine Frage zu beantworten." Erneut griff er in seine Schublade und warf ihr einen zweiten Stapel zu. Wieder dasselbe Bild, nur ein anderer Aufsatz.

 

"Kommen wir nun also zu unserem eigentlichen Problem zurück. Halten Sie mich für bescheuert?"

 

Evelyns Puls hatte sich trotz angespannter Situation ein wenig beruhigt. Egal, was Snape sauer aufstieß, es hatte nichts mit Evelyns kleinem Geheimnis zu tun. Sie schöpfte neuen Mut und erlangte langsam ihre Fassung zurück.

 

"Nein, Sir, im Gegenteil. Ich halte Sie für einen der intelligentesten Zauberer dieser Schule."

 

"Schmeicheleien mögen manche Lehrer erweichen lassen, aber damit sind sie hier in meinem Büro an der falschen Stelle. Damit kommen Sie hier nicht weit."

 

"Das war nicht meine Absicht."

 

"Ruhe." Er trat hinter seinem Schreibtisch hervor und umrundete ihn schon beinahe gemächlich, bis er direkt vor Evelyn stand, die Arme hinter dem Rücken an den Rand des Tisches gelehnt. Evelyn trat ein Stück zurück, zum einen, weil sie ihn nicht so nahe vor sich haben wollte, zum anderen, weil sie noch immer völlig verdreckt mit Ruß war.

 

Hinter ihm sah sie noch einige Ecken der Pergamente und erkannte nun nicht nur ihre Schrift, sondern auch die von Millicent. Sie war beinahe erleichtert als ihr endlich dämmerte worauf er hinaus wollte. Er ließ ihr aber keine Gelegenheit zu sprechen.

 

"Ich verfolge Ihre kleines Spielchen nun schon seit einigen Wochen, und auch wenn Professor McGonagall mir versichert hat, dass Sie es – wie waren ihre Worte – nur gut meinen", er griff nach einem der Pergamente und präsentierte es Evelyn, "will ich nicht länger tolerieren, dass Sie dabei helfen, wie ihre Klassenkameraden verblöden."

 

Zögerlich nahm Evelyn das Pergament entgegen, das von Pansy stammte und übersät war mit roten Kommentare, die aus Snapes Feder stammten. Sie las sich einige der Kommentare durch, die sie die Stirn runzeln ließ. Es waren nicht Snapes Bemerkungen, die waren alle berechtigt, sondern eher das, was Pansy geschrieben hatte. Beinahe jeder Satz war völlig falsch.

 

"Das scheint Sie zu schockieren? Immerhin zeigen Sie nun ein wenig Anstand."

 

"Sir, ich hatte keine Ahnung!", meinte sie leise. "Ich dachte nicht, dass-"

 

"Dass was? Ihre Klassenkameraden sich wochenlang Ihre Arbeiten ausleihen und ich davon nichts mitbekomme?"

 

Sie schluckte schwer. Sagen Sie es doch: Nichts, was in dieser Schule passiert, entgeht mir. Sie denken es und Sie wissen, dass ich es auch weiß.

 

"Nein, Sir. Ich dachte nicht, dass ich meinen Klassenkameraden damit schade."

 

"Ihren Klassenkameraden schaden? Verstehen Sie mich nicht falsch, wenn sie so töricht sind und von Ihnen kopieren, verdienen sie jede Konsequenz. Was ich jedoch nicht tolerieren kann ist die Tatsache, dass Sie dem Ruf dieses Hauses schaden."

 

Bitte was?

 

"Slytherin beherbergt seit hunderten von Jahren einen Großteil der fähigsten Hexen und Zauberer, die das Glück hatten Hogwarts besuchen zu dürfen." In Evelyns Ohren klangen seine Worte eher sarkastisch, als tatsächlich ernst gemeint, trotzdem bemühte sie sich betroffen zu wirken. "Was Sie in Händen halten, ist eine Schande und ich schäme mich zu wissen, dass ein Schüler meines Hauses diesen Unsinn geschrieben hat."

 

"Ich verstehe, Sir." Sie gab ihm den Aufsatz zurück, wobei er ihn nur mit den Spitzen seiner schlanken Finger wagte zu berühren.

 

"Hinter mir sehen Sie den Hauspokal, den Slytherin nun seit sieben Jahren in Folge gewonnen hat, und ich werde nicht zulassen, dass Ihre gut gemeinte Hilfe die Fortsetzung dieser Siegesserie verhindert; auch wenn ich sicher bin, dass Professor McGonagall anderer Meinung ist."

 

Alles, was Evelyn tun konnte, war knapp zu nicken.

 

"Sie, Miss Harris, werde ich persönlich dafür verantwortlich machen, sollte Slytherin, und Ihre Hauskameraden speziell, dieses Jahr im Vergleich zu den anderen Häusern in den Zensuren unterliegen. Ich rate Ihnen also, die Sache in den restlichen Monaten, die ihnen bis zum Ende des Schuljahres noch bleibt, in Ordnung zu bringen."

Entsetzt sah sie ihren Hauslehrer an, der kaum eine Regung zeigte. "Sie meinen, wenn jemand in den Examen durchfällt, dann-"

 

"Ich meine, Miss Harris", unterbrach er sie erneut, "dass ich Sie verantwortlich mache, wenn Slytherin den Hauspokal verliert. War das verständlich genug?"

 

Unbewusst fuhr sie sich mit der Hand durch das verklebte Haar. Nur langsam sickerte die Bedeutung seiner Aussage in ihr Bewusstsein. Hauspokal. Scheiße!

 

"Schön, dass wir uns einig sind", meinte er und wandte sich ab, um seinen Schreibtisch abermals zu umrunden. Nun jedoch ließ er sich auf seinem Stuhl nieder.

 

"Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, ich habe nun das Vergnügen mir die restlichen Aufsätze durchzulesen."

Ohne zu warten, ob Evelyn sein Büro verließ, griff er nach einer Feder zu seiner rechten, die er in ein Fässchen mit roter Tinte tunkte. Allerdings ließ sich Evelyn nicht zweimal bitten, und rannte förmlich aus dem Zimmer, nachdem sie einen kurzen Abschied gemurmelt hatte. Beinahe hätte sie in ihrer Eile die Tür seines Büros zugeschlagen, hatte sie aber gerade noch auffangen können um sie vorsichtig ins Schloss gleiten zu lassen.

 

Wenn Slytherin den Hauspokal verliert, sagt er. Ich bin geliefert.

 

Am liebsten wäre sie an Ort und Stelle stehen geblieben, allerdings war ihr nicht wohl dabei direkt vor seinem Büro zu verweilen, weshalb sie einige Schritte ging.

 

Sie konnte nicht dafür sorgen, dass Slytherin den Pokal gewann, vermutlich war das sogar unmöglich, solange Dumbledore ein Mitspracherecht hatte. Und wenn sie im Alleingang 100 Punkte sammeln würde, der Gewinner des Hauspokal stand fest, was Snape am Ende nicht interessieren würde.

Innerlich hatte sie mit Hogwarts nun abgeschlossen. Sie bezweifelte nicht, dass er seine Drohung wahr machen würde. Professor Snape würde sie am Ende des Schuljahres persönlich von der Schule verweisen lassen, einen Grund der diesen Schritt rechtfertige, würde ihm sicherlich einfallen. Vermutlich war es besser so, schoss es ihr durch den Kopf. Hogwarts war ein Traum gewesen, den sie für kurze Zeit erleben durfte, aber damit musste bald Schluss sein. Ihre Anwesenheit hier war mehr schlecht, als das sie irgendwem half.

Seufzend erreichte sie endlich den rettenden Gemeinschaftsraum. Nein, ich kann noch jemandem helfen. Pansys Aufsatz hatte sie bis ins Mark schockiert und auch wenn es am Ende keinen Unterschied mehr am Ergebnis machen würde, sie würde ihre Hauskameraden nichts ins offene Messer laufen lassen. Wenn sie besser aufgepasst hätte, dass die anderen den Inhalt ihrer eigenen Aufsätze auch lernten statt nur blind zu schreiben, würden sie nun nicht Gefahr laufen, in den Examen zu versagen.

Der Gemeinschaftsraum war völlig überfüllt, doch sie fand die anderen an ihrem üblichen Platz in der Nähe des Fensters. Millicent entdeckte sie, wie Evelyn mit hängenden Schultern auf sie zu ging, schlug aber bestürzt die Hände vor den Mund.

"Wie siehst du denn aus?"

Evelyn ging nicht auf ihre Frage ein, sondern ließ ihren Blick über sie und die anderen schweifen, die ähnlich verstört reagierten.

"Leute, wir müssen reden."

Kapitel 49 - Ein schuppiges Problem

Die folgenden Wochen hatte Evelyn innerlich täglich einen Konflikt geführt. Einerseits drängte ihre Ambition sie Snapes Forderungen zu erfüllen und sein Ultimatum einzuhalten, vor allem während sie in seinem Unterricht saß und er bei jeder Gelegenheit einen auffordernden Blick in Richtung der Slytherin warf. Andererseits hielt ihre Vernunft unermüdlich dagegen; zum Glück, wollte sie meinen. Ihren eigenen Ehrgeiz zu schlucken hatte sie gelernt, doch die anderen Slytherin in Schach zu halten, sollte sich als schwierig herausstellen.

 

Dabei wurden Daphne, Millicent und die anderen von einem ganz ähnlichen Ziel getrieben. Obwohl sie anfänglich jede Sorge von Evelyn abgewunken und damit größtes Geschick im Verleugnen gezeigt hatten, hatte ihnen der berüchtigte Aufsatz unbarmherzig die Wahrheit vor Augen geführt. Die Ergebnisse des Aufsatz, der der Funke im Pulverfass gewesen war, und die mehr als deutlichen Worte, die ihr Hauslehrer ihnen allen unter ihre Hausaufgaben geschrieben hatte, hatte sie alle wachgerüttelt. Die Energie, mit der sie zunächst noch alles abgestritten hatten, hatten sie schnell in das Bedürfnis umgewandelt es ihrem Hauslehrer beweisen zu wollen, dass sie zurecht dem Haus Slytherin angehörten.

 

Deshalb war sie froh ihnen nur das erzählt zu haben, was sie wissen mussten. Das für die Kinder unwichtige Detail, dass Evelyn mit großer Wahrscheinlichkeit die Schule verlassen würde, sollten sie den Pokal nicht gewinnen, hatte sie ihnen verschwiegen; ebenso wie Ollivander, den sie damit noch nicht belasten wollte. Der nun aufflammende Wille sich beweisen zu wollen ließ den Punktestand zu ihren Gunsten langsam wachsen, auch wenn Gryffindor dank des Sieges gegen Hufflepuff noch immer einen deutlichen Abstand hatte. Ein Umstand der, wie Evelyn wusste, nichts zu sagen hatten. Wer konnte schon sagen wie sie reagieren würden, falls die wüssten, dass Evelyns schulische Zukunft am Gewinn des Hauspokals hing.

 

Ihr eigenes Punktekonto befand sich nun, zwei Monate nach ihrer Strafarbeit, noch immer fünf Punkte im Plus, was sie nicht vorhatte zu ändern. Mit jedem Blick auf die Punktegläser und den ständig wandelnden Stand wurde sie daran erinnert, dass sie nun völlig den Überblick verloren hatte. Sie konnte beim besten Willen nicht mehr sagen, wie viele Punkte die Häuser als Ganzes möglicherweise wegen ihrem Business die Hausaufgaben weiterzugeben verloren hatten. Ihr ganzes Vertrauen galt jetzt – und darüber hätte sie gelacht, wenn es nicht so unangebracht wäre – Dumbledore. Sie musste darauf vertrauen, dass Dumbledore am Ende genügend Punkte verteilte, sei es weil er parteiisch war, oder sei es um Harry Potter bereits im frühesten Alter darauf zu eichen, dass es immer richtig war sein Leben aufs Spiel zu setzen um andere zu helfen. Seine Gründe waren ihr egal, Hauptsache er tat es.

 

Einer der größten Spielmeister musste eben auch mal als Schachfigur herhalten, dachte Evelyn eines Morgens, als ihr das gewohnte Bild eines führendes Gryffindor Hauses begegnete.

 

Ein weiteres gewohntes Bild war mittlerweile ein brütendes Trio geworden. Wann immer Evelyn der Neugier halber den Tisch der Gryffindor betrachtete, sah sie Harry, Ron und Hermine die Köpfe zusammensteckend und tuschelnd. Evelyn erwartete seit einigen Tagen den Auftritt einer weiteren Schachfigur, allerdings konnte sie ähnlich wie mit ihrem kleinen Punkteproblem auch hier nicht genau sagen, wann und wie es passieren würde. Der April war nun beinahe zu Ende, und noch immer hatte sie kein Gerücht über einen möglichen Drachen in Hagrids Hütte gehört. Es war das letzte wichtige Ereignis, bevor Harry in die Falltür steigen würde.

 

Neben Evelyn behielt auch Draco die Drei ständig im Auge, wenn auch aus anderen Gründen. Seit dem Quidditch-Spiel schien sich sein Hass auf Harry nur gesteigert zu haben, falls das möglich gewesen war. Er hatte ihnen nicht erzählt, was genau vorgefallen war und Evelyn würde niemandem erzählen, dass er sich einen rechten Hacken von Ron hatte gefallen lassen müssen.

 

Die meiste Zeit saß er mit ihnen in der Bibliothek, wo sich Evelyn ihren Klassenkameraden annahm. Sogar Crabbe und Goyle hingen über den Büchern, wobei Evelyn nicht das Gefühl hatte Fortschritte mit ihnen zu machen. Draco, der als einziger nie nach den Hausaufgaben gefragt hatte und daher keine Hilfe benötigte, saß stets mit einem süffisanten Lächeln am anderen Ende des Tisches, den sie dauerhaft für ihre Lerngruppe bezogen hatten.

 

Ihre eigenen Übungen mit William hatte sie langsam einstellen müssen, denn auch er hatte sich auf seine Examen vorzubereiten. Da ihre eigenen Zensuren kaum noch von Belang waren, hatte sie die Nachhilfestunden gerne beendet, was ihr mehr freie Zeit eingebracht hatte, die sie nun der Lerngruppe opferte.

 

"Die planen schon wieder etwas, das gefällt mir gar nicht", meinte Draco in die Stille der Bibliothek hinein. Solche Sätze hörten sie von ihm beinahe jede Woche, weshalb ihm kaum einer Beachtung schenkte. Sie ertrugen stumm seine Besessenheit von Potter, waren aber dennoch nicht begeistert zu sehen, dass Hermine ähnliche Maßnahmen ergriffen hatte und ihrerseits mit Examensvorbereitung in der Bibliothek begann. Sowohl Harry als auch Evelyn schienen jedoch darauf zu achten, nicht allzu nahe beieinander zu sitzen, um des allgemeinen Friedens willen. Trotzdem konnte nichts verhindern, dass Draco auf eigene Faust los ging, um zufällig am Tisch der lernenden Gryffindor vorbeizuziehen, wann immer es ihm möglich war; nichts, was Evelyn große Lust hätte zu verhindern.

 

Draco war gerade von einer seiner Touren zurück gekehrt und brütete nun an seinem Platz, die Hände vor der Brust verschränkt. "Habt ihr mir eigentlich zugehört?", sagte er schließlich, als keiner reagiert hatte und stattdessen weiterhin ihre Pergamente unter Evelyns Beobachtung beschrieben. Nur Pansy hatte lange genug inne gehalten um den Kopf zu heben und ein schwaches Nicken angedeutet.

 

"Interessiert es euch gar nicht, weshalb die nur noch am flüstern sind?" Er selbst bemühte sich seine Stimme leise zu halten, keiner von ihnen wollte sich mit Madam Pince anlegen; sie waren hier in ihrem Territorium.

 

"Sie lernen, genauso wie wir, Draco", meinte Daphne zögerlich. Nach den Monaten, die sie nun schon zusammen wohnten und lebten, hatte sich die Ehrfurcht Malfoy gegenüber ein wenig gelegt und man war zu einem umgänglicheren Ton gewechselt. Trotzdem trauten sie sich noch nicht sich öffentlich über Malfoy und seine Obsession lustig zu machen. Hinter der verschlossenen Tür ihres Schlafsaales hingegen, vertrauten sie sich ihre wahren Gedanken an.

 

"Die lernen nicht, als ob Weasley im Stande wäre sich mehr als zehn Minuten zu konzentrieren." Er tippte im gleichmäßigen Abstand mit dem Finger auf die Tischplatte, sodass sie alle nun ein gleichbleibendes Hintergrundgeräusch im Ohr hatte. Das war eine Angewohnheit die sich bei ihm zeigte, wann immer er das Gefühl hatte ignoriert zu werden, und in letzter Zeit häuften sich diese Momente.

 

Evelyn wusste, dass die meisten hier an dem Tisch Draco und sein Verhalten lächerlich und kindisch empfanden. Nur Pansy ermahnte sie das ein oder andere Mal, falls ihre Späße über Dracos Besessenheit die Grenzen des Guten Geschmacks überschritten. Für Evelyn war es beinahe surreal mit anzusehen, wie Draco der Wahrheit für das Benehmen des Trio immer näher kam, gleichzeitig aber langsam innerhalb der jungen Slytheringemeinschaft an Glaubwürdigkeit verlor.

 

"Draco, würdest du für mich schauen, was Gregory da liest, bitte?", meinte sie um das Thema zu wechseln in der Hoffnung die Stimmung ein wenig zu heben. Er ließ es sich nicht nehmen Evelyn einen kalten Blick zuzuwerfen, tat aber, worum sie ihn gebeten hatte. "Danke."

 

Kaum einen Tag später waren sie erneut in einer ähnlichen Situation, wenn auch im Gemeinschaftsraum. Evelyn schaute Pansy und Blaise bei einer Partie Koboldstein zu, als Draco sich näherte und Blaise förmliche aus dem Sessel riss.

 

"Der fette Schwachkopf hat einen Drachen", hauchte er beinahe ehrfürchtig, wobei seine Stimme sich fast vor Aufregung überschlug. Na endlich, schoss es Evelyn durch den Kopf, allerdings versuchte sie eine überraschte Miene aufzulegen.

 

Es waren nur sie anwesend, Daphne hatte über Bauchschmerzen geklagt und war mit Millicent als Begleitung schnell nach dem Unterricht im Schlafsaal verschwunden. Crabbe und Goyle waren auf Professor McGonagalls bitte hin bei ihr geblieben um ihr beim richten einiger Unterrichtsmaterialien zu helfen. Hoffentlich verwandelte sie sie nicht in Ferkel.

 

Er hatte leise genug gesprochen, sodass niemand sie gehört hatte, obwohl selbst normale Lautstärke wohl niemand mitbekommen hätte. Wenn man sich im Gemeinschaftsraum umschaute, sah man hauptsächlich ältere Semester die Nase in mehrere Bücher auf einmal stecken. Die Panik vor den anstehenden ZAGs und UTZs griff langsam aber sicher um sich.

 

"Du solltest wirklich aufhören derart von Potter besessen zu sein", sagte Blaise den Blick wieder auf die Spielkugeln gerichtet.

 

"Ich bin nicht besessen von irgendwem!"

 

"Du bist besessen", sagten Blaise und Evelyn aus einem Mund, was Dracos Grinsen schwinden ließ.

 

"Ich habe euch gerade gesagt, dass der Idiot von einem Waldhüter einen Drachen in seiner schäbigen Hütte versteckt und ihr habt nichts besseres zu tun, als mich in Frage zu stellen?"

 

Blaise zuckte nur mit den Schultern, doch Pansy unterbrach das Spiel.

 

"Niemand stellt dich in Frage. Woher weißt du, dass er einen Drachen hat?" Pansy zeigte Interesse, was Dracos Ego erneut einen Schub gab, wohingegen Blaise vergeblich versuchte ihre Aufmerksamkeit auf das Spiel zu lenken. Evelyn legte ihm daraufhin die Hand auf die Schulter und schüttelte grinsend den Kopf.

 

"Ich habe es selbst gesehen", erklärte Draco mit erhobenem Kinn, "gerade eben. Ich habe sie über die Ländereien rennen sehen, also bin ich ihnen gefolgt."

 

"Wie kann Hagrid einen ganzen Drachen in seiner Hütte verstecken?", wollte Blaise nun wissen, da er erkannt hatte, dass er um dieses Gespräch nicht herum kam. Evelyn lachte kurz auf, als er fertig gesprochen hatte.

 

"Keinen ganzen Drachen, ein Jungtier. Gerade geschlüpft."

 

Pansy schlug die Hand vor den Mund. "Ein Baby." Der Gedanke schien ihr zu gefallen.

 

"Wo er den wohl her hat", sagte Evelyn und fixierte Draco. "Soweit ich weiß kriegt man die Eier nicht einfach so in der nächsten Apotheke."

 

Draco suchte kurz nach Worten, ehe er sprach. "Was weiß ich denn, vermutlich geklaut, wie sonst soll er an ein Drachenei kommen?"

 

Pansy pflichtete ihm bei und obwohl es nicht der Wahrheit entsprach, nickte auch Evelyn.

 

"Du bist dir sicher, was du gesehen hast war ein Drache?" Blaise schien nicht überzeugt.

 

"Ich werde doch wohl einen Drachen von einem Köter unterscheiden können."

 

Kurz schien Blaise zu überlegen, doch dann stand er auf. "Das muss ich sehen!" Pansy hielt ihn jedoch zurück.

 

"Bist du verrückt? Das ist gefährlich."

 

"Die Gryffindor saßen doch auch in der Hütte. Außerdem ist es nur ein Baby."

 

"Ein Feuer speiendes Baby", murmelte Evelyn, wurde aber von Pansy gehört.

 

"Sie hat recht. Und darf ich dich daran erinnern, was unser Schulmotto ist?"

 

Blaise hob die Hand, wobei er mit der anderen die Stelle über seinem Herzen bedeckte, ehe er mit geschlossenen Augen das Motto rezitierte. "Draco dormiens nunquam titillandus: Kitzle niemals einen schlafenden Drachen." Stolz nahm er die Hand wieder herunter. "Wobei man hier kaum von schlafen sprechen kann."

 

"Dämliches Motto", meinte Draco Arme verschränkend. Blaise deutete an Draco kitzeln zu wollen, ein bedrohlicher Blick Dracos hielt Blaise aber davon ab.

 

"Was wollen wir jetzt tun? Sollen wir es Dumbledore sagen?" Pansy Vorschlag stand nun im Raum, und Evelyn wartete ab, wie Draco reagieren würde. Die Frage war an ihn gerichtet, immerhin hatte er den Drachen "entdeckt". Es war seine Entscheidung.

 

"Noch nicht", sagte er schließlich. "Ich glaube sie haben mich am Fenster stehen sehen. Ich werde sie einige Tage zappeln lassen."

 

"Sie wissen also, dass Du es weißt", fasste Blaise die Situation zusammen.

 

Draco rümpfte verächtlich die Nase. "Ich glaube sowieso nicht, dass der senile alte Dumbledore etwas unternehmen würde. Als ob er je nein zu seinen Lieblingen sagen könnte."

 

"Übertreib es nicht", Blaise richtete seine Augen wieder auf das Koboldstein-Spiel vor sich, "selbst Dumbledore würde kein gefährliches Tier im Schloss erlauben."

 

Evelyn lachte auf und war gezwungen etwas zu sagen, als Draco sie fragend anstarrte. "Ein gefährliches Tier im Schloss, niemals."

 

Draco achtete darauf, dass das Gerücht sich nicht verbreitete und ließ sie am nächsten Morgen schwören vorerst nichts zu unternehmen. Ein wenig überzogen, wie Evelyn fand, andererseits war seine Angst nicht ganz unberechtigt. Nachrichten fanden ihren Weg schnell in jede Ecke des Schlosses, doch diese Neuigkeiten wollte Draco nicht mit allen teilen. Er machte ein Spiel daraus möglichst oft scheinbar zufällig den Weg von Harry und den anderen zu kreuzen und den Gesichtern der Gryffindor nach, schien sein kleines Psychospiel zu wirken. Dracos Laune war seit Monaten auf einem Höchststand, doch nur wenige Tage später lief er mit federndem Schritt auf ihren Tisch in der Bibliothek zu. Kurzerhand ließ er ein altes, abgegriffenes Buch auf ihrer aller Notizen fallen.

 

Daphne, die ihm am nächsten saß, war nicht begeistert. "Pass doch auf, Malfoy!" Schnell hatte sie nach dem Tintenfässchen gegriffen, da es beinahe so ausgesehen hatte, als würde ein Unglück passieren. Draco ignoriert ihre Proteste.

 

"Ihr hättet Weasleys Gesicht sehen müssen, als ich in den Krankenflügel kam. Seine Ohren wurden beinahe so rot, wie seine ungepflegten Haare!"

 

Einer nach dem anderen legte sein Schreibzeug weg. "Ist er also wirklich im Krankenflügel? Dann wissen die Lehrer jetzt von Hagrids Drachen?", sagte Crabbe schon beinahe enttäuscht.

 

"Nein, Weasley hat sich eine Ausrede einfallen lassen, weshalb er eine entzündete Hand hat, keine besonders gute." Er ließ sich auf dem einzigen freien Platz nieder und spielte abwesend mit dem Buch, das er gebracht hatte. "Von einem Hund gebissen."

 

Daphne pustet los. "Nicht dein Ernst. Das hat Weasley gesagt?"

 

"Bei meiner Ehre", schwor Draco. Evelyn schämte sich nicht mit den anderen zu lachen. Der einzige Hund in näherem Umkreis war Fang, und den als aggressiv oder sogar noch als giftig darzustellen, war mehr als weit hergeholt. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und genoss die Pause. Das Lernen war anstrengend, für alle, aber sie war zufrieden mit ihren Fortschritten.

 

"Was willst du mit dem Buch?" Blaise griff über Daphne hinweg und zog das Buch unter Dracos Finger weg.

 

"Gehört Weasley, sieht man doch." Die Ecken waren in der Tat arg in Mitleidenschaft gezogen und der Einband schwellte bereits an manchen Stellen auf, sodass blanker Karton zu sehen war. "Pomfrey wollte mich nicht ohne einen Grund zu Weasley passen, also habe ich gesagt er hätte ein Buch, das ich brauche."

 

Evelyn nickte anerkennend. "Das ist ein in Ausrede."

 

"Guckt mal", meinte Blaise, das Buch aufgeschlagen vor sich, "da steckt was drin." Unter den neugierigen Augen aller zog er ein gefaltete Pergament heraus. Allerdings bekam er nicht die Gelegenheit es sich näher anzusehen, da Draco sich über den Tisch gebeugt und es Blaise entrissen hatte.

 

Dracos Augen flogen über das Papier, während sein Grinsen immer breiter wurde. "Diese Vollidioten." Abrupt stand er auf und lief einige Schritte um den Tisch. Er genoss es die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Klassenkameraden zu haben.

 

"Was ist? Steht da was Interessantes?"

 

"Und ob, Goyle. Hört euch das an." Er räusperte sich.

 

"Lieber Ron, wie geht es dir? Danke für den Brief - den Norwegischen Stachelbuckel würde ich gerne nehmen, aber es wird nicht leicht sein, ihn hierher zu bringen. Sie wollen ihn wegschaffen!"

 

"Warte, ist das ein Brief? Von wem ist der?"

 

Millicent erntete einen kalten Blick dafür, Draco unterbrochen zu haben.

 

"Ist doch egal. Jemand, der den Drachen haben will. Ein Norweger."

 

"Wer, der Absender?"

 

"Nein, Crabbe, der Drache", sagte Draco seufzend, ehe er fortfuhr. "Ich glaube, das Beste ist, ihn ein paar Freunden von mir mitzugeben, die mich nächste Woche besuchen kommen. Das Problem ist, dass sie nicht dabei gesehen werden dürfen, wenn sie einen gesetzlich verbotenen Drachen mitnehmen."

 

"Die planen da was Geheimes."

 

"Es wird sogar noch besser. Könntest du den Stachelbuckel am Samstag um Mitternacht auf den höchsten Turm setzen? Sie können dich dort treffen und ihn mitnehmen-, bla bla bla, unterzeichnet Charlie."

 

"Das ist sein Bruder", meinte Daphne, die nun hellhörig geworden war. "Charlie Weasley, einer der besten Sucher die Gryffindor je hatte."

 

Pansy sah sie mit einer Mischung aus Schock und Verzweiflung an. "War ja klar, dass du das wieder weißt."

 

Draco schlug mit der Hand auf den Tisch, sodass alle Augen erneut auf ihn gerichtet waren. "Ist doch jetzt völlig egal! Fakt ist, die werden Samstagnacht durch die Schule schleichen, und ich werde sie dieses Mal erwischen."

 

"Pscht, leise!", mahnte Blaise, der besorgt zu den anderen Tischen schaute. Er stand auf und nahm ihm den Brief aus der Hand. Nun gab ihn Draco gerne frei, allerdings war Zabinis Reaktion nicht wie von ihm erhofft.

 

"Das ist doch Erumpent Mist", sagte er und schmiss den Brief achtlos auf den Tisch, wo ihn Daphne als nächste in Augenschein nahm. "Du glaubst dem Brief doch nicht etwa? Welcher Idiot lässt das denn in seinem Buch?" Er deutete auf das alte Buch mit abgewetztem Einband. "Das ist gewollt!"

 

Daphne nickte und reichte den Brief weiter. "Dem muss ich zustimmen. Die wollen dir eine Falle stellen."

 

"Dazu sind die doch gar nicht fähig, soweit können sie nicht denken", verteidigte sich Draco, der augenscheinlich nicht mit Gegenwehr gerechnet hätte.

 

"Und wenn doch? Diese Granger hat Köpfchen."

 

"Das Schlammblut hat Weasley in den Krankenflügel gehen lassen mit der Ausrede ein Hund hätte ihn gebissen. Bin ich der einzige hier dem klar ist, wie einfach gestrickt Gryffindor sind?" Er hob die Hand und zählte seine Schritte an den Finger ab. "Zuerst verschwinden sie bei Hagrid, der auffällig oft in seiner Hütte rumsitzt in letzter Zeit. Dann lässt sich Weasley beißen, von einem Drachen, der sich als giftig herausstellt. Notgedrungen geht er in den Krankenflügel, wo ich ihn treffe. Sie haben vor einigen Tagen diesem Charlie geschrieben, den sie am Samstag treffen wollen, um den Drachen abzugeben."

 

"Seine Freunde, dieser Charlie ist nicht da", berichtigte ihn Millicent, die an der Reihe war den Brief zu lesen.

 

"Der Punkt ist", stieß er daraufhin durch zusammengebissene Zähne aus, "dass da kein Hintergrund-Motiv zu sehen ist. Denkt nicht so kompliziert, es sind Gryffindor, Merlin nochmal!"

 

Millicent hob Evelyn den Brief entgegen, die ihn amüsiert an sich nahm. Draco hatte mit seiner Erklärung in jedem Punkt recht. Es gab hier keine versteckte Falle, keine Intrige von Seiten der drei Gryffindor. Wenn sie jedoch in die Gesichter der anderen schaute, fanden seine Worte keinen fruchtbaren Boden. Sie alle erwarteten nicht, dass es so einfach war.

 

Kurz überflog sie den Brief, der in grober Schrift verfasst war. Ihre Briefe, die sie von Ollivander erhielt, waren in der Regel feiner und eleganter geschrieben.

 

"Charlie Weasley", murmelte sie, ehe sie den Brief an Crabbe weiterreichte.

 

"Er hat recht, es sind Gryffindor, die sind nicht gerade bekannt für hinterlistige Pläne", sagte Pansy. "Einen Brief zu fälschen würden wir machen."

 

Zabini war nicht überzeugt. "Spekulationen. Wer sagt, dass sie nicht einfach nachmachen, was wir damals mit dem Zaubererduell um Mitternacht veranstaltet haben. Samstag um Mitternacht. Sie wollen, dass wir da hingehen und sie werden uns bei einem Lehrer verpfeifen."

 

"So gesehen ja. Sie würden nur das kopieren, was du damals mit dem Duell versucht hast. Dazu müssten sie nicht besonders clever sein."

 

Evelyn spürte, wie Millicent an ihrem Ärmel zog und den Kopf in ihre Richtung steckte.

 

"Glaubst du Draco?", fragte sie mit gedämpfter Stimme.

 

"Es geht weniger darum ob ich ihm glaube, sondern eher, ob ich Harry eine gerissene Parade zutraue, oder nicht", wich sie aus, doch Millicent ließ nicht locker.

 

"Und, ja oder nein?"

 

Sie nahm einen tiefen Atemzug, ehe sie antwortete. "Ich glaube du solltest dir die bartholomäische Verwandlungsformel noch einmal anschauen, statt dich um einen Drachen zu sorgen."

 

Millicents Blick schoss auf ihr Pergament hin zu dem Abschnitt, auf den Evelyn gedeutet hatte.

 

"Ich werde da nicht hingehen", verkündete Blaise selbstsicher und wandte sich ab, so als sei die Angelegenheit für ihn erledigt.

 

"Wie du willst, Feigling." Hilfe suchend schaute er sich am Tisch um, bekam aber keine Rückmeldung.

 

"Pansy", bellt er schließlich. "Du wolltest doch den Drachen sehen. Wieso kommst du nicht mit?"

 

Pansy Rang mit den Worten. Der Gedanke nachts alleine mit Draco umherzuwandern gefiel ihr, nicht jedoch irgendwo zu kauern und darauf zu warten, ob ein Harry Potter angeschlichen kam oder nicht.

 

"Samstag ist ganz schlecht", sagte sie schließlich, den Blick von Draco abwendend. "Eigentlich hatte Evelyn mich gebeten ihr mit Zaubern zu helfen, du weißt schon, nachdem Boot nicht mehr kann."

 

"Booth", berichtigte sie Evelyn, wobei sie eher kritisch der Szene folgte. Sie hatte nichts dergleichen gesagt.

 

"Booth, ja genau. Du brauchst Hilfe in Zauberkunst, oder?" Sie neigte den Kopf zu Evelyn, die mit Schock ansehen musste wie sich alle Augen auf sie legten. Innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde sollte sie nun mitspielen.

 

Pansys Augen lagen flehend auf ihr. "Ja", räusperte sie sich. "Ja, ich wollte am Wochenende ein wenig üben. Ich bekomme die Ananas nicht zum Tanzen. Das ist mehr so ein rhythmisches Hüpfen." Sie untermalte ihre Aussage mit auf und ab Bewegungen ihrer Hände.

 

Dracos Mine verfinsterte sich. "Macht doch was ihr wollt, dann gehe ich alleine."

 

Crabbe hob zögerlich seine fleischige Hand. "Ich komme mit."

 

"Dich Trampel kann ich nicht gebrauchen!" Mit diesen Worten ließ er den Tisch hinter sich und verschwand in den Regalreihen. Crabbe schaute ihm unsicher nach, sodass ihm Evelyn kurz den Rücken tätschelte.

 

"Das hat er nicht so gemeint."

 

Sein breiter Kopf bewegte sich zurück und er nahm seine Feder zur Hand, hielt jedoch inne. "War das ein Ja, oder ein Nein?"

 

Die versammelten Slytherin waren kurz sprachlos, ehe Blaise lauter als in der Bibliothek erlaubt vor Lachen losprustete. Er war jedoch der einzige, den Crabbe Frage amüsierte.

 

Von Freude war Draco weit entfernt. Die restlichen Tage der Woche redete er nur das Nötigste mit allen, und ließ sie spüren, wie schlecht ihre Entscheidung gewesen war ihm nicht zu helfen. Evelyn, und die anderen, waren trotzdem, anderer Meinung, selbst als Draco einen letzen Versuch unternommen hatte, jemanden für sein Vorhaben zu begeistern.

 

Es war bereits lange nach Sperrstunde, als er sich auf den Weg machte. "Viel Glück beim Ananas tanzen lassen." Pansy und Evelyn hatten, um ihre Deckung nicht zu verlieren, schließlich getan, was sie angekündigt hatten und sich ein paar Ananas aus der Küche organisiert. Blaise leistete ihnen Gesellschaft, wobei er insgeheim darauf hoffte die Ananas irgendwann essen zu dürfen, falls die Mädchen mit ihnen fertig waren.

 

"Lass dich nicht erwischen, Kumpel!", rief ihm Blaise nach. Niemand hielt ihn auf. Evelyn hatte erwartet, dass Pucey wenigstens eine Warnung aussprechen würde, doch seit dem ersten Abend, als Draco die Vertrauensschüler vorgeführt hatte, ignorierten sie alles, was Malfoy tat.

 

"Da geht er hin", sagte Evelyn kurz, ehe sie sich wieder der Ananas widmete, die einfach nicht wollte, wie sie.

 

Pansy schloss die Augen und griff sich in die Haare, während Blaise das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht bekam. "Das geht schief."

Kapitel 50 - Ein hartes Ei zu knacken

 "Ich wusste, das geht schief. Also war es eine Falle." Daphne öffnete den Durchgang für sie, sodass sie sich endlich zum Frühstück begeben konnte. Blaise war gerade, ohne Draco, aus dem Schlafsaal erschienen und hatte ihnen erzählt, dass Draco den Vorhang seines Bettes verhext hatte, damit niemand mit ihm sprechen konnte. Was genau heute Nacht passiert war, wussten die Kinder nicht, doch Evelyn wollte endlich die Punktegläser sehen, mehr noch als sonst.
 

"Er hätte nicht gehen sollen."
 

"Wenn er erwischt wurde, hat er Nachsitzen."
 

"Schlimmer, er hat sicher Punkte verloren."
 

Nachdem Daphne den möglichen Verlust angesprochen hatte, seufzten alle kollektive auf. Evelyn konnte sich vorstellen, dass sie sich womöglich betrogen fühlten. Die letzten Wochen hatten sie hart gearbeitet und den Abstand zu Gryffindor langsam schrumpfen lassen. Besonders Daphne hatte sich gefreut 15 Punkte auf einen Schlag für ein spontanes Kurzreferat zu Flüchen von Professor Quirrell bekommen zu haben.
 

Wütend balle Daphne die Hände zur Faust und schlug sich selbst ohne viel Kraft aufzuweisen gegen den Oberschenkel. "Wir hätten ihn aufhalten sollen. War ja zu erwarten, dass Potter was im Schilde führt." Harry und was im Schilde führen, ihr dürft nicht immer alles so schwarz sehen.
 

"Jetzt ist es zu spät." Evelyn bemühte sich ein ernstes Gesicht zu machen, musste ihre Lippen jedoch spitzen, damit sie nicht doch ein Grinsen enthüllten.
 

"Na großartig, seht euch die Meute vor den Gläsern an", meinte Blaise niedergeschlagen, der in der Eingangshalle angekommen sofort von einer tuschelnden Menge begrüßt wurde. "Merlin, wie viele Punkte hat uns Dracos kleiner Ausflug gekostet?" Schockiert stellten sie sich hinter die Ansammlung an Schülern aller Altersklassen, die auf die Gläser deuteten.

Ihre Augen wanderten sofort zu der grün schimmernden Säule, deren Inhalt um einiges geschrumpft war im Vergleich zum vorigen Tag. Evelyns Interesse galt jedoch der roten. Sie lenkte Millicent Kopf mit beiden Händen sanft zur Seite, die ähnlich wie die anderen nur ihr eigenes Glas im Blick gehabt hatte.
 

"Ich glaube nicht, dass der Aufstand uns gilt. Schaut euch mal die der Gryffindor an."
 

"Was zum-"
 

"Ach du heilige Morgana!"
 

Mit offenen Münder starrten sie auf das Glas, dessen Anzahl an Rubinen sich halbiert hatten. Ihnen allen stand der Unglaube ins Gesicht geschrieben.
 

So sieht das aus, wenn ein Haus in einer Nacht 150 Punkte verliert.
 

Von diesem Moment an war Gryffindor das Gesprächsthema, egal welchem Haus man angehörte, während niemand Slytherins Punkten, nicht einmal Slytherin selbst, hinterher trauerten. Harry und seine Freunde zeigten sich ähnlich wie Draco lange nicht unter ihnen, sondern verbrachten den Tag lieber in der Sicherheit des Gemeinschafsraumes, wobei sich Evelyn nicht vorstellen konnte, dass es dort für sie besser war. Den Übeltäter hatte jeder für sich schnell in Verdacht, dafür sorgte alleine die Abwesenheit von Harry und den anderen. Es hatte nicht lange gedauert, da hatten sich verschiedene Versionen der Geschehnisse der letzten Nacht im Schloss verbreitet. Natürlich wollte jeder wissen, wie es zu den veränderten Machtverhältnissen kam, und jeder hatte so seine eigene Theorie. Vom Einbruch in Filchs Büro bis hin zu einem irregulären Ausflug in den Verbotenen Wald hatte Evelyn alles gehört. Nichts war jedoch derart absurd, wie die Erzählung einiger Ravenclaw, darunter auch Mandy, die behaupteten, Snape hätte Harry umgebracht und die anderen in Vampire verwandelt, nur so könnte man sich sowohl den großen Punkteverlust als auch das Verschwinden von Harry und Co. erklären. Evelyn hatte nur den Kopf schütteln können angesichts solch überzogenen Vorstellungen.
 

Snape hingegen wirkte trotz der haarsträubenden Gerüchte wie ein anderer Mensch, was die Theorien für einen möglichen Mord nur verstärkte. Niemand konnte sich sonst denken, weshalb ihr sonst so bitterer Tränkelehrer amüsiert und beinahe lächelnd seinen Kaffee trank. Ein durch und durch Besorgnis erregender Anblick für Evelyn, die ihn seit sie hier war noch nie bei derart guter Laune erlebt hatte.
 

Im Kontrast dazu stand Professor McGonagall, die den säuerlichen Ausdruck, für den Snape eigentlich bekannt war, übernommen hatte und auf jede Ansprache nur gereizt reagierte.
 

Evelyn, die wusste worauf sie achten musste, hatte ungewöhnlich viel Spaß dabei die kleinen Spannungen zwischen den Hauslehrern während des Frühstücks und darüber hinaus zu betrachten. Selbstverständlich wollte auch der Rest des Kollegiums wissen, was sich nachts zugetragen hatte. Dass sich ein Punktestand innerhalb weniger Stunden halbierte, war selbst für Hogwarts ungewöhnlich, deshalb hatten sich alle sofort an Snape gewandt, der für sie am ehesten in Betracht kam Ursache für Gryffindors Einbruch gewesen zu sein.
 

Dumbledore wirkte, im Vergleich zu seinem sonst fröhlichen Selbst, ruhig und in Gedanken. Sein munteres Lächeln versteckte er hinter einer sorgenvollen Maske, und er war auffällig lange in ein Gespräch mit Minerva vertieft gewesen. Evelyn konnte sich nicht entscheiden, welcher Anblick ihr lieber war: der säuerliche Ausdruck von Minerva, oder die beinahe heitere Art ihres Hauslehrers.
 

Als Harry sich dann doch nach Stunden unter ihnen zeigte, lebend wohl gemerkt, hatten sich zumindest die Gerüchte der Ravenclaw erledigt. Gleichzeitig verdichtete sich endlich auch unter den Schülern was genau am Tatort Hogwarts letzte Nacht vorgefallen war.
 

Die offizielle Erklärung war, dass die drei Gryffindor Draco eine Falle gestellt hatten, der auf den Köder einen Drachen gezeigt zu bekommen hereingefallen und schließlich erwischt worden war. Harry hatte es sich jedoch mit Hermine und, zu der Überraschung vieler, Neville nicht nehmen lassen mit anzusehen, wie seine Falle zuschnappte. Das Gelächter aller war daher umso größer als die Geschichte damit endete, dass sie selbst von ihrer eigenen Hauslehrerin erwischt worden waren. Slytherin jubelte, kaum dass Harry ihren Weg kreuzte, immerhin hatte er nun dafür gesorgt, dass Gryffindor mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Chance mehr im Rennen um den Hauspokal hatte. Ironischerweise war Draco einer der letzten, wenn nicht sogar der letzte, der davon erfahren würde.
 

Nachdem McGonagall ihm sowohl ein blaues Auge, als auch ein rotes Ohr verpasst hatte, hatte er sich stumm und wie ein getretener Hund zurück in seinen Schlafsaal geschlichen, ohne zu ahnen was sich noch in derselben Nacht abgespielt hatte. Sein Plan Harry auffliegen zu lassen, war teilweise aufgegangen, wenn auch mit einigen Opfern seinerseits.
 

Evelyn spielte gelangweilt mit einigen achtlos liegen gelassenen Federn auf dem Holztisch der Großen Halle, wo sie gezwungenermaßen die meiste Zeit ihres Sonntags verbracht hatte, wie halb Hogwarts auch. Man wollte keine Neuigkeit verpassen und der beste Weg dafür war, immer in der Nähe der Menge zu bleiben. Allerdings waren sowohl Harry, als auch die Lehrer, schon lange verschwunden, weshalb es Evelyn nun nur noch so vorkam, als geierte man verzweifelt nach mehr Stoff, über den man sich das Maul zerreißen könnte. Als ob sie davon heute nicht genug gehabt hätten. Erstaunlicherweise waren gegen Mittag sogar die Geister aus allen Ecken erschienen und hatten sich bei den Schülern erkundigt, was die Aufregung sollte. Es dauerte nicht lange, da hatten auch sie die Köpfe zusammengesteckt, um zweifellos an der Diskussion auf ihre Weise teilzunehmen. Evelyn hatte nicht gehört, was sie gesagt hatten, es schien jedoch, als hätte jeder von ihnen eine andere Meinung.
 

Ihre Klassenkameraden saßen verstreut um sie herum, ihnen allen war noch immer die Aufregung ins Gesicht geschrieben, auch wenn die Erschöpfung ihnen langsam anzusehen war.
 

Evelyn war der Situation irgendwann überdrüssig geworden. Den Sonntag hatten sie einstimmig zum ruhigen, lern freien Tag erklärt, ihn dann aber nach einem mittelschweren Skandal beinahe gänzlich auf der Holzbank in der Halle zu verbringen, war ihr entschieden zu eintönig. Sie konnte nicht ausschließen, dass sie während der Warterei, worauf auch immer die anderen zu warten schienen, das ein oder andere Mal eingenickt war. Immer wieder gähnte sie und hoffte, jemand würde ihre Zeichen verstehen endlich woanders hinzugehen; wenigstens aufzustehen. Es war Blaise, der schließlich den Stein ins Rollen brachte und die in Schweigen gefallene Gruppe aus ihren Gedanken riss.
 

"Wir sollten es ihm sagen."
 

"Draco? Nein, lass ihn in seinem Zimmer, das hat er verdient." Daphne zeigte wenig Mitleid, vermutlich ein kleiner Akt der Rache dafür, dass Draco für den Abzug der Punkte verantwortlich war, die Daphne ihr Eigen genannt hatte. "Er will doch sowieso mit keinem reden."
 

Evelyn war ungeachtet dessen bereits aufgesprungen, kaum dass Blaise fertig gesprochen hatte, und streckte ihre Beine die nach Stunden auf ihrem Sitzfleisch kribbelnd zum Leben erwachten. Sie hatte es se dicken Wolken unter der Decke zu beobachten wie sie langsam ihre Form änderten, oder zuzuhören, wie ein und dieselben Gerüchte immer und immer wieder durchgekaut wurden, mit kleinen Veränderungen hier und da. Beinahe kam es ihr vor, als sei der kleine Vorentscheid im Wettbewerb um den Hauspokal weitaus enthusiastischer diskutiert worden, als der Angriff des lebenden Trolls an Halloween. Die Schüler müssen unbedingt lernen gelassener mit solchen Skandalen umzugehen, dachte Evelyn während sie ihre Schultern knacken ließ. Irgendwer bekommt in den nächsten Schuljahren sonst noch einen Herzinfarkt vor lauter Aufregung.
 

Sie griff nach Daphnes Handgelenk um sie trotz Widerwillen auf die Beine zu ziehen. "Sei nicht so hart, Daphne. Draco hat genug gelitten", ergriff sie für Blaise Partei, der es ihr mit einem Nicken dankte und sich ebenfalls bereits erhoben hatte.

"Wir können ihm auch gleich ein paar belegte Brote mitbringen, er hat doch seit gestern nichts mehr gegessen." Pansy, die es sich auf dem Tisch statt den Holzbänken gemütlich gemacht hatte, zog eine Platte mit Snacks heran und begann Brote in eine Serviette zu wickeln.
 

"Ich habe gehofft du machst Witze, aber du meinst das ernst." Angewidert beobachtete Daphne, wie Pansy die verpackten Snacks in ihrer Tasche verschwinden ließ, bis sie sich endlich auf den Weg machten.
 

"Was glaubt ihr wird Draco sagen, wenn er die Sache mit Potter erfährt?", fragte Millicent als niemand Anstalten machte zu reden.
 

"Wieso soll ich mir darüber Gedanken machen?", erwiderte Blaise mit gerunzelter Stirn. "Wir werden es gleich hören, oder nicht?"
 

Dieses Vorhaben sollte sich als schwierig erweisen, denn Draco hatte sich noch immer in seinem Zimmer verschanzt, wie sie leider feststellen mussten, nachdem sie den Gemeinschaftsraum betreten hatten und dieser auffällig leer war. Sie alle wollten dabei sein, wenn der Malfoy Erbe von Gryffindors blamabler Niederlage erfuhr, also folgten die Mädchen stumm und wie selbstverständlich Zabini hinunter zum Schlafsaal der Jungs; sehr zur Freude von Pansy, in deren Gesicht sich eine leichte Röte bildete.
 

"Das ist so aufregend", meinte sie, während sie den Blick schweifen ließ.
 

"Das sieht hier aus wie bei uns, nichts Besonderes." Was Daphne zu sagen hatte, war für Pansy aber nicht von Bedeutung. Sie hatte nur Augen für die Wendeltreppe, so als wäre sie eine Attraktion, und nicht das exakte Replikat der Treppe, die zu ihren Schlafsälen führte. Zabini blieb plötzlich vor einer Tür stehen und obwohl Evelyn keine große Acht darauf gehabt hatte, wie weit sie gelaufen waren, hatte sie das Gefühl, dass das Zimmer der Jungs höher lag, als ihr eigenes.
 

"Draco?", Blaise klopfte gegen die Tür. "Hast du eine Hose an? Ich hab die Mädchen dabei."
 

Millicent war nicht die einzige, die das Gesicht nach Zabinis Bemerkung verzog. Blaise schaute kurz über seine Schulter und zeigte ihnen kurz ein schamloses Grinsen, als die Tür aufflog und ihn straucheln ließ.
 

Evelyn musste zwei Mal den Jungen in der Tür anschauen, um Draco zu erkennen; er sah miserabel aus. Seine Haare waren ungekämmt und seine Wangen waren leicht geschwollen, wie auch seine Augen. Glücklicherweise war er wenigstens angezogen, allerdings war seine Kleidung stark zerknittert, so als habe er darin geschlafen.
 

"Seid ihr gekommen um mir ins Gesicht zu lachen? Habt ihr euch gut amüsiert?"
 

Seine Stimme war rau.
 

"Ja, haben wir", sagte Daphne mit einem Grinsen, bekam dafür aber einen unauffälligen Tritt von Pansy. "Und du wirst dich auch gleich amüsieren", beendete Daphne. Gut die Kurve bekommen, dachte Evelyn, die sich neben die Tür gestellt hatte und einen Blick ins Zimmer warf, das sich ebenfalls in allem mit ihrem glich.
 

Zabini legte Draco die Hand auf die Schulter und führte ihn sanft ins Zimmer zurück. "Kumpel, du solltest dich lieber setzen."

Eher verloren stand Evelyn mitten im Raum, die Hände vor sich gefaltet, und wartete stumm, bis die anderen gemeinsam trotz Dracos anfänglicher Gegenhaltung erzählt hatten, was während der Nacht und heute in der Großen Halle passiert war. Zunehmend kehrte eine gesunde Farbe zurück in Dracos Gesicht und bald schon lag er keuchend vor Lachen auf seinem Bett am Fenster, Tränen der Freude in seinen Augen, während er sich bildlich vorstellte, was McGonagall mit Harry gemacht haben musste.
 

"Das hätte nicht besser laufen können", tönte er sich selbst beklatschend. "Potter, das Schlammblut und Schlongbottom auf einen Streich. Nur schade, dass Weasley im Krankenflügel lag." Nun, nachdem ihm die frohe Kunde überbrachte worden war, sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus.
 

"Nicht ganz richtig", meine Evelyn, die noch immer jedes Mal die Augen rollte, wenn Draco von Schlammblütern redete. "Du hast trotzdem Nachsitzen ... nehme ich an. Es hätte also durchaus besser laufen können."
 

"Stimmt", sagte Blaise, der sich statt Draco an Pansys Broten bedient hatte und diese unter ihrem giftigen Blick nun aß. "Du wurdest erwischt. Warte, bis dein Vater davon erfährt."
 

Evelyn fuhr sich mit den Finger über den Mund, um ein Grinsen zu kaschieren, während Draco Zabinis Einwand mit einer Geste zunächst theatralisch abtat. Sein eigenes Missgeschick, wegen dem er sich den ganzen Tag in seinem Bett verkrochen und geweigert hatte sich zu zeigen, holte ihn nun ein.
 

"Falls er davon erfährt", meinte Draco, wirkte aber nicht sehr zuversichtlich, im Gegenteil, er wurde plötzlich auffällig still.

Wie sehr es ihm nahe ging, zeigte sich in den nächsten Tagen und Wochen, in denen sich die Aufregung um Harry zwar langsam legte, was vor allem an den bevorstehenden Examen lag die sich in die Gedanken der Schüler schlichen, Draco aber äußerlich angespannt und müde wirkte. Auch die anderen waren geistig erschöpft, sodass Evelyn bald ihre gemeinsamen Lernstunden für beendet erklärt hatte, damit sie bis zu den Prüfungen nicht völlig ausgebrannt sein würden. Sie hatten gut zusammengearbeitet und sie erwartete, dass sie alle keine Probleme haben sollten, wobei Crabbe wohl glücklich sein musste einfach nur zu bestehen.
 

Dass Professor McGonagall ihm kein genaues Datum für seine Strafarbeit genannt hatte, machte Draco zusätzlich mehr und mehr zu schaffen. Wenn er unter ihnen war, beschwerte er sich immer häufiger über diese Behandlung von Seiten der Hauslehrerin, doch gleichzeitig tat er in der Öffentlichkeit so, als kümmerte ihn das nicht. Auf gar keinen Fall wollte er Schwäche zeigen und bei der Professorin – wie er es nannte – um einen Termin betteln.
 

Draco steckte einige von ihnen mit seiner Nervosität an, sodass sie nun jedes Mal zusammen zuckten, wenn ein Lehrer in ihre Richtung kam oder einen von ihnen rief.
 

Inzwischen galt es als sicher, dass Harry ein großes Theater veranstaltet hatte, um Draco in eine Falle zu locken, was von den Gryffindor mit Sicherheit gefeiert worden wäre, wären sie nicht als Verlierer aus der Sache gegangen. Viele sahen in Draco nun das Opfer und sprachen sich für ihn aus, was Draco für einige Zeit sichtlich genoss, obwohl er die Wahrheit kannte; oder gerade deswegen.
 

Dass es genug Anhaltspunkte gab, dass Potter eben nicht eine große Scharade veranstaltet hatte, schien kaum einen zu interessieren. Niemand achtete darauf, wie der sonst so fröhliche Hagrid kaum einen Bissen aß. Oder dass Harry, Neville und Hermine erwischt worden waren, als sie vom Astronomieturm gestiegen waren, und eben nicht davor gewartet hatten.

Ob Draco seinen Eltern von seinem Zwischenfall erzählt hatte, wusste Evelyn nicht mit Sicherheit, allerdings blieben die wöchentlichen Sendungen kleinerer Naschpakete für Draco von nun an aus. Beinahe jeden Morgen wartete er vergeblich auf eine Eule, die ihm kleine Küchlein, Kekse, oder selbstgemachte Bonbons hätte bringen sollen. So auch heute.
 

"Schau nicht so steif nach oben", murmelte Blaise ohne von seinem Frühstück aufzusehen. "Wenn etwas kommt, dann kommt es."
 

"Sei still, Zabini." Mit grimmigem Blick wandte sich Draco von den einfliegenden Eulen ab und nippte lustlos an seinem Saft.
 

Für Evelyn waren nun die letzten Wochen angebrochen, sodass sie nun beinahe jeden Morgen mit einem nostalgischen Gefühl ihren Tag begann. Das Wetter wurde stetig freundlicher und Hogwarts erstrahlte in der Frühlingssonne, was ihr den Abschied nur erschwerte. Besonders heute glitten ihre Gedanken öfter als sonst ab. Stets dachte sie daran, dass es bald das letzte Mal sein würde, dass sie sich mit ihrem Teleskop hinauf auf den Astronomieturm quälte, wo sie Sterne und Konstellationen beobachtete, von denen sie nie etwas gehört hatte. Dass sie das letzte Mal ein Buch unter dem strengen Blick von Madam Pince ausleihen würde, die ihre Arbeit als Bibliothekarin derart ernst nahm, als würde sie sich als Hüterin alter Geheimnisse sehen.
 

"Evelyn, das ist doch die Eule deines Opas", sagte Millicent, als Evelyn einige Herzschlag nicht auf das Flattern direkt über ihrem Kopf reagierte. "Er hat etwas, aber wieso lässt er es nicht fallen?"
 

Evelyn schloss sich den Blicken der anderen an, hoffte jedoch auf einen Zufall ausgerechnet heute Ollivander Eule zu sehen. Allerdings hatte Millicent recht, er hielt ein kleines Paket mit beiden Krallen fest umschlossen und machte keine Anstalten, es fallen zu lassen.
 

Sie stand auf und kletterte notgedrungen auf die Holzbank, wo sie der Eule im Flug das Paket und einen gefalteten Zettel abnahm. Eine Vorahnung beschlich Evelyn, als sie sich wieder setzte und zunächst den Zettel las.
 

Liebe Evelyn
 

Ich weiß, dass sie mich gebeten hatten die Information vertraulich zu behandeln. Sie werden es mir aber nicht übel nehmen, wenn ich den heutigen Tag nicht einfach so verstreichen lassen kann. Aurelius hatte von mir die strikte Anweisung erhalten das Paket mit äußerster Vorsicht zu transportieren und es Ihnen direkt zu geben. Im Innern finden Sie eine kleine Überraschung, wie Sie sich sicher denken können.
 

Meine liebe Evelyn, passen Sie gut darauf auf. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen alles Gute.
 

Garrick Ollivander
 

PS: Machen Sie sich keine Sorgen um einen möglichen Regelverstoß. Technisch gesehen, haben Sie nichts Unerlaubtes mitgeführt.
 

Resigniert schaute sie auf das Paket, das beinahe so groß war wie jenes, in dem sie ihre Coinnlear bekommen hatte, allerdings war es schlicht eingepackt.
 

Draco schielte es neidisch an. "Du bekommst doch sonst keine Päckchen. Was ist da drin?" Ehe er ausgesprochen hatte, legte er seine Finger bereits um das Paket und wollte es zu sich ziehen, doch Evelyn schlug ihm aus einem Reflex heraus auf die Hand, sodass er erschrocken und verblüfft zurück zuckte. Einige von Ollivanders Worten erweckten in ihr den Verdacht, dass niemand das Paket anfassen sollte. "Ich werde wohl mein eigenes Paket ohne deine Hilfe öffnen dürfen, Malfoy?"
 

Blaise kicherte trocken, allerdings brachte sie sich gleichzeitig in Erklärungsnot, sodass sie sich schwer seufzend entschied zu beichten. "Heute ist mein Geburtstag."
 

Seit Jahren schon war ihr Geburtstag kaum von Bedeutung gewesen, weshalb sie niemandem davon erzählt hatte. Ollivander wusste auch nur davon, weil er ihr Geburtsdatum sowohl während ihrer Zauberstabsuche erfragt hatte, als auch weil er den genauen Tag für einige der Papiere für das Ministerium benötigt hatte.
 

Millicent ließ ihre Hand samt Löffel nach unten fahren und sah sie schockiert an. "Heute ist was?"
 

Entschuldigend zuckte Evelyn mit den Schultern. Sie hatten nie über ihren Geburtstag gesprochen, obwohl sie bereits einige hier erlebt hatte. Daphne war die erste unter ihnen gewesen, die noch im Vorjahr hatte feiern dürfen. Evelyn war nicht überrascht gewesen zu sehen, dass die jungen Slytherin ihren Geburtstag entgegen fieberten und diesen auch euphorisch feierten. Für sie hingegen war nicht mehr wichtig genug um darüber zu reden.
 

Mit einem Mal stürmte es auf sie ein. Glückwünsche, Hände die gegen ihren Rücken oder Schulter klopfte, aber auch genuschelte Beschwerden darüber, dass Evelyn ihnen etwas so, in ihren Augen, Wichtiges verheimlicht hatte.

Besonders Millicent war wie vor den Kopf gestoßen. "Was mache ich denn jetzt, ich habe kein Geschenk, wir haben nichts geplant, und du-"
 

"Millicent", unterbrach sie Evelyn. "Es ist in Ordnung." Sie sah jedoch in den Augen ihrer Freundin, dass für sie nichts in Ordnung war.
 

Draco beobachtete das Geschehen eher uninteressiert, ihm selbst schien dieser Ausbruch an Emotionen zu viel zu sein.

Evelyns Blick fiel auf das Paket, was sie nun endlich öffnen wollte.
 

Als sie das Band anzog, faltet sich der Karton selbstständig auf legte sich flach auf den Tisch. Auf den ersten Blick offenbarte er eine Kristallkugel, die auf einem unscheinbaren Gestell aufgebaut war.
 

"Das ist hübsch", meinte Daphne knapp, die sich vorgebeugt hatte um die halb durchsichtige Kugel näher zu betrachten. "Schau mal, da ist noch etwas drin."
 

Evelyn, die ihre Freude über eine Kristallkugel nicht recht zeigen konnte, besah sich auf Daphnes Bemerkung g hin ihr Geschenk etwas genauer.
 

"Muss ich mein inneres Auge öffnen?", sagte sie leise, den Blick konzentriert auf die Nebelschwaden in der Kugel gerichtet, als sie erschrocken die Luft einzog. Sie sah etwas, das sich im Nebel bewegte; etwas Festes. Vorsichtig hob sie die Kugel, die leichter war, als erwartet, mit den Fingerspitzen an und starrte angestrengt hinein.
 

"Sagt mir bitte, dass ihr das auch seht." Mehrere Augenpaare näherten sich der Kugel.
 

Es war Pansy, die die erste Vermutung aussprach. "Da ist ein Ei drin."
 

Draco wich sofort zurück und verdrehte die Augen. "Das kann doch nicht wahr sein. Ich schwöre dir, falls du jetzt auch ein Drachenei bekommen hast, dann-"
 

"Dann wirst du auf eine andere Schule gehen?", sagte Blaise." Jaja verstanden, Durmstrang ist so viel besser."
 

Für Evelyn war Dracos Ausbruch überzogen, allerdings war tatsächlich ein Ei innerhalb der Kugel gefangen. Es war braun, fast rot, mit schwarzen Flecken und vereinzelten Adern, die sich als Geflecht über das Ei zogen. Es war kleiner als eine Faust und eher schmal. Definitiv kein Drachenei.
 

"Vielleicht ist es ein Eulenei?", bot Millicent an. "Du hast doch keine."
 

Ungläubig schüttelte sie den Kopf. "Glaube ich nicht. Das Ei sieht nicht aus, wie ein Vogelei und Ollivander weiß, dass ich kein Freund von Eulen bin." Allerdings konnte sie auch mit anderen Tieren, die aus einem Ei schlüpfen würden, nur wenig anfangen. Sie kam nicht umhin sich über Ollivander zu wundern, ihr ausgerechnet etwas Lebendes zu schicken.
 

Sie setzte die Kugel ab und schaute sich seine Nachricht erneut an, die jedoch keinerlei Antworten gab. Ich kann gerademal eine Pflanze am Leben halten, und jetzt schenkt er mir ein Tier. Es gab einen Grund dafür, weshalb sie bis vor einem Jahr noch mit Knochen und Fossilien bereits toter Tiere hatte arbeiten wollen.
 

Seltsam, daran habe ich seit Monaten nicht mehr gedacht. Ihr Leben hatte sie sich bei ihrem letzten Geburtstag noch anders vorgestellt, hatte es anders geplant. Tja, jetzt feier ich eben zum zweiten Mal meinen zwölften Geburtstag. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und sie strich mit dem Zeigefinger über die Oberfläche der Kugel, die warm unter ihrer Berührung war.
 

Sie wusste nicht, was sich darin verbarg – außer der Gewissheit, dass es kein Drachenei war –, also hatte sie nun eine Aufgabe.
 

"Du willst wissen, was es ist, oder?", sagte Blaise leise. "Ich sehe es an deinem Blick."
 

Evelyn hatte nicht das Gefühl antworten zu müssen, sondern sie packte zusammen, da die Lehrer sie gnadenlos zum Unterricht riefen. Sie transportierte die Kugel den ganzen Tag von Klassenzimmer zu Klassenzimmer, und schrieb in ruhigen Minuten auf, was sie sah. Das Ei war nicht das einzige, das sich in den Nebelschwaden verbarg. Kleine Steinchen mit Moos überwachsen schwebten unbeweglich unter dem Ei. Ollivander hatte nicht zu viel versprochen, er hatte ihr eine Überraschung geschickt, ob angenehm oder nicht würde sich zeigen, jedoch hatte sie den Plan abends schon in der Bibliothek nach Antworten zu suchen. Das Ei erschien ihr charakteristisch genug, um es abgebildet in einem Buch zu finden und identifizieren zu können.
 

Sie war nicht die einzige, die heute mit einer unerwarteten Nachricht überrascht worden war. Nachmittags wurde Draco von Pucey aufgesucht, der sichtlich säuerlich reagierte als Eule missbraucht worden zu sein. Draco hatte endlich von Professor McGonagall einen Termin für sein Nachsitzen genannt bekommen, und eine zusätzliche Bemerkung sich festes Schuhwerk anzuziehen. Die späte Uhrzeit, für die die Strafarbeit angesetzt war, gefiel ihm nicht, weshalb er sich lautstark darüber beschwerte.
 

"Da bestrafen sie mich nachts nach der Sperrstunde im Schloss zu sein, und dann schicken sie mich zu unmöglichen Stunden irgendwelche Klassenzimmer schrubben."
 

Natürlich hatte McGonagall nicht geschrieben, was genau Draco in wenigen Tagen erwarten würde, oder mit wem er das Vergnügen hatte seine Strafarbeit zu verbringen. Seine Beschwerden häuften sich, daher war Evelyn beinahe froh sich in die Bibliothek zurück ziehen zu dürfen, als sie den Unterricht endlich beendet hatte. Sie wollte sich gerade verabschieden, da die anderen bereits vor Tagen gesagt hatten die Bibliothek in diesem Semester nicht mehr von innen sehen zu wollen, da stellte sich Blaise ihr in den Weg.
 

"Ich komme mit", tönte er, seine Tasche zum Abmarsch bereit und mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
 

"Du weißt doch gar nicht, wo ich hin will."
 

"Du willst nach dem Ei forschen."
 

Evelyns Augen verengten sich. "Ich glaube kaum, dass dich das wirklich interessiert."
 

"Wann hat man schonmal die Gelegenheit ein Mysterium aufzudecken."
 

"Anfang des Schuljahres, als Sprout dir eine unbekannte Pflanze gegeben hatte", beantwortete sie Zabinis rhetorische Frage mit einem gespielten Husten am Ende.
 

Die anderen waren bereits verschwunden, sodass sie als einzige übrig waren.
 

"Die Pflanze war kein lebendes Ei. Außerdem hast du uns nicht gesagt, dass dein Geburtstag ist, weshalb ich keine Zeit hatte mich vorzubereiten und dir ein Geschenk zu besorgen. Also bekommst du jetzt das beste Geschenk: meine Präsenz."
 

"Du willst nur mit weil du neugierig bist, was in der Kugel ist." Unbeeindruckt faltete sie die Arme vor der Brust.
 

"Und weil ich Dracos Gerede keine Minute länger aushalten."
 

Sie gab sich geschlagen, da ihr eigenes Nervenkostüm bereits wahrlich strapaziert war, und gemeinsam trotteten sie hinauf zur Bibliothek. Madam Pince erwies sich als sehr hilfreich, und zeigte ihnen, wo sie Bücher über Tiere finden konnten, magisch und unmagisch, die Eier legten. Zu Evelyns Schrecken, waren dies mehr als erwartet.
 

"Libellen? Da wird keine Libelle drin sein, oder?" Blaise durchblätterte gerade ein kleineres Werk über Insekten.
 

"Wäre möglich, es gibt Riesen-Regenbogengrab-Libellen aus Gibraltar."
 

Zabini sah sie irritiert an. "Das hast du dir gerade ausgedacht."
 

Wortlos warf sie ihm eine Aufzeichnung zu, die eine Abbildung der Libelle im Vergleich mit einem Menschen zeigte. Ein beängstigendes Bild. "Ich wünschte, du hättest mir das nicht gezeigt."
 

Seufzend legte er das Buch über Insekten beiseite und griff sich das nächste." Hier steht was von einem Schnabeltier. Das klingt gleich viel freundlicher."
 

"Ja, und ich werde es Perry nennen."
 

"Wieso Perry?"
 

"Nicht wichtig." Evelyn schlug einen Wälzer zu, der eine Mischung aus Staub und Schimmel verteilte. Ein mittlerweile vertrauter Geruch.
 

Die Kugel mit dem mysteriösen Ei stand vor ihnen und verhöhnte sie beinahe mit den sanften Umdrehungen in ihrem Inneren.

Ein wenig hatte sie den Drang sich eine Kröte zu suchen und sie das Ei ausbrüten zu lassen, doch einerseits war die einzige Kröte, die sie in Hogwarts kannte Trevor und damit für sie tabu, und andererseits konnte sie allein an der Form ausschließen, dass es ein Hühnerei war. Einen Basilisken zu züchten ist auch eine wirklich miese Idee.
 

Ihre Vermutung war, dass es ein Amphibien- oder Reptilienei war, dafür sprach die Form. Blaise war auf eine vielversprechende Beschreibung von Aspidochelone-Eiern gestoßen, einer seltenen Schildkrötenart, die so groß wie eine Insel werden konnte, doch diese Eier waren eher rund wie ein Ball, und nicht schmal oval, wie ihr Exemplar, auch wenn die Färbung sich mit ihrem gedeckt hatte.
 

Zudem war die Kugel aus Glas massiv, und Evelyn traute sich nicht, sie zu zerstören, um an das Ei zu kommen. So konnte sie nicht prüfen ob die Schale fest war, oder unter der Berührung nachgab.
 

"Ich sag es dir: das ist ein Schlangenei. Darauf wette ich meine Glückshandschuhe."
 

Dieser Verdacht hatte schon früh im Raum gestanden, wobei Evelyn dies für unwahrscheinlich hielt. "Brillant, schick einer Slytherin eine Schlange." Sie erwartete von Ollivander etwas mehr Finesse und Feingefühl.

Blaise hingegen war überzeugt recht zu haben. "Eine Regenbogenlibelle ist aber besser?"
 

"Regenbogengrab-Libelle."
 

Blaise fuhr sich mit der Hand frustriert durch das schwarze Haar. "Weißt du, Ehemann Nummer fünf hat immer gesagt: Dinge, die offensichtlich sind, müssen nicht falsch sein."
 

Nun war es Evelyn die vermutete, dass Blaise sich das nur ausgedacht hatte. Trotzdem stand für ihn die Antwort auf die Frage nach der Art des Eis fest.
 

"Lass uns einpacken, du musst noch Flitwicks Essay schreiben. Hier kommen wir heute sowieso nicht weiter."

Zabini schlug sich die Hand ins Gesicht und zog eine Grimasse. "Unsere Professoren könnten uns so kurz vor den Prüfungen auch weniger quälen. Es ist fast so, als geben sie uns doppelt so viel auf."
 

Auch Evelyn hatte das Gefühl, dass die Lehrer nun am Ende des Schuljahres das Niveau noch einmal angezogen hatten.

Trotzdem half alles meckern nichts, also griffen sie sich ihre Notizen und brachten die Bücher zurück, während sich Evelyn eines mitnahm um es sich näher anzuschauen.
 

Beider Mägen grummelten nun schon seit einiger Zeit, weshalb sie sich eifrig hinunter zum Abendessen begaben. Evelyn musste sich eingestehen, dass Zabinis Gesellschaft unterhaltsam und angenehm gewesen war. "Danke für das tolle Geschenk", meinte sie im Laufen, was Zabini zum Grinsen brachte.
 

"Gern geschehen."
 

Über die letzten Monate hatte sie Zabinis lockere und neckische Art zu schätzen gelernt, dass sie nun schon beinahe wehmütig daran dachte, Millicent und ihn womöglich nie wieder zu sehen, wenn sie bald aus dem Hogwarts-Express steigen würden.
 

"Blaise, bleib so wie du bist, ja."
 

Verwirrt neigte er den Kopf. "Wie soll ich denn sonst sein?"
 

"Sei ... einfach du." Schon während sie sprach realisierte sie, wie kitschig sie klang.
 

Blaise konnte nicht viel mit Evelyns sentimentalem Ausbruch anfangen, was sich in seinen Augen widerspiegelte, die nun auf ihren Hinterkopf gerichtet waren. Auch wenn ihr Geburtstag ihr nicht viel bedeutete, es war ein Tag, an dem sie unweigerlich zum Nachdenken gebracht wurde. Das resultierte nun jedoch in peinlicher Stille.
 

Ihr fiel nichts ein, was sie sagen konnte, das die Stimmung heben könnte. Im Gegenteil, vermutlich würde sie alles nur schlimmer machen, weshalb sie das Tempo anzog in der Hoffnung die Große Halle schneller zu erreichen. Sie hoffte, dass sie anderen bereits dort waren, als sie jedoch sah, wer in der Nähe des Eingangs stand und jeden begutachtete, der sich in die Halle schlich, verlangsamte sich ihr Schritt.
 

"Was macht denn unser Hauslehrer da?"
 

Auch Blaise starrte nun skeptisch auf die Figur, die unbewegt neben dem Eingang stand, als wäre er der Torwächter. Nichtsdestotrotz mussten sie an ihm vorbei, was sie zwang auf ihn zuzugehen. Sie ließ Zabini den Vortritt und folgte ihm ohne Blickkontakt vorbei an Snape.
 

"Miss Harris", sagte er kurz bevor sie sich in die Halle hatte retten können. Zabini drehte sich nach ihr um, kaum dass ihr Name gefallen war, doch sie nickte ihm zu, dass er gehen konnte. Eher zögerlich ließ er sich von den anderen Schülern mitreißen, die unaufhaltsam in die Halle strömten und sich nun zu Evelyn umdrehten, die Snape eher unwillig nacheilte.

Es war das erste Mal seit der netten Unterhaltung, in der er ihr mit Schulverweis gedroht hatte, dass sie ihn außerhalb des Unterrichts sprach. Sie blieben einige Meter abseits in einem Gang stehen, den Evelyn als den Gang erkannte, an dessen Ende Filchs Büro war. Einen Ort, den sie nicht so schnell wiedersehen wollte.
 

Seine Miene ließ keinen Rückschluss zu, was sie nun erwartete. Es war jedoch bezeichnend, dass er sie nicht gleich in sein Büro verwiesen, sondern es stattdessen hier auf dem Gang zur Rede stellte. Ihre letzte Zeit hier wollte sie in Ruhe verbringen, weshalb sie sich vornahm zu allem Ja und Amen zu sagen, was auch immer man ihr vorwarf.
 

"Mr Malfoy scheint in der Annahme zu sein, Sie hätten ein Drachenei erhalten."
 

Evelyns Augen weiteten sich. "Ich soll was?" Sie vergaß jegliche Worte des Respekts, die sie ihm entgegenbringen sollte.

Snape durchbohrte sie einige Sekunden mit seinem Blick, ehe er scheinbar resigniert ausatmete und sich den Nasenrücken massierte. "Glauben Sie ich hätte nichts Besseres zu tun als auf Sie zu warten und Ihnen unnötige Fragen zu stellen, von denen ich die Antwort schon kenne? Ja oder Nein, Miss Harris?"
 

Noch immer war sie perplex, rang sich aber eine Antwort ab. "Nein. Nein das ist kein Drachenei."
 

"Sondern?"
 

"Vermutlich ein Reptil ... oder eine Amphibie anderer Art."
 

Er verengte die Augen. "Ein einfaches Nein hätte mir gereicht, da Sie nun aber die Notwendigkeit verspürt haben zu erwähnen, dass Sie ein nicht identifiziertes Ei in ihrem Besitz haben, stehlen Sie mir mehr Zeit, indem ich nun verlangen muss, das Ei zu sehen."
 

Evelyn dachte an ihren Frieden, den sie sich bewahren wollte, und griff ohne auf Snapes ungeduldiges Tippen mit dem Finger zu achten in ihre Tasche und zog die Kugel heraus. Stumm reichte sie ihm das Ei, wobei sie ein Kommentar an ihn vorsichtig zu sein schluckte.
 

Es dauerte kaum Sekunden, in denen er die Kugel betrachtete und in seinen Händen drehte, bis er leise murmelte. "Die ganze Aufregung wegen eines Schlangeneis."
 

Er ließ die Kugel zurück in Evelyns Hand rollen, und begann zu gehen. Für ihn war die Sache erledigt und Evelyn atmete erleichtert aus, verzog ihre Lippen aber zu einem schmalen Lächeln. Blaise wird jetzt unausstehlich sein.
 

"Wollen Sie nicht wissen, wieso ich ein Schlangenei habe?", rief sie ihm schelmisch hinterher, hörte aber nur ein: "Nicht interessiert."

Kapitel 51 - Achterbahn

Ohne weitere Erklärungen einzufordern, verschwand Snape, jedoch nicht in der Halle, sondern hinunter in die Kerker. Scheinbar hatte er nicht übertrieben als er gesagt hatte, er hätte noch andere Dinge zu tun. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie lange er bereits vor der Halle gestanden haben mochte. Ein Knoten bildete sich in ihrer Magengegend, wobei sie sich selbst mit dem Gedanken beruhigte, dass das Gespräch verhältnismäßig friedlich vonstatten gegangen war. Sein einziges Augenmerk hatte der Frage gegolten, ob sie im Besitz eines gefährlichen Eis war, oder nicht. Angestachelt von Draco, schoss es ihr durch den Kopf als sie sich daran erinnerte, dass Snape seinen Namen erwähnt hatte.

 

"Verwöhnter Dämlack", rutschte es ihr heraus. Mit einem Hüpfer richtete sie ihre Tasche, die Kugel samt Ei in ihrer Hand. Sie würde es nun nicht mehr verstecken, wenn selbst ihr Hauslehrer wenig Interesse an ihrem neuen zukünftigen Haustier hatte.

Das aufgeregte Murmeln hungriger Schüler drang bereits nach draußen, ein Zeichen, dass das Essen bald auf den Tischen erscheinen würde. Dem säuerlichen Geruch nach zu urteilen, hatten sich die Hauselfen für Fish and Chips und einem Hühnerfrikassee entschieden.

 

Als sie die Halle betrat, waren sogar schon die Mehrzahl der Lehrer anwesend, minus ihrem eigenen Hauslehrer, also beeilte sie sich den Tisch der Slytherin zur winkenden Millicent entlang zu laufen, die bereits ungeduldig wartete.

 

"Da bist du ja", meinte sie, während Evelyn erleichtert seufzend zwischen ihr und Daphne Platz nahm. "Blaise sagte, du hast schon wieder Ärger mit Snape?" In ihrem Unterton hörte Evelyn eine ungesagte Bemerkung heraus, als ob sie Evelyn Vorwürfe machte. Ich bin nicht diejenige, die du enttäuscht anschauen solltest.

 

Vorsichtig stellte sie die Kugel ab, sodass sie das Ei im Blick hatte. "Nein, nicht wirklich. Scheinbar hat jemand herumerzählt, ich hätte ein Drachenei." Evelyn musste nicht den Namen sagen, da Daphne und Zabini ihre Aufmerksamkeit bereits auf Draco lenkten, der unbeeindruckt den Kopf auf dem Tisch abgestützt hielt.

 

"Hätte doch sein können", war alles, was er zu seiner Verteidigung sagte.

 

Sehr zu Evelyns Freude hob Zabini die Hand und fuhr ihm in einem leichten Klaps gegen den Hinterkopf, woraufhin Draco schockiert Schmerz heuchelte. "Autsch! Ich darf doch wohl bitten?"

 

Blaise verdrehte die Augen und ignorierte Pansys missbilligenden Blick von der Seite. "Du darfst bitten, ja. Bitte das nächste Mal um Erlaubnis, bevor du Schwachsinn in die Welt setzt."

 

"Wieso bin ich jetzt der Schuldige? Ich bin derjenige, der wegen einem bescheuerten Ei Nachsitzen hat."

 

Das Essen erschien mit einem Mal vor ihnen, und Evelyn erkannte die erwarteten Speisen wieder. "Es war eigentlich eine ganz angenehme Unterhaltung", sagte sie zum Schock einiger Anwesenden.

 

Sie zuckte die Schultern. "Er hat nicht erwartet, dass ich wirklich ein Drachenei hatte, vielen Dank dafür, Draco."

 

"Gern geschehen", nuschelte er, wobei er sich eher würdevoll auf sein Essen stürzte.

 

Daphne äffte Draco stumm nach, ehe sie sich an Evelyn weitersprach. "Alles was er von mir wollte, war eine Bestätigung, dass ich keines habe."

 

"Wieso macht er sich die Mühe?"

 

Statt Evelyn antwortete Pansy. "Vermutlich ist das einfach seine Aufgabe. Gerücht hin oder her, aber in Hogwarts ist nichts normal."

 

Zabini nickte. "Jeder Mensch mit gesundem Verstand kann sich denken, dass kein Schüler ein Drachenei geschickt bekommt."

Diesen Seitenhieb wollte Draco nicht einfach vorbeiziehen lassen. "Bist du ein Zauberer, Zabini, oder bist du es nicht? Jeder von uns könnte ein Drachenei schrumpfen! Das ist keine Kunst."

 

"Jungs!", mischte sich Evelyn nun ein. Ihr von Ollivander gut gemeintes Geschenk begann ihr entschieden zu viel Staub aufzuwirbeln. "Lasst es gut sein, es ist nichts passiert", sie wandte sich an Blaise. "Übrigens, laut Snape ist es ein Schlangenei."

 

Jubelnd streckte er die Faust in die Höhe. "Ich wusste es. Es war so offensichtlich."

 

"Ja ja."

 

Daphne quietschte aufgeregt einen viel zu hohen Ton. "Eine Schlange?" Selbst über den Lärm der essenden Schüler hinweg war ihr Ausruf zu hören, sodass sich sogar einige Hufflepuff am Nachbartisch suchend zu ihnen umsahen.

 

"Brüll es doch noch lauter", meinte Evelyn resignierend.

 

"Verzeihung, aber weißt du, wie süß die sind?"

 

"Süß und verboten", mischte sich Draco ernst ein, was ihm einige kalte Blicke einbrachte.

 

"Es war sogar Snape egal", erinnerte sie Draco daran, ehe jemand der anderen etwas sagen konnte. "Technisch gesehen", begann sie Ollivanders Notiz zu zitieren, "habe ich nichts Unerlaubtes mitgebracht. Es wurde mir geschickt."

 

"Und es ist noch nicht geschlüpft." Draco war von Daphne Zusatz nicht begeistert, wurde dadurch aber zum Schweigen gebracht. Eine Diskussion schien es ihm nicht wert zu sein.

 

Obwohl die Schlange noch in ihrem Ei war, und sie keine Ahnung hatten um welche Art es sich handelte, beherrschte das Tier ihre Gedanken und war auch in ihren Gesprächen präsent, selbst als es Zeit zur Nachtruhe war. Evelyn glaubte, dass sich die anderen so auf das Ei in der Kugel fixierten, um die Angst und den Stress vor ihren Prüfungen zu vergessen. Trotzdem bestanden die Mädchen darauf früh ins Bett zu gehen, wogegen Evelyn nichts einzuwenden hatte.

 

Sie suchte sich ein Plätzchen für die Kugel, deren Nebelschwaden sie nun als dampfendes Wasser erkannte, das die Temperatur im Innern wohlig warm für ein brütendes Ei hielt. Millicent hatte vorgeschlagen die Kugel mit ihrem Gestell auf die Oberfläche des Wasserbeckens zu stellen, da dort zusätzlich ständig Wärme nach oben zog, aber Evelyn hatte sich nicht wohl dabei gefühlt die Kugel mitten im Raum auf den Boden zu stellen. Sie entschied sich sehr zur Freude von Daphne dafür, den Brüter, wie Evelyn es heimlich nannte, an das große Fenster zu stellen, sodass sie alle einen Blick darauf werfen konnten.

 

Das Licht war gedämpft und ihr Vorhang ein Spalt geöffnet, als mit einem lauten Krach ihr Bett gestürmt wurde.

 

Etwas Schweres landete auf ihrer Brust, aus der jegliche Luft gepresst wurde. Laut kichernd lagen alle Mädchen auf Evelyn, die kaum noch atmen konnte.

 

"Du glaubst doch nicht, wir lassen dich die letzten Stunden deines Geburtstags verschlafen", erkannte sie Millicent Stimme, die ihr am nächsten zu sein schien. Sie spürte einen Ellenbogen schmerzhaft auf ihren Oberschenkel drücken, sodass sie unfähig zu atmen mit dem letzten Rest Luft aus ihren Lungen aufstöhnte.

 

"Runter", brachte sie heraus, und elend langsam löste sich der Druck, bis sie keuchend die Decke umschlug.

 

"Uns nichts zu sagen ist eine Sache, Harris, aber nicht zu feiern, das können wir nicht zulassen." Pansy war, für Evelyn an der Bewegung ihrer Matratze erkennbar, aufgesprungen und entfachte mit einer ausladenden Bewegung ihres Zauberstabes dutzende Kerzen, die ihr Zimmer in eine seltsame Atmosphäre tauchten. Die Bewegungen der kleinen Flammen spiegelte sich in einem Schattenspiel an der Decke wider, das beinahe hypnotisch war.

 

"Komm schon, guck nicht so verblüfft", sagte Millicent, die eine stumme Evelyn am Ärmel zog und sie zwang aus dem Bett zu steigen.

 

Der Boden, der gerade noch sauber gewesen war, war bedeckt mit Kissen, Decken und bunten Tüchern, deren Anordnung eindeutig Daphnes Handschrift trugen. Einiges erkannte sie wieder: die Kissen gehörten eigentlich nach oben in den Gemeinschaftsraum. Ihr Blick wurde von einem filigranen Pokal aufgefangen, der inmitten des organisierten Chaos stand. Dünne Hälse aus glänzendem Silber ragten aus ihm hervor, auf denen jeder kleine Ventile hatte, während in einem sechseckigen Behälter eine durchsichtige Flüssigkeit schwappte, die an den Rändern kondensiert. Das Gebilde stand auf einem schmalen Fuß, um dessen Länge sich schlanke Ranken geformt aus Metall wandten. Zuletzt sah sie unter jedem der silbernen Hälse einen wunderbar gearbeiteten Kristallkelch stehen.

 

"Gefällt es dir?", fragte Daphne, die zu ihrem Bett geeilt war und ein Schälchen brachte, das bisher unter ihrer Decke versteckt gewesen war. "Das gehört aber leider nicht dir, das haben wir ausgeliehen. Mulciber will es morgen wiederhaben."

"Aber solange dürfen wir es benutzen. Setz dich." Pansy gestikulierte wild, das Gesicht in kindlicher Vorfreude getaucht.

Evelyn staunte, wie die drei vor ihr weiterhin Dinge herbeitrugen. Millicent stellte gerade eine Karaffe ab, unscheinbar und geradezu mickrig im Vergleich zu dem glänzenden Gebilde, während Pansy mit flachen Plättchen aus Metall spielte, die sie dumpf gegeneinander schlug.

 

"Was genau schaue ich mir gerade an?", fragte sie, einen Fuß zögerlich auf die ausgebreitete Decke vor ihr setzend.

"Thuja", kam es wie aus einem Mund. Evelyn fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Nicht schon wieder irgend ein komisches Ritual.

 

Sie war völlig mit der Situation überfordert, doch die Drei liefen noch immer grinsend vor ihr auf und ab, und richteten die letzten Handgriffe, ehe sie sich je einer pro Ecke auf den Boden warfen.

 

"Steh nicht rum, komm her."

 

Mit dem Fuß richtete Evelyn einige Decken und Kissen, auf denen sie sich niederließ. Sofort reichte ihr Millicent die Karaffe.

"Dein Glas", sagte sie, und Evelyn griff nach dem kristallenen Becher. Zu ihrer Überraschung goss Millicent ihr etwa zwei Finger breit eine leuchtend grüne Substanz ein. Unauffällig hob sie das Glas unter ihre Nase um zu riechen, was sie gleich trinken sollte, als die Karaffe nun reihum ging.

 

Das gibt's nicht, ich kenne den Geruch. Beißende Aromen verschiedener Kräuter drangen ihr in die Nase, sodass ihre Augen zu Tränen begannen.

 

Daphne lehnte sich zurück und kicherte. "Durftest du noch nie Grüne Fee trinken?"

 

"Nein, Ollivander lässt sie sicher nicht."

 

"Das ist nichts für junge Kinder!"

 

Langsam sickerten die spöttischen Worte in Evelyns Bewusstsein. Worte, die ihre Vermutung bestätigten und sie kam nicht umhin geschockt ihre Augen aufzureißen. Sie waren eindeutig zu jung Absinth zu trinken, schoss es ihr durch den Kopf.

Sie selbst hatte nur einmal mit dem hochprozentigen Zeug experimentiert, während ihrer Abschlussklassenfahrt. Ein tödlicher Mix aus Tee, Jägermeister und Absinth, der ihr jegliche Geschmacksknospen für die nächsten drei Tage verätzt hatte und dafür gesorgt hatte, dass die Hälfte ihrer Klassenkameraden ohne Kleider im Schnee hatte schlafen wollten, sie eingeschlossen. An diesem Tag hatte sie sowohl den Spaß am Feiern, als auch die Lust auf Alkohol verloren.

 

Kopfschüttelnd stellte sie das Glas ab. "Ich glaube, das sollten wir nicht machen, Mädels. Das Zeug ist stark-" und nichts für Zwölfjährige.

 

Pansy war gerade dabei das Glas zu präparieren, indem sie ein Stückchen Würfelzucker auf die Metallplättchen legte und es über den Rand des Glases legte. "Weichei. Ich bekomme jedes Jahr an Yule ein Glas."

 

Unbeeindruckt von Evelyns Warnung taten es Daphne und Millicent Pansy nach, bis auch sie jeweils einen Zuckerwürfel über ihrem Glas liegen hatten. Erwartungsvoll schauten sie auf Evelyn, die noch als einzige ihr Glas ignorierte.

 

"Na mach, das ist nicht der billige Pansch der Muggel", meinte Millicent beschwichtigend, was Evelyn aufhorchen ließ. Ehe sie jedoch fragen konnte, hob Daphne ihr Glas mit zwei Fingern hoch und präsentierte es mit schwenkenden Bewegungen aus ihrem Handgelenk. "Grüne Fee! Ein edler Trank, der jeden Geist beruhigt. Mein Vater schwört darauf."

 

Langsam dämmerte Evelyn, dass die Grüne Fee der Zauberergemeinschaft nicht dieselbe Grüne Fee war, mit der sie schon Bekanntschaft gemacht hatte. Erneut griff sich nach dem Glas und roch daran. Der Geruch war ähnlich durch die vielen Kräutern, doch gleichzeitig war es süßlich. Kurzerhand kippte sie das Glas, sodass ein wenig des Inhalts über ihre Lippen glitt.

Pansy schoss nach vorne. "Doch nicht pur!"

 

Mehrmals bewegte sie die Flüssigkeit über ihre Zunge und schmeckte die Zutaten, von denen sie einige erkannte: Thymian, die Schärfe von Lakritze und Anis, das brennende Gefühl in ihrem Rachen, das irgendwann jeden Geschmack zerstört hätte, blieb aus.

 

Pansy beobachtete sie mit großen Augen, als schien sie auf eine Reaktion zu warten, die von Seiten Evelyns aber ausblieb. Gar nicht übel.

 

Stumm beeilte sie sich mit den anderen aufzuschließen und einen Zuckerwürfel auf das Plättchen zu legen. Bald darauf wurden die Ventile an den Hälsen geöffnet, und rhythmisch fiel ein Tropfen nach dem anderen über den Würfel, in das Glas. Zischend mischten sich langsam die Flüssigkeiten, bis das saftige Grün verschwand und stattdessen der Inhalt milchig weiß wurde. Obwohl die Gläser noch unberührt vor ihnen standen, breitete sich schon jetzt ein starker, süßlicher Kräutergeruch aus, der Evelyn auf beruhigende Art umschlang. Derselbe Geruch wurde im Geschmack des Cocktails intensiviert, der ihr schließlich, nachdem sie angestoßen hatten, wie Honig vorkam.

 

Der Effekt des Trankes trat beinahe sofort an. Evelyn fühlte sich zum ersten Mal seit Monaten von jeder Sorge befreit und vollkommen klar. Bald legte sie sich, ähnlich wie die anderen, flach auf die Decken und schwieg, jede Minute auskostend, während Daphne eine Melodie anstimmte und leise summte. Große Schlucke konnte keiner von ihnen nehmen, weshalb das eine Glas den gesamten Abend über hielt, wobei sich Evelyn wohl auch nicht getraut hätte ein weiteres zu trinken. Bald glaubte sie, jeder ihrer Sinne wäre geschärft. Ungläubig rieb sie nur mit den Fingerspitzen über die Decken, deren einzelne Strukturen sie schwor erkennen zu können. Jede Farbe leuchtete heller, obwohl die einzige Lichtquelle im Raum die vielen Kerzen waren, deren Schattenspiel aber die filigransten Figuren an die Wände warf. Besonders der Farbton ihrer Vorhänge war satter, als sie je ein Grün gesehen hatte. Sie schmeckte beinahe jedes Aroma, das in der Luft hing.

 

Je länger es andauerte, desto sensibler wurde sie für jede Empfindung, die sie aber mit jedem Atemzug mehr zu erdrückend schienen, als dass sie sie sanft umfingen. Innerhalb von Sekunden war ihre Umgebung kein Fest der Sinne mehr, sondern eine regelrechte Tortur ohne entrinnen. Die Kissen, deren Oberfläche gerade noch beruhigend unter ihrer Berührung war, schienen sie nun zu verschlucken.

 

Sie griff sich mit der Hand an ihr Herz, das spürbar raste und gegen ihren Brustkorb drückte. Die Luft blieb ihr aus und sie keuchte, als hätte sie gerade drei Runden um den See im Sprint hinter sich.

 

Ich kann nicht atmen. Sie wollte reden, aber ihre Zunge war wie ein aufgequollener Schwamm in ihrem Mund, unfähig Worte zu bilden. Langsam und mit steigender Panik kämpfte sie sich aus den Decken, die sie kaum freigeben wollten. Erst jetzt achtete Daphne darauf, was Evelyn tat. "Was machst du da?" Ihre Stimme prasselte auf Evelyn ein, als wäre sie so laut wie ein Presslufthammer. Vor Schmerz, den sie unfähig war einzuordnen, verzog sie das Gesicht. Ich muss hier raus.

Mit wackligen Beinen richtete sie sich auf und taumelte an die Tür.

 

Sie stürzte hinaus auf die Treppe, deren Dunkelheit sie mit offenen Armen empfing und in Kälte hüllte. Mit zitternden Fingern klammerte sie sich an die Wand. Sie glaubte, sie würde von innen heraus verbrennen. Das ist doch nicht normal!

 

Instinktiv lief sie mit nackten Füßen hinunter Richtung Badezimmer. Ihre Konzentration galt ihrem Weg und ihren Fingern an der Wand, sodass sie nicht bemerkte, wie eine Hand unter ihren Oberarm griff und sie stabilisierte, bis sie eine Stimme direkt neben ihrem Ohr brüllen hörte.

 

"Du glühst ja!" Millicent hatte leise geredet, für Evelyn war es aber, als wäre sie auf einem Rockkonzert.

 

"Bad." Mehr konnte sie nicht sagen, als sie bereits einen ersten Schwall Galle in ihrem Mund spürte, den sie jedoch noch einmal schlucken konnte. Weitere Hände griffen nach Evelyn, die sie innerhalb kürzester Zeit regelrecht hinunterzogen. Mit letzter Kraft kippte sie in einer Duschnische um und übergab sich. Daphne und Pansy hielten Abstand, während Millicent Evelyns Rücken rieb. Was eine beruhigende Geste hätte sein sollen, war für Evelyn wie ein Schlag gegen die Wirbelsäule, sie schaffte es jedoch nicht zu sagen, dass sie aufhören sollte, als ein weiterer Anfall sie schüttelte.

 

Beschämt erinnerte sie sich, wie ähnlich sich diese Situation mit jener war, die sie bereits auf der Klassenfahrt erlebt hatte. Allerdings hatte sie noch nie solches Herzrasen gehabt, geschweige denn hatten ihre Sinne je derart verrückt gespielt. Erneut merkte sie, wie eine Welle des Ekels sie überkam und sich ihr Körper zusammen zog. Eine Hand, kühl und angenehm, legte sich auf ihre Stirn.

 

Daphne verließ mit Pansy das Bad, da sie sich die Szene nicht weiter anschauen wollten. Evelyn konnte es ihnen nicht verübeln.

 

Ein nasses Handtuch erschien in ihrem Blickfeld, und sie nahm es zitternd entgegen. Ohne zu zögern vergrub sie das Gesicht im Stoff, der sich eiskalt auf ihrer Haut anfühlte.

 

Was ist in dem Zeug drin? Sie konnte sich nicht erklären, weshalb sie innerhalb von Sekunden derart schlecht auf das Getränk reagiert hatte. Im einen Augenblick hatte sie sich entspannt gefühlt, glücklich und befreit von Problemen, und im nächsten hatte sie ihren Körper nicht mehr im Griff.

 

Sie stützte sich an der gefliesten Wand und bewegte zögerlich ihre Gliedmaßen. Jedes einzelne Gelenk tat ihr weh und sie glaubte sogar zu hören, wie sie gegeneinander rieben.

 

Millicent neben ihr schien nicht die geringsten Symptome zu zeigen. Ihre Pupillen waren ein wenig geweitet, was aber auch am Schock Evelyn derart schwach zu sehen liegen konnte. Weder sie, noch Pansy oder Daphne, vertrugen das Gesöff derart schlecht.

 

Das ist nicht nur das Getränk. Nach einigen Minuten fühlte sich Evelyn sicher genug sich aufzurichten. Dabei waren ihre Gelenke eindeutig zu hören, wie sie bei jeder Bewegung knackten. Das kann unmöglich nur das Getränk sein.

 

Sie schob wortlos Millicent ein wenig zur Seite, ehe sie die Dusche anstellte und sich vom Wasser auf niedrigster Stufe berieseln ließ. Ihre Kleidung war innerhalb kürzester Zeit durchnässt, und ihre Haare verdeckten ihr Gesicht, doch es half.

"Du solltest ins Bett, genug für heute", hörte sie Millicent reden, und Evelyn nickte, griff jedoch nach dem nassen Handtuch, ehe sie sich von Millicent helfen ließ das Wasser auszustellen und die Treppe zurück zu steigen. Auf ihrem Weg hinterließ sie eine Spur aus dutzenden Tropfen.

 

Ihr Herz raste noch immer, und ihre Umgebung schwankte, wo auch immer sie hinsah. Der süße Geschmack des Getränks war gewichen, und alles was sie wahrnahm, war eine bittere Säure auf ihrer Zunge. Sie fühlte sich innerlich ausgetrocknet und schwach, doch der Gedanke ins Bett gehen zu dürfen, war sehr verlockend und beruhigend. Als sie jedoch das Zimmer betrat, in dem noch immer der schwere Geruch nach Kräutern hing, spürte sie ihren Magen erneut rebellieren. Zum Glück gab es nichts mehr, das sie hätte hervor würgen können.

 

Daphne und Pansy hatten bereits angefangen aufzuräumen und die Kerzen gelöscht, hielten aber inne, als Evelyn den Raum betrat. "Geht's dir besser?"

 

Evelyn brachte nur ein heiseres Stöhnen als Antwort zustande, während sie sich mit dem Handtuch auf dem Gesicht einfach auf ihr Bett fallen ließ, das schon bald ebenfalls durchnässt war.

 

"Du solltest so nicht schlafen", sagte Millicent, und half ihr wenigstens die nassen Kleider auszuziehen. Evelyn war zu müde und erschöpft um sich zu wehren und ließ Millicent gewähren.

 

Plötzlich war ein Aufschrei von Daphne zu hören, sodass Evelyn erschrocken die Ohren bedeckte, Millicent hingegen fragend nach Daphne Ausschau hielt.

 

"Die Kugel", hauchte Daphne, den Finger auf das Glas des Fensters gerichtet, "sie ist leer!"

 

Mehrere Augenpaare folgten Daphnes Finger, während Evelyn noch immer versuchte den Geräuschpegel für sich zu senken.

 

"Evelyn, das Ei ist auf!", rief nun Millicent, die die Kugel aufgehoben hatte und damit zu Evelyn lief. Ihre Augen brannten trotz des dusrigen Lichts, dennoch erkannte sie, was Millicent ihr zeigen wollte. Das Ei hatte jegliche Form verloren und war in sich zusammengefallen, wie zerknittertes Papier.

 

Evelyn, die sich innerhalb von Minuten zuerst auf einem hoch und schließlich auf einem ungeahnten Tief befunden hatte, hob nun schwerfällig den Kopf. Ihr Gewissen trieb sie schließlich dazu sich aufzurichten. Gott, wenn alle nur nicht so schreien würden. Sie setzte die Kugel auf ihren Schoß um sie besser sehen zu können, das Bild blieb jedoch dasselbe. Das Loch im Ei, aus dem die Schlange gekrochen sein musste, war deutlich zu erkennen, nur der Bewohner war nirgends zu sehen. Eigentlich unmöglich aus einer massiven Kugel zu verschwinden, dachte Evelyn schluckend. Der bittere Geschmack war noch immer zu spüren und sie wünschte sie hätte ein Glas Wasser.

 

"Keiner bewegt sich." Ihr gereizte Hals schmerzte und die Worte waren nur schwach zu hören. Sie schloss die Augen und sammelte ihre Kräfte. "Keiner bewegt sich!" Dieses Mal schaffte sie es deutlich zu sprechen.

 

An den Schatten, die gegen das Fenster standen, sah sie wie ihre Mitbewohnerinnen in ihren Bewegungen einfroren und sich nicht mehr von der Stelle wagten. Jeder hatte ihren Zauberstab mit einem Lumos hell erstrahlen lassen, was Evelyn nun zusätzlich blendete. Sie zog sich an ihrem Bettposten hoch und begutachtete den Boden. Überall lagen noch Kissen, halb zusammen gelegte Decken und sogar Kleider. Für eine winzige, frisch geschlüpft Schlange, war es ein Leichtes in so einer Umgebung unterzutauchen. Wichtig war nun, dass sie sie nicht aus Versehen mit einem unbedachten Tritt zerquetschten. Gequält rieb sie sich die Augen als ihr klar wurde, dass die Schlange das Ei womöglich vor Stunden schon unbemerkt verlassen haben konnte. Sie war nicht in der Verfassung lange zu stehen, doch die Sorge und der Anblick einer leeren Kugel trieb sie auf die Beine.

 

"Bleib liegen, wir suchen", Millicent ging einige Schritte auf Evelyn zu, die schnalzte laut mit der Zunge und riss die Hand als Warnung nach oben.

 

"Nicht. Bewegen." Evelyn suchte nach ihrem Zauberstab, den sie auf ihre Kommode gelegt hatte. Sie sah, wie er in ihrer Hand zitterte, und sie griff sich ihre Decke um nicht zu unterkühlen.

 

"Warte, du solltest nicht-", versuchte Pansy zu sagen, Evelyn hatte jedoch schon den Zauberstab auf die Kissen direkt vor sich gerichtet, und sich auf ihr Vorhaben konzentriert. "Wingardium Leviosa."

 

Ein Luftzug kam ihr entgegen, als alles, das sich auf dem Boden befand, mit einem Mal in die Luft schoss. Selbst die Ränder der Vorhänge hoben sich einige Zentimeter nach oben.

 

"-zaubern", schloss Pansy nun ihren Satz, den Blick auf die schwebenden Objekte gerichtet, die sich langsam um sich selbst drehten. Unter besseren Umständen hätte Evelyn sich gefreut zum ersten Mal wirklich mühelos gezaubert zu haben, im Moment kreisten ihre Gedanken um etwas anderes, sodass sie es nicht begreifen konnte.

 

"Wow, Harris, du solltest jeden Tag Thuja trinken." Auf Daphnes Vorschlag konnte Evelyn gut verzichten, drehte ihren Zauberstab aber in ihren Fingern.

 

"Einmalige Geschichte", erwiderte Evelyn mit rasselnder Stimme, ehe sie den nun freien Boden absuchte. Erleichtert sah sie einen roten Fleck nicht weit von ihr, zusammengerollt direkt auf der Membran des Wasserbeckens.

 

Auch Millicent hatte sie gesehen. "Da!"

 

Es war jedoch Daphne, die sofort in drei Schritten in der Mitte war und das Tier aufhob. "Sie ist winzig." Evelyn entspannte sich als sie sah, dass die Schlange ihren Körper bewegte und scheinbar unverletzt war. Plötzlich fielen Decken und Kissen herab, und Daphne beschützte mit angezogenen Schultern die Schlange davor von der Deko getroffen zu werden.

 

"Das nächste Mal sagst du bitte eine Warnung." Sie hob Evelyn die Hand hin, sodass sie ihr frisch geschlüpftes Reptil entgegen nehmen konnte. Mit zwei Fingern umschloss sie den winzigen Körper und lüpfte es auf die Handfläche, wo das Tier sofort eifrig die Zunge benutzte, um sich zu orientieren. Sie war gerade mal so groß wie Evelyns Zeigefinger, und ihre Schuppen leuchteten in einem satten Rot, allerdings ahnte Evelyn bereits, dass sie noch unter der Wirkung des Trankes stand und der Farbton morgen eher bräunlich wirken dürfte.

 

Mit der Fingerspitze berührte sie den Kopf der Schlange, die sofort zuckte und mit der Zunge nach dem Objekt suchte, das es wagte sie rücklings zu attackieren. Evelyns Lippen umspielte ein schwaches Lächeln.

 

"Hast du schon einen Namen?", wollte Millicent wissen, die zusammen mit den anderen neben Evelyn stand und den Blick neugierig auf die sich einkringelnde Schlange in ihrer Hand gerichtet hatte. Sie schüttelte den Kopf, da sie nicht sprechen wollte. Überhaupt fühlten sich alle ihre Glieder nun schwer an. Sie holte die Kugel und hoffte die Schlange würde von selbst auf demselben Weg wieder hinein gehen, wie sie herausgekommen war. Als wäre es ein Stichwort entrollte sich die Schlange, was Evelyn als Kitzeln wahrnahm, und steckte den Kopf zur Kugel aus, durch die sie glitt, als sei es kein solides Glas, sondern nur Luft. Es dauerte nur Sekunden, bis das kleine Tier in der Kugel verschwunden war und sich in das Moos legte, das den Stein überzog.

 

"Sie hat wohl Wärme gesucht", sagte Pansy. "Das Wasserbecken war wie eine Heizung für sie."

 

Für Evelyn zählte nur, dass das Tier da war, wo es hingehörte, und zusammen mit ihrem Zauberstab stellte sie die Kugel auf ihrer Kommode ab.

 

"Ich habe für heute genug", flüsterte sie und die Mädchen begriffen sofort, dass sie nun schlafen wollte. Glücklicherweise zogen sie sich zurück und erlaubten es Evelyn ihren Vorhang zu schließen. Ihre Haare waren klamm vom Wasser sie trug nichts, außer ihrer Unterwäsche. Ähnlich wie die Schlange rollte sie sich mit angezogenen Beinen zusammen und wickelte die Decke um sich.

 

 

Sie erinnerte sich an nichts mehr, ob oder was sie geträumt hatte, als sie schließlich nach nur wenigen Stunden die Augen aufschlug. Das Geräusch der anderen, die bereits wach waren, hatte sie geweckt. Ihr Mund war völlig trocken, doch ansonsten fühlte sie sich weitaus besser, als noch vor ihrem Schlaf. Sie streckte sich unter der Decke und war zufrieden ihre Gelenke nicht mehr zu spüren, gleichzeitig merkte sie jedoch, dass etwas anderes nicht stimmte. Schwerfällig richtete sie sich auf und sah an ihren Füßen herab, die beinahe das Ende des Bettes erreicht hatten.

 

Scheiße! Ein Japser entwich ihr.

 

Eilig prüfte sie, ob die Vorhänge noch vollständig zugezogen waren, denn in dem Moment hörte sie bereits Millicents Stimme. Sie stand nicht weit weg.

 

"Evelyn? Wir sind auf dem Weg zum Frühstück, aber wir wollten dich nicht wecken."

 

"Geht es dir besser? Du warst gestern ganz schön angeschlagen?"

 

"N-nein", sagte sie eilig, die Decke weit hochgezogen, was kaum etwas brachte. "Ich denke, ich bleib noch etwas liegen."

 

"Sie klingt noch seltsam", flüsterte Daphne leicht besorgt.

 

Evelyn schluckte und räusperte sich. "Noch etwas heiser. Ihr könnt mich hier lassen." Bitte geht.

 

Einige Sekunden des Schweigens folgten, in denen Evelyn nur das Echo ihres Herzschlages hörte, bis Millicent sie erlöste. "OK, wir sehen dich dann im Unterricht." Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf den Schlag der zufallenden Tür. Nun kam es ihr so vor, als seien ihre Sinn gedämpft und stumpf. Als sie sich sicher war allein zu sein, öffnete sie den Vorhang und griff sofort in ihre Schublade, wo die letzten Flaschen ihres Trankes verstaut waren. Seit beinahe einem Jahr hatte sie kontinuierlich den Körper eines Kindes gehabt, weshalb ihr ihre nun gewachsene Brust und verlängerten Arme fremd vorkamen. Sie konnte nur ahnen, dass der Rest ihres Aussehens ebenfalls ihre ursprüngliche Form angenommen hatte. Ehe sie groß nachdenken konnte kippte sie einen großen Schluck jedes Trankes hinunter und wartete, bis sie wirkten. Erst dann erlaubte sie sich ihre Situation in Frage zu stellen.

 

Man musst nicht besonders schlau sein um zu erkennen, dass ihre Tränke über Nacht ihre Wirkung verloren hatten, was sie rückblickend auf ihre unfreiwillige Übelkeit schob. Was auch immer das Thuja mit ihr gemacht hatte, rückblickend war es nicht die verkürzte Wirksamer und vor allem nicht die Bauchschmerzen wert gewesen.

 

Sie schwenkte eine der Flaschen, die mit dem trüben Trank gefüllt war vor ihrem Gesicht, ehe die sie nun mit etwas weniger Hast erneut verstaute und sich seufzend über das leicht verschwitzte Gesicht fuhr.

 

"Wenn das hier vorbei ist brauch ich Urlaub", sagte sie leise, lachte jedoch sofort resigniert. "Ich denke schon über das Ende nach."

 

Ihr Blick fiel auf die Kugel, in der die Schlange unbeweglich lag. Nur ihre geteilte Zunge war regelmäßig zu sehen. "Du hast mir einen ganz schönen Schreck eingejagt." Das Reptil reagierte nicht, sodass Evelyn nun einfach auf ihrem Bett wartete, bis sie ihre mittlerweile gewohnte Größe vollends zurück erhielt.

 

Noch immer spekuliert sie stumm, was genau in den letzten Stunden mit ihr passiert war. Sie fühlte sich schwach, unausgeruht und durstig, ansonsten konnte sie aber keine weiteren Beschwerden feststellen. Ihr einziges Fazit war, in Zukunft die Finger von Thuja zu lassen.

 

"Du musst etwas essen", sagte sie an die Kugel gerichtet, in der ihre noch namenlose Schlange schlief. "Im Grunde, trifft das auf uns beide zu."

 

Ihr Wissen über Schlangen beschränkte sich auf das, was sie in ihren frühesten Schultagen gehört hatte und auf das, was man so im Alltag aufschnappte, was nicht gerade viel war. Ihr Hoffnung lag jedoch auf ihrer ersten Stunde Zaubertränke, oder besser gesagt dem Schülerlager, das mit einigen Tieren und Tierstücken bestückt war. Sie hoffte dort etwas zu finden, auch wenn sie es erst einmal schaffen musste sich unauffällig zu bedienen, was nicht gerade leicht war. Professor Snape hielt auch das Schülerlager gut im Blick um zu beobachten, was sich die Kinder nahmen. Nichts in dem Lager war gefährlich, oder selten. Diese Sachen verwahrte er in seinem persönlichen Lager auf, das für alle strikt verboten und stets verschlossen war.

Immerhin musste sie sich wenigstens keine Sorgen machen, dass ihre Schlange alleine loszog und die Haustiere anderer verschlang, da ihr eigenes Exemplar die Größe ihres Fingers hatte. Selbst normale Mäuse erschienen ihr zu groß, doch sie wurde im Lager sicher etwas finden.

 

Eilig holte sie sich eine neue Uniform, nahm eine mehr als wohltuende Dusche, und packte das Terrarium im Miniformat ein, um den Schlafsaal und Gemeinschaftsraum zu verlassen. Zu Ihrer Überraschung war der Gemeinschaftsraum jedoch nicht leer, sondern ein einzelner lag längs auf der Couch ausgebreitet, leise vor sich hin summend.

 

"Blaise?", rief sie von der Treppe, als sie ihn erkannte. "Solltest du nicht beim Frühstück sein?"

 

Sofort richtete er sich auf und strahlte Evelyn entgegen. "Das könnte ich dich auch fragen."

 

Sie kam näher und legte den Kopf schief. "Ich habe eine schwere Nacht hinter mir."

 

"Ich weiß, Millicent hat es uns erzählt. Dich hat's ganz schön umgehauen." Er griff neben sich und holte etwas, das er Evelyn entgegen warf. Beinahe hätte sie es fallen gelassen. "Du brauchst Zucker, iss."

 

Evelyn starrte auf den Apfel in ihrer Hand, den sie dankend annahm, ehe sie sich neben ihn setzte.

 

"Ich habe noch nie gehört, dass Thuja jemanden derart den Boden wegzieht", meinte Zabini nach einigen Minuten in denen er wartete, bis Evelyn ihren Apfel gegessen hatte.

 

Sie nahm sich einige Sekunden Zeit um abzuwägen, was sie erwidern sollte. Wirklich Erfahrung hatte sie nicht mit dem Trank, im Gegensatz zu ihren Klassenkameraden, die scheinbar alle schon einmal Bekanntschaft mit dem Getränk gemacht hatten. "Für alles gibt es ein erstes Mal", sagte sie schließlich, sehr zu Zabinis Unterhaltung.

 

"Mutter trinkt es immer, wenn sie einen schwierigen Auftrag hat. Manchmal darf ich einen Schluck nehmen."

 

Das ließ Evelyn hellhörig werden. "Wieso nimmt sie ihn?"

 

"Du wirst doch wohl gemerkt haben, dass der Trank einen gewissen ... Effekt hat."

 

Sie atmete laut aus. "Ja, habe ich."

 

"Man kann sich besser konzentrieren, unter anderem."

 

"Klingt illegal."

 

Sie merkte an Zabinis zögerlicher Reaktion, dass sie gar nicht so Unrecht hatte.

 

"Du hättest meinen Wingardium heute Nacht sehen müssen, du wärst beeindruckt gewesen." Zabini druckste und knetete abwesend seinen Daumen, sodass Evelyn erneut das Wort statt ihm ergriff. "Lass mich raten: einer dieser Nebeneffekte." Sein Schweigen gab ihr recht, und plötzlich erschien ihr der Zauber gar nicht mehr so beeindruckend. Wenn sie nun ein wenig klarer und mit etwas Essen im Magen darüber nachdachte, könnten verschärfte Sinne und eine bessere Konzentration Schuld an dem plötzlichen Aufschwung an magischem Talent gewesen sein. Klasse, ich war gedopt.

 

"Ich habe gehört die Schlange ist geschlüpft", wechselte Blaise das Thema, worüber Evelyn ganz glücklich war. Seine Augen funkelten aufgeregt. "Hast du sie?"

 

Es dauerte nicht lange, da war die Kugel mit der Schlange in Zabinis Händen, der sie nahe an sein Gesicht drückte. "Hast du schon einen Namen?" Evelyn konnte nur die Augen verdrehen, als sie diese Frage zum wiederholen Mal hörte. Bis vor 24 Stunden hatte sie noch keine Schlange gehabt und nun verlangten alle schon einen Namen.

 

"Sie muss erst etwas essen", sagte sie nur, was Zabini veranlasste erneut in seine Tasche zu greifen und beinahe erwartete sie, dass er nun noch ein Frühstück für ihr Haustier hervorholte. Dieses Mal reichte er ihr aber einen Zettel, den sie wohl kaum verfüttern konnte.

 

"Hier, die habe ich gestern gemacht. Du wolltest ja nicht nach Schlangen suchen, also habe ich das für dich erledigt." Erstaunt las Evelyn die kurzen und schräg geschrieben Notizen durch, die grob eine Anleitung zur Haltung von Schlangen darstellten. "Du hast das geschrieben?" Natürlich erkannte sie seine Schrift, war aber positiv überrascht ausgerechnet von Zabini, der jedem Aufsatz versuchte aus dem Weg zu gehen, freiwillig angefertigte Notizen zu sehen.

 

"Natürlich, da siehst du mal, was für ein toller Freund ich bin."

 

Besonders interessant war für sie im Moment die Information, was kleine Schlangen an Nahrung brauchten.

 

"Baby Ratten, im Ganzen oder in Stücken. Gerne lebend", las sie laut.

 

"Keine Sorge, ich habe Vince schon erklärt, dass er nicht um seinen kleinen Finger Angst haben muss, und dass wir die nicht verfüttern."* Sie grinste müde, war jedoch zufrieden die Bestätigung zu haben, das benötigte Futter tatsächlich im Schülerlager zu finden. Ratten in jeglicher Ausführungen gehörten zum Standardrepertoire.

 

"Du brauchst noch einen Namen", sagte Blaise eilig, als Evelyn sich erhob um sich zum Unterricht aufzumachen.

 

"Wieso ist das so wichtig? Ich weiß ja noch nicht einmal, ob sie ein er oder eine sie ist."

 

"Du kannst sie doch nicht ewig Schlange nennen." Evelyn machte ein Gesicht, als würde sie Blaise Vorschlag ernsthaft in Betracht ziehen. Im Grunde wäre ihr das sogar lieber, als sie Tiffany oder Hugo zu nennen.

 

"Wie wäre es mit Anguis", schlug sie daher vor, erntete aber nur ein enttäuschte Kopfschütteln.

 

"Du nennst sie auch nicht Schlange auf Latein." Evelyn fühlte sich ertappt und überkreuzte die Arme vor der Brust. "Was hat sich der Herr den vorgestellt, was ein treffender Name für meine Schlange wäre."

 

Auf diese Frage hatte er seinem Grinsen nach zu urteilen nur gewartet. "Das ist unser Wappentier, Eve!"

 

"Evelyn."

 

"Sie braucht einen kräftigen Namen, einen bedeutenden. Etwas Besonderes."

 

Evelyn hob die Augenbrauen, amüsiert darüber, wie sehr sich Blaise in dieses nach ihrer Meinung belanglose Thema hineinsteigerte. "Petunia?"

 

Er musste nicht antworten, seine versteinerte Miene zeigte, wie wenig er von ihrem zugegeben nicht ernst gemeinten Vorschlag hielt.

 

In der daraufhin herrschenden Stille seufzte sie geschlagen und dachte ernsthaft über einen möglichen Namen nach. Dabei grub sie auf Blaise Rat hin alte, mythologische Namen aus Texten aus, die sie in der Schulzeit ihres früheren Lebens das Vergnügen hatte von einer Sprache in die andere zu übersetzen. Caesar, Dante, Lilith, Kumaris, Belial, Apophis ... Meine Güte was versteht er denn unter kraftvoll? Shenlong oder Jabberwocky? Gedanklich blätterte sie durch die verschiedenen Persönlichkeiten und Wesen verschiedenster Kulturen, von denen ihr nichts weder zusagte, noch wirklich gefiel, bis sie schließlich doch noch an einem Namen hängen blieb. 

 

"Paimon", sagte sie zufrieden und auch Blaise horchte auf. "Paimon?" Er nickte, während er den Namen über seine Zunge Rollen ließ. "Ich mag den Klang."

 

Was er wohl gesagt hätte, wenn ich Pikachu vorgeschlagen hätte? Sie erwiderte sein Grinsen, wenn auch aus anderen Gründen, als er sich womöglich dachte.

 

Da es keinerlei Widersprüche gab, packte Evelyn Blaise am Oberarm und zog ihn Richtung Ausgang. "Da wir das nun geklärt haben, können wir endlich gehen? Paimon hat Hunger, und in den letzten Wochen hier will ich nicht ausgerechnet bei Professor Snape zu spät kommen."

 

Kapitel 52 - Verrücktheit mit Methode

 

Von zu spät kommen, war definitive nicht Rede. Sie beide standen einige Zeit einsam vor der verschlossen Tür zum Tränkekerker, Minuten des Wartens, in denen Blaise mehr und mehr bewusst wurde, dass er gerade das Frühstück hatte sausen lassen. Evelyn hatte sich kurzerhand auf dem Boden niedergelassen, da ihre Beine schnell schwer geworden waren, was sie auf die Nachwirkungen ihrer schlechten Nacht schob. Zabini lief derweil immer ungeduldiger vor ihr auf und ab.

"Das Frühstück sollte doch schon längst vorbei sein." Unzufrieden warf er die Arme hoch und deutete in die Richtung, in der er die Große Halle vermutete. "Schlagt euch die Bäuche voll! Esst ihr nur euer Müsli und euer leckeres Ei mit Speck, während wir hier unten verhungern."

 

Evelyn lehnte lächelnd ihren Kopf gegen die Wand, den Blick auf Zabini gerichtet. "Du hättest ruhig mit den andern essen gehen können. Ich hätte den Weg auch alleine gefunden. Bin öfter in den Kerkern, weißt du?"

 

"Bild dir nichts drauf ein, ich wollte die Schlange sehen." Stöhnend ließ er sich neben Evelyn auf den Stein fallen. "Außerdem habe ich gar keinen Hunger." Sein grummelnder Bauch verriet ihn und strafte ihn Lügen, sodass er die Beine anzog und in dieser Position wartete, bis sie endlich Schritte hörten. Die aufflammenden Fackeln, die ihnen näher kamen, zeigten eine einzelne Gestalt. Evelyn erkannte die Art wie das Mädchen lief wieder, und winkte Millicent zu, die bald schwer atmend vor ihnen stand.

 

"Morgen", meinte Evelyn nur, während sie Millicent Zeit gab, sich zu sammeln.

 

"Ich wollte", sagte sie mit einer Pause um zu atmen, "nicht mehr warten." Sie schaute zu Blaise. "Hat sie etwas gegessen?"

 

"Den Apfel aus der Schale, ja."

 

Evelyn hob die Augenbrauen. "Ich kann euch hören, das wisst ihr, oder?"

 

Sie taten ihren Einwand mit einem Schulterzucken ab. "Übertreib es heute nicht, ja? Geh alles ganz langsam an." Millicents Sorge rührte Evelyn, war aber unbegründet.

 

"Wir haben einen kurzen Tag, ein bisschen Spaß mit Snape und später ruhigen Unterricht im Gewächshaus. Ich werde es überleben."

 

Zabini zwickte ihr ohne viel Kraft in die Schulter. "Sag das, nachdem du unerlaubterweise Zutaten aus dem Lager nimmst, die du als Futter zweckentfremden willst."

 

"Soll das ein Vorwurf sein? Du warst doch so besorgt um Paimon."

 

"Paimon?"

 

"Meine Schlange hat jetzt einen Namen", erklärte Evelyn knapp, ehe sie sich wieder an Blaise richtete, der breit grinste. "Das war auch bevor du mir gesagt hast, wo du die Baby Ratten herbekommen willst."

 

"Von wo hast du denn gedacht? Soll ich sie mir aus dem Hut zaubern?" Eine schlechte Bemerkung, wie ihr im Nachhinein auffiel, doch nun war sie gesagt. Blaise hingegen hob zur Verteidigung die Hand vor die Brust.

 

"Ich dachte unser Tränke-Ass hätte alle möglichen Zutaten unter ihrem Bett."

 

Sie ließ Zabini Antwort unkommentiert und wartete stumm, bis die anderen Schüler eintrafen. Nach Millicents Ankunft füllte sich der Gang schnell, wenn auch nur mit Gryffindor Schülern, die seit Slytherin sie im Rennen um den Pokal weit hinter sich gelassen haben, auffällig ruhig geworden waren. Harry ließ sich mittlerweile Zeit um zum Tränke Unterricht zu gehen und traf meistens kurz vor Snape ein. Evelyn ahnte, dass er das für jede Stunde tat, um den anderen aus dem Weg zu gehen.

Man sah ihm an, wie schlecht er sich fühlte und obwohl es nun schon drei Wochen her war, hatte er noch immer mit den Folgen der Nacht auf dem Astronomie-Turms zu kämpfen. Hermine und Neville schienen weitaus besser mir der Ächtung und den gelegentlichen Sprüchen zurecht zu kommen, als ein Harry, der nach Jahren der Missachtung endlich Anerkennung erhalten hatte, diese nun aber umgeschlagen war in Wut.

 

"Hey, Schlongbottom, versuch heute zur Abwechslung keinen Kessel zu schmelzen!", rief Zabini neben Evelyn, die nur beschämt ihr Gesicht verdeckte. Vor beinahe jeder Tränkestunde warfen sich die zwei Häuser Beleidigungen und Bemerkungen zu, nur um peinlich zu verstummen, sobald Snape auftauchte.

 

Seamus blickte Zabini von der Seite an. Seine Augen verrieten, wie viel er von Zabini und seinem Einwand hielt, blieb ansonsten jedoch still. Auch sonst trat niemand für Neville ein, der nur rot anlief und den Kopf senkte.

 

Evelyn konnte von Glück sagen, dass Draco noch nicht hier war, sonst wären die Gespräche gewohnt heftiger. Blaise beließ es bei dem einen Seitenhieb, schon allein deshalb, da niemand etwas erwidert hatte, sodass sie getrennt voneinander die Zeit überbrückten. Dabei schielte Evelyn hin und wieder auf das kleine Terrarium in ihrer Tasche, hauptsächlich um sicher zu stellen, dass Paimon noch da war.

 

Blaise Bemerkung zum Thema Essen hatte sie nun doch stutzig gemacht. Unter Snapes Nase die Zutaten zu entwenden, war zwar ihre erste Idee gewesen, wandelte sich aber mehr und mehr zu seiner dummen. Sie wäre ein Narr wenn sie annehmen würde, dass man unbemerkt eine Zutat aus dem Lager holen konnte, die offensichtlich nicht in der Zutatenliste vorkam. Zudem wusste Snape nun genau, was sich in dem Ei befand und sie war sich sicher, er konnte eins und eins zusammenzählen.

 

Sie hatte in Gedanken an ihren Nägeln geknabbert und nicht gemerkt, wie Bewegung in die wartende Menge kam, als die Tür vor ihnen aufschwang. Ihr Professor war noch nicht da doch es würde sich nun nur noch um Minuten handeln. Dementsprechend eifrig nahmen sie alle ihre mittlerweile angestammten Plätze ein. Sie hatten kaum ihre Kessel aufgebaut und Werkzeuge ausgelegt, wie Snape es von ihnen forderte, als er mit einem leisen Klick der Tür die Stunde begann.

Auch während seines Unterrichts spürte man, dass es dem Schuljahresende zuging. Laut Snape hatten sie, zumindest auf dem Papier, jeden Trank nun behandelt, und wer sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht beherrschte, der würde sie nie brauen können. Wiederholungsstunden gab es nur sehr wenige, im Grunde gar keine, dafür aber ab und zu die ein oder andere rein theoretische Einheit.

 

Obwohl sie solch trockene Materie in anderen Fächern eher begrüßte, empfand selbst sie die Theorie in Tränke als zähe Kost. Speziell heute, da sie eigentlich vorgehabt hatte sich wenigstens ein oder zwei Ratten zu holen, um Paimon endlich etwas zu essen geben zu können. Der Schrank blieb jedoch die komplette Doppelstunde über geschlossen und unbenutzt, was es Evelyn unmöglich machte auch nur im Geringsten unauffällig einige Zutaten zu entwenden. Das Wochenende stand vor der Tür und damit zwei, eher drei, weitere Tage, in denen Paimon Hungern müsste.

 

Die Minuten zogen sich dahin und wurden zu Stunden, ohne dass sie zu einem Ergebnis gekommen war. Unruhig und unschlüssig was sie tun sollte, spielte sie mit der Schreibfeder in ihren Fingern, doch sie spürte, dass der Unterricht bald beendet sein würde. Den Blick auf das Lager statt auf ihren Lehrer gerichtet, der ihnen seit geraumer Zeit in einem Monolog den Unterschied zwischen Sekret und Ausfluss erklärte, einem Thema, bei dem kaum einer gerne zuhörte, schweiften ihre Gedanken ab. Blaise, der sich den Platz neben Evelyn zumindest während Zaubertränke auf lange Zeit gesichert hatte, sehr zu Millicents Missfallen, folgte ihrem Blick und schüttelte langsam den Kopf.

 

"Vergiss es", flüsterte er ihr zu, "da kommst du heute nicht ran. Wir überlegen uns etwas anderes." Eilig richtete er seine Aufmerksamkeit auf sein eigenes Pergament zurück, wo er einige Wörter aufschrieb, als Snape an ihrer Reihe vorbeischritt, ohne jedoch den Monolog zu unterbrechen. Kaum war er einige Schritte entfernt, lehnte sich Blaise erneut zu Evelyn. "Wir finden in der Küche sicher ein paar Mäuse." Oder hinter der Großen Halle, dachte Evelyn angewidert als sie sich an den schmalen Zwischenraum erinnerte, wo sie die Freude gehabt hatte Kaminrillen zu schrubben.

 

Sie hatte nicht die Absicht jemals wieder dort hinter die Kulissen von Hogwarts zu krabbeln, und schon gar nicht selbst auf Mäusejagd zu gehen; und irgendwie wollte sie sich auch nicht wirklich vorstellen, wie ihre Hauskameraden sich die Hände schmutzig machten, auch wenn Blaise dieser Gedanke tatsächlich zu gefallen schien.

 

Plötzliche Hektik um sie herum verriet ihr, dass Snape seinen Monolog und damit die Stunde wohl für beendet erklärt hatte; nicht, dass sie etwas mitbekommen hätte. Die Schüler waren immer schnell darin das Klassenzimmer zu verlassen, doch im Falle ihres Tränkeunterrichts, verschwendete niemand Zeit. Umso irritierter war Millicent zu sehen, dass Evelyn sich kaum gerührt hatte, während sie selbst bereits zum Gehen bereit war.

 

Evelyn ersparte es ihr zu fragen und schickte sie mit einer Handbewegung zum zweiten Mal an diesem Tag voraus. "Ich will noch kurz mit unserem Hauslehrer reden."

 

Nicht nur Millicents Miene wandelte sich von Erstaunen zu Entsetzen. "Ich glaube, das Thuja bekommt ihr immer noch nicht richtig."

 

Über diese Bemerkung konnte Evelyn nur die Augen rollen. Mehr noch, sie drängte sie erneut mit mehr Nachdruck zum Gehen, da Professor Snape hinter seinem Schreibtisch ihre Gruppe bereits argwöhnisch beäugte. Es war diese Geste, die die anderen wenn auch mit fragenden Gesichtern als letzte hinausjagte, sodass Evelyn nun alleine zurückgeblieben war. Sie hatte kaum Zeit um aufzustehen und sich an Snape zu richten, als dieser sie bereits ausrief.

 

"Machen Sie schnell, Miss Harris, ich habe zu tun."

 

Sie haben immer etwas zu tun. Sie lief ihm entgegen, wobei sie seine Haltung begutachtete in der Hoffnung, dass sie etwas über seine heutige Laune verriet. Ihr gestriges Gespräch war beinahe zu gut verlaufen, was sie auf den plötzlichen Einbruch Gryffindors im Häuservergleich schob und der daraus resultierenden Feierstimmung bei Snape.

 

"Professor, ich hätte eine Frage. Oder eher eine Bitte", begann sie als sie sah, wie sich seine Augenbrauen zusammenschoben.

Er lehnte sich ein wenig zurück und überkreuzte die Arme vor der Brust. Sie empfand es als ein gutes Zeichen, dass er sie nicht sofort aus dem Raum geworfen hatte, weshalb sie weitersprach.

 

"Wie Sie wissen, bin ich mehr oder weniger unfreiwillig im Besitz eines Eis ...", sie hielt es für besser zu verschweigen, dass der Inhalt mittlerweile in ihrem Rucksack schlief, da sie sonst womöglich doch noch mit dem Regelwerk in Konflikt geraten konnte. Allerdings war Snape mit erhobener Hand dazwischen gegangen.

 

"Sie sind hoffentlich nicht so naiv zu glauben ich könnte Ihnen eine Erlaubnis für die Haltung eines unerlaubten Tieres geben." Das war eigentlich nicht, weshalb sie mit ihm sprechen wollte, dennoch bemerkte sie den intensiven Blick, den er ihr zuwarf, weshalb sie verstehend nickte.

 

"Natürlich nicht, Professor, das wäre gegen die Schulregeln."

 

"Was wollen Sie dann?"

 

"Nun", begann sie seinen Blick haltend, "angenommen ich wäre im Besitz eines unerlaubten Tieres-"

 

"Müsste ich das melden", warf er ein, was Evelyn jedoch nicht aus dem Konzept brachte.

 

"Angenommen ich wäre es, dann müssten Sie es melden. Mein Glück, dass das nicht der Fall ist."

 

"Kommen Sie zum Punkt, Harris. Was wollen Sie?"

 

Sie spürte, dass sich seine Geduld dem Ende neigte. "Sir, meine Mittel das Tier, existent oder nicht, zu versorgen sind begrenzt und ich fürchte, es könnte sich an anderen Haustieren ergreifen, da ich schließlich laut Schulordnung nicht befugt bin mich um ein Tier, existent oder nicht, zu kümmern."

 

Er lehnte sie wieder nach vorne und faltete seine Hände vor dem Gesicht. "Sie wollen mich also darum bitten Nahrung für ein unerlaubtes Tier bereit zu stellen."

 

"In etwa das war in meinem Sinn, ja."

 

Er spitzte die Lippen und sah sie von unten an und obwohl Evelyn stand hatte sie das Gefühl, dennoch von oben herab angesehen zu werden. "Nein."

 

Eine Antwort, mit der sich gerechnet hatte, sie hatte jedoch nicht vor bereits aufzugeben. Sie hatte eine Doppelstunde Zeit gehabt, dieses Gespräch mehr oder weniger zu planen. "Mir ist bewusst, wie dreist eine solche Bitte klingt, dafür möchte ich mich entschuldigen, Professor."

 

"Dreist und ziemlich töricht", fügte er hinzu. "Was veranlasst Sie zu glauben, ich würde Ihnen innerhalb welchen Szenarios auch immer meine wertvollen Zutaten geben, um sie einem niederen Tier zum Fraß vorzuwerfen?"

 

Sie nickte um ihm das Gefühl zu geben, eine berechtigte Frage gestellt zu haben, was er im Grunde auch getan hatte. "Nun, ich schätze ich hatte gehofft, ehrlich zu sein würde sich mehr auszahlen, als hinter ihrem Rücken unerlaubt etwas aus dem Lager zu entwenden; was nur Idioten machen würden", schob sie schnell hinterher als sie sah, wie sehr sich seine Miene verfinsterte allein bei der Erwähnung etwas von seinem Lager abzuschöpfen.

 

"Das wäre nicht nur töricht, sondern schlichtweg einfältig. Beinahe genauso einfältig ist es zu glauben mich erpressen zu können. Das ist nicht Ihre Absicht, oder Miss Harris?"

 

Schnell schüttelte sie den Kopf und hob die Hand. "Nein, Sir. Ich würde nie etwas entwenden", kurz überlegte sie ob sie den Satz beenden sollte, wie er ihr auf ihrer Zunge lag, und entschied sich dafür, "vor allem da mir bewusst ist, dass Sie es merken würden."

 

Snape war niemand, der auf Lobpreisungen oder Schmeicheleien ansprang, und Evelyn war sich durchaus im Klaren, dass er bei seiner Ablehnung bleiben könnte und sie gezwungen wäre doch noch selbst auf Jagd in den Ecken Hogwarts zu gehen. Trotzdem hatte sie das Gefühl nichts zu verlieren, wenn sie ihn einfach geradeheraus fragte. Mehr wie von der Schule werfen, was er eh schon vorhatte, konnte er nicht tun.

 

"Das Schuljahr liegt beinahe hinter uns", wechselte er abrupt das Thema, was Evelyn nun doch die Stirn runzeln ließ, ehe sie knapp nickte. Was genau sie von dem Umschwung halten sollte, wusste sie nicht, also wartete sie ab und sah zu, wie er sich langsam erhob und sie nun tatsächlich überragte. "Sie haben dieses Schuljahr im Vergleich zu anderen Schwachköpfen weit weniger Zutaten verschwendet, überraschenderweise." Der Sinn seiner Worte sickerte nicht sofort in ihr Bewusstsein, weshalb eine Reaktion ihrerseits zu warten ließ; Zeit, die er sich nicht nahm, sondern stattdessen um seinen Schreibtisch ging, an ihr vorbei Richtung Tür. "Ich kann Ihnen keine Verpflegung für Ihr nicht vorhandenes Tier geben", sagte er im Gehen und deutete auf den Schrank, in dem sich das Schülerlager verbarg. Mit einem Klick schwangen die Flügeltüren auf und gaben den Inhalt preis. "Bitten Sie mich nie wieder um so etwas, haben Sie verstanden", waren seine letzten Worte, ehe er die Tür hinter sich schloss und Evelyn alleine im Tränkekerker ließ.

 

Einige Herzschläge stand sie wie angewurzelt vor seinem Schreibtisch, den Snape verwaist zurückgelassen hatte, und starrte abwechselnd zwischen der Tür und dem Lager hin und her. Sie erwartete, dass er gleich wieder auftauchen würde und nur darauf gewartet hatte sie dabei zu erwischen, wie sie sich am Lager verging. Kurz: sie erwartete eine Falle, doch die Minuten verstrichen, und sie blieb die einzige Person im Raum.

 

"Weniger Zutaten verschwendet?", flüsterte sie seine Worte, die ihr nun, da sie darüber nachdachte, beinahe wie ein Lob vorkamen. "Pff, ne!" Schulterzuckend und gut gelaunt ging sie zum Lager und suchte nach dem Einmachglas, in dem die Ratten aufbewahrt wurden.

 

Ihr wurde bewusst, wie wenig Zeit ihr nun zum Unterricht von Sprout zu gehen blieb, also beeilte sie sich darauf bedacht nicht zu viel zu nehmen, immerhin wollte sie nicht zu gierig sein. Dass sie überhaupt mehr oder weniger die Erlaubnis bekommen hatte sich zu bedienen, war großzügig genug.

 

Bevor sie ging kehrte sie an seinen Schreibtisch zurück, nahm sich ein Pergament und faltete es zusammen, ehe sie mit seiner Feder in Großbuchstaben das Wort DANKE aufschrieb, und es ihm an den Platz legte.

 

Wirklich vorstellen, dass Snape sie so einfach an das Lager hatte gehen lassen, hatte niemand gekonnt. Sie beschuldigten Evelyn abwechselnd größenwahnsinnig, verrückt oder geistesabwesend zu sein, manchmal auch alles zusammen. Besonders Blaise war entsetzt gewesen. "Ausgerechnet Snape um etwas zu bitten, hast du völlig den Verstand verloren?"

 

"Stehlen war auch keine gute Idee, deine Worte", konterte sie, ehe Sprout den Unterricht begonnen hatte. "Außerdem habe ich die Ratten, oder?"

 

"Erstaunlicherweise, ja."

 

Darauf hatte niemand etwas erwidern können. In der Tat hatte sie nun eine Handvoll Ratten, oder besser gesagt, sie hatte sie gehabt. Noch während sie den Weg hinaus zu den Gewächshäusern hinausgeeilt war, was ihr an diesem Tag äußerst schwer fiel, hatte sie kurzerhand all ihre Beute Paimon vor die Nase gelegt. Sie hatte gehofft, dass er – in Gedanken sagte sie nun er – so viel wie möglich verschlang und er dadurch für Wochen gesättigt war, denn sie bezweifelte, dass Snape sie noch ein zweites Mal an den Schrank ließ. Ohne, dass er etwas hatte sagen müssen war ihr klar gewesen, dass dies eine einmalige Sache bleiben würden.

 

Für Evelyn gab es nun kaum noch etwas zu tun, als endlich die Prüfungen hinter sich zu bringen. Mit jedem Tag der verging, wurden die Gesichter blasser und der Gemeinschaftsraum ruhiger, wodurch überall eine angespannte Atmosphäre herrschte. Dass Draco nun endlich seine Strafarbeit ablegen würde trug nur dazu bei, dass sich alle unwohl fühlten.

 

Der Nachteil, dass sein Nachsitzen auf sich hatte warten lassen war vor allem, dass Draco sich die wildesten Strafen hatte ausdenken können, die womöglich auf ihn warteten, und damit alle um ihn herum aufscheuchte.

 

Egal welche Aufgabe ihm bevor stünde, für Draco hatte festgestanden, dass er sie nicht verdient hatte und über allem erhaben war. Niemand konnte sich ihn vorstellen, wie er Klassenräume schrubbte, Pokale polierte, Akten sortierte oder andere hässliche Arbeiten verrichtete. Evelyn hütete sich auch nur anzudeuten, wohin man ihn schicken würde, doch auch die Lehrer hatten nicht durchblicken lassen, dass sich etwas Ungewöhnliches im Verbotenen Wald aufhielt. Selbst Quirrell, wenn auch weißer im Gesicht und mit weniger Gewicht als noch am Anfang des Schuljahres, wirkte eher unbeteiligt.

 

"Wer hat sich diese Uhrzeit ausgedacht", beschwerte sich Pansy zum wiederholten Mal, als sie gemeinsam mit den anderen im Gemeinschaftsraum auf Draco wartete, der vor einiger Zeit zu seinem Nachsitzen aufgebrochen war.

 

"Entspann dich, Pansy", bemühte sich Zabini für alle zu sprechen, die dem Ende dieser Strafarbeit beinahe mehr entgegensahen, als Draco selbst. "Je später sie beginnt, desto kürzer sollte es sein. Er kommt bestimmt gleich."

 

Millicent lehnte sich zu Evelyn und legte ihren Kopf auf ihr Knie, die im Schneidersitz versuchte ein Buch zu lesen. "Hoffentlich musste er Schuhe putzen", flüsterte sie mit schelmischem Grinsen, was ihr einen leichten Klaps gegen die Stirn von Evelyn einbrachte.

 

Daphne streckte sich und sprang auf. "Ich geh ins Bett, macht ihr, was ihr wollt. Ich bin das Warten leid."

 

"Blaise meint, er kommt gleich!", kam es empört von Pansy, doch Daphne ignorierte sie und winkte über die Schulter. Auch Goyle gähnte nun schon seit einiger Zeit, allerdings hielt er tapfer die Stellung an Zabinis linker Schulter.

 

Evelyn sah Millicent an, dass sie vermutlich so, wie sie da lag, ebenfalls bald einschlafen würde. "Geh in den Schlafsaal, wenn du es nicht mehr aushältst." Als Antwort bekam sie nur mürrisches Gegrummel, sie hielt ihre Augen aber geschlossen. Dickköpfges Kind, dachte Evelyn schmunzelnd und las weiter in ihrem Buch; trockene Lektüre über die Relevanz von Riesenaufständen. Eigentlich schlechter Lesestoff für diese Uhrzeit, aber irgendwann musste sie sich auch auf das Geschichtsexamen vorbereiten, ob es ihr gefiel oder nicht.

 

Die Gruppe verfiel in Schweigen, bis Evelyn glaubte Millicent in vertrautem Rhythmus leise auf ihrem Knie atmen zu hören. Ebenfalls vertraut war das schleifende Geräusch von Stein auf Stein, als der Eingang aufschwang, und ein bleicher Draco regelrecht hineingestürmt kam.

 

Pansy sprang auf, doch noch ehe sie etwas sagen konnte, wetterte Draco hysterisch los. "Diese Schule ist verrückt", schrie er, während er seinen Umhang, den er getragen hatte, einfach auf den Boden warf. "Alle hier sind verrückt!"

 

Bis auf die Erstklässler, waren nur noch wenige ältere Schüler anwesend, die jetzt jedoch alle ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf Malfoy legten, der miserabel aussah. Besorgt liefen Crabbe und Goyle ihm entgegen, Draco schob sie aber einfach beiseite.

 

"Fasst mich nicht an, ihr Gorillas!"

 

Millicent war durch den Lärm aufgeschreckt worden und setzte sich auf, sodass Evelyn sich nun wieder bewegen konnte. Sie legte das Buch beiseite und sah sich Draco genauer an, in dessen Haaren sie einige kleine Zweige erkannte, die sich stark gegen seine blonden Haare kontrastierten.

 

"Was ist passiert?", fragte Millicent den auf und ab gehenden Draco. Er war völlig außer sich.

 

"Was passiert ist? Ich sag euch was passiert ist. Die hätten mich beinahe umgebracht!"

 

"Übertreib nicht", meinte Zabini, der anscheinend Dracos Ausbruch nicht sehr ernst nahm. "Eine Strafarbeit ist nicht gefährlich."

 

Das Weiß in Dracos Augen stach hervor, als er auf Zabini zu rannte und ihn vor die Brust stieß. "Sei still, Zabini, du hast ja keine Ahnung, was diese Irren mit mir gemacht haben!"

 

Blaise wich zurück und richtete sich seine Krawatte, die von Draco in Mitleidenschaft gezogen worden war.

"Ich habe einen Dementor gesehen!", schrie er, was jemand im Raum kichern ließ. Evelyn hob irritiert die Augenbrauen.

 

"Ein Dementor?", fragte sie langsam.

 

"Ja. Ein Dementor. Er war riesig und seine ekligen Hände waren an meinem Hals", er nahm seine eigenen Hände hoch und umschloss sich seine Kehle. "Er wollte mich töten! Potter war starr vor Angst!"

 

"Moment, Potter?", warf Pansy nun ein. "War der dabei!"

 

"Das habe ich doch gerade gesagt!" Evelyn schüttelte den Kopf. Momentan war Draco viel zu aufgelöst, was sie sogar nachvollziehen konnte, doch es half nunmal nicht, ihn und seine Geschichte zu verstehen.

 

"Setz dich", meinte sie ruhig und deutete auf den Platz, auf dem Daphne bis vor kurzem noch gesessen hatte. "Atme ruhig ein und aus, du-"

 

"Ich soll mich beruhigen? Ich hätte tot sein können!"

 

Da hatte er natürlich nicht ganz unrecht. Ob als Parasit oder nicht, Voldemort war gefährlich, doch das konnte die Schule ja nicht wissen. Wobei man sich durchaus fragen könnte wer gedacht hatte eine Untersuchung gefährlicher Wesen in einem gefährlichen und verbotenen Wald dachte, wäre eine gute Idee.

 

Evelyn schaute nach oben, ohne die Decke wirklich zu fokussieren, ehe sie sich wieder an Draco wendete, der jetzt sogar von einigen älteren Schülern umringt war. "Stimmt, jeder hier ist wahnsinnig!", rief sie etwas lauter, um sich über den aufkommenden Lärm Gehör und verschaffen; es klappte.

 

"Filch erzählt jedem, der es hören will, wie gerne er die Schüler auspeitschen will. Peeves hat letzte Woche den kleinen Hufflepuff am Knöchel über die Treppe gehangen. Man schickt Schüler für die Strafarbeit raus in den Wald", zählte sie auf, was an manchen Stellen zu Gelächter führte.

 

Millicent hob den Finger, als ob sie etwas sagen wollte. "Nicht zu vergessen die Androhung wir würden zerfleischt werden, falls wie in den dritten Stock gehen."

 

"Oder die gefährlichen Blumen von Sprout, die Gift spritzen!"

 

Crabbe schaute Zabini daraufhin irritiert an. "Es gab keine Gift spritzenden Blumen dieses Jahr."

 

"Hätte aber sein können."

 

"Der Punkt ist", holte sich Evelyn das Wort wieder zurück, "hier ist nichts normal. Wäre ja auch langweilig. Jetzt setz dich hin, trink etwas und erzähl von vorne."

 

Ihre Logik war nicht ganz fair ihm gegenüber. Natürlich hatte er jedes Recht besorgt und wütend zu sein, doch solange Evelyn nicht offiziell seine Geschichte kannte, konnte sie sich das erlauben.

 

Man sah Draco an, dass er wenig von ihren Vergleichen hielt, unter dem Druck mehrerer Augenpaare setzte er sich jedoch endlich hin.

 

Sie gaben ihm einige Minuten, in denen er etwas trank und sich am Feuer des Kamins wärmen konnte. Zwar war es bei weitem nicht mehr so kalt, wie noch nur wenige Wochen zuvor, doch Draco zitterte am ganzen Leib wie Espenlaub, was Evelyn als blanke Panik deutete.

 

Pansy versuchte ihm beruhigend den Arm zu streichen, doch er zuckte beinahe spuckend zurück.

 

"Nicht anfassen!", wiederholte er, was er bereits zu Crabbe und Goyle gesagt hatte, wenn auch ein wenig freundlicher.

 

"Jetzt langsam und von vorne, Draco", bat Zabini. Um sie herum hatten sich nun alle aus dem Gemeinschaftsraum versammelt um Dracos Geschichte zu hören; und eine Geschichte hatte er wahrlich zu erzählen.

 

Seine Schilderungen wichen an manchen Stellen davon ab, was Evelyn wusste und erwartet hatte, wobei sie einiges davon für schlichtweg übertrieben hielt. So konnte sie sich kaum vorstellen, dass Hagrid ihn die Gruppe einteilen lassen und er Harry praktisch durch den Wald hatte schleifen müssen, da Harrys Knie vor Angst geschlottert hatten. Die Aufgabe nach toten Einhörner zu suchen schnitt er nur an und er verkaufte es so, als sollten sie eine Wanderung durch den Wald machen und darauf warten, dass sie etwas angriff, was natürlich früher oder später auch passierte.

 

"Dann schwebte das Ding plötzlich vor mir", sagte er die Augen weit aufgerissen, so als habe er das Bild vor sich. "Seine Kutte wehte im Wind, obwohl wir im Wald umringt von Bäumen waren!"

 

Beinahe alle Anwesenden klebten an seinen Lippen, was seinem Selbstbewusstsein einen Schub gab und ihm Farbe ins Gesicht trieb. "Ich spürte wie es mich ansah. Dann, plötzlich, schoss es nach vorne, die Krallen ausgefahren an denen das Blut seiner Opfer floss."

 

Pansy atmete erschrocken ein und auch Millicent, die plötzlich hellwach war, wurde von Dracos Worten gefesselt. Evelyn runzelte nur die Stirn angesichts seiner überzogenen Schilderung.

 

"Ein grässliches Jaulen aus der Tiefe seiner Brust war zu hören als es sich auf mich stürzte."

 

"Ein echter Dementor hat dich angegriffen?", fragte eine ältere Schülerin zweifelnd, die einen ähnlichen Gesichtsausdruck hatte, wie Evelyn.

 

"Natürlich, was soll es sonst gewesen sein?"

 

Och du, dachte Evelyn die Lippen gespitzt, denk lieber nicht darüber nach. Dementor klingt gut.

 

"Wie bist du entkommen?", fragte ein Junge, der direkt neben dem skeptischen Mädchen stand. Diese Frage brachte Draco ernsthaft ins Straucheln.

 

"Ich habe meinen Zauberstab auf das Ding gerichtet und ihm gedroht, natürlich." Seine Erklärung war mehr ein Stottern. Der Junge ließ nicht locker.

 

"Das reicht aber nicht, um sich einen Dementor vom Leib zu halten, Kleiner."

 

"Kleiner?", Draco sprang auf und baute sich zu vollen Größe auf, was immer noch gut einen Kopf kleiner war, als der Junge, der ihn nun hämisch angrinste. "Wenn du mir nicht glaubst kannst du gehen. Ich muss mich nicht von dir in Frage stellen lassen."

 

Eine Aufforderung, der die meisten der Umstehenden Schulter zuckend nachkamen, sehr zu Dracos Missmut. Bald waren nur noch die Erstklässler übrig, und mit der Masse war auch Dracos Wille verschwunden seine Geschichte auszuschmücken. Vielleicht war er auch einfach nur müde, nachdem das Adrenalin in seinem Körper mittlerweile verschwunden sein dürfte. Mit den Fingern fuhr er sich durch sein Haar, und entdeckte perplex die einzelnen Aststücke, die er nun herauszog und achtlos in den Kamin warf, wo sie zischend sofort verglühten.

 

"Für heute hast du genug, denke ich." Blaise machte einen weiteren Versuch Draco in den Schlafsaal zu bugsieren, doch dieser schüttelte vehement den Kopf.

 

"Nein, bitte. Lasst uns noch ein wenig hier sitzen."

 

"Draco, wir können nicht-"

 

"Bitte", unterbrach ihn Draco hektisch, was viele sprachlos machte. Draco bat sie beinahe nie um etwas. Wenn, dann forderte er, sie hatten ihn noch nie so erlebt. Vielleicht war dies der Grund, weshalb sie seiner Bitte nachkamen und Zabini langsam nickte.

 

"In Ordnung. Wir bleiben noch etwas hier."

 

Millicent hatte derweil wieder ihre liegende Position eingenommen und hatte ihren Kopf auf Evelyns Schenkel gelegt. "Er hat wohl Angst der Dementor kommt ihn holen." Evelyn war froh, dass sie leise genug gesprochen hatte.

 

"Ich glaube das hat er, ja", sagte sie ernst, was Millicent peinlich berührt den Blick senken ließ.

Draco war am Ende seiner Kräfte, dennoch weigerte er sich in den Schlafsaal zu gehen, vermutlich, weil er ihre Gesellschaft gerade brauchte. Auch wenn die Gesellschaft in Schweigen verfiel.

 

Evelyn hatte nach ihrem Buch gegriffen und ihr Kapitel wieder aufgenommen, während ihr gegenüber Goyle bereits den Kopf nach hinten auf die Lehne der Couch gelegt hatte, den Mund weit aufgerissen, und selig schlief. Auch Evelyn rieb sich die Augen, die es kaum noch schaffte die Worte vor ihr klar zu erkennen. Pansy hatte sich ähnlich wie Millicent eingekugelt und ihre schuhlosen Füße unter die Kissen geschoben. Evelyn ahnte, dass sie die Nacht hier im Gemeinschaftsraum verbringen würde, statt in ihrem gemütlichen Bett. Ihre Knochen würden es ihr morgen nicht danken. Seufzend legte sie das Buch ab und griff nach ihrem Umhang, den sie hinter sich über die Couch geworfen hatte, und bedeckte Millicent damit, die die Augen geschlossen hatte und sich nicht mehr rührte. Wenigstens eine hat es bequem.

 

Sie selbst schaute sehnsüchtig nach den Decken, die außerhalb ihrer Reichweite in den unteren Regalen der Schränke am Fenster verstaut waren.

 

"Ihr glaubt mir nicht, oder?", hörte sie Dracos schwache Stimme. Ihr Blick wanderte über die schlafende Pansy hin zu einem Blaise, der den Kopf in der Armbeuge verborgen hatte und definitiv ebenfalls schlummert. Niemand war mehr wach, außer Draco und ihr.

 

Sie neigte den Kopf und widerstand dem Drang die Augen kurz zu schließen. "Es wird dich überraschen, aber ich glaube dir. Wenn auch nicht jedes Detail." Er stieß den Atem aus, so als ob er nichts anderes erwartet hätte. "Man muss dir nur in die Augen sehen um zu wissen, dass du wirklich etwas im Wald getroffen hast." Sie bemühte sich leise zu sprechen, was ihr zunehmend schwer fiel.

 

"Dieser behaarte Wildhüter hat ständig dasselbe Zeug gebrabbelt: dass es nichts Gefährliches war, dass wir uns keine Sorgen machen müssen. Völliger Schwachsinn. Wenn ich nicht ge-", er stockte und rieb sich die Augen. "Ich weiß was ich gesehen habe, und es war eine Bestie." Zum ersten Mal hatte Evelyn das Gefühl, dass er völlig ehrlich an diesem Abend war. Sie nickte ihm zu und versuchte ihn mit einem Lächeln aufzumuntern. "Ich glaube dir", bekräftigte sie erneut, verlor aber schließlich den Kampf gegen das Gähnen. Sie drehte den Kopf zu den Decken und suchte vorsichtig, um Millicent nicht zu wecken, nach ihrem Zauberstab, den sie in die in einer Innentasche ihres Mantels gesteckt hatte.

 

"Accio Decke", sagte sie und war zufrieden zu sehen wie eine Decke auf sie zugeschwebt kam. Auf ihre Accio-Künste war sie stolz, wenn auch auf sonst kaum etwas anderes.

 

"Warte, ich helfe dir", kam es von Draco. Sofort sprang er auf und nahm die Decke entgegen, die er gleich an Evelyn weiter reichte. Ohne Magie, zu Fuß, bediente er sich beim Rest des Bestandes und trug einen Berg Decken herbei, die er auf den schlafenden Schülern verteilte. Eine Geste, mit der er Evelyn überraschte.

 

"Hast du dich verletzt?", fragte sie als er an ihr vorbei ging und sie bemerkte, wie er den einen Fuß leicht nachzog.

"Anscheinend. Muss mir den Fuß verstaucht haben. Hab ich bisher gar nicht gemerkt."

 

Sie nickte und versuchte es sich so bequem wie möglich auf dem bisschen Couch zu machen, das Pansy und Millicent ihr gelassen hatten. "Beim Weglaufen passiert?" Eine beiläufige Bemerkung, die nicht ganz beiläufig geklungen hatte und Draco kalt erwischte. "Wieder mal ganz schlau, Harris."

 

Nach einigen Sekunden Stille, in denen er sich selbst neben Blaise zum Schlafen legte, antwortete er schließlich mit etwas weniger Gift in der Stimme."Manchmal ist es besser zu fliehen. Für Heldentaten wurden die Gryffindor geboren." Oder nur ein Gryffindor im Speziellen, was er aber ungesagt ließ.

 

"Ich mach dir keinen Vorwurf." Nein, keine Vorwürfe, sie gab ihm aber auch nicht recht, was er nicht zu bemerken schien. "Du hast getan, was du für richtig hieltst. Niemand würde schlecht von dir denken, wenn du sagst du bist vor der Bestie geflohen. Wir alle hätten das gemacht."

 

"Pah, willst du mir sagen sie würden mich nicht als Feigling beschimpfen? Jetzt bist du naiv."

 

Evelyn hob die Augenbrauen, verblüfft von einem Elfjährigen naiv genannt zu werden. "Ein Feigling, weil du dein Leben retten wolltest?"

 

"Nein, ein Feigling weil ich nicht das Richtige getan habe. Potter hat das Richtige getan. Er hat sich gestellt, unser großer Held. Dieser Hagrid hat sich beinahe das Maul zerrissen vor Lobeshymnen. Mir kommt die Galle hoch, wenn ich nur daran denke, wie großartig Harry Potter die Situation gemeistert hat."

 

Evelyn hätte einiges gerne erwidert: dass das Richtige im Auge des Betrachters lag, dass er nicht Harry Potter sein musste, sondern einfach Draco. Alles stand ihr jedoch nicht zu zu sagen und ging an dieser Stelle vermutlich auch über ihren gesetzten Einflussbereich hinaus.

 

Sie drehte den Kopf hin zum Fenster, wo der See dunkel vor ihnen lag in der Hoffnung, einfach so tun zu können als wäre sie zu müde und erschöpft als darüber zu reden. Tatsächlich fühlte sie sich nun hellwach. Dracos Einwand gab ihr zu denken und wenn sie ehrlich war, verstand sie seine Sorgen nicht.

 

Es war Millicent, die ihr in ihren ersten Tagen hier erzählt und versprochen hatte, dass wenn schon niemand für Slytherin da

war, sie gemeinsam füreinander sorgen würden. Jeder hier war sich ähnlicher, als es nach außen den Anschein hatte, das hatte sie selbst während der Zeit hier gelernt.

 

Daphne, zum Beispiel, verlor jede Hemmung sobald es um Quidditch ging und auch wenn Crabbe stiller mit seinem Hobby war, war er genauso leidenschaftlich. Jeder war ein Kind, der für eine Sache zu begeistern war und sie auch lebte, und doch sah sie von Zeit zu Zeit denselben Blick bei ihnen allen. Wenn auf dem Hof ein jüngerer Hufflepuff seine Sachen zusammenpacken und regelrecht flüchtet, sobald sie sich in seine Nähe saßen. Wenn alle Schüler jubelten, wenn das gegnerische Team, egal welches, ein Tor im Quidditch-Spiel gegen Slytherin erzielte. Wenn es keinen interessierte, dass Slytherin den ersten Platz im Hauspokal Rennen machte.

 

Millicent hatte es prophezeit, und sie hatte es in ihrer Zeit hier selbst erlebt, dass es manchmal niemanden für einen gab, als Slytherins Schüler selbst. Umso unverständlicher war es für Evelyn, wie schlecht Draco von ihnen dachte und nicht ehrlich mit ihnen sein wollte.

 

Kurz wagte sie es nochmal zu Draco zu schauen, der die Augen geöffnet hatte und in seinen Gedanken versunken war. Verstand er nicht, dass nur auf seine Bitte hin gerade beinahe jeder Erstklässler seine Nacht mit ihm hier auf der Couch verbrachte, statt gemütlich im Bett zu schlafen? Und du machst dir Sorgen, was sie von dir denken werden.

 

Ein bisschen beneidete sie Daphne, die morgen anders als sie völlig ausgeruht sein würde. Immerhin war sie nicht alleine, sie hatte Paimon, der ihr Gesellschaft leistete.

Kapitel 53 - Klammern und hoffen

 Trotz der Nacht, die sie alle auf der ungemütlichen Couch geteilt hatten, hatte sich Draco nicht dazu überwinden können ihnen die volle Wahrheit zu erzählen, was Evelyn enttäuschte. Sie hatte gehofft, dass er sich öffnen würde, vor allem nachdem er sich selbst über eine harte Nacht beklagt hatte und der darauffolgende Mittwoch alles andere als angenehm für sie gewesen war; besonders da sie, wenn auch zum letzten Mal für dieses Schuljahr, einen langen Abend auf dem Astronomie Turm zu bewältigen hatten. Sie alle hatten kaum etwas mitbekommen von dem, was Sinistra ihnen mit in die Examen hatte geben wollen.
 

Die Anspannung vor ihren ersten Prüfungen war jetzt ständig spürbar, immerhin würden diese nur eine Woche nach der Strafarbeit stattfinden. Wie um die Schüler zu verhöhnen verbesserte sich das Wetter schlagartig, sodass schon beinahe sommerliche Temperaturen herrschten, was sie in falsche Urlaubsstimmung versetzte. Auch die Slytherin zog es nun aus ihren Kerker hinaus in den wärmenden Sonnenschein, weshalb Evelyn sie am Wochenende hinunter zum See begleitet hatte, der jedoch noch zu kalt war, als dass man die Füße hineinstellen könnte. Das schreckte einige der älteren Gryffindor nicht ab mit dem Hinterteil zuerst im großen Satz hineinzuspringen, nur um im Gelächter der Anwesenden kreischend und bibbernd wieder hinaus zu klettern.
 

"Unzivilisierte Proleten", war Dracos einziger Kommentar dazu, der sich glücklicherweise nun, da die traumatische Nacht einige Tage zurück lag, wieder erholt hatte. Sein anstehender Geburtstag trug sicherlich auch zu seiner gehobenen Stimmung bei, da er sich nach Wochen der, wie er es nannte, Vernachlässigung von Seiten seiner Eltern wieder auf Leckereien freute.
 

Evelyn sah nur kurz von ihrem dünn beschriebenen Pergament auf, ehe sie fortfuhr die anderen abwechselnd mit zufälligen Fragen zu drangsalieren. "Daphne, nenn mir drei Vertreter der olfaktorisch auseinanderzuhaltenden Gattung."
 

"Olfaktorisch: Aconitum, Resilio Bulbus und... Mh. Verdammt. Ich habs gleich."
 

Evelyn signalisierte ihr, dass ihre Zeit abgelaufen war. "Dritte Pflanze, Crabbe?"
 

"Gurdywurzel."
 

"Richtig."
 

Sauer über sich selbst schlug Daphne mit der Faust ins trockene Gras, was nur einen dumpfen Laut machte. "Mir lag es auf der Zunge."
 

"Da liegt es gut", meinte Evelyn knapp, ehe sie sich an Goyle wandte. "Was sind die Symptome eines Doxie Bisses?"
 

"Anschwellen der Lippen, Verfärbung der Haut ins Rötliche, Hecheln und Knieschmerzen."
 

"Sehr gut." Ihr Blick fiel auf Zabini, der jedoch die Arme hob uns sich rücklings ins Gras fallen ließ.
 

"Keine Fragen mehr, bitte. Du hast uns versprochen uns zu verschonen."
 

Von allen Seiten kam zustimmendes Gemurmel, nur Draco zupfte stumm an einigen der wild gewachsenen Unkrautpflanzen. Sie hatten es sich am Hügel bequem gemacht, an dessen unterem Ende das Wasser des Sees im sanften Frühlingswind über den Kies schwappte. "Ich habe euch verschont, aber übermorgen beginnen die Prüfungen. Ich will nur sichergehen, dass ihr nichts vergessen habt", verteidigte sie sich, sah jedoch wie der Unwillen der anderen die Oberhand gewann, als ihre Blicke abschwiffen und sie es Blaise gleich taten. Bald lagen die meisten im frischen Gras und genossen die Sonnenstrahlen im Gesicht, statt zuzuhören, was Evelyn zu sagen hatte. Ohne eine Wahl zu haben rollte sie ihr Pergament zusammen und streckte ihre Beine aus. Die lange Haltung im Schneidersitz hatte ein unangenehmes Gefühl in ihren Füßen hinterlassen.
 

"Ich bin froh, wenn die nächste Woche vorbei ist", hörte sie Pansy sagen und sie gab ihr stumm recht, wenn auch vielleicht aus anderen Gründen.
 

Ein Jahr hatte sie Zeit gehabt sich darauf vorzubereiten, was der Höhepunkt ihres Schuljahres mit sich bringen würde und man hätte glauben können es wäre genug Zeit gewesen, um sich einzustellen. Trotzdem war sie gestern über ihren Büchern zu Verteidigung gegen die dunklen Künste gesessen und hatte für ein Examen gelernt, dessen Professor keine Woche mehr zu leben hatte. Von einer Benotung wollte sie gar nicht erst ausgehen. Quirrell dürfte andere Vorstellungen haben, als Prüfungen zu kontrollieren, obwohl sie es durchaus verdächtig fand ausgerechnet am ersten Tag in Verteidigung ihre Prüfung abzulegen; andererseits würde Quirrell jeden Tag für irgendeine Klasse einen Test beaufsichtigen müssen.
 

Pucey hatte gestern Abend den Examensplan an die Pinnwand gehängt: ein einzelner Zettel, der die Prüfungswoche für den zeigte, der es betrachtete. In langsamen Rauchschwaden formte die Tinte immer wieder neue Worte, egal ob Zweitklässler oder Siebtklässler.
 

Evelyn schlug die Augen auf, als Millicent sie plötzlichen ansprach. "Bist du eigentlich vorbereitet?" Kurz sah Evelyn ihre Freundin irritiert an und dachte kurz, sie habe ihre Gedanken erahnt, als ihr klar wurde, dass sie nicht über Quirrell sondern über die Prüfungen sprach.
 

"Millicent, ich habe euch wochenlang den Stoff erklärt. Ich denke, ich werde es schaffen."
 

"Das weiß ich, ich meinte eher die praktischen Prüfungen."
 

Evelyn konnte nicht verhindern, dass sie die Augen verdrehte. Vier praktische Prüfungen würde sie hinter sich bringen müssen, angefangen mit Verwandlung; ausgerechnet. "Mach dir keine Sorgen, ich krieg das hin." Nein, würde sie nicht, obwohl sie das gemacht hatte, was sie eigentlich hatte vermeiden wollen: Sie hatte ihr Wissen genutzt um genau das zu üben, was sie als Prüfung machen würden müssen, aus schierer Verzweiflung. Sie fühlte sich nicht wohl dabei derart zu betrügen, und trotzdem war sie, ohne dass die anderen etwas bemerkt hatten, alleine nachts aufgestanden und hatte im großen Badezimmer geübt. Paimon hatte sie als Glücksbringer stets mitgenommen, dieser hatte die schwüle Wärme des Bades mehr genossen, als Evelyn mit seinen schwarzen Knopfaugen beim Scheitern zuzusehen. Die Schwämme, die sie als Ersatz für Mäuse genommen hatte, hatten kaum eine Schachtelform angenommen. Eine kleine Dose hätte es sein sollen, stattdessen konnte sie am Ende kaum sagen, was der Schwamm dargestellt hatte.
 

Nur wenig besser waren ihre Fähigkeiten in Zauberkunst, obwohl sie dank Pansys Hilfe ihre Ananas wenigstens rhythmisch bewegen konnte, was Professor Flitwick mit gutem Willen womöglich als Tanz anerkennen würde.

Millicent sah sie noch immer eindringlich an, Evelyns Worte schienen sie nicht beruhigt zu haben.
 

Zabini schaute nur kurz auf. "Unsere Evelyn gleicht das mit ihren theoretischen Arbeiten wieder aus. Niemand hier wird durchfallen, nicht wahr, Gregy?" Mit weit ausholender Geste schlug er Goyle auf den Rücken, ein wenig zu fest, sodass es klatschte. Evelyn konnte sich vorstellen, dass sich unter Goyles weißem Hemd nun ein roter Abdruck von Zabinis Hand befand.

Sie sah zu, wie Goyle sich protestierend zu Blaise drehte um den Klatscher zu erwidern, wobei sie in Schweigen verfiel.

Ihr Kopf sagte ihr, dass das Ergebnis ihrer Prüfungen keine Rolle spielte, immerhin würde sie nicht nach Hogwarts zurückkehren, und doch wurmte es sie, dass sie es nicht geschafft hatte die Magie wenigstens ein bisschen zu meistern – trotz zusätzlicher Lektüre und kräftiger Hilfe der anderen.
 

Das Gerangel der Jungs wurde immer heftiger, sodass die Mädchen kichernd zur Seite rutschten. Nur Evelyn reagierte zu spät und wurde von Zabini mitgerissen, der von Goyle einen heftigen Stoß bekommen hatte. Goyle war der Größte unter ihnen, sowohl in Höhe als auch in Masse, und noch konnte er seine Stärke nicht einschätzen, sodass der vermutlich spielerisch gemeinte Schubs Zabini regelrecht zum Fliegen brachte.
 

Erschrocken klammerte sich Blaise an allem fest, was er zwischen die Finger bekam, was zu Evelyns Pech ihr eigener Umhang war. Goyles Stoß reichte aus, um sie beide umzureißen, mit nichts als dem Hügel unter ihnen, an dem sie keinen Halt fanden. Unfähig etwas gegen die Schwerkraft tun zu können, rollten die beiden orientierungslos den Hügel hinab, bis Evelyn kleine Steinchen im Rücken spürte. Alles ging zu schnell, als dass Evelyn aufschreien oder realisieren konnte, was passierte, als sie plötzlich Nadelstiche überall auf ihrer Haut spürte und ihr die Luft wegblieb; wortwörtlich. Instinktiv trat sie Wasser, wobei kurz Panik in ihr aufkam, da sie noch immer nicht wusste wo unten oder oben war.
 

Irgendwann spürte sie etwas harter unter ihren Füßen, woran sie sich abstoßen konnte, bis sie nach oben schwamm und endlich kalte Luft in ihre Lungen strömte. Der Weg nach oben war kürzer als erwartet, und sie konnte sogar fast stehen. Neben ihr spuckte Blaise keuchend aus, die Wangen und Nase errötet vor Kälte.
 

Sie war so überrumpelt, dass sie gar nicht sofort auf die Idee kam aus dem Wasser zu waten, bis sie Blaise Hand an ihrem Arm spürte. "Tut mir leid, alles ok?" Er spuckte noch immer Wasser, drehte sich aber ab und zu um auf der Suche nach dem Ufer.

"Ja, denk schon." Sie zitterte am Körper und erst jetzt begriff sie, dass sie aus dem See musste. Mit kräftigen Stößen brachte sie sich zurück ans Ufer, bis sie auf allen Vieren herausklettern konnte. Einige frische Algen, die sich an ihrer Kleidung und an ihren Haaren verfangen hatten, hingen an ihr ab. Vollkommen unverletzt war sie nicht; ihr Kopf tat weh und sie hatte einige Schürfungen an den Händen, wo sie versucht hatte sich im Fallen festzuhalten. Mehrere Nägel waren bis aufs Bett abgebrochen und ihre Handflächen waren zerkratzt, sodass sich feine Linien aus Blut bildeten, verdünnt durch das Wasser auf ihrer Haut.

Um sie herum hörte sie Gelächter, machte sich aber nicht die Mühe zu sehen, wer sich über sie amüsierte, bis sie Millicents Rufe aus den Stimmen der anderen wiedererkannte. "Eve!"
 

Sie sah, wie Millicent eher ungeschickt den Hügel herab geschlittert kam, mit Daphne und Goyle knapp an ihren Fersen. Sie hatte über den Anblick eines halb rennenden Goyles gelacht, wenn sie nicht noch außer Atem gewesen wäre. Langsam spürte sie den Schmerz in ihren Händen und Knien, wo sie den Schaden noch gar nicht begutachtet hatte. Ich muss auch immer auf die Knie fallen, dachte sie, als sie versuchte aufzustehen. Sie hatte bereits ein ansehnliches Loch mit Narbe an ihrem Knie vorzuweisen, seit sie mit zwölf Jahren während eines Ausflugs Gesicht voran mehrere Treppen heruntergefallen war und nichts als weiße Kieselsteine ihren Fall abgebremst hatten. Ein Stich genau an diesem Knie verriet ihr, dass sie erneut dieselbe Stelle getroffen hatte.
 

"Langsam, das war ein langer Sturz!" Daphne war sofort dazwischen gegangen, als Goyles Anstalten gemacht hatte die wackelige Evelyn kurzerhand auf die Beine zu ziehen.
 

"Das wollte ich nicht, das tut mir leid, geht es euch gut?" Goyles stand beinahe genauso sehr unter Schock, wie Evelyn. Unschlüssig was er tun sollte, stand er neben Millicent und knetete seine riesigen Hände.
 

"Wir sollten in den Krankenflügel", schlug Daphne vor, die sich Zabini angenommen hatte, während Millicent Evelyn begutachtet. Beinahe gleichzeitig lehnten die Verletzten ab.
 

"Ist nichts gebrochen."
 

"Geht gleich wieder."
 

Evelyn hörte Millicents rasselnden Atem, vermutlich war ihr Puls erhöht vom Sprint den Hügel hinunter. "Die Schwester sollte sich das ansehen", gerade hatte sie sanft gesprochen, als sie sich mit plötzlicher Wut an Goyle wandte. "Das ist deine Schuld, sie hätten tot sein können!"
 

"Übertreib nicht, Milli", sagte Zabini, der es noch vor Evelyn schaffte sich aufzurichten und nun versuchte das Wasser in seinen Kleidern auszuwringen. "Eigentlich ist es meine Schuld. Greg hat das nicht mit Absicht gemacht." Während er sprach, zeigte er sein breites Lächeln. Es sah so aus, als wollte Millicent nur jemanden haben, auf den sie sauer sein konnte, da sie nun ihren Blick auf Zabini warf.
 

"Hör auf so dämlich zu grinsen, oder bei Merlin, ich verhexe dich, dass sogar deine Mutter dich nicht mehr erkennt."

Überrascht starrte Evelyn zu ihrer sonst ruhigen Freundin, die nun den Zauberstab erhoben hat und keine Zweifel zuließ, dass sie ihre Drohung wahr machen würde. Zabini, der wohl ähnliche Gedanken wie Evelyn zu haben schien, nickte knapp und senkte den Blick.
 

Evelyn legte die Hand auf Millicents Schulter, wo sie sich nach oben zog. "Es ist alles in Ordnung. Mir geht's gut, bin nur etwas nass."
 

So ganz stimmte das nicht. Wie erwartet hatte sie schon am nächsten Tag überall auf dem Körper blaue Flecke, die sich nur schwer unter der leichten Sommerkleidung verbergen ließen. Trotz der warmen Temperaturen trug sie daher eine dichte Strumpfhose und ein langes Shirt, was das Gröbste wenigstens vor den Blicken anderer, und vor Millicent, verdecke. Sie wollte nicht riskieren, dass Millicent beim Anblick schon fast purpurner Beine und Arme erneut die Fassung verlor.

Immer wieder hatte sie gedrängt in den Krankenflügel zu gehen, doch Evelyn lehnte stets ab. Sie konnte nicht sicher sein, ob die Krankenschwester bei einer vermeintlich harmlosen Untersuchung nicht vielleicht doch etwas entdeckte, das ihre Tarnung gefährden könnte.
 

Überhaupt hatte es Zabini schlimmer erwischt. Seine linke Hand war einige Stunden nach dem Unfall angeschwollen und er schien Probleme mit dem Laufen zu haben, allerdings nichts, was ihn während den Prüfungen behindern würde, das hatte ihm Madam Pomfrey versichert. Er war im Laufe des Sonntag dann doch in den Krankenflügel gegangen und hatte sich untersuchen lassen. Da konnte Evelyn beinahe froh sein nur einige Schrammen an Händen und Gesicht zu haben, neben den Blutergüssen.

Glücklicherweise stellte sonst keiner Fragen, da die Schülerschaft in Gedanken alle bei ihren Examen waren, die nun für alle begannen.
 

Während des Frühstücks war es auffällig still, so als rührte kaum einer sein Besteck an. Das sonst vorherrschende Geräusch klappernder Löffel und tratschender Schüler blieb beinahe vollständig aus. Sogar den Eulen schien an diesem Morgen nicht erlaubt zu sein die Halle zu durchfliegen. Irgendwann hatte Professor McGonagall, die ein solches Verhalten wohl gewohnt war, dem allen ein Ende gemacht und sie der Halle verwiesen, damit sie diese vorbereiten konnte. Evelyn hatte gerade noch Zeit gefunden William Booth in der Menge zu finden und ihm Glück zu wünschen, was er mit einigen letzten Tipps für Evelyn erwiderte.
 

Sie würden keine ihrer Prüfungen in der Halle schreiben, die war nur für die Fünf- und Siebtklässler reserviert, sondern sie würden in den Klassenzimmern schreiben, wenn auch mit allen Häusern zusammen; was auch Kräuterkunde mit einschloss.
 

Die Wartezeit vor dem Gewächshaus zog sich selbst für Evelyn hin, obwohl sie eher damit beschäftigt war die anderen zu beruhigen. Alle vier Häuser waren versammelt, doch jede Gruppe hatte nur die Köpfe zusammen gesteckt, ohne miteinander zu reden.
 

"Ich hab alles vergessen, Merlin, ich hab alles vergessen", stotterte Pansy, unfähig an Ort und Stelle stehen zu bleiben.
 

"Du hast nichts vergessen, das hast du selbst gesagt. Das wird schon."
 

Ihre Worte schien aber niemand zu hören. Immer und immer wieder sagten sie alle dieselben Sprüche auf, so als seien sie in Trance, bis Professor Sprout sie mit ihrem warmen Lächeln und einer Rolle Pergament in der Hand bat einzutreten.

Das Gewächshaus war völlig verändert. Pflanzen, Dünger und der riesige Holztisch, an denen sie für gewöhnlich gemeinsam gestanden hatten, waren einzelnen Stühlen und Tischen gewichen, die fein säuberlich in Viererreihen angeordnet waren.

"Setzt euch bitte in der Reihenfolge, wie ich eure Namen vorlese, beginnend mit dem Platz vorne links. Abbot, Hannah."

Die junge Hufflepuff lief eingeschüchtert als erste genannt zu werden an den vordersten Tisch. Es folgte ihre Hauskameradin Susan Bones, worüber beide wohl ganz glücklich waren. Man erkannte schnell, dass Sprout sie in alphabetischer Reihenfolge positionierte und Evelyn glaubte zu wissen, dass ihre Sitzordnung nicht nur für Kräuterkunde galt, sondern für jedes Fach.
 

Stumm zählte sie die Schüler dem Nachnamen entsprechend ab, und machte ihren eigenen Platz links außen in der vierten Reihe aus. Millicent und Crabbe saßen vorne in der zweiten Reihe, umgeben von Hufflepuff und Gryffindor. Auch Evelyn saß nicht viel besser, mit Anthony Goldstein direkt vor sich, der ihr keinen Blick schenkte sondern wie gebannt auf das Pergament und die Feder starrte, die auf allen Tischen bereits verteilt waren, und Su Li zu ihrer rechten. Direkt hinter ihr nahm Draco Platz, der ihr mit einem Nicken stumm viel Glück wünschte.
 

Die nächsten eineinhalb Stunden beantwortete Evelyn Fragen zur Haltung verschiedener Pflanzen, bestimmte Rubriken, füllte Tabellen aus und skizzierte mehrere Wurzelwerke, bevor sie auch diese beschriftete. Sprout beobachtete sie und verkündete immer wieder, wie viel Zeit ihnen noch blieb, obwohl die Sanduhr für alle gut sichtbar unnachgiebig ihren Inhalt leerte. Bis zum Schluss hörte man das laute Kratzen der einfachen Federn, die sie alle zu benutzen hatten, und ab und zu ein frustriertes Keuchen, als Sprout sie aufforderte ihre Prüfung zu beenden.
 

Sofort begannen die Schüler untereinander zu tuscheln, glichen Antworten ab und schlugen die Hände über dem Kopf zusammen wann immer sie einen Fehler bemerkten. Evelyn versuchte das Gerede auszublenden. Das übliche Getratsche nach einer Prüfung war ihr nur allzu vertraut, doch sie hatte gelernt es zu hassen. Sie wollte gar nicht wissen, ob oder was sie falsch gemacht hatte oder was andere geschrieben hatten. Die Prüfung war abgegeben, kein Grund sich nun völlig verrückt zu machen.
 

Ihre Gedanken waren bereits bei ihrer nächsten Prüfung, die sie alle in Verteidigung ablegen würden. Dort erwartete sie ein ähnliches Bild. Alle Möbel waren einzelnen Tischreihen gewichen waren, nur die dichten Ranken aus Knoblauchgewächsen über ihren Köpfen waren geblieben und verströmten den üblichen Duft, der für Evelyn nun eng mit dem Fach Verteidigung und mit Quirrell verknüpft war.
 

Die Sitzordnung war ihnen allen noch gut im Gedächtnis, weshalb die Verteilung trotz Quirrells Gestotter weitaus schneller von statten ging, als noch im Gewächshaus.
 

Im Vergleich zu Kräuterkunde hatte Evelyn das Gefühl bereits nach wenigen Fragen sagen zu können, dass Quirrell seine Prüfung schwerer gestaltet hatte, was Evelyn ab und zu arg ins Grübeln brachte, wobei sie am Ende zufrieden ihre Feder niederlegte. Manchmal hatte sie nach oben geschaut zu Quirrell, der stiller als Sprout während der Prüfung gewesen war. Innerlich hatte sie den Ehrgeiz gehabt trotz seines Ablebendes ein gutes Ergebnis zu erzielen, schon allein wegen seines überraschend guten Unterrichts, den sie im letzten Jahr hatte besuchen dürfen.
 

Dementsprechend munter war sie nach der recht erfolgreichen Prüfung in die Mittagspause gegangen, bis sie realisierte, welches Drama ihr bald bevorstand; Verwandlung.
 

Nun war es Evelyn, der es elend ging, wobei sie ständig das Bild einer schmuckvollen Dose im Kopf hatte in der Hoffnung dadurch später besser abzuschneiden, als sie erwartete.
 

"Vielleicht musst du auch nur eine Nadel verwandeln, kann ja sein, dass wir alle unterschiedliche Aufgaben bekommen", versuchte Pansy sie aufzumuntern, was Evelyn zwar nickend annahm, innerlich wusste sie es jedoch besser.
 

Die Prüfung würde für jeden einzeln stattfinden. Einer nach dem anderen wurde von Professor McGonagall hineingerufen und Evelyn musste gestehen, dass sie sich an ihre Graecum Prüfung erinnert fühlte, wo sie in einer ähnlichen Situation mit ähnlichem Talent für den Lehrstoff alleine vor einem Klassenzimmer gewartet hatte, bis der Prüfer sie gerufen hatte. Damals hatte sie es geschafft zu bestehen, wobei ihr Professor, der das Graecum neben dem unbekannten Prüfer abgenommen hatte, ihr kräftig unter die Arme gegriffen hatte. Von Professor McGonagall erwartete sie keine Hilfe.
 

Millicent war mit Crabbe und Goyle die ersten ihres Hauses, die die Prüfung ablegten, sie kehrten jedoch nicht zu ihnen zurück, sodass die noch wartenden Schüler keine Ahnung hatten, was sie erwartete; mit Ausnahme von Evelyn.
 

"Miss Harris, bitte", hörte sie McGonagalls Stimme, als sich die Tür zum Klassenzimmer wieder einmal öffnete.
 

"Du schaffst das", gab ihr Blaise auf den Weg, was aber eher wie eine schlechte Lüge klang, als sie auch schon durch die Tür glitt. Sie hatte das Gefühl ihr Herz schlüge in ihrer Kehle, und auch mehrmaliges Schlucken machte es nicht besser.
 

Vor ihr sah sie mitten im Raum einen schlichten Tisch, an dem McGonagall, die Feder gezückt, wartete und sie neutral anblickte.
 

"Guten Tag, Professor", sagte sie, einen Schritt vor den anderen setzend, obwohl alles in ihr schrie den Raum wieder zu verlassen.
 

"Guten Tag, Miss Harris", sie deutete vor sich. "Stellen Sie sich dort bitte auf." Der Tisch war völlig leer und es wies nichts darauf hin, was ihre Aufgabe sein könnte. Gehorsam stellte sich Evelyn vor den Tisch, wo es keinen Stuhl gab. Den würde sie wohl nicht brauchen. Ihr Zauberstab zitterte in ihrer Hand, was sie versuchte ein wenig hinter ihrem Rücken zu verbergen.
 

"Haben Sie sich verletzt?", fragte McGonagall plötzlich, als sie Evelyn ins Gesicht geschaut hatte, wo ihr Kinn entzündete Striemen hatte. Evelyn war klar, dass sie versuchte ein wenig Smalltalk zu führen um Evelyn die Nervosität zu nehmen; das klappte nicht.
 

"Ein kleiner Unfall am See, Ma'am." Mehr sagte sie nicht, und auch ihre Stimme klang in ihren Ohren ungewöhnlich dünn.

Sie beobachtete, wie ihr Professor die Hand hob und mit einer kreisenden Bewegung einen kleinen Käfig mit einer Maus beschwor. "Ich möchte, dass Sie diese Maus in eine Schnupftabakdose verwandeln. Sie wissen, was das ist?", fragte sie, wobei sie bereits einige Wörter auf das Pergament vor sich schrieb.
 

"Ja, Ma'am." Der letzte Funken Hoffnung, sie würde vielleicht doch ihren Fähigkeiten entsprechend eine leichtere Aufgabe bekommen, verrauchte beim Anblick der harmlosen Maus.
 

"Lassen Sie sich Zeit. Das Aussehen bleibt Ihnen überlassen, doch seien Sie sicher, dass es eine bessere Bewertung gibt, je einfallsreicher die Dose gearbeitet ist. Punktabzug gibt es, sollten Sie mehrere Anläufe für eine vollständige Verwandlung benötigen. Haben Sie das verstanden?"
 

"Ja, Ma'am."
 

"Sie dürfen beginnen."
 

Eine leichtere Aufgabe, dachte Evelyn spottend über ihre eigenen, törichten Gedanken. Die Aufgabe an sich war eigentlich nicht schwer. Der Zauberspruch wurde verwendet, um Objekte, egal ob lebendig oder nicht, in eine Schachtelform zu bringen. Wie genau die Schachtel schließlich aussah, war der Vorstellung des Zauberers überlassen. Eine Schachtel war eine gerade Form und damit eigentlich einfach herzustellen. Eigentlich.
 

Sie räusperte sich um noch einige Sekunden Zeit zu gewinnen, ehe sie den Zauberstab hob und ihre Gedanken auf die Maus richtete.
 

Schwanz wird zu Scharnier, Füße bleiben Füße, Körper langziehen und das Fell zur Deko gestalten."Capsula mutat!"
 

Die Maus quiekte nicht einmal auf, als der Zauber sie leuchtend umhüllte und sein Werk quälend langsam begann. Evelyn hatte ihre volle Konzentration auf das Tier gerichtet, sodass sie die Finger ins Holz ihres Zauberstabes grub. Wie von ihr gewollt verschwand der dünne Schwanz langsam und auch die Beine zogen sich in den Körper hinein. Beinahe wollte sie schon zufrieden sein, dass der Körper sich in Form streckte, als ihr auffiel, dass sie sich die Dose nicht hohl vorgestellt hatte und sie dadurch, wenn man sie versuchte es zu öffnen, womöglich einen unschönen Inhalt sehen würde. Ein grober Fehler. Sofort brach sie schnaubend ab und unterbrach ihre Verwandlung.
 

Sie versuchte nicht auf das Geräusch der schreibenden Feder der sonst stummen McGonagall zu achten, allerdings scheiterte sie auch darin. Die ersten Punkte wurden ihr schon abgezogen, da sie die Verwandlung in einem neuen Anlauf vollenden musste.
 

Nochmal, es muss nur eine kleine Box sein. Eine Box. "Capsula mutat!", wiederholte sie und arbeitete nun daran, die Dose auszuhöhlen und den Kopf umzuformen.
 

Ein weiteres Mal musste sie die Verwandlung unterbrechen, um das Fell zu einem festen Material werden zu lassen, am Ende hatte sie jedoch tatsächlich eine kleine silberne Dose mit eingeschnitzten floralen Elementen zu präsentieren. Die ab und an zuckenden Barthaare der Maus nahm sie in Kauf, wobei sie versucht hatte sie symmetrisch in die Deko einzuarbeiten.
 

"Sie dürfen gehen, Miss Harris. Gehen Sie durch diese Tür." Sie zeigte auf den Ausgang hinter ihr, wo mit Sicherheit Millicent auf sie wartete.
 

Zufrieden war sie nicht mit ihrer Leistung, wobei sie hoffte Blaise würde recht haben und sie würde in der theoretischen Prüfung, die schon morgen abgehalten werden würde, wieder einiges gut machen.
 

Von da an wiederholten sich die Tage. Immer im Wechsel mussten sie schriftliche und praktische Prüfungen ablegen, wobei die Flugprüfung in jeder Hinsicht herausstach. Evelyn freute sich beinahe auf diesen Test, da es bedeuten würde nie mehr auf einen Besen steigen zu müssen.
 

Hooch hatte einen Parkour aus schwebenden Ringen aus Holz aufgebaut, den sie durchfliegen mussten. Dabei spielte Zeit und Technik eine Rolle, während es Punktabzüge gab sollte man den Flug korrigieren müssen oder falls man einen der Ringe streifte oder gar verfehlte; wie sie es bereits im Unterricht geübt hatten. Entgegen Madam Pomfreys Versprechen, hatte Blaise während des Tests einige Probleme die Kurven so zu fliegen, wie er es gewohnt war, was ihm nach eigenen Angaben unnötig viel Zeit gekostet hatte. Evelyn hingegen ging es, ähnlich wie Hermine, mehr als gemächlich an und flog nur das Nötigste, ohne wilde Extraeinlagen, im Gegensatz zu Draco. Der hatte nur verächtlich geschnaubt, als Harry mit seinem Nimbus in der Hand auf dem Feld erschienen war. Madam Hooch hatte seinen Besen sofort konfisziert mit der Begründung, alle sollten dieselben Besen und Voraussetzungen haben, hatte ihm aber angeboten er könne allen seinen Nimbus zur Verfügung stellen, was er jedoch ablehnte. Daphne zeigte als eine der besten, was sie mit dem Besen anstellen konnte, und obwohl Evelyn eher wie eine Oma am Steuer ins Ziel geflogen war, glaubte sie kaum, dass irgendwer diese Prüfung nicht bestanden hätte.
 

Anders sah es in Zaubertränke aus, wo bereits die theoretische Prüfung aus vielen Fragen zu Themen bestand, die sie nicht während des Unterrichts besprochen hatte. Evelyn erkannte, dass es zwar alles bekannte Zutaten und Braumuster waren, man jedoch völlig intuitiv beantworten musste, ob sich die bekannten Zutaten unter anderen Umständen ähnlich oder eben völlig anders verhielten. Die Beschwerden nach der Prüfung, außerhalb der Hörweite ihres Professors, waren daher laut und die vier Häuser waren sich ausnahmsweise in einem Thema einig, wenn auch nur kurz. Evelyn erwartete ähnlichen Frust, als sie am letzten Tag die praktische Prüfung zu Zaubertränke absolvieren sollten, und sie dank Snapes Humor einen Vergesslichkeitstrank brauen durften, den Evelyn aber nach der ebenfalls peinlichen Vorstellung einer wippenden Ananas in Flitwicks Prüfung schon beinahe als einfach ansah, auch wenn ihr einige ihrer Klassenkameraden in dieser Hinsicht widersprachen.
 

Der Abschluss machte schließlich Geschichte der Magie, wo selbst Evelyn sich ausgebrannt und geistig müde fühlte, aber dennoch glücklich war es endlich hinter sich gebracht zu haben. Erst jetzt fragte sie in die Runde, wie die anderen die Prüfungen erlebt hatten, und obwohl ihre Augen leicht gerötet vor fehlendem Schlaf waren und sie ebenso erschöpft wirkten, wie Evelyn sich fühlte, lächelten die meisten von ihnen.
 

"Ab jetzt wird ausschlafen, egal ob es Frühstück gibt, oder nicht."
 

"Ich will nicht in der Haut der Quidditch-Spieler stecken, die morgen noch spielen müssen."
 

Überall um sie herum war die Erleichterung groß die Woche hinter sich gebracht zu haben, was Evelyn mit ihren jungen Klassenkameraden gerne teilte. Ihre Arbeit war getan, in mehrerer Hinsicht, und nun galt es nichts weiter zu tun, als zu warten. Die Schüler warteten auf die Ergebnisse und darauf, dass sie für die nächsten zwei Monate nach Hause fahren durften. Evelyn wartete darauf, dass ihr kleiner Ausflug ein Ende nahm, was bedeutete, dass sie sich langsam Gedanken machen musste, was sie nach ihrer Zeit in Hogwarts machen würde.
 

Ollivander hatte sie noch immer nichts von ihrem drohenden Rausschmiss gebeichtet aus Angst, er würde sich einmischen, und obwohl sie seine Sorge zu schätzen wusste, wollte sie nicht, dass Ollivander sich unnötig aufregte. Sie würde genug Zeit haben ihm die Situation zu erklären, wenn sie erst einmal wieder zurück in der Winkelgasse war. Beinahe freute sie sich sogar darauf ihre kindliche Gestalt aufzugeben und wieder die zu sein, die sie war: was auch immer das mittlerweile bedeutete.
 

Die Schüler der einzelnen Häuser wandten sich zum Gehen, als Evelyn aus den Augenwinkel sah, wie sich drei der Kinder absetzten und eben nicht den einzelnen Gruppen folgten, sondern verdächtig eine Richtung einschlugen, die sie in den Korridor im dritten Stock bringen würde. Niemand achtete darauf, wie Harry bereits im Laufen in seine Tasche griff und ein Stück Stoff herauszog. Alle waren sie völlig in ihre Gespräche verwickelt, erleichtert darüber freie Luft atmen zu dürfen.
 

"Evelyn? Kommst du?"
 

Die Mädchen waren bereits einige Schritte gegangen, während Evelyn das Trio beobachtet hatte, wie sie hinter der Ecke verschwanden.
 

"Hast du etwas gesehen?", wollte Millicent wissen, als Evelyn zu ihnen aufgeschlossen hatte.
 

"Nein, ich dachte nur, wir müssen ein wenig feiern, dass wir unsere ersten Examen geschafft haben."
 

"Kein Thuja mehr für dich", sagte Daphne sofort mit einem schelmischen Grinsen, das Zabini neidisch gemacht hätte, hätte er es gesehen. Dieser war jedoch sofort nach Ende der Prüfung mit Draco verschwunden.
 

Evelyn neigte den Kopf zur Seite. "Das will ich auch gar nicht. Wir sollten uns einen netten Abend machen."
 

"Ehrlich gesagt, will ich nur ins Bett."
 

Während Pansy versuchte Millicent von Evelyns Idee zu überzeugen, die das nur gesagt hatte, um eine Antwort auf die Frage zu haben und selbst kein großes Bedürfnis hatte noch lange wach zu bleiben, blickte Evelyn ein weiteres Mal über die Schulter dorthin, wo sie Harry, Ron und Hermine zuletzt gesehen hatteSie fühlte sich ähnlich wie Millicent und war froh darüber bald in ihrem Schlafsaal sein zu können und sich unter ihre Decke zu kuscheln. Wie schwer die nächsten Stunden für Harry und die anderen werden würde, wollte sie sich gar nicht vorstellen, und empfand in diesem Moment tiefen Respekt vor dem, was die Kinder leisteten. Viel Glück, ihr Drei.

 

Kapitel 54 - Flüsterpost

So müde sie auch gewesen war, ein Auge hatte sie nicht zu gemacht. Den größten Teil ihres Abends hatte sie im Gemeinschaftsraum auf einem Stuhl mit dem Vorwand noch ein paar Antworten nachschauen zu wollen in der Nähe des Eingangs verbracht, wo sie angestrengt versucht hatte etwas aus dem Schloss zu hören, was nicht nur dank den dicken Steinwänden, sondern auch dank dem Lärm der anderen beinahe unmöglich war. Worauf genau sie wartete, konnte sie nicht beantworten. Vielleicht auf einen Schrei, oder eine Explosion, wobei ihr Verstand ihr sagte, dass das alte Gemäuer jedes Geräusch schlucken würde. Sie hatte nicht erwartet, dass einer der Lehrer sie nachts aus den Betten holen würde, schon gar nicht der Schulleiter selbst, dass sie jedoch Stunde um Stunde rein gar nichts von dem mitbekamen, was sich irgendwo unter ihnen abspielte, war dennoch verblüffend; fast schon enttäuschend.

 

Irgendwann hatte sie es aufgegeben, wenn auch schweren Herzens, und war unvollrichteter Dinge in den Schlafsaal gegangen, wo sie trotz allem weiterhin versuchte zu lauschen.

 

Sie fühlte sich unruhig. Nicht nervös wie Tage zuvor beim Beginn ihrer Prüfungen, sondern eher wie ein Kind, das gespannt nachts wach lag und auf den Weihnachtsmann wartete. Selbst, wenn sie seine schweren Stiefel auf dem Dach nicht hören würde, so war sie sich sicher am nächsten Morgen eine Überraschung unter dem Baum zu haben, nur dass es in ihrem Fall keine Mandarinen im Stiefel, sondern eher die Nachricht eines glorreichen Sieges von Potter war.

 

Hätte sie eine Uhr gehabt, wären ihre Augen wohl minütlich zum Ziffernblatt gewandert. Es war erstaunlich wie schnell man sich an die Abwesenheit von Dingen gewöhnte, die man vor nicht allzu langer Zeit als unverzichtbar gesehen hatte. Dennoch vergingen die Minuten um sie herum quälend langsam, vor allem als am nächsten Tag keiner ihrer Kameraden auch nur Anstalten machte ihren Kerker verlassen zu wollen. Die Prüfungsphase war vorbei, also blieben alle länger als gewöhnlich in ihren Betten oder genossen ein ausgiebiges Bad, was es natürlich umso schwieriger machte an Neuigkeiten zu kommen, wenn niemand weder raus noch rein kam. Hinzu kam, dass das Frühstück ihnen hier serviert worden war, was Evelyn wohl als einzige verdächtig vorkam.

 

Sie hatte sich Paimons Kugel geschnappt, die die Schlange nun immer seltener als Rückzugsort nutzte und stattdessen Evelyns Körperwärme bevorzugte, und hatte sich ans Fenster des Gemeinschaftsraumes gesetzt.

 

Sie stellte sich vor, wie die Frühaufsteher im Gryffindor-Turm den vermutlich noch immer petrifizierten Körper von Neville entdeckten; oder wie die Mädchen Hermines ungenutztes Bett vorfanden. Jeder in Gryffindor würde mittlerweile wissen, dass etwas vorgefallen war, das aufregender war als das bevorstehende Quidditch-Spiel zwischen Slytherin und Hufflepuff, was hier unten im Kerker, sehr zu Evelyns Missfallen, das einzige Gesprächsthema war. Evelyn hoffte spätesten auf den Quidditch-Tribünen die ersten Gerüchte zu hören. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Lehrer völlig zur Tagesordnung übergehen konnten; nur wenige Stunden, nachdem einer ihrer Lehrer sich sowohl als Wirt einer parasitären Lebensform zu erkenne gegeben hatte, als auch versucht hatte den Stein der Weisen zu stehlen. Andererseits war es wohl auch nicht wichtig genug die letzten Spiele der Saison abzusagen. Doch wie sagte Oliver Wood so schön: Quidditch fand immer statt. Der Sport war Evelyns einzige Hoffnung ihre Mitschüler aus ihrer Lethargie aufwachen zu sehen. Merlin, niemand hatte auch nur hinterfragt, weshalb das Frühstück hier im Gemeinschaftsraum serviert worden war und nicht wie sonst üblich in der Großen Halle. Ein Angebot, was sie alle liebend gerne angenommen hatten, wollte doch niemand hinaus ins Schloss.

 

"Fisch Nr 394", flüsterte sie, den Kopf in die Hand gestützt, als ein weiteres Exemplar der Meeresbewohner vor dem Fenster zu sehen war. Möglicherweise war es aber auch zum dritten Mal Nr 157. Sie war kurz davor sich mitsamt Paimon unter ihrem Ärmel auf zur Bibliothek zu machen, in der Hoffnung vielleicht irgendwem zu begegnen, als sie hinter sich mehrere erschrockene Seufzer hörte.

 

Das wurde aber auch mal Zeit!, dachte sie, während sie so tat, als fand sie das Treibholz sogar noch interessanter, als die 394 Fische. Es fiel ihr schwer nicht sofort den Kopf herumzureißen und sich auf denjenigen zu stürzen, der wohl endlich mit den langersehnten Neuigkeiten eingetroffen war. Entweder das, oder Zabini hatte bei Koboldstein verloren.

 

Angestrengt versuchte sich auf die Reflektion im Glas zu fokussieren, doch bevor sie etwas klar erkennen konnte, hörte sie bereits eine fremde Stimme.

 

"Schüler dieses ehrenwerten Hauses. Ich bringe Kunde vom Vorsteher Slytherins", seltsam gedämpft hallten die Worte des Blutigen Barons durch den Raum, in dem es sofort still geworden war, als ihr Hausgeist durch den Eingang geschwebt gekommen war. Dass der Baron im Gemeinschaftsraum erschien, war soweit Evelyn wusste noch nie vorgekommen.

 

"Unglücklicherweise ist es in der Nacht auf heute zu einem bedauerlichem Zwischenfall gekommen, in den ein Lehrer dieser Schule verwickelt worden ist."

 

Der Baron schwebte in einiger Höhe über ihnen und hatte die Hände hinter seinem transparenten Rücken gefaltet. "Das Kollegium hat sich der Sache angenommen, doch es gibt noch keine genauen Details, die man Ihnen berichten könnte." Ich würde ja damit anfangen zu erzählen, wie ein dreiköpfiger Hund hier im Schloss gewohnt hat, aber mich sollte niemand fragen.

 

"Herr Baron, welcher Lehrer war in Gefahr?", meldete sich ein junges Mädchen, das nicht weit vom Baron an der Wand stand.

"Auch diese Information steht mir nicht zu zu teilen. Sie alle werden gebeten hier fürs erste zu verweilen, doch seid sicher, die Sportveranstaltung wird wie gewohnt abgehalten werden."

 

Evelyn bemerkte, wie der Baron eilig das Thema gewechselt hat.

 

Marcus Flint, der die Mannschaft bereits um sich versammelt hatte, trat vor und klopfte sich gegen die Brust. "Das will ich auch schwer hoffen. Ich freue mich schon seit Wochen darauf die Hufflepuff unter meinem Daumen zu zerquetschten."

Eher lustlos nickte der Baron dem forschen Marcus zu, bevor er ohne ein weiteres Wort durch die Wand verschwand. Kurz war es still, und man hörte nur das Feuer im Kamin. Diese Stille währte aber nur einige Herzschläge.

 

"Zwischenfall? Was für ein Zwischenfall?"

 

"Meint ihr, ein Lehrer hats erwischt?"

 

"Was soll das heißen, wir sollen hier leben?"

 

"Eingesperrt im Kerker! Mal wieder schlechter Humor unseres Schulleiters."

 

Jeder sprach durcheinander, die morgendliche Trägheit war mit einem Mal verflogen, was Evelyn mehr als begrüßte. Sie überkreuzte dir Arme vor der Brust, darauf bedacht Paimon nicht zu zerquetschten, und beobachtete an der Lippe kauend, wie Leben in die Schüler zurück kehrte.

 

Innerhalb kürzester Zeit waren ähnlich wie an Halloween die wildesten Gerüchte entstanden, die allein von den spärlichen Informationen des Blutigen Barons genährt wurden. Aus einer Vermutung war schon bald eine Tatsache geworden, dass der nächtliche Zwischenfall Dumbledore involvierte und dass er auf Grund seines Alters hinter dem Schreibtisch zusammen gebrochen wäre; tot, wenn es nach vielen im Raum ging.

 

Die Nachricht den Kerker offiziell nicht verlassen zu dürfen verbreitete sich schnell, und plötzlich konnte niemand es abwarten zu den Tribünen zu gehen. Evelyn vermutete dahinter eine verdrehte Psychologie, nach der die Schüler nun genau das wollten, was ihnen verboten war, obwohl sie zuvor mehr als glücklich über die Tatsache waren faul in den Slytherin Gemächern lungern zu können.

 

"Wo bleibt Pucey denn? Jetzt braucht man ihn ein Mal und schon ist er unzuverlässig", meinte Daphne mit Blick zum Eingang. Pucey war als Vertrauensschüler gerufen worden und war als einziger von ihnen momentan außerhalb der Kerker unterwegs. Der Tumult im Gemeinschaftsraum hatte schnell den Großteil des Hauses aufgeschreckt, sodass sie sich nun schon seit Stunden auf engstem Raum quetschen. Sie alle warteten nur darauf, dass Pucey entweder mit schmutzigen Details zurückkehrte, oder aber dass er sie endlich auf die Tribünen bringen dürfte.

 

"Das Spiel beginnt gleich. Wenn wir nicht bald hier raus dürfen, verpassen wir noch den Anfang", beschwerte sich ein Viertklässler bei seinem Freund, nicht weit von Evelyn und den Mädchen. Daphne schlug die Hand vors Gesicht.

 

"Wie denn? Unsere komplette Mannschaft steht ebenfalls hier. Die werden wohl nicht ohne die Spieler anfangen!" Sie deutete seufzend auf die Mitte des Raumes, wo die Mannschaft mit Besen in der Hand und in ihren Uniformen bereit stand. Der Junge drehte sich empört weg und verschwand in der Menge, vermutlich aus Scham.

 

"Idiot", kommentierte Pansy, kurz bevor sie sahen, wie die Steinwand zur Seite glitt. Pucey genoss seinen Auftritt, bei dem die meisten Augen nur auf ihn gerichtet waren. Dementsprechend viel Zeit nahm er sich auch zu antworten. Zu lang, wie manche fanden, sodass er unter Androhung den Tag mit zusammen geschmolzenen Beinen verbringen zu müssen anfing zu erzählen.

 

"Ich weiß ihr hofft auf Neuigkeiten, doch mir hat man genauso wenig gesagt, wie-", weiter kam er nicht, als die Proteste überall um Evelyn herum laut. In diesem Moment empfand sie Mitleid für ihren Vertrauensschüler, der nun den Frust der Slytherins zu spüren bekam.

 

"Der Arme, sie werden ihn gleich überrennen", sagte Millicent kopfschüttelnd und auch Evelyn sah es kommen, dass sich die Meute weder von Pucey, noch von einem Verbot davon abhalten lassen würden den Raum zu verlassen. Evelyn war froh am Rand zu stehen, da nun bereits das Gedränge begann.

 

"Professor Snape hätte die Sache im Griff."

 

"Ja, hätte er", gab Evelyn ihrer Freundin recht. "Pucey hätte ihnen irgendwas erzählen sollen."

 

Machtlos sahen sie zu, wie die Menge, angeführt von Marcus, Pucey aus dem Weg drückten und durch den Ausgang strömten. Anfangs hatte Pucey noch versucht sie aufzuhalten, sicherlich hatte er die Anweisung erhalten Slytherin hinaus auf das Quidditch-Feld zu eskortieren, doch seine Bemühungen waren umsonst. Schließlich reihte sich auch die Gruppe um Evelyn ein, deren Mitleid bereits drückender Vorfreude gewichen war.

 

Weshalb das Quidditch-Spiel stattfand, war für Evelyn unverständlich, speziell da man offensichtlich versucht hatte die Häuser voneinander zu trennen; zumindest vorerst, denn auf den Tribünen vermischten sich die Schüler schneller, als Professor McGonagall Examen sagen konnte. Die ersten Blicke gingen hinauf zur Lehrertribüne in der Hoffnung einen Hinweis zu erhalten, welchem der Lehrer etwas zugestoßen war. Allerdings war kaum die Hälfte der Lehrerschaft anwesend. Dumbledore fehlte, was die Slytherin in ihrer Vermutung nur bestärkte, doch neben ihm war auch der Großteil der anderen Lehrer abwesend. Tatsächlich waren nur die Hauslehrer der spielenden Mannschaften zusammen mit Professor Vektor und Burbage auf der Tribüne, während Professor McGonagall eilig über den Platz schritt.

 

Hier im Stadion herrschte immer angespannte Atmosphäre, doch heute schien kaum einer auf das Spiel zu achten, mit Ausnahme der Mannschaft um Flint. Tor um Tor erzielten sie, was von Lee Jordan nur knapp kommentiert wurde. Der sonst so euphorische Torjubel wirkte gedämpft und wurde von einem ständigen Murmeln beinahe verschluckt. Sogar Daphne war nur halbherzig bei der Sache.

 

"Schaut, die Ravenclaw wissen etwas." Sie beobachtete, wie eine große Gruppe nun völlig das Spiel ignorierte und heftig miteinander diskutierten. "Verdammt, was wissen die?"

 

"Schaut euch die Gryffindor an, die scheinen etwas zu erzählen zu haben."

 

Die Tribüne der Gryffindor war gut besucht, obwohl es ein Spiel von Slytherin war. Unter ihnen tummelten sich dutzende Hufflepuff und Ravenclaw Schüler, die förmliche an ihren Lippen klebten. Unter all dem Rot und Blau, sah sie aber kein Grün.

Man konnte förmliche sehen, wie die Nachrichten wie eine Laolawelle durch das Stadion ging, mit der Gryffindor-Tribüne als Ausgangspunkt.

 

"Ein weiteres Tor für Slytherin. Sie führen nun mit 120:20." Verhaltens Klatschen war zu hören und Evelyn hoffte mit Blick auf die tuschelnden Ravenclaw, dass Slytherin nicht den Schnatz fing, ehe die Nachrichten sie erreicht hatten.

 

Noch ein bisschen, komm schon.

 

Endlich überhörten die außen Stehenden die Konversationen und ein einziger Satz breitete sich unter ihnen aus wie ein Lauffeuer.

 

"Harry Potter hat Professor Quirrell ermordet."

 

Der hohe Sieg der Slytherin Mannschaft ging völlig unter in dem Tumult, der zunächst langsam schwellte, sich dann aber überall ausbreitete. Die wenigen Lehrer hatten alle Hände voll zu tun die Häuser voneinander zu trennen und sie zurück ins Schloss zu bringen; und das wollte etwas heißen, immerhin waren McGonagall und Snape anwesend. Viel wusste man immer noch nicht, mit Ausnahme der vermeintlichen Tatsache, dass Harry einen Lehrer ermordet hatte. Evelyn vermutete, dass der Großteil der Details auf der Strecke geblieben war.

 

"Verdammte Flüsterpost", zischte sie, als sie auf dem Weg zurück in die Kerker waren.

 

Millicent hatte sie gehört und wirkte irritiert. Evelyn zuckte die Schultern als sie erkannte, dass sie ihr eine Erklärung schuldete. "Flüsterpost ist ein Spiel. Jemand flüstert seinem Nachbarn etwas ins Ohr, und dieser muss es ebenfalls flüsternd weitergeben, bis die Nachricht einmal im Kreis gegangen ist. Der letzte sagt laut, was man ihm ins Ohr gesagt hat."

 

"Verstehe ich nicht, wieso soll man flüstern? Man kann doch gleich laut reden?" Daphne legte den Kopf schief.

 

"Genau das ist der Spaß. Am Ende kommt meistens völliger Unfug heraus, und eben nicht der ursprüngliche Satz."

 

Millicent dämmerte, was Evelyn sagen wollte. "Du meinst wegen dem, was heute Nacht passiert ist? Glaubst du unsere Informationen sind falsch?"

 

Millicent, ich habe den Punkt den Glaubens schon lange überschritten. "Was ich sagen will ist, dass wir womöglich nicht alles wissen." Oder mit ziemlicher Sicherheit. Unter den Slytherin herrschte nun die Annahme Potter wäre wahnsinnig geworden und hatte Quirrell nachts in seinem Bett überfallen. Eine lächerliche Verzerrung von dem, was wirklich geschehen war.

 

"Was gibt es da noch zu wissen. Potter war nicht beim Spiel, genauso wenig wie einer seiner Lakaien. Die stecken da alle mit drin." Pansy hatte mittlerweile Draco schlechte Meinung über Harry angenommen. Daphne hingegen wurde skeptisch.

 

"Ich bin mir da nicht so sicher. Komm schon, Pansy. Mord? Das trau ich ihm nicht zu."

 

Seufzend wandte sich Evelyn von dem Gespräch ab, was nun in einem Für und Wider darüber ausartete, ob Potter zu einem Mord fähig war, oder nicht. Ein makaberes Spiel, wie Evelyn fand. Es schien kaum einen zu kümmern, dass ein Lehrer tatsächlich tot war, egal ob nun durch Harrys Hand oder nicht. Es herrschte keine Trauerstimmung, die Evelyn in dieser Situation erwartet hätte. Noch wussten sie ja nichts um die Umstände von Quirrells Tod und kannten ihn nur als den freundlichen Verteidigungslehrer.

 

Einige, darunter Draco, amüsieren sich sogar köstlich über Quirrells Ableben, oder besser gesagt der Tatsache, dass Potter scheinbar verrückt geworden war.

 

"Dass Quirrell nicht lange durchhält war zu erwarten, aber wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Potter seinem elenden Leben ein Ende machen würde. Ich hatte erwartet, dass er gefeuert wird wie jeder andere auch."

 

Evelyn horchte auf. Es war das erste Mal, dass sie über die vergangenen Verteidigungslehrer sprachen. "Gefeuert? Wurden in den letzten Jahren viele gefeuert?"

 

"Na, alle", beantwortete Zabini Evelyns Frage. "Oder sie gingen von selbst. Die Stelle wird meistens nur für ein Jahr ausgestellt. Keine Ahnung, weshalb Dumbledore darauf besteht jedes Jahr jemand anderen zu nehmen."

 

"Meine Mutter sagt, angeblich will er dafür sorgen, dass die Schüler möglichst viele Meinungen zu dunklen Künste bekommen, und wie man sich wehrt."

 

"Schwachsinn. Vor einigen Jahren war sogar Professor Sprout ein Jahr lang die Lehrerin, bis sie wohl mehr als glücklich wieder in ihr Gewächshaus durfte. Vermutlich ist niemand gut genug in Dumbledores Schatten Verteidigung gegen die Dunklen Künste zu unterrichten, wo er doch so ein großer Held ist."

 

Einige lachten über Dracos verächtlich gespuckten Kommentar, was Evelyn nur nickend zur Kenntnis nahm.

 

"Er hat sie gefeuert, huh."

 

Die offene Neugier blieb auch nach dem Spiel bestehen, und ihr einziger Lichtblick war die Aussicht beim Abendessen endlich klare Worte zu hören. Dementsprechend hatte es jeder eilig in die Halle zu kommen, wo die Lehrer um Dumbledore bereits alle warteten. Es fiel auf, dass ein Platz neben Snape leer blieb.

 

"Jetzt bin ich gespannt", flüsterte Daphne, nachdem die Schülerschaft sich beinahe gleichzeitig an ihre Plätze an den Tischen begeben und alle Augen auf Dumbledore gerichtet hatte, der geduldig vor ihnen stand. "Wie viele von euch vermutlich bereits wissen, haben wir einen Verlust zu beklagen", begann er mit fester Stimme zu reden. Es war völlig still. "Professor Quirrell hat, wie ich fürchte, geheime Pläne verfolgt nicht nur dieser Schule, sondern auch jedem anderen zu schaden.

 

Glücklicherweise konnte einer der unseren ihn davon abhalten seinen Plan in die Tat umzusetzen." Kaum, dass er seinen Satz ausgesprochen hatte, begann der Gryffindor Tisch lauthals zu jubeln. "Potter! Potter! Potter!" Überall drehten sich Köpfe irritiert zunächst zu den Gryffindor, dann wieder zu Dumbledore, nur um kurz darauf mit dem Nachbarn zu diskutieren. Evelyn schaute ungeniert zu Draco, sowie auch Millicent. Dieser hielt seine Gabel nur fest umklammert, die Zähne aufeinanderpressend.

 

Dumbledore hob die Arme, und sofort wurde es wieder still. "Ja, Mr Harry Potter hat großen Mut bewiesen, trotz seines jungen Alters."

 

"Mir wird gleich schlecht", hörte Evelyn Draco sagen.

 

"Dennoch hat die Nacht Spuren bei ihm hinterlassen, von denen er sich erholen muss. Ich bitte euch also ihm Zeit zu geben."

"Lasst ihn aufatmen, bevor ihr den Helden mit Gaben und Geschenken überhäuft." Selbst Evelyn musste bei Dracos Imitation des Schulleiters schmunzeln, denn ohne es zu wissen, war er näher an der Wahrheit, als es ihm lieb sein dürfte.

 

"Professor, wie konnte Harry Potter Quirrell besiegen?", rief ein Schüler vom Ravenclaw Tisch mit zustimmendem Gemurmel von allen Seiten.

 

"Das wird seine Geschichte zu erzählen sein. Seid jedoch versichert, dass euch keinerlei Gefahr droht. Genießt eure freien Tage, Hogwarts ist völlig sicher."

 

Dumbledore schwang die Finger, wie er es bereits bei der Eröffnung getan hatte, und vor ihnen erschien das Essen. Es gab keinen Zweifel, dass Dumbledore zu dieser Sache kein weiteres Wort verlieren würde.

 

"Völlig sicher. Na klar, wenn einer unserer Lehrer sogar versucht uns zu töten. Und es ist nicht einmal Professor Snape gewesen!", sagte Zabini mit vollem Mund. Er hatte keine Zeit vergeudet und sich von allem, was in seiner Reichweite stand, etwas genommen.

 

"Bestimmt hat Quirrell den Troll ins Schloss geholt. Nur warum? Wenn er hatte angreifen wollen, hätte es bessere Möglichkeiten gegeben."

 

Draco, der noch immer nur seine Gabel umklammert hielt, schlug mit der freien Hand auf den Tisch. "Seid ihr denn alle bescheuert? Das war eine Ablenkung."

 

Evelyn hob beeindruckt die Augenbraue. Die anderen hingegen starten Draco nur fragend an, weshalb er weiter sprach. "Er hat den Troll ins Schloss geholt als Ablenkung. Denkt doch mal nach, er hatte jederzeit angreifen können, hat er aber nicht. Er wollte etwas, hier im Schloss. Deshalb war er hier." Absolut richtig, sehr gut, Mr Malfoy.

 

"Aber was soll es hier schon geben?", fragte Daphne.

 

Als niemand antwortete, lehnte sich Evelyn vor. "Einiges. Das Schloss ist tausend Jahre alt, und ich wette hier gibt es weit mehr als alte Holzstühle und verstaubten Tafeln."

 

Ein verschmitztes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht auf, als sie sich wieder zurück lehnte und die anderen reden ließ, die nun die wildesten Theorien darüber hinausposaunten, was Quirrell hier gewollt haben konnte.

 

Tatsächlich sollte dieses Thema sie alle die nächsten paar Tage beschäftigen, während hinter vorgehalten Hand immer mehr durchsickerte. Evelyns Vermutung sollte sich bestätigen: die Gryffindor trugen die Nachrichten in die Welt hinaus wie dressierte Eulen, besonders nach der vernichtenden Niederlage gegen Ravenclaw, dank dem untrainiertem Ersatz für Harry. Evelyn glaubte, dass sie damit von ihrem Negativrekord ablenken wollten, was sogar klappte, auch wenn Slytherin ihren Sieg bei jeder Gelegenheit feierten. Die Siegerehrung war kurz gewesen, doch Snape hatte tatsächlich ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen, als ihm Dumbledore direkt nach dem Spiel noch auf dem Platz den Quidditch-Pokal überreichte, der nun ein weiteres Jahr in Snapes Büro stehen würde.

 

Top-Thema blieb jedoch nach wie vor Quirrell. Schon bald war jedes Detail bekannt: Dass man den Stein der Weißen hier versteckt hatte, dass es verschiedene Aufgaben gab, dass Potter sich davon geschlichen hat um Quirrell aufzuhalten. Überraschenderweise war aber nie die Rede davon gewesen, dass Quirrell einen Teil von Voldemort in sich gehabt hatte. Man nahm an, Harry hätte Quirrell in eines der vielen Feuer gestoßen, statt ihn mit nur einer Berührung bis zur Unkenntlichkeit zu verbrennen. Womöglich war dies dann doch eine Information, dir vorerst unter Verschluss bleiben sollte. Evelyn war zufrieden und erleichtert auch den letzten und vielleicht wichtigsten Abschnitt des Schuljahres hinter sich gebracht zu haben, ohne für sie offensichtliche Zwischenfälle. Sie genoss, wie Dumbledore es ihnen geraten hatte, die freien Tage, die nun vor ihnen lagen. Dabei kämpfte sie eins ums andere Mal gegen ihre eigene Neugier an, kam jedoch zu dem Entschluss, dass sie es sich nun durchaus erlauben durfte ihrer Neugier nachzugeben.

 

Trotz anfänglicher Skepsis hatte sie Millicent überreden können mit ihr in den Korridor im dritten Stock zu gehen, der nun wieder für jeden frei zugänglich war. Ein Angebot, das Evelyn sofort nachkommen wollte. Fluffy war verschwunden, doch der Raum selbst, war noch da. Evelyns Herz klopfte, als sie die Hand auf die simple Holztür legte und sie aufstieß.

 

Sofort wehte ihr ein unangenehm bitterer Geruch entgegen, sodass sie es Millicent nachtat und ihr Hemd nach oben über ihre Nase zog; was nichts nutzte.

 

"Was ist das für ein widerlicher Gestank!"

 

Der Raum war groß, mit etlichen kleinen Fenstern unter den Giebel, die jedoch nicht ausreichten um den Körpergeruch von Fluffy aus dem Raum zu spülen. Er hatte beinahe ein Jahr hier verbracht, was auch einschloss, dass er sein Geschäft hier erledigte. Evelyn sah lieber nicht allzu genau in die Ecken, obwohl sie mit Sicherheit gesäubert worden waren.

 

"Schau mal, hier!", rief Millicent von der linken Seite. "Das musst du sehen."

 

Evelyn eilte zu ihr und schaute zu Boden, wo Millicent hindeutete. Im schwachen Licht erkannte sie tiefe parallel verlaufende Risse im Stein. "Das sind Abdrücke von Krallen."

 

"Die sind gigantisch." Tatsächlich waren die etwas ein Arm langen Spuren beeindruckend anzusehen, sodass man eine vage Vermutung von der schiefen Größe des Tieres bekam. Plötzlich wirkte der Raum gar nicht mehr so groß auf Evelyn und sie freute sich beinahe für Fluffy endlich hier raus zu sein. Der Hund hatte sich hier drin vermutlich kaum bewegen können.

Ihre Augen glitten über den Boden, auf der Suche nach der Falltür, doch selbst als sie den Raum einmal durchquert hatten, fanden sie nichts außer festem Stein und zurückgelassenem Heu.

 

"Sie haben sie vermutlich entfernt."

 

"Ja, vermutlich", gab Evelyn leicht enttäuscht zurück und verließ sehr zu Millicents Freude Fluffys nun völlig verwaistes Zimmer. Der Geruch hatte sich bereits in ihre Kleider gefressen, obwohl sie kaum fünf Minuten in dem Raum verbracht hatten.

Millicent wollte schon die Treppe nach unten einschlagen, als Evelyn aus einem plötzlichen Impuls heraus stehen blieb. "Geh ruhig vor, ich denke ich werde kurz in der Bibliothek vorbei schauen."

 

Unverständlich warf Millicent dir Arme über den Kopf. "Wir haben praktisch schon Ferien. Was willst du denn jetzt noch in der Bibliothek?"

 

"Willst du eh nicht wissen", gab Evelyn nur zurück und tatsächlich nickte Millicent.

 

"Hast recht. Viel Spaß."

 

Evelyn wartete einige Minuten ehe sie Millicent ein Stück nach unten folgte, dabei allerdings im ersten Stock abbog.

Vielleicht war es die Gewissheit kaum noch zwei Woche in Hogwarts verbringen zu dürfen, vielleicht aber auch das schlechte Gewissen, das sie in den Krankenflügel zog. Das schlechte Gewissen nicht verhindert zu haben, dass Harry nun bewusstlos im Krankenflügel lag und seinen ersten Kampf von vielen hatte bestreiten müssen.

 

Der Krankenflügel verbarg sich hinter einer riesigen Tür, beinahe so hoch, wie Fluffys Zimmer. Eigentlich hatte sie erwartet den üblichen Geruch nach Desinfektionsmittel und frischen Laken wahrzunehmen, der für gewöhnlich in Krankenhäusern vorherrschte. Stattdessen war sie überrascht einen süßlichen Geruch auf der Zunge zu haben, der sie vage an Erdbeere erinnerte, was ein wohltuender Kontrast zum bitteren Gestank eines Hundes war. Ehe sie genau identifizieren konnte, wonach die Luft schmeckte, rief bereits eine Frauenstimme aus einem kleinen Zimmer.

 

"Sie sind schon der Zehnte heute! Wehe Sie sind auch nur hier um Mr Potter zu sehen." Eine zierliche Dame mit spitzer Nase und fest geflochtenen Zopf erschien in der Tür, die Hände gegen den Kittel gestemmt.

 

"Leider ja, Madam Pomfrey, verzeihen Sie."

 

Kurz schüttelte sie den Kopf, ehe sie den Weg frei machte nach hinten zu den Betten. "Ich bin ja froh, wenn sich niemand verletzt, aber dies ist immer noch ein Krankenflügel, kein Gemeinschaftsraum. Beeilen Sie sich."

 

Kurz zögerte Evelyn und schielte eher verhalten an der Dame vorbei hinein in den Gang, in dem dutzende Betten standen. Sie befürchtete andere Schüler zu sehen, wobei sie in dem Fall unvollrichteter Dinge wieder gegangen wäre.

 

"Gehen Sie schon."

 

Madam Pomfrey drückte Evelyn bestimmend hinein und schloss den Vorhang, sodass man nun beinahe das Gefühl von Privatsphäre hatte.

 

Der Raum war Lichtdurchflutet, nicht nur durch große Fenster, sondern auch mit einem riesigen Kronleuchter, an dem dutzende Kerzen brannten. Besucher sah Evelyn keine zwischen all den leeren Betten. Nur ein einziger Patient war hier.

Langsam, ohne große Geräusche auf dem Steinboden zu machen, ging Evelyn auf den schlafenden Harry zu, bis sie neben seinem Bett stand.

 

Die Haare kamen ihr länger vor, als bei ihrer ersten Begegnung vor all den Monaten, und er hatte etwas fülligere Backen bekommen. Auch wenn sein Gesicht gerade übersät war mit verarzteten Schürfwunden, so sah Harry in ihren Augen gesünder aus, als je zuvor.

 

"Es tut mir so leid", flüsterte sie und strich ihm den Haare aus der Stirn, sodass die Narbe frei lag. Eine kleine Geste, die unbemerkt von Evelyn von jemandem beobachtet wurde.

 

"Geh weg von ihm!", rief eine wütende Stimme, die nicht zur Krankenschwester gehörte und die Evelyn erschrocken herumfahren ließ.

 

Starre braune Augen funkelten sie an. "Ich sagte, geh weg", wiederholte Hermine nun deutlich leiser und Evelyn konnte nichts weiter tun, als stumm zu tun, was sie verlangte. Kurz schaute sie auf den Vorhang, doch Madam Pomfrey ließ sich nicht blicken, was sie erleichtert aufatmen ließ. Auf Ärger konnte sie gut verzichten.

 

"Ich wollte ihn nur besuchen", erwiderte Evelyn beschwichtigend, als sie einige Schritte zwischen sich und Hermine gebracht hatte. Auch ihr sah man den Kampf an, mit Schürfwunden an Händen und Gesicht.

 

"Dann kannst du ja auch wieder gehen."

 

Sie hätte tatsächlich gehen können. Was sie tun wollte, hatte sie getan, doch sie blieb stumm stehen und schaute Hermine an, deren wildes Haar über ihre Schultern fiel. Es überraschte sie nicht zu sehen, wie sie ein kleines ledernes Buch bei sich trug, dessen Titel in einfachen Buchstaben unter ihren Fingern hervor lugte.

 

"Ich wollte ihm nichts Böses, Granger."

 

Quietschend schob Hermine einen Besucherstuhl zurecht, auf dem sie sich niederließ. Sie tat bereits so, als wäre Evelyn gar nicht mehr hier. Es schmerzte von Hermine derart die kalte Schulter gezeigt zu bekommen, was Evelyn versuchte herunterschlucken. Sie wusste, dass sie Hermine damals verletzt hatte und dass sie nun eine solche Behandlung verdiente. Dennoch musste sie sich nun überlegen, wie sie hier raus kam.

 

Frustriert ballte sie die Hände zur Faust, als sie sich darauf vorbereitete die nächsten Worte zu sprechen. "Nichts Böses, aber der Anblick von dem verletzten Dornröschen ist wirklich zu amüsant."

 

Sofort riss Hermine ihren Kopf herum und stand auf, das Buch hoch erhoben. Fast glaubte sie, sie wolle das Buch nach ihr werfen, doch in der Gewissheit, dass Hermine Granger niemals ein Buch derart misshandeln würde, blieb sie unbeeindruckt stehen.

 

"Verschwinde, Harris!"

 

Dieses Mal kam sie der Aufforderung nach und eilte aus dem Krankenflügel, ohne auf Madam Pomfrey zu achten, die sich wieder in ihre kleines Zimmer zurück gezogen hatte. Es wurde Zeit, dass auch sie in ihren Kerker ging. Morgen würde die Abschlussfeier abgehalten werden, und Slytherin feierte bereits den Hauspokalsieg. 

Kapitel 55 - Wunden lecken

Mit ihrem letzten Besuch im Krankenflügel war für Evelyn das Schuljahr beendet. Ihre Hauskameraden feierten euphorisch ihren Sieg über die anderen Häuser, als Stunden vor der Abschlussfeier Slytherin der erste Platz nicht mehr zu nehmen war. Noch waren die Ergebnisse der Examen nicht veröffentlicht worden, die nur wenige Tage zuvor drohend über ihren Köpfen geschwebt hatten, doch dank der Aussicht eines, in Evelyns Augen, unwichtigem Hauspokal, bewegte sich jeder einzelne mit einer Leichtigkeit und einem breiten Grinsen durch das Schloss, wo auch immer sie hingingen.

 

Es gelang Evelyn vor ihnen eine falsche Miene aufzusetzen, jubelte mit ihnen, wann immer sie über den Hauspokal sprachen oder machte Ferienpläne, die sie nicht vorhatte einzuhalten. Im Laufe des Jahres hatte sie gelernt ein falsches Gesicht aufzusetzen und ohne zu stottern zu lügen, worauf sie nicht stolz war. Die meiste Zeit jedoch verblieb sie nun in Schweigen, lächelte und nickte unter dem Vorwand müde vom Lernen der letzten Wochen zu sein. Glücklicherweise hinterfragte das niemand, was es ihr ersparte noch mehr lügen zu müssen.

 

Dass sie sich müde fühlte, entsprach sogar der Wahrheit. Ständig darauf zu achten was sie sagte, wie sie es sagte, zu wem sie es sagte, war geistig zermürbend, sodass sie das Ende des Schuljahres förmlich herbeisehnte.

 

"Was wollen wir später machen, wenn die Feier vorbei ist?", sagte Daphne mit breitem Grinsen, die Hände sorgenlos schwingend. Mit der Energie eines jungen Rehs beschleunigte sie ihren Schritt, sodass sie die anderen Mädchen überholte, nur um mit leichtem Hüpfen die Richtung zu wechseln.

 

"Schau beim Laufen bitte nach vorne." Besorgt betrachtete Millicent den abgetretenen Läufer, den Daphne nun rückwärts entlang ging. "Du fällst noch hin und brichst dir den Fuß. Das brauchen wir so kurz vor Ende nicht."

 

Daphne rollte angesichts Millicent pessimistischer Einstellung die Augen, wandte sich aber ihr zu liebe wieder um. "Das beantwortet nicht meine Frage."

 

"Die Vertrauensschüler werden sich bestimmt was einfallen haben lassen."

 

"Die zwei Flachpfeifen? Die beiden waren das halbe Schuljahr über unfähig. Ich glaube nicht, dass wir von ihnen etwas zu erwarten haben."

 

"Willst du schon wieder feiern? Ehrlich gesagt ist mein Bedarf dafür gedeckt."

 

Evelyn biss sich auf die Lippen. "Warten wir das Abschlussfest erst einmal ab", sagte sie schließlich mit erzwungener Euphorie in der Stimme. "Ich habe gehört, Potter wurde heute aus dem Krankenflügel entlassen. Vielleicht erfahren wir ja noch ein bisschen mehr beim Essen, was ihm passiert ist."

 

Ihr Versuch den Fokus auf etwas anderes als den Hauspokal zu legen verrauchte im Schein der Fackeln, die sie immer näher zur Großen Halle führten. Einige Tage war Harry Potter und sein Kampf gegen Quirrell das Gesprächsthema der Schule gewesen, doch ähnlich wie nach Halloween, verloren die Schüler in Slytherin schnell das Interesse. Man konzentrierte sich lieber auf die eigenen Errungenschaften.

 

"Ein Glück, dass er entlassen wurde. Er hat schon gefehlt, als der Schulleiter Snape den Quidditch-Pokal überreichen durfte. Wenigstens wird er Zeuge davon, wie das beste Haus der Schule wieder einmal den Sieg in die Kerker holt!" Daphnes Heiterkeit schien von nichts gebrochen zu werden. Mehr noch fühlte sich ihre Zimmergenossin in ihrer Einstellung bestärkt, als sie in eine grün leuchtende Halle eintraten.

 

Riesige Banner, die sich ohne einen Luftzug sanft bewegten, schmückten die lange steinerne Front. Auf ihnen wand sich eine silberne Schlange um ein dominierendes S. Jeder der vier Tische war bedeckt mit grünen Stoffbahnen, auf denen silberne Platten und Besteck drapiert waren.

 

"So muss eine Halle aussehen", sagte Pansy kopfnickend und auch Evelyn musste gestehen in diesem Moment ein bisschen Stolz zu fühlen.

 

Die Punktegläser thronten nun direkt hinter den Lehrern, und um die offensichtlich prall gefüllte Säule der Slytherin hing zusätzlich eine goldene Kette.

 

Bringen wir es hinter uns, dachte Evelyn, als sie ihren Platz einnahm und sich die Halle füllte.

 

"Schaut euch die Gesichter der anderen an. Das ist der beste Abend des Jahres!"

 

Evelyn folgte kurz Daphnes Worten und betrachtete einige Viertklässler am Nachbartisch, die den Kopf gesenkt hatten und mit ihren leeren Tellern spielten, legte ihre Aufmerksamkeit aber nach wenigen Sekunden wieder auf die Fensterfront, durch die das letzte Licht des Tages schien.

 

Von allen Häusern war Slytherin das erste, das vollzählig in der Halle erschienen war. Auch unter den Lehrer war Snape als einer der ersten am Lehrertisch aufgetaucht, setzte sich vor die Säule voller Smaragde und nahm gelegentlich Glückwünsche entgegen; ein Zeichen dafür, dass niemand aus dem Kollegium auch nur erahnte, was Dumbledore vorhatte. Zwar lächelte er, während Professor Flitwick ihm mit einem Nicken und einem Handschlag zum Sieg gratulierte, doch Evelyn konnte sich vorstellen, dass es ihm nicht viel bedeutete. Der wahre Sieg und die eigentliche Genugtuung für ihn würden es sein von den Gryffindors, die die Schule leiteten, den Pokal überreicht zu bekommen.

 

Unter dem Tisch knetete Evelyn ihre Hände. Es war gar nicht die Aussicht den Pokal zu verlieren, die sie nervös machte, sondern eher die Gewissheit, wie enttäuscht ihre Kameraden sein würden.

 

Als Dumbledore sich erhob, den Pokal direkt vor sich in all seiner Schönheit, konnte Evelyn nicht anders, als ihren Blick abermals zu senken.

 

"Jetzt geht's los!", hörte sie Millicent noch sagen, als ihre Worte im lauten Klatschen der Schüler unter ging, die nur von Dumbledore zur Ruhe gebracht werden konnten.

 

Wie schon vor einigen Tagen trat er nach vorne. "Bevor ihr euch das köstliche Essen schmecken lasst, habe ich die Freude noch einige Worte an euch zu richten. Was für ein aufregendes Jahr haben wir hinter uns!" Gemurmel und Gelächter wurde laut, worin Evelyn jedoch nicht einstimmen konnte. Dumbledores fröhlicher Ton wollte nicht so recht passen und auch seine Definition von aufregend war in ihren Augen eher fragwürdig.

 

"Bevor wir euch in eure wohlverdienten Ferien schicken, dürfen wir den Hauspokal überreichen, dessen Punkte wie folgt stehen: auf dem vierten Platz, Gryffindor mit 312 Punkten!"

 

Seufzend rieb sich Evelyn die Augen, da jedes Wort ihre Wut im Inneren schürte. Ihn anzusehen, wie er sie freudig anstrahlte, hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Sie beließ es dabei, dass sie klatschte, wann immer die anderen klatschten, dass sie anerkennend nickte, wann immer der Name eines Hauses fiel; und irgendwie schaffte sie es sogar zu lächeln, als das ihre genannt wurde.

 

"Slytherin! Slytherin!", jubelte Blaise kaum zwei Sitze weiter, wobei er beinahe seinen Kelch umgestoßen hätte, als Dumbledore erneut das Wort erhob.

 

"Ein gutes Ergebnis, für das sich niemand zu schämen braucht. Allerdings müssen die jüngsten Ereignisse berücksichtigt werden."

 

Er machte eine kurze Pause, in der die Stille sich schwer auf Evelyns Schultern legte. Nervös griff sie zu ihrem eigenen Kelch um den Kloß in ihrem Hals mit bitterem Kürbissaft hinunterzuspülen. Ihre Hand behielt sie am Kelch.

 

"Was ist denn jetzt? Was meint er?", flüsterte Millicent, als Dumbledore noch immer nicht sprach, sondern stattdessen sich seinen Weg um den Tisch suchte und nun direkt vor den irritierten Schülern sprach.

 

Evelyn beantwortete ihre Frage nicht, sondern schüttelte, den Blick auf den Teller gerichtet, nur den Kopf.

 

"Bevor ich den Pokal an den Gewinner verteile, habe ich noch einige letzte Punkte zu vergeben."

 

Daphne riss die Augen auf. "Punkte? Das Schuljahr ist vorbei!"

 

"Zunächst, an Mr Ronald Weasley, für das beste Schachspiel, wie es Hogwarts seit Jahren nicht gesehen hat: 50 Punkte."

 

"Was hat er gesagt?"

 

"Nein, nein, was macht er denn? Wieso bekommen die Punkte!"

 

Blaise Einspruch ging im Klatschen der Gryffindor beinahe unter. Neben Slytherin, sahen Hufflepuff und Ravenclaw ähnlich verwirrt aus.

 

"Zweitens, an Miss Hermine Granger, für ihre beeindruckende Logik auch in Zeiten der Not: 50 Punkte!"

 

"In Zeiten der was? Das macht überhaupt keinen Sinn!"

 

"Schon wieder 50 Punkte!"

 

"Darf er das überhaupt? Das darf er doch gar nicht!"

 

Vincent und Gregory schauten beide zu Draco, der als einziger neben Evelyn noch nichts gesagt hatte, sondern ebenfalls nur still Dumbledore fixierte.

 

Nicht nur die Erstklässler wechselten nervöse Blicke. Überall am Slytherin Tisch richtete man sich Hilfe suchend an den Nachbarn, und die ersten begannen schon besorgt zu zählen. Das Flüstern erstarb, als der Schulleiter erneut die Arme hob. Man sah ihm an, dass er noch nicht fertig war.

 

"Drittens, an Mr Harry Potter, der überragenden Mut im Angesicht größter Gefahr bewiesen hat: 60 Punkte."

Das plötzliche Geschrei hallte in Evelyns Ohren.

 

"Der kann Gryffindor doch nicht einfach 160 Punkte geben? Das ist unfair!"

 

"Sind wir noch erster?"

 

"Wie viel Punkte haben sie?"

 

Sie spürte eine Hand an ihrer Schulter und lehnte sich zu Millicent, die sie mit großen dunklen Augen schockiert ansah.

 

"Er lässt Gryffindor gewinnen."

 

Millicents Vorahnung würde sich bewahrheiten, doch noch ehe Evelyn nicken konnte, gab Dumbledore ihnen den letzten Stich.

 

"... in den Weg zu stellen. 10 Punkte, an Mr Neville Longbottom."

 

Der Gryffindor-Tisch war nicht mehr zu halten, während nicht wenige Slytherin die Köpfe vergruben, kaum dass Dumbledore zu Ende gesprochen hatte. Daphne schlug fassungslos und völlig sprachlos ihre Hand vor den Mund, während selbst Zabini das Lächeln verging. Es war genau dieser Anblick, der Evelyn in der Nacht auf heute den Schlaf geraubt hatte.

 

Sie alle wirkten durcheinander und überfordert mit der Situation, die sich vor ihren Augen abspielte. Besonders Millicent blinzelte verstört aufsteigende Tränen weg. "Wir haben so hart gelernt. Sprout hat mir sogar Punkte gegeben. Das Schuljahr ist doch vorbei." Ihre Stimme wurde immer dünner, je mehr sie sprach.

 

"Das ist nicht das Ende der Welt, Millicent", sagte Evelyn, den Arm tröstend um ihre Freundin gelegt. Gleichzeitig verdeckte sie Millicents Sicht, damit sie nicht sehen musste, was nun folgte.

 

Ein Stoß ging durch die Halle, als sich vor ihnen die Banner einrollten, nur um in roter Pracht und brüllenden Löwen zu erscheinen. Entsprechend wechselten auch die Stoffbahnen auf den Tischen ihre Farbe, und das Besteck glänzte nun strahlend golden.

 

Evelyn begann zu flüstern, wurde dann aber von Dumbledores fester Stimme unterbrochen. "Gryffindor gewinnt-"

 

"Gryffindor gewinnt den Hauspokal!"

 

Ein Großteil der Schülerschaft jubelte nun, lauter als noch eben bei Slytherins Verkündung. Jeder hier außer den Slytherin selbst gönnte Gryffindor den Sieg.

 

Draco schob stumm seinen Teller mit einem Stück der Stoffbahn von sich, das Gesicht zur Fratze verzerrt. Er musste nicht sprechen damit die anderen wusste, was er dachte. Jeder dachte in diesem Moment ohnehin dasselbe.

 

Der Geruch frischen Essens drang in ihre Nase, was ihren Magen nur rebellieren ließ. Niemand dachte daran zu essen, stattdessen wurde der Wunsch einfach aufzustehen und zu gehen immer größer. Es wunderte sie daher nicht, dass einige der älteren Schüler nach kurzer Zeit ohne einen Blick zurück zu werfen aus der Halle verschwanden.

 

"Millicent, reiß dich zusammen!", fuhr sie Pansy an. "Benimmt dich nicht wie ein Kind."

 

Unter ihrer Umarmung spürte sie, wie Millicent zusammen zuckte nach Pansy harschen Worten, für die Evelyn sie enttäuscht ansah.

 

"Das ist unnötig", verteidigte sie Millicent, ging aber nicht darauf ein, wie Pansys eigene Stimme verdächtig heiser klang.

Nach kurzem Blick hinauf zu den Lehrern, wo McGonagall gerade den Pokal entgegen nahm, wandte auch Draco sich ab, um die Halle zu verlassen, gefolgt von Vincent und Gregory. Es erstaunte Evelyn, wie wenig er bisher zu der Sache zu sagen hatte. Ähnlich überrascht war sie als sie im Augenwinkel sah, wie steif McGonagall den Pokal zurück an ihren Platz trug und ihn eher unachtsam dort abstellte. Ihr eigener Hauslehrer saß stoisch da ohne sich zu rühren oder Anstalten zu machen seiner Kollegin zu gratulieren. So wie Evelyn das einschätzte, erwartete Professor McGonagall auch keine Glückwünsche.

 

"Willst du gehen?", fragte sie Millicent leise, die langsam den Kopf hob und sich die Haare aus dem Gesicht wusch, die dort klebten.

 

"Nein", ihr Blick ging zu den unzähligen Slytherin, die mit neutraler Miene von ihren goldenen Tellern aßen. "Nein, das bisschen Würde werden sie uns nicht nehmen."

 

Stumm straffte sie sich und nahm sich in einstudierten Gesten etwas vom Essen, das weniger außergewöhnlich war, als es Evelyn eigentlich von ihr gewohnt war: Keine Pfefferminzdrops in der Soße, kein Kartoffelbrei mit Kürbissaft oder Traubenpastete.

 

Ihr gegenüber reichte Pansy Daphne etwas von dem marinierten Hühnchen und nahm sich selbst etwas vom Quark. Evelyn glaubte, dass keiner von ihnen Appetit hatte, doch nach kurzem zögern griff sie zum Quark, den Pansy ihr stumm entgegen hielt, um sich Löffel für Löffel in den Mund zu schieben. Sie würden das Festmahl beenden; das Festmahl für Gryffindor und seine Helden.

 

Bis zum Dessert hielten sie aus, während kaum einer von ihnen ein Wort sprach. Nur Blaise versuchte ab und zu die Stimmung zu verbessern mit Kommentaren wie: "Sollen sie den Pokal haben, wir haben den Quidditch Pokal!" und "Jeder hier weiß, dass der Pokal eigentlich uns gehört."

 

Jedes Mal stimmte Evelyn ihm zu, nickte eifrig und versicherte ihnen, dass der Verlust des Pokals kein Untergang war, doch sie sah den anderen an, wie wenig diese Worte wirklich nutzen. Den Pokal wegen mangelnder Anzahl an Punkten zu verlieren war eine Sache. Doch zuvor eine komplett geschmückte Halle zu sehen, mit dem Ergebnis im Blick und dem Sieg in fester Hand, war niederschmetternd. Für Evelyn kam das nicht überraschend und viel bedeutet hatte der Pokal ihr nie. Dass sich einige Schüler jedoch verraten und gedemütigt fühlten, war für sie mehr als verständlich.

 

Als die letzte Gabel der süßen Mousse vom Teller gegessen war, vergeudeten sie keine Zeit und marschierten hinaus; einer nach dem anderen verschwand, bis kein Schüler am Slytherin Tisch übrig war. Als auch der letzte aus der Tür gegangen war, stand Professor Snape auf, sein Essen kaum angerührt, nickte knapp in Richtung Schulleiter und folgte seinen Schülern hinunter in die Kerker.

 

Der Gemeinschaftsraum kam ihr abermals vor wie ein sicherer Hafen, wo alle die Masken fallen lassen konnten und vor allem ihrer Wut Luft machten.

 

"Er hat uns vorgeführt wie einfältige Pixies!"

 

"Soll er seinen Gryffindor doch gleich den Pokal geben, wozu sich die Mühe machen es wie ein Wettkampf aussehen zu lassen?"

 

"Wofür haben wir uns angestrengt?"

 

"Snape hätte etwas sagen sollen."

 

Seufzend kämpfte sich Evelyn mit Millicent an der Hand einen Weg durch die Menge. Klar hätte er etwas sagen können, aber der ist lange genug hier um zu wissen, dass man Dumbledore nicht anzweifelt.

 

"In Gryffindor gibt es jetzt wohl eine große Feier", sagte Daphne, während sie einen Schüler schubste um endlich einen Schritt nach vorne machen zu können. "Sollen sie doch feiern, verdient haben sie es nicht."

 

"Haben sie wirklich nicht", meinte Pansy, "die Punkte waren völlig unverdient. So wie ich das verstanden habe, habe sie sogar gegen die Regeln verstoßen."

 

"Pah, ein Potter verstößt nicht gegen Regeln. Ein Potter macht die Regeln."

 

Evelyn lächelte zum ersten Mal an diesem Abend mit ehrlichen Absichten. "Vorsicht, du klingst wie Draco."

 

"Ist doch wahr", murmelte Daphne. Sie gab es auf zu versuchen zum Schlafsaal zu kommen und ließ ihre Hände resignierend fallen. "Hier geht's nicht weiter. Ich will einfach nur ins Bett, Merlin nochmal."

 

Müde war keiner von ihnen, aber jeder hatte einen Punkt erreicht, an dem sie niemanden sehen und hören wollten. Trotzdem waren sie hier versammelt und protestierten, um sich ein wenig Linderung zu verschaffen.

 

Ein kalter Schlag durchschnitt den Lärm und ließ beinahe umgehend alle verstummen. Die Schritte ihres Hauslehrers waren zu hören wie er zu ihnen kam, das Gesicht völlig neutral. Evelyn hob überrascht die Augenbrauen, die hatte nicht erwartet ihn heute oder überhaupt während der letzten Tage zu sehen.

 

"Die Ereignisse des heutigen Abends sind nicht schön zu reden", begann er und Evelyn fühlte sich an den Beginn des Schuljahres erinnert. "Seien Sie versichert, dass ich nicht von unserem Schulleiter informiert worden bin, dass er –"

 

"Dass er seine Gryffindor den Hintern küsst?", rief ein älterer Schüler, was einige erschrocken einatmen ließ. Nicht, weil er schlecht über Dumbledore geredet hatte, sondern weil er Snape unterbrochen hatte.

 

"Das Schuljahr mag vorbei sein, Mr Evermonde, und der Pokal bedauerlicherweise in den Händen der Gryffindor, doch ich werde keine Respektlosigkeit erlauben."

 

Millicent schluckte hörbar neben Evelyn, die eher ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen hatte. Snape kann keine Punkte abziehen, und schon werden sie aufmüpfig.

 

"In meinen Augen", fuhr er unbeeindruckt vor, "hat Slytherin wieder einmal ein erfolgreiches Jahr hinter sich, mit beeindruckenden Ergebnissen."

 

"Hat er uns gerade gelobt?", flüsterte Daphne, bekam aber als Antwort von jedem nur ein Schulterzucken.

 

"Ich erwarte von jedem von Ihnen, den heutigen Abend hinter sich zu lassen; nicht ihn zu vergessen, aber mit erhobenen Hauptes diese Schule verlassen. Erinnern Sie sich daran wer Sie sind und richten Sie Ihre verständliche Wut auf das nächste Schuljahr. Ich verlange von Ihnen, dass Sie beweisen, wer das ehrenhafte Haus ist. Gewöhnen Sie sich daran, dass Sie sich mehr als andere stets aufs Neue beweisen müssen." Einige Sekunden ließ er seine Worte wirken, ehe er ihnen den Rücken zu kehrte und verschwand.

 

"Sollen das aufmunternde Worte gewesen sein? Ich glaube nicht, dass das aufmunternde Worte waren."

 

Pansys Irritation war verständlich, Evelyn glaubte aber zu wissen, dass Snape vermutlich auf seine Weise versucht hatte die Schüler zu ermutigen. Vielleicht hat er es nicht geschafft die Enttäuschung zu lindern, aber immerhin war Ruhe in den Raum eingekehrt, da alle nun still den Nachbar betrachteten.

 

Er hatte recht, so sagten schließlich viele. Geschehen war geschehen und im Selbstmitleid zu versinken brachte sie nicht weiter, egal wie wütend und traurig sie waren. Trotzdem hatte niemand hier während der übrigen Zeit im Schloss einen Sinneswandel.

 

Man fluchte in eigenen Gemächern über die Ungerechtigkeit und wie man sie behandelt hatte, doch außen auf den Gängen und den Ländereien zeigten sie stoische Ruhe, wie Snape es von ihnen verlangt hatte. Die jüngeren unter ihnen bevorzugten es nur dann den Gemeinschaftsraum zu verlassen, wenn es verlangt war und so war es an den älteren Schülern Slytherin zu repräsentieren. Eine Bürde die sie stumm akzeptierten und es hinnahmen, dass die ersten Klassen ihre Zeit mit Koboldstein, Schach oder Karten im Schutz des Gemeinschaftsraumes verbrachten.

 

Als der Tag der Examensergebnisse kam, konnte sich jedoch niemand mehr verstecken. Einzeln würden sie in Snapes Büro gehen, das Zeugnis, wie Evelyn es stumm nannte, entgegen nehmen, und dann wieder verschwinden. Für jeden wäre es kaum eine Sache von einer Minute. Doch Evelyn vermutete, dass sie nicht einfach den Zettel nehmen und gehen durfte. Snapes Ultimatum war mit Dumbledores Eingriff abgelaufen und noch hatte sie keine Nachricht von ihm erhalten. Sie erwartete, dass er die Zeugnisübergabe dafür nutzen würde, seine Strafe, von der Evelyn eine gute Vorstellung hatte, auszusprechen. Ihr einziger Trost war, dass sie als Erstklässlerin zur ersten Gruppe gehörte und man ihr dadurch gnädigerweise eine längere Wartezeit ersparte.

 

"Ich bin überall durchgefallen", sagte Daphne, das Gesicht mit den Händen bedeckend. "Ich weiß es, ich bin überall durchgefallen."

 

Evelyn hatte dieses Gespräch in letzter Zeit zu oft geführt, weshalb sie nur kraftlos die Augen

rollte. "Niemand wird durchfallen, beruhig dich."

 

"Flitwicks Frage zur richtigen Zauberstabpflege hab ich gar nicht beantwortet!"

 

"Doch hast du, du hast danach beim Essen mit Pansy verglichen welches Wachs man nehmen kann."

 

Daphnes Augen schossen zu Pansy so als suchte sie Bestätigung, doch die sah ähnlich hilflos aus. Millicent war in Snapes Büro verschwunden und würde als erste ihr Zeugnis erhalten. Währenddessen hatten sich die restlichen Erstklässler im Gang versammelt und gingen unterschiedlich mit dem Druck um.

 

Die Tür ging auf und eine ausdruckslose Millicent erschien, einen gefalteten Pergamentbogen in Händen.

 

"Bestanden", sagte sie schwach, wirkte aber nicht völlig zufrieden.

 

"Zeig her!", forderte Daphne, während Vincent nun sein Zeugnis in Empfang nahm.

 

Über Daphnes Schulter warf auch Evelyn einen Blick auf den Inhalt. Jedes Fach hatte eine eigene Wertung in einer Prozentzahl, manchmal sogar zwei, falls es zusätzlich eine praktische Prüfung gab. Zugegeben, kein Wert lag über 70%, mit Verteidigung als ihr bestes Fach, aber sie hatte überall bestanden.

 

"Gut gemacht", sagte Evelyn lächelnd, stolz auf Millicents Leistung, und widerstand dem Drang ihr über das Haar zu fahren.

 

"Vinc!", rief Blaise, die Hände erhoben, als die Tür sich erneut öffnete. "Und?"

 

Im Gegensatz zu Millicent freute sich Crabbe über jedes Ergebnis, das auch in Evelyns Augen nicht das Beste war. Für ihn zählte es, ebenfalls bestanden zu haben und Evelyn entschied, dass sie wohl nicht mehr erwarten konnte.

 

Weiß wie ein Laken erhielt auch Daphne ihr Zeugnis, das sich durchaus sehen lassen konnte, gefolgt von Goyle, bis Evelyn an der Reihe war.

 

Das Bild von Snapes Büro hat sich kaum verändert, allerdings prangte hinter ihm im Regal nun nur noch einer der ehemals zwei Pokale, was Evelyn versuchte zu ignorieren. Sie konzentrierte sich auf ihren Hauslehrer, der hinter seinem Büro auf sie wartete; ihr Zeugnis, wie sie vermutete, lag bereits vor ihm. Einen Stuhl, gab es abermals nicht.

 

"Professor", sagte sie knapp zur Begrüßung, als sie vor ihm stand. Ein wenig stieg nun doch die Nervosität in ihr hoch, sodass sie die Hände hinter den Rücken nahm und sie dort außerhalb von Snapes Sichtfeld knetete.

 

"Miss Harris", erwiderte er und hielt ihr kommentarlos den Pergamentbogen hin. "Schicken Sie Mr Malfoy herein, wenn Sie die Tür hinter sich schließen."

 

Sie reagierte nicht sofort, sondern schaute zunächst nur auf den Bogen, und dann wieder zu ihrem Hauslehrer. Dieser hielt einige Sekunden ihren fragenden Blick, ehe er ungeduldig mit den Fingern wackelte.

 

"Ich werde Ihnen keine Einladung geben."

 

Sie nahm die Hände wieder nach vorne, da sie sich mehr und mehr dumm vorkam. Eilig griff sie nach ihrem Zeugnis, hielt es aber ungeöffnet vor sich. Sie erwartete nun eine Rede von ihm zu hören, oder eine knappe Aussage, wie sie es nicht geschafft hatte seine Anforderungen zu erfüllen und wie ihre einfältigen Versuche schnell an Geld zu kommen ihnen den Pokal gekostet hatten.

 

Nichts dergleichen kam jedoch aus Snapes Mund. "Brauchen Sie eine Erlaubnis mein Büro zu verlassen? Erlaubnis erteilt." Ich bekomme eine Erlaubnis aber keine Einladung; wie großzügig.

 

Kurz runzelte Evelyn verwirrt die Stirn, senkte dann aber den Kopf, damit er ihr die Unsicherheit nicht ansah. Ein Teil in ihr sagte ihr das Büro so schnell wie möglich zu verlassen, ein anderer Teil schrie, frustriert darüber derart abgefertigt zu werden.

"Es tut mir leid, dass wir den Hauspokal nicht gewonnen haben", platzte es aus ihr heraus, ihre Wut vorsichtig hinter neutraler Miene versteckt. Sie bemühte sich, nicht auf das Regal hinter Snape zu achten, aus dem Augenwinkel sah sie dennoch den leeren Raum, den der Pokal dort hinterlassen hatte.

 

Eher gelangweilt von ihrer plötzlichen Aussage, lehnte sich in seinem Sessel zurück und ließ die Arme auf den Lehnen liegen. "Ihnen tut es leid; die Ehre dieses Hauses ist wiederhergestellt." Evelyn war überrascht, dass er nicht verächtlich die Nase gerümpft hatte, während er sie verspottete. "Glauben Sie Ihr Bedauern über den Verlust bedeutet irgendjemandem etwas? Für so naiv habe ich Sie nicht gehalten."

 

Sie entschied, dass sie sich das nicht länger anhören musste. Nach ihrem eigenen Rauswurf würde sie nicht betteln. "Sie wollten Malfoy als nächstes sehen, Sir? Ich schicke ihn sofort herein." Eigentlich hätte sie sich verabschieden müssen, doch sie schaffte noch nicht einmal ein Nicken, während sie noch ehe sie ausgesprochen hatte den Weg zur Tür eingeschlagen hatte. Ihre Hand war noch nicht an der Klinke, als ein Schlag sie inne halten ließ.

 

"Mitleid und Bedauern bringen Sie nicht weiter. Es bedeutet niemandem etwas, wie Sie oder jemand anderes sich fühlen. Bedauern ist nur ein Mittel um das eigene schlechte Gewissen zu besänftigen." Sie müssen es ja wissen.

Evelyn hatte das Gefühl, die Worte die sie dachte stünden in neonbunten Farben auf ihrer Stirn, als sie sich zu ihm drehte. Er saß noch immer an Ort und Stelle, die Hand flach auf dem Tisch.

 

"Bei allem Respekt, Sir, ich bin anderer Meinung."

 

"Sind Sie das? Haben Sie sich nicht eben für den Verlust des Pokals entschuldigt, weil Sie während dieses Schuljahres fahrlässig die Leistungen Ihrer Mitschüler und damit Slytherin selbst beeinträchtigt haben?" Er nahm den Arm vom Tisch und faltete die Hände vor sich. "Möglicherweise derart beeinträchtigt, sodass es diesem Haus den Sieg gekostet hat? Das schlechte Gewissen hängt an Ihnen wie Horklumpe auf Moos."

 

Sein Blick forderte eine Antwort auf diese einfache Frage, die sie ihm nicht geben würde. Ihre Mundwinkel zuckten als ihr klar wurde, dass ihre Antwort ein Ja gewesen wäre. "Wäre Slytherin vor der Abschlussfeier auf Rang 2 gewesen, wären Sie und Ihr Ego wegen Beeinträchtigung Lernwilliger und widerrechtlichen Geschäften zur eigenen Bereicherung schon längst mit dem Zug nach Hause gefahren."

 

Mit jedem seiner Worte verstärkte sich ihr Griff um den Pergamentbogen, dessen Gewicht ihr nun unnatürlich schwer vorkam. Gleichzeitig konzentrierte die sich auf das Gefühl festen Papiers in ihren Fingern, um sich selbst davon abzuhalten etwas zu erwidern; und sie hätte einiges, das sie gerne gesagt hätte. Lass es, das ist es nicht wert, sagte sie sich.

 

"Seien Sie froh dieses Zeugnis erhalten zu haben." Als würde er einen Diener entlassen, wedelte er mit der Hand und wandte sich ab. "Es warten noch andere, also verschwinden Sie."

 

Sie hatte kaum Zeit zu verarbeiten, was er ihr gesagt hatte, als sie mit einem Ruck die Klinke umlegte und aus dem Büro stolperte, direkt in die Arme der anderen, die bereits ungeduldig gewartet hatten.

 

"Draco, er wartet", sagte sie neutral, ohne auf die fragenden Blicke von Daphne und Millicent zu reagieren.

"Du warst ewig da drin!"

 

"War ich das?" Eine Übertreibung, wie Evelyn fand. Es konnten nicht mehr als fünf Minuten gewesen sein.

 

"Ist etwas mit deinen Noten?"

 

"Hast du Probleme?"

 

Probleme? Einige. Evelyns Blick schweifte von einem Mädchen zum anderen, die jeweils sie und schließlich das Pergament in Evelyns Hand besorgt anstarrten. Im Moment hätte sie nichts lieber getan als sich zurück zu ziehen und darüber nachzudenken, was gerade in seinem Büro passiert war. Stattdessen gab sie den neugierigen Blicken um sie herum nach und faltete das Pergament auf.

 

"Sag schon, hast du Probleme?", drängte Pansy, während sie Evelyns Oberarm beinahe unsanft drückte. Blaise kam auf sie zu und spickte mit Evelyn auf ihr Zeugnis.

 

Millicent schlug die Hand vor den Mund. "Du bist doch nicht durchgefallen, oder? Merlin, lass sie nicht durchgefallen sein."

 

In Blaise' Gesicht breitete sich ein Grinsen aus, was Evelyn nicht bemerkte. Als Evelyn die erwartet schlechten Werte für Zauberkunst und Verwandlung sah, seufzte sie schwer, war aber nicht enttäuscht. Sie war über dem geforderten Mindestwert, was mehr als genug für sie war und was sie wohl ihren schriftlichen Prüfungen zu verdanken hatte, die einiges ausgeglichen hatten. Der Rest war in Ordnung.

 

"Ich bin nicht durchgefallen", sagte sie schließlich, sehr zu Millicents Erleichterung.

 

Auch Daphne wirkte nun ruhiger. "Gut, ich brauche deine Hausaufgaben nächstes Jahr nämlich noch."

Evelyns Kopf schoss hoch. "Meine was?" Nach dem Gespräch mit Snape, war Hausaufgaben zu teilen das letzte, woran sie dachte. "Daphne, ich werde meine Hausaufgaben nicht mehr weitergeben. Du hast gesehen, wozu das führt."

 

"Alles was ich gesehen habe, war ein holpriger Start. Ich finde, das hat ganz gut geklappt, man muss nur hier und da etwas verbessern."

 

"Ich sag dir eine Verbesserung: mach deine Hausaufgaben selbst, Daphne Greengrass." Sie hatte weitaus bevormundender geklungen, als sie gewollt hatte. Gerade als Daphne etwas erwidern wollte, kam Draco, das Zeugnis triumphierend in Händen erhoben, zu ihnen.

 

"Bestnoten. Wie sieht es aus, Harris. Was kannst du anbieten?" Ganz und gar nicht bescheiden präsentierte er ihnen seine Werte, die tatsächlich alle über 80% lagen und ihm bewundernde Blicke einbrachten.

 

Ein nagendes Gefühl in ihrem Hinterkopf verriet, dass sich Kopfweh anbahnte. Nun ihre jeweiligen Ergebnisse zu vergleichen, gehörte nicht zu ihren Prioritäten. Tatsächlich wusste sie im Moment überhaupt nicht, wo ihre Prioritäten lagen.

 

"Ich bin zufrieden. Reicht dir das als Antwort?" Neben Evelyn hob Blaise die Augenbrauen, schwieg aber, während sich Pansy nun auf den Weg machte.

 

"Doch so schlecht, naja, kann nicht jeder ein Naturtalent sein. Du hättest eben nicht deine Zeit damit verschwenden sollen den anderen zu helfen und stattdessen selbst lernen sollen."

 

Hinter Draco sah sie, wie Crabbe beschämt den Kopf senkte und sein Zeugnis beinahe völlig zerdrückte. "Ich würde es wieder tun, Draco", sagte sie mit Blick auf Crabbe, der sie knapp anlächelte. Leider wertete Daphne Evelyns Aussage anders, als es Evelyn gemeint hatte.

 

"Schön das zu hören. Ich habe schon eine Idee, wie wir das im nächsten Schuljahr anstellen werden. Zugegeben, stupides Abschreiben war nicht sehr effektiv."

 

Kraftlos schüttelte Evelyn den Kopf, hatte aber nicht den Willen sich Daphne jetzt in den Weg zu stellen. Das würde drei Monate Zeit haben.

 

"Bestanden!", rief Pansy euphorisch, als sie und Blaise die Plätze tauschten. Glücklicherweise war er der letzte, sodass sie bald hier verschwinden konnten.

 

Sie brauchte eine ruhige Minute, in der sie sich klar werden konnte, dass es für sie ein nächstes Schuljahr gab.

 

Hogwarts war wie ein zweischneidiges Schwert für sie. Auf der einen Seite liebte sie jede Minute, jede Stunde, jeden Moment, den sie in diesem Schloss verbringen durfte. Auf der anderen Seite machte ihr der psychologische Druck ständig darauf zu achten nichts falsch zu machen, nicht zu viel zu tun, nichts durcheinander zu bringen schwer zu schaffen. Am schlimmste war jedoch das Schweigen.

 

"Jawohl", rief Blaise beinahe aus dem Büro tanzend. "Familienehre gerettet, würde ich sagen. Flitwick muss ziemlich begeistert von dem Tango meiner Ananas gewesen sein."

 

"Deine Mutter wird stolz sein", sagte Evelyn aufrichtig an Blaise gerichtet, dem sie die gute Note in Zauberkunst gönnte.

 

"Nicht so gut wie du in Tränke, aber ich denke, sie wird zufrieden sein", sagte Blaise schelmisch mit seinem Zeugnis wedelnd, so als habe er nur darauf gewartet das Thema anzusprechen. Evelyn hatte kaum Zeit die Augen zu schließen, als sowohl Draco als auch Pansy erschrocken zu ihr schauten.

 

"Zaubertränke? Was hast du in Zaubertränke?"

 

Die Lippen gespitzt, überkreuzte sie defensiv die Arme vor der Brust. Als Blaise erkannte, dass Evelyn nicht antworten würde, übernahm er das für sie.

 

"Sie hat 93%."

 

Dracos Miene entgleiste ihm für einige Herzschläge, bis er sich genauso schnell wieder fing. "Beeindruckend."

 

Im Gegensatz zu ihm, war Millicent weniger eisig. "Du hast wie viel?! Wieso hast du das nicht gesagt?"

 

Weil ich gerade nicht an Tränke denken will. "Mir war nicht klar, dass das so von Interesse ist."

 

"Warst du deshalb so lange im Büro? Wollte er wissen wie du geschummelt hast um diesen Wert zu erreichen?"

 

Ohne auf Dracos Provokation einzugehen, wandte sie sich an die Mädchen. "Können wir gehen, bitte?"

 

Ihnen allen sah Evelyn an, dass sie noch Fragen hatten, dennoch nickten sie und sie machten sich auf den kurzen Weg hinter sich zu bringen. Falls Evelyn angesprochen wurde, bemerkte sie es nicht, da sie kaum, dass sie begonnen hatten zu laufen, in Gedanken versank.

 

Von Snape als Egoist bezeichnet zu werden, war weitaus schmerzhafter, als Dracos Anschuldigung sie hätte geschummelt. Letzteres konnte sie mit Sicherheit verneinen, während sie keine klare Antwort für den ersten Vorwurf hatte. Der Gedanke im nächsten Jahr, von dem sie bis heute Morgen noch gedacht hatte es woanders als in Hogwarts zu verbringen, erneut mit ihren Hausaufgaben zu handeln, erschien ihr absurd. Daphne war anderer Ansicht, aber Evelyn würde sich nicht den Vorstellungen eines Kindes fügen.

 

Ihre verbliebenen Tage verbrachte Evelyn wie in Trance, in denen sie nun all ihre Pläne, die sie bis hierher gemacht hatte, über den Haufen warf. Sie musste neue Pläne machen, sich abermals Gedanken machen, wie sie das nächste Schuljahr überstehen würde. Gleichzeitig hallten Snapes Worte stets in ihren Gedanken. Wäre Slytherin auf Rang 2 gewesen, hatte er gesagt, was eine einfache Bemerkung gewesen war, für Evelyn jedoch so viel mehr bedeutete. Sie wäre verwiesen worden, wenn es nach Snape ging, wenn Slytherin am Ende nicht in der Wertung ganz oben gestanden hätte. Noch wusste sie nicht, ob sie dankbar über den Umstand war, oder nicht. 

 

Eher emotionslos stieg sie daher am Gleis aus und verabschiedete sich von den anderen, während sie Ollivander entgegen ging, der wie schon zuvor an Weihnachten mit einem warmen Lächeln auf sie wartete.

Kapitel 56 - Ein lustiges Stelldichein

 

Die Aussicht aus Ollivanders Fenster hatte sich nicht verändert, wenn man von den wechselnden Schaufenstereinrichtungen der anderen absah. Sie hatte ihn gefragt, ob sie ebenfalls den Eingangsbereich dekorieren sollte, was Ollivander lachend abgelehnt hatte. "Es sind Zauberstäbe", hatte er gesagt. "Soll ich Puppen aufstellen, die meine Stäbe anpreisen? Welch groteske Vorstellung."

 

Zugegeben, es war nicht der beste Einfall, allerdings ging es Evelyn weniger um die Idee, als darum sich zu beschäftigen. Ihr kleiner Körper und kindliches Erscheinen war in Hogwarts weniger hinderlich, hier jedoch, wo sie versuchte Ollivander wo auch immer er sie benötigte zu helfen, verfluchte sie ihre kurzen Arme und Beine. Einen Monat war sie nun schon zurück in der Winkelgasse und hatte kein einziges Mal ihre normale Gestalt angenommen; auf Ollivanders Rat hin. Man durfte sie nicht anders als in der Form seiner Enkelin sehen, was Evelyn zwar störte, gegen das sie aber nicht protestierte.

 

Die erste Woche war hart gewesen nicht ständig frustriert zu schreien. Bis zu ihrer Zeugnisübergabe hatte sie geglaubt den kleinen Körper bald hinter sich lassen zu können. Dass dies nun doch anders war, hatte sie etwas aus der Bahn geworfen. Eher widerwillig hatte sie sich daran gesetzt erneut zu brauen, erneut einen Vorrat anzulegen und diesen in ihrem Zimmer zu lagern.

 

"Evelyn", hörte sie Ollivander sagen, der hinter ihr erschienen war. Heute war er ausnahmsweise nicht über und über mit Sägespäne und Staub bedeckt.

 

"Mr Ollivander, verzeihen Sie, ich war in Gedanken."

 

Er lächelte sie an, während er mit einer Hand in seine Werkzeugtasche griff. "Das habe ich gemerkt, Sie waren ja kaum ansprechbar. Bedrückt Sie etwas?"

 

Einiges, ging es ihr durch den Kopf. "Mir fehlt etwas Beschäftigung", sagte sie. Wie um ihre Worte mehr Wahrheit zu geben, halten sie in dem leeren Laden von Ollivander, der genauso unbenutzt blieb, wie sie sich fühlte. Die meisten hatten bereits die Zauberstäbe für ihre Kinder gekauft, weshalb sowohl Ollivanders als auch Evelyns Tage nun weitaus ruhiger waren.

 

Er deutete mit seiner Hand nach hinten. "Kommen Sie, ich merke doch, dass Sie etwas belastet. Nonna Laverna hat Gebäck hier gelassen, unterhalten wir uns ein bisschen." Sie blinzelte still und schluckte, was Ollivander mit einem Seitenblick bemerkte. "Oder wir essen einfach nur das Gebäck."

 

Sanft führte er Evelyn weg vom Fenster, durch das sie eine ganze Weile geschaut hatte, und brachte sie nach hinten zum kleinen Holztisch, auf dem bereits in mehreren Schalen die Kekse und Törtchen standen.

 

Nonna Laverna war eine alte Dame, die scheinbar Gefallen an Ollivander hatte. Regelmäßig besuchte sie den Laden, ohne etwas zu kaufen. Doch jedes Mal brachte sie etwas mit. Die alte Laverna lächelte dabei zahnlos und ungeniert, wodurch ihre bleiche Haut wirkte wie dünnes Papier. Evelyn hatte Ollivander gefragt, wie alt Nonna Laverna wirklich war, dieser hatte aber keine Antwort darauf gehabt. "Sie ist schon immer da gewesen", war das einzige, was er zu ihr sagen konnte; und dass ihre Kochkünste legendär waren.

 

Ohne vom Tee zu trinken, nahm sie die Tasse in beide Hände und klammerte sich an ihr fest. So gut Nonnas Kekse waren, Evelyn verspürte nicht den Drang zu essen.

 

Ollivander biss hingegen herzhaft in eines der Törtchen, sodass ihm Marmelade an den Mundwinkeln klebte. "Mh, da fühlt man sich gleich wieder jung."

 

Evelyn zwang sich ein Lächeln ab, wobei seine Aussage ihr einen Stich versetzte. Sie wollte sich eben nicht mehr jung fühlen. "Wieso sind Sie nicht in Ihrer Werkstatt?", wechselte sie das Thema. "Sie hier zu dieser Stunde zu sehen ist mehr als ungewöhnlich."

 

Noch immer kaute er an seinem Gebäck, nickte aber. "Ich habe nicht viele Zauberstäbe verkauft, daher kann ich mir ein bisschen Zeit nehmen." Nachdem er geschluckt hatte, waren seine Wörter zwar gut zu verstehen gewesen, Evelyn hatte hingegen trotzdem das Gefühl sich verhört zu haben.

 

"Zeit nehmen? Mr Ollivander, das höre ich Sie zum ersten Mal sagen." Tatsächlich musste sie schmunzeln als ausgerechnet der ständig werkelnde Ollivander behauptete, eine Pause machen zu wollen.

 

Er legte das Törtchen auf den Teller vor sich. "Na sehen, Sie, mit einem Lächeln gefallen Sie mir besser. Die letzten Wochen lassen Sie nur die Schultern hängen."

 

Evelyns Lippen waren trocken, weshalb sie stumm nun doch an dem Tee nippte, ohne wirklich darauf zu achten, was für ein Tee es war.

 

"Mir ist bewusst, dass Ihre Angelegenheiten mich nichts angehen, und sicher denken Sie der alte Mann ist naseweis, doch ich versichere Ihnen, ich mache mir nur Sorgen." Seine von jahrelanger Arbeit schwielige Hand griff nach Evelyns. Statt sich der Berührung zu entziehen, nahm sie seine wärmende Berührung gerne an. "Ich möchte, dass Sie wissen, dass Sie mit mir über alles reden können."

 

"Danke, Mr Ollivander", gab sie zurück, während sie seine Hand etwas drückte.

 

Seine Worte gab ihr das Gefühl geborgen zu sein. Nach kurzem Einatmen entschloss sie, sich ein wenig zu öffnen. "Es ist eigentlich nichts Schlimmes", begann sie, woraufhin Ollivander seine volle Aufmerksamkeit auf sie richtete. Scheinbar war er erleichtert sie endlich zum Sprechen gebracht zu haben.

 

"Es sind oft die kleinen Dinge." Er drängte sie nicht zu reden, sondern gab ihr einfach zu verstehen, dass er zuhörte.

 

"Das Schuljahr war schwierig, auf verschiedene Weisen."

 

"Wenn es um dieses Zeugnis geht kann ich Ihnen versichern, dass es nichts gibt, wofür Sie sich zu schämen brauchen." Er machte eine Grimasse, die Evelyn abermals zum Schmunzeln brachte. Als er erfahren hatte, wie viel McGonagall ihr in ihrer Prüfung abgezogen hatte, hatte er gedroht sofort nach Hogwarts zu gehen und die Hauslehrerin zur Rede zu stellen. Obwohl Evelyn versicherte, dass jeder einzelne Punkt gerechtfertigt abgezogen worden war und sie froh war überhaupt bestanden zu haben, empfand Ollivander die Bewertung als Beleidigung.

 

"Es ist nicht das Zeugnis; nicht nur", fuhr sie fort, wobei ihr Ollivander wenig zu glauben schien. "Das Versteckspiel und die ständige Bedrohung entdeckt zu werden, zehrt an meinen Kräften."

 

Ollivander glaubte natürlich, sie sprach nur von ihrer Scharade um ihr wahres Alter. "Verständlich. Ständig so zu tun, als seien sie jemand anderes, ist selbst für die geistig stärksten Menschen nicht einfach." Er schwieg kurz, ehe er weiter sprach. "Sie sind jedoch niemand anderes. Sie sind Sie, egal in welchem Körper."

 

"Genau da bin ich mir nicht mehr so sicher. Wie auch, ich gebe vor etwas zu sein, was ich nicht bin." Und nun geht es genauso weiter. 

 

"Evelyn, Veränderungen gehören zum Leben dazu. Sie mögen nicht dieselbe sein, wie noch vor einem Jahr", er schenkte ihr ein warmes Lächeln, "aber das heißt nicht, dass Sie nicht Sie sind. Verstehen Sie, was ich sagen will?"

 

Sie hielt seinen Blick, wagte es aber weder zu nicken, noch zu verneinen. "An Ihnen ist ein Philosoph verloren gegangen."

 

"Das nennt man Weisheit im Alter", erwiderte er augenzwinkernd. "Bereuen Sie es nach Hogwarts gegangen zu sein?"

Seine Frage überraschte sie. "Was?"

 

"Denken Sie nicht lange nach. Antworten Sie aus dem Bauch heraus. Bereuen Sie es?"

 

Fast weiße Augen fixierten die ihre und forderten eine Reaktion. Bereue ich es? "Nein", sagte sie schlicht und merkte, wie sich ein Kloß in ihrem Magen löste. "Nein, ich bereue es nicht." Erneut sprach sie ihre Antwort aus, die sie beinahe zu befreien schien, was auch Ollivander bemerkte.

 

"Dann würden Sie es wieder machen? Wenn Sie die Wahl hätten?"

 

Sie dachte daran, wie sie die Lernstunden mit den anderen genossen hatte, wie geborgen sie sich an sonnigen Nachmittagen gefühlt hatte. "Ich würde es wieder tun."

 

Ollivander lehnte sich zurück und zuckte mit den Schultern. "Also für mich klingen Sie wie das Mädchen, das vor einem Jahr mit großen Augen in meinem Laden stand." Gemächlich griff er nach seinem angebissenen Törtchen. "Niemand hat gesagt, dass es leicht werden wird, aber Sie sollten nicht nur die schlechten Sachen sehen. Ihre Fortschritte sind bemerkenswert."

 

Seine letzte Aussage ließ sie unkommentiert, und nahm sich stattdessen einen von Nonnas Keksen.

 

"Sie wissen, dass Sie mir immer schreiben können, aber vielleicht wäre es besser sich jemandem in Hogwarts anzuvertrauen."

 

"Das halte ich für eine schlechte Idee", sagte Evelyn mit der Hand vor dem Mund um keine Krümel zu spucken.

 

"Die junge Miss Bulstrode ist ein gutes Kind. Ich denke es würde Ihnen gut tun wenigstens einen Menschen zu haben, bei dem sie nicht etwas vorspielen müssen, sondern Sie selbst sein können; sich nicht verstecken müssen."

 

Dieselben Gedanken hatte auch Evelyn schon gehabt. "Eben. Millicent ist noch ein Kind. Sie würde es nicht verstehen. Oder schlimmer: sie würde es ausplaudern."

 

"Mh, womöglich warten Sie doch besser, bis sie ein wenig älter ist."

 

Zwar nickte sie, jedoch hatte Evelyn nicht die Absicht ihr das jemals zu sagen. Hey Millicent, ich bin eigentlich doppelt so alt, wie du! Überraschung.

 

"Wie dem auch sei, ich denke es würde Ihnen gut tun, wenigstens ab und zu unter Leute zu kommen. Sie mögen jung erscheinen, doch verstecken müssen Sie sich nicht. Die Aussicht vom Fenster wird morgen auch noch die gleiche sein." Langsam griff er in eine seiner Ledertaschen und holte einen weißen Umschlag heraus. "Vielleicht wird Sie das aufheitern, das kam heute Morgen für Sie."

 

"Für mich?", stieß sie ungläubig aus. Eilig klopfte sie ihre Finger am Saum ihres Rockes ab, um keine hässlichen Fettflecken auf dem weißen Papier zu hinterlassen. Normales Pergament hatte einen Gelbstich und wirkte etwas grob. Der Umschlag vor ihr war aus reinster Qualität und wirkte für sie wie echtes Papier. Eher irritiert fuhr sie über das schwarze Wachssiegel, dessen Wappen sie häufig im Gemeinschaftsraum gesehen hatte. "Das ist von den Malfoys. Wieso bekomme ich einen Brief von den Malfoys?" Beinahe angewidert hatte sie den Namen ausgesprochen, was Ollivander nur amüsierte.

 

"Ich kann nur raten, immerhin müssten Sie den Brief öffnen. Ich schätze aber es dürfte eine Einladung sein. Der junge Mr Malfoy hatte kürzlich Geburtstag. Eine Gelegenheit für die Gesellschaft zum Stelldichein."

 

Zunächst glaubte Evelyn er scherzte, in seinem Blick sah sie jedoch, wie ernst es ihm war. Den Brief zwischen die Finger geklemmt, hob sie ihn vor sich. "Ich kriege eine Einladung zu seinem Kindergeburtstag?"

 

"Oh, es ist weit mehr als nur eine einfache Feier."

 

Evelyn lehnte sich seufzend zurück. Sie ahnte, dass auch hier mehr Tradition verborgen war, von der sie keine Ahnung hatte. Eilig riss sie den Brief auf und überflog den elegant verfassten Text. "Es ist eine Einladung zu seinem Kindergeburtstag", sagte sie schließlich resignierend, während sie den Brief an Ollivander weiterreichte. Der benötigte eine Brille, um die Worte lesen zu können.

 

"Das ist von Narzissa Malfoy, interessant." Er murmelte vor sich hin und las einige Worte laut vor. Soziales Event, auffrischen alter Bekanntschaften und knüpfen neuer Bande waren nur einige Formulierungen, die er betonte.

 

Kaum, dass er fertig gelesen hatte, fiel Evelyn ihm ins Wort. "Ich kann da nicht hingehen. Wieso sollte ich? So gut kenne ich Draco gar nicht." Außerdem gefiel ihr der Gedanke nicht, freiwillig zu Malfoy Manor zu spazieren. "Was soll ich da?"

 

"Anwesend sein", beantwortete er ihre Frage mit schlichten Worten. "Man trifft Leute und man wird gesehen. Der junge Mr Draco wird kaum im Fokus sein. Nicht nur Sie oder, und da bin ich mir sicher, Ihre Kameraden aus Slytherin werden da sein, sondern auch deren Eltern, Verwandtschaft."

 

Evelyn, die erkannte, worauf er hinaus wollte, griff sich mit beiden Händen ins Gesicht. "Ein Treffen der Reichen und Mächtigen: wie feudal." Und gefährlich. Die Feier würde für Evelyn zur persönlichen Schlangengrube werden.

 

"Ich bin sicher Sie sind für Narzissa Malfoy schon allein deshalb interessant, da sie zu Mr Dracos engerem Kreis in Hogwarts gehören."

 

"Sie will also wissen, mit wem sich ihr Sohn abgibt." Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. "Großartig. Und ich schätze eine solche Einladung abzulehnen gilt als Skandal."

 

Ollivander verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. "Es wäre auf alle Fälle nicht sehr förderlich für Ihr Ansehen."

 

"Ansehen, als ob mich das interessieren würde", winkte sie ab, dachte aber seufzend über Ollivanders Worte nach. "Sie halten das für eine gute Idee? Dass ich zu den Malfoy gehe?" Bisher waren weder die Malfoys noch eine andere potentiell gefährliche Familie ein großes Gesprächsthema zwischen ihnen gewesen. Sie hatte jedoch mehr Protest von jemandem erwartet, der ihren Hauslehrer auf Grund seiner Vergangenheit nur durch zusammengepresste Zähne erwähnt.

 

"Ich fürchte Sie können sich dem nicht ganz entziehen. Als Teil des Hauses Slytherin sind Sie automatisch in den Fokus gerückt; und die Tatsache, dass sie zu meiner Familie gehören." Er stand auf und begann abzuräumen, wobei ihm Evelyn half, die leicht rot bei seinen Worten geworden war. "Sehen Sie es positiv. Die junge Miss Bulstrode wird ebenfalls dort sein, und sie wird sich ebenfalls langweilen." Ein lautes Lachen war zu hören, in das Evelyn nicht einstimmte.

 

"Muss ich ein Geschenk mitbringen? Er ist ein Malfoy, der hat doch alles was er braucht."

 

"Oh, darüber müssen Sie sich keine Gedanken machen." Sie entdeckte ein schelmisches Aufblitzen in seinen Augen, das ihr ein mulmiges Gefühl gab.

 

"Gibt es etwas, das ich wissen sollte?", fragte sie zögerlich.

 

"Es ist, wie ich gesagt habe. Es ist nicht Ihre Aufgabe ein geeignetes Präsent zu finden, sondern die meine." Seine Erklärung machte noch weniger Sinn.

 

"Ihre? Da ich sowieso wenig Interesse habe für Draco etwas zu kaufen, kommt mir das ganz gelegen, aber wieso ist das Ihre Aufgabe?"

 

Er zuckte mit den Schultern. "Es ist Tradition."

 

Es ist Tradition, wiederholte sie eher spöttisch in Gedanken und entschied es dabei zu belassen.

 

"Ich hoffe bei der Auswahl des Geschenkes sind Sie kreativer als bei mir."

Leicht gekränkt verschränkt er die Arme. "Jedes meiner Kinder hat Adlereier während des ersten Jahres auf Hogwarts bekommen."

 

"Dann bin ich ja froh nicht nach Gryffindor sortiert worden zu sein", erwiderte sie mit weniger Spott und grinste bei dem Gedanken plötzlich einen jungen Löwen von Ollivander geschenkt zu bekommen.

 

Dieser griff sich schuldbewusst ans Kinn und fuhr sich über die Stoppeln seines Bartes. "In dem Fall hätte es wohl auch ein Kniesel-Kater getan."

 

Nach dem Gespräch mit Ollivander fühlte sie sich besser, weshalb sie zurück in ihr Zimmer ging und in ihren Sachen nach dem alten Spiegel suchte, den Millicent ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Bisher hatte sie ihn kaum benutzt, ihr hatte ein Anlass gefehlt, doch nun war sie neugierig darauf ihre Freundin zu sehen. Während sie versuchte den Spiegel zu aktivieren, nahm sie Paimon aus seinem neuen Terrarium, in dem er nun mehr Platz hatte, als in seiner Kugel: nicht dass er viel Platz benötigte.

 

Er wuchs zwar schnell, schaffte es aber nur sich drei Mal um ihre Hand zu wickeln, deren Wärme er nun genoss. Im Schneidersitz saß sie auf dem Holzboden, den Rücken an das Bettgestell gelehnt, und wartete auf eine Reaktion ihrer Freundin.

 

Sich mit dem Spiegel zu unterhalten war seltsam, aber er tat seine Pflicht. Lange war ihr Gespräch nicht gewesen, doch sie hatte das Wichtigste erfahren: auch sie hatte eine Einladung bekommen, also würde sie in wenigen Tagen ihre Klassenkameraden bei den Malfoys treffen.

 

Entgegen Ollivanders Vorahnung freute sich Millicent auf das Treffen, da es scheinbar auch für sie das erste Mal sein würde das Herrenhaus der Malfoys zu sehen. Millicent Euphorie konnte sie nicht so recht teilen, allerdings war ihr der Gedanke ein Trost vermutlich kein Topfschlagen machen zu müssen.

 

 

Drei Tage später, in denen Evelyn versucht hatte von Ollivander so viel wie möglich darüber zu erfahren, wie sie sich auf der Feier verhalten sollte, stand sie mit mulmigem Gefühl im Wohnzimmer, die Hände Schweiß gebadet, und wartete auf Ollivander. Die Einladung lag vor ihr auf dem Tisch. Laut Ollivander würde sie das Stück Papier brauchen um durch die natürlichen Barrieren des Anwesens der Familie Malfoy zu kommen. Kurz überlegte sie die Einladung einfach zu zerreißen; ohne Brief, kein Durchgang und ohne Durchgang müsste sie sich nicht an die strenge Etikette erinnern. Doch in dem Moment erschien Ollivander mit einem schmalen länglichen Holzkästchen in der Hand. Dieses wickelte er in feine Leine ein und übergab es Evelyn.

 

Sie wog das Paket, bei dem es sich um Dracos Geschenk handelte, in ihren Händen und hob die Augenbraue.

"Ich gebe das Geschenk an Draco", wiederholte sie, was Ollivander ihr gelehrt hatte. "Mrs Malfoy wird uns in Empfang nehmen, also werde ich sie formal begrüßen. Ich spreche nicht, wenn ich nicht aufgefordert werde", nicht, dass ich das Bedürfnis hätte große Reden zu schwingen. "Keinen Raum betreten, der nicht spezifisch erlaubt für die Öffentlichkeit ist und wichtigste Regel: nicht die Pfauen anfassen."

 

Ollivander gluckste kurz nach ihrer letzten Bemerkung, sein Blick wurde jedoch schnell ernst. "Sind Sie sicher, dass Sie alleine gehen möchten. Ich kann mir frei nehmen und-"

 

"Nicht nötig", unterbrach sie ihn. "Danke, aber es reicht, wenn sich einer von uns quälen muss."

 

Während ihrer Gespräche war Evelyn klar geworden, wie wenig auch Ollivander von einem solchen Treffen der selbsternannten oberen Gesellschaft hielt. Als Zauberstabmacher und Mitglied eines alten Hauses war er überall hoch angesehen, und er hatte in seiner Jugend die Erziehung genossen, die ihn für ein solches Event vorbereitet hatte. Seit Jahren schon, so hatte er erzählt, mied er jedoch jegliche öffentliche Auftritte und beschränkte sich darauf seine Arbeit neutral und professionell zu erledigen.

 

Evelyn konnte ihn verstehen. Nach außen hin mochte der Tag heute nur eine harmlose Geburtstagsfeier sein, doch zwischen den Zeilen ging es hoch politisch zu. Aus dieser Welt hatte sich Ollivander zurück gezogen und Evelyn würde ihn nicht zwingen dort wieder zu erscheinen. Es war genug, dass sie davon heute Luft schnuppern würde.

 

Sie sah ihn nun kritisch von der Seite an. "Was ist denn in dem Kästchen drin?"

 

Während der letzten Tage war Ollivander ihr stets ausgewichen diese Frage zu beantworten, was genau sie Draco Malfoy schenken würde. "Es ist der Familie Malfoy würdig", war seine einzige Bemerkung gewesen, doch nun, da sie das Paket für Draco in Händen hielt, wollte sie es wissen.

 

"Ich bin sicher Sie werden es erkennen, sobald Sie es sehen", erklärte er sehr zu Evelyns Frustration, während er nach der Einladung griff. Ehe sie seine Worte begreifen konnte, hob er ihr schon die Hand entgegen.

 

"Bereit?"

 

Nicht wirklich, dachte sie, nahm dennoch Ollivanders Hand und schloss die Augen.

 

Zu apparieren war noch weitaus unangenehmer als mit Flohpulver zu reisen, war dafür aber auch schneller vorbei. Nichtsdestotrotz blieb die Übelkeit, und so suchte sie an Ollivanders Arm Halt, den sie auf dem weichen Boden nicht fand.

"Durch die Nase atmen, das hilft", sagte er, während er ihr kurz den Kopf strich. Es half nicht und Evelyn war erleichtert das Frühstück ausfallen gelassen zu haben. Alles, was sie sah, war weißer Kieselstein, der unter ihrer Bewegung knirschte. Was sie sofort bemerkte war hingegen der fehlende Großstadtgeruch, der auch noch in der Winkelgasse trotz der dutzenden fremder Düfte noch zu vernehmen gewesen war. Die Luft hier war deutlich frischer und es roch nach frisch gemähtem Gras; und Hafer.

 

"Oh, Lucius Malfoy hat die Hecken größer wachsen lassen, welch ein Jammer", sagte Ollivander und veranlasste dadurch Evelyn nach oben zu sehen. Der Kiesweg, an dessen Ende sie standen, war umzäunt von einem angelegten Heckenzaun, der sie völlig überragte.

 

Ollivander seufzte schwer. "Ich hatte gehofft den wunderschönen Garten sehen zu können."

 

Da das Schwindelgefühl und damit die Übelkeit langsam nachließen, richtete sich Evelyn auf und begutachtete, wo genau sie stand. Sie musste aber feststellen, dass Ollivander nicht übertrieb: mehr als Hecke sahen sie nicht, wenn man von dem gusseisernen Tor in einigen Metern Entfernung absah.

 

"Hoffentlich sind wir nicht die ersten." Evelyn hatte laut gedacht, während sie sich auf das Tor zubewegten, das ihnen kaum einen Durchblick gestattete, was sich dahinter verbarg, obwohl das Tor nicht massiv war. Egal wie sehr sich Evelyn anstrengte, hinter dem Tor wollte ihre Sicht nicht scharf werden, so als ob der Fokus einer Kamera nicht richtig eingestellt war. In einem Moment glaubte sie etwas erkennen zu können, doch sobald sie sich konzentrierte, war da nur ein grober dunkler Fleck. Sogar als sie direkt davor standen und eigentlich hindurch hätten sehen müssen, lichtete sich der Nebel nicht.

Aus Reflex suchte sie nach einer Klinke oder einem Schloss um das Tor zu öffnen, doch auch das fand sie nicht. Hilfesuchend schaute sie Ollivander an, der nur langsam nickte.

 

"Hier trennen sich unsere Wege", meinte er, die Arme vor sich gefaltet. "Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe. In wenigen Stunden, haben Sie es überstanden. Ich bin gespannt, was Sie dann zu erzählen haben."

 

Sein Grinsen bedachte Evelyn nur mit einem spöttischen Seitenblick. "Ich dachte, es interessiert Sie nicht, was die Gesellschaft so treibt?" Ihre Worte zeigten Wirkung. Scheinbar ertappt räusperte er sich und nickte ihr eilig zu. "Wie dem auch sei. Die Rückreise werden Sie sicherlich mit Flohpulver antreten dürfen. Halten Sie sich dafür an Mrs Malfoy."

 

Er reichte ihr den Brief, den sie nun zusammen mit dem eingepackten Geschenk vor sich hielt und sich leicht verloren vorkam. Bevor sie noch etwas erwidern konnte, war Ollivander mit einem Plopp verschwunden und Evelyn damit völlig auf sich gestellt.

 

"Immer Lächeln und winken", sagte sie zu sich selbst, während sie erneut das Tor in Augenschein nahm. Nervös schaute sie nun auch über die Schulter; sie erwartete, dass Scharen an anderen Gästen hinter ihr auftauchen würden, nichts dergleichen geschah jedoch. Selbst als sie weitere Minuten vor dem Tor stand, an dem es auch nichts gab, was an eine Klingel erinnert hätte, erschienen andere Menschen.

 

Irgendwann realisierte sie ihren Denkfehler und fasste sich mit dem Handrücken gegen die Stirn, enttäuscht über sich selbst. "Gott, wie peinlich", flüsterte sie, wobei sie ihre Unfähigkeit das Rätsel des Eingangs zu lösen auf die Nervosität schob.

 

Ohne zu zögern und mit der Gewissheit, dass es funktionieren würde, lief sie auf das Gitter zu, das keinerlei Widerstand bot. Ein leichtes Kribbeln fuhr ihren Nacken entlang, als das Tor zu Nebel wurde und sie hindurch ließ. "Wirklich peinlich", sagte sie erneut, als sie endlich hinter dem Tor stand und das Bild nicht mehr verzerrt von Nebel wurde.

 

Der Garten, den sie nun eilig durchschritt, erstreckte sich zu jeder Seite mehrere Kilometer weit und war gesäumt mit Alleen und verschiedenen Beeten, die Evelyn kaum zu wertschätzen wusste. Die Hecken, die gerade noch jeden Blick verdeckt hatten, waren beinahe komplett verschwunden oder auf normale Größe gestutzt, jedoch fehlten bunte Elemente wie Blumen jeglicher Art. Grüne Grasflächen und verschiedene Baumformationen beherrschten das Bild. Direkt vor ihr gabelte der Kiesweg sich um einen großen mehrstöckigen Brunnen, der unablässig klares Wasser sprudelte. Im Zentrum des Geländes erhob sich ein riesiger mit spitzen Zinnen, den Evelyn schon kaum noch als "Haus" bezeichnen würde, sondern eher als Sommerresidenz eines ehemaligen Königs.

 

Die oberen Stockwerke waren deutlich abgetrennt mit hohen Fenstern, im Gegensatz zum Erdgeschoss, das statt großen Fenster dutzende eng anliegende kleine hatte. Fast hatte Evelyn erwartet das Gebäude unter Efeu überwachsen vorzufinden, doch der rot-weiße Backstein war vollkommen frei von jeglicher Vegetation oder Schmutz. Völlig symmetrisch erstreckte sich das Haus in jede Richtung und Evelyn zählte mindestens zwei anliegende Flügel, die in einem Achteck angebaut waren.

 

Hier konnten dutzende Leute leben, dachte Evelyn. Für nur drei Personen ist dieses Anwesen lächerlich groß. Mit der Hand am silber glänzenden Ring, den sie gegen die Tür schlug, überlegte sie, ob Abraxas Malfoy wohl noch lebte. Ehe sie zu genau darüber nachdenken konnte, schwang die Tür ohne ein Geräusch zu machen auf.

 

Strahlend blaue Augen schauten zunächst etwas verwirrt auf Evelyn herab, was jedoch nur einen Herzschlag dauerte. Narzissa Malfoy faltete die Hände vor sich und lächelte ihren Gast an. Ihre leichte Seidentunika wehte um ihre Arme, als der sanfte Zugwind ihr entgegen blies. Zwar hatte Evelyn sie bereits flüchtig am Gleis mit Draco gesehen, nun jedoch die ungeteilte Aufmerksamkeit von Narzissa Malfoy zu haben, die mit ihren streng geflochtenen Haaren und sicherem Auftreten mehr als einschüchtern wirkte, ließ Evelyns Herz höher schlagen. "Evelyn Harris, ich freue mich dich hier begrüßen zu dürfen." Ihr Blick schweifte ungeniert über Evelyns Schulter. "Alleine, wie ich sehe. Schade, ich hätte deinen Großvater zu gerne empfangen."

 

"Er lässt sich entschuldigen", sagte sie mit tiefem Kopfnicken, ohne aber eine weitere Begründung anzubieten. Stattdessen reichte sie Narzissa den Brief und neigte erneut den Kopf. "Vielen Dank für die Einladung, Mrs Malfoy. Darf ich um Einlass bitten mit dem Versprechen ohne böse Absichten an Ihrem Tisch zu sitzen?" Dies waren die Worte, die Ollivander ihr beigebracht hatte. Kein Händeschütteln, wie Evelyn es von ihrer eigenen Erziehung gewohnt war, sondern stattdessen alte Floskeln, die sich schwer auf ihrer Zunge anfühlten; wortwörtlich.

 

Mrs Malfoy lächelte und beendete den Pakt, der Evelyn nun schwer auf den Schultern lastete: "Natürlich, betritt mein Haus in Frieden mit dem Versprechen keine schlechte Behandlung zu erfahren."

 

Mit einem Schritt überquerte sie die Türschwelle, die ihr wie eine unsichtbare Barriere vorkam, hinein ins Herrenhaus, wo sie sofort inne hielt. Der Druck, den sie nur Sekunden gespürt hatte, war verschwunden. Down the rabbit hole.

 

Narzissa ging an ihr vorbei, sodass Evelyn ihr wortlos folgte. "Der Salon ist am Ende der Flur." Während ihrer Worte starrte Evelyn mit großen Augen den hohen Eingangsbereich an, der durch die schmalen Fenster kaum beleuchtet wurde. Als Flur würde sie das nicht bezeichnen.

 

Von überall starrten Portraits blasser Menschen auf sie herab, was Narzissa nicht zu bemerken schien. "Kanapees und Erfrischungen findest du in der Kaffestube. Zögere nicht einen unserer Hauselfen zu rufen; sie stehen dir zur Verfügung."

In Gedanken wiederholte sie die Orte, die Narzissa ihr genannt hatte und damit frei zugänglich waren. Eine große Steintreppe am Ende des Flurs, die nach oben führte, lenkte sie jedoch kurz ab.

 

"Die Gesellschaft befindet sich im Garten. Heute ist so ein schöner Tag, den sollte man draußen verbringen." Evelyn konnte sich Narzissa in ihrer mit cremefarbenen Blumen bestickte Tunika perfekt im Garten in Mitten der Zauberer vorstellen.

 

"Danke, Mrs Malfoy." Zu gerne hätte sie gefragt, ob Blaise oder Millicent bereits hier waren, was sie schwer hoffte, entschied sich aber ihr weiter zu folgen. Vor ihr öffnete sich der Salon, in dem es sofort lauter wurde.

 

Möbel gab es keine, nur erneut eine hohe Decke, an der zwei Kronleuchter hingen und den Raum erhellten. Es roch nach süßem Wachs gemischt mit verschiedenen Speisen, die sie noch nichts sah. Was sie sah beunruhigte sie: fürstlich gekleidete Herrschaften, von denen nicht wenige sich zu ihr drehten, als sie hinter Narzissa im Salon erschien. Trotz Narzissas Ankündigung die Feier draußen abzuhalten, war der Salon gut gefüllt. Nun fühlte sie sich tatsächlich klein und unbedeutend.

 

"Misch dich gerne unter die Leute", meinte Narzissa fröhlich, so als ob es völlig normal wäre mit Fremden, noch dazu zweifellos einflussreichen Personen, ein Schwätzchen zu halten. "Wenn du mich suchst, ich bin draußen im Garten. Schau dich um. Draco wird sicher gleich hier sein."

 

Evelyn nickte stumm und sah zu, wie Narzissa sich zu den Leuten gesellte, deren schiere Anzahl Evelyn überforderte. Ein Kindergeburtstag war das wirklich nicht.

 

Sie hielt sich eher am Rand unter einem der hohen Gemälde und wartete darauf ein bekanntes Gesicht zu sehen. Ab und zu glaubte sie die Züge eins ihrer Schulkameraden zu erkennen. Hier waren nicht nur die Familien der Kinder aus Dracos Altersgruppe, sondern auch ältere vertreten. Nicht weit von ihr unterhielt sich eine Frau mit groben Gesichtszügen, deren breite Stirn verdächtig eine Verwandtschaft mit Marcus Flint andeutete. Die andere Dame, mit der sie in ein Gespräch verwickelt war, konnte sie nicht zu ordnen, sie hatte aber das Gefühl sie schon einmal gesehen zu haben: oder besser die Mutter eines Kindes zu erkennen, mit dem sie zur Schule ging.

 

"Evelyn!", hörte sie ihren Namen und stellte erleichtert fest, dass sie die Stimme kannte. Blaise lief fröhlich winkend auf sie zu, was sie sichtlich entspannen ließ.

 

"Ich bin so froh, dich zu sehen", sagte sie ehrlich, als er vor ihr stand, schaute dann aber irritiert zu, wie Blaise eine Verbeugung andeutete. "Was wird das, wenn es fertig ist?" Aus Angst er würde gleich nach ihrer Hand greifen, nahm sie ihre Arme hinter den Rücken. 

 

"Pscht", meinte er nur, während er sich wieder aufrichtete und den Anzug glatt strich, in den man ihn wohl gezwängt hatte.

 

"Meine Mutter schaut zu." Mit dem Kopf zeigte er in die Menge, wo tatsächlich eine elegante Frau stand und Blaise beobachtete. Evelyn hatte Madam Zabini schon einmal getroffen, aber kaum mit ihr geredet.

 

"Ah", sagte sie nur und grinste. "Du musst den braven Sohn spielen."

 

Blaise rollte die Augen und stellte sich mit verschränkten Armen neben Evelyn, sodass sie gemeinsam in die Menge an Leuten schauen konnten. "Jeder spielt hier dem anderen etwas vor. Immerhein weißt du, dass ich es ehrlich meine."

 

"Wo ist Draco?", fragte sie ohne Umschweife. Sie wollte endlich das Geschenk loswerden. Doch Blaise zuckte nur mit den Schultern.

 

"Der begrüßt irgendwo irgendwen. Wie ich die Malfoys kenne vermutlich den Minister für Magie."

 

Evelyns Augen wurden groß. "Fudge ist hier?"

 

"Bestimmt", erwiderte Blaise und Evelyn schüttelte nur den Kopf.

 

"Sind die anderen schon da?"

 

"Mh, Daphne hab ich vorhin gesehen, aber die führt Astoria ein wenig herum. Vinc hängt am Rockzipfel seiner Mutter; oder wird dort gehalten von selbiger." Ein schiefes Grinsen breitete sich aus und steckte auch Evelyn an, die sich vorstellte, wie Mrs Crabbe ihren Sohn nicht aus den Augen ließ.

 

"Millicent? Pansy?"

 

"Nein, noch keinen gesehen, kommen aber bestimmt gleich." Er wandte sich an Evelyn. "Willst du etwas trinken? Ich hol dir etwas."

 

Evelyn nickte und sah zu, wie Blaise erneut verschwand und hoffte, dass er nicht zu lange fort sein würde. Allein seine Präsenz beruhigte sie und gab ihr etwas Halt in dieser unbekannten und – ein Gedanke den sie einfach nicht los ließ – gefährlichen Umgebung.

 

Sie hielten sich am Durchgang des Salon auf, sodass sie sehen würden, wenn jemand Neues zu ihnen stoßen würde. Ab und zu sahen sie Narzissa Malfoy an ihnen vorbei eilen, wobei sie ihnen jedesmal zulächelte, nur um kurze Zeit später mit neuen Gästen zu erscheinen. Narzissa wird heute Abend den Tag auch in ihren Füßen spüren.

 

Nicht lang nach Evelyn erschien Pansy mit ihrer Familie und gesellte sich zu ihnen. Sie wirkte nervös, wollte aber nicht darüber sprechen und suchte die Menge nach Draco ab, der sich noch immer nicht zeigte.

 

"Wir sind nicht wichtig genug. Nicht wenn die Hälfte des Ministeriums vertreten ist. Wer sind wir dann schon: nur seine Freunde."

 

"Es ist ein wichtiger Tag. Für uns alle", verteidigte Pansy, der Blaise' spöttischer Ton wohl nicht gefiel.

 

"Für uns alle? Ich bin wegen des Essens hier", meinte er nur und schob sie ein Lachshäppchen ganz in den Mund. "Wpfo bpfst du soscht hier?"

 

"Blaise, kau deinen Fisch bitte nicht in meinem Gesicht."

 

Tatsächlich beeilte sich Blaise mit dem Schlucken, wobei er immer wieder in die Menge schaute, vermutlich um sicher zu gehen, dass seine Mutter ihn nicht sah.

 

Als Daphne mit ihrer Schwester zu ihnen stieß, wuchs ihre Runde und sie begannen den vielen Grüppchen im Raum zu ähneln. Millicent erschien als letztes und stürzte sich sofort aufs Essen, welches sie nun gemeinsam mit Blaise verschlang, so elegant es mit Finger Food möglich war.

 

Evelyn vermutete, dass sie sicherlich über eine Stunde an Ort und Stelle standen, bis Draco, gekleidet in einem dunklen Anzug mit leicht glänzenden Fäden verwoben in den Stoff, auf sie zu kam.

 

"Na endlich!", begrüßte ihn Blaise mit einem groben Klopfen auf den Rücken. "Wir dachten schon, du hast uns vergessen."

 

"Hab ich auch", gab er ungeniert zu und trank sein Glas, welches er in Händen hielt, in einem Zug leer. "Ich bin froh, wenn der Tag vorbei ist."

 

"Es ist dein Tag! Genieß ihn, Geburtstagskind."

 

Draco starrte Blaise für seine Bemerkung nur von der Seite an. "Mein Geburtstag ist Wochen her. Das hier", mit dem leeren Glas deutete er in die Menge, "hat nichts mit mir zu tun."

 

"Wir sind wegen dir hier", meinte Pansy, die schüchtern den Kopf neigte, was Draco tatsächlich schmunzeln ließ.

 

"Ich nicht, ich will nur Essen." Blaise hatte den Satz im Scherz gesagt, doch er bekam von Evelyn trotzdem einen leichten Schlag in die Rippen mit dem Ellbogen. Sie hatte noch immer das in Leinen gepackte Kästchen in der Hand und wollte das nun endlich los werden.

 

"Hier", sagte sie, das Kästchen von sich streckend. "Ein Geschenk der Familie Ollivander." Auch dies waren gelernte Worte, auch wenn sie Evelyn ein wenig aufstießen. Draco nahm es glücklicherweise dankend entgegen und begann das Leinen zu öffnen. Ollivander hatte ihr gesagt, er würde die Geschenke öffentlich vor allen anderen auspacken und war daher leicht überrascht. Auch Pansy machte große Augen.

 

"Draco, es ist zu früh!" Scheinbar wollte sie ihn an das Protokoll erinnern. Seufzend hielt er inne und rieb sich die Augen. "Danke, Harris", sagte er schließlich und drehte sich zu der Gesellschaft. "Ich muss gehen. Vater meinte, er erwartet mich auf der Veranda. Irgendein Geschäftspartner ist wohl gerade angekommen. Ich durfte mir nur etwas zu trinken holen."

 

Er wirkte erschöpft und Evelyn bekam Mitleid mit dem Malfoy Erben, der wohl kaum etwas von seinem Ehrentag hatte.

 

"Macht nichts, wir sind hier und warten. Goyle ist noch gar nicht da und Crabbe ... nun ich denke seine Mutter wird ihn irgendwann gehen lassen."

 

Draco nickte, wandte sich dann aber erneut, diesmal mit neutraler Miene, an sie. "Schön , dass ihr heute da seid. Ich freue mich sehr." Er hielt kurz inne. "Das ist das erste Mal, dass ich diesen Satz auch meine." Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz und verschwand.

 

"Sollen wir uns ein wenig die Füße vertreten?", meinte Millicent, nachdem Draco verschwunden war. Auch Evelyn hatte den Drang sich zu bewegen.

 

"Gehen wir in den Garten", schlug sie vor und die Gruppe setzte sich in Bewegung. Sie redeten nicht viel, nur das nötigste. Astoria hielt sich an Daphnes Hand fest und folgte ihr stumm nach draußen, wo sie ein großer Garten mit Sitzgelegenheiten und Erfrischungen begrüßte; und eine weitere Menge an Leuten.

 

Sie entfernten sich ein wenig vom Getümmel und dem draußen vorherrschenden Rauchgeruch, der Evelyn in die Nase kroch und ihre Fingerspitzen kribbeln ließ. Die Mehrheit rauchte hier Pfeifen und Zigarren unter riesigen schwebenden Schirmen, die sie von der gnadenlosen Sonne schützten. Auch als sie einige Meter entfernt waren, trieb der Wind den süßen Geruch brennender Zigarren zu den Kindern und zu Evelyn, deren Mund nun ganz wässrig wurde.

 

Sie suchten sich ein weites Plätzchen umringt von der niedrigen Hecke und eines einsamen zurechtgestutzten Baumes, wo sie sich im Gras niederließen. Evelyn kümmerte sich nicht um mögliche Flecken, genauso wie Blaise und Millicent. Doch Daphne, und erstaunlicherweise Pansy, zogen es vor zu stehen.

 

"Was ist los? Soll euer hübsches Kleidchen nicht schmutzig werden? Ihr werdet da noch eine Weile stehen", sagte Blaise, der sich bereits längs in Gras gelegt hatte und sich die Sonne ins Gesicht scheinen ließ.

 

"Sei still", stieß Pansy aus und zupfte erneut an ihrem hellen Kleid, was ihre dunklen Haare nur umso stärker hervorhob. Evelyn fiel auf, dass Pansy sich wirklich zurecht gemacht hatte.

 

"Du siehst hübsch aus", bemerkte sie, was Pansy leicht rosa anlaufen ließ.

 

Sie verbrachten die meiste Zeit draußen, wobei auch Daphne und Pansy sich irgendwann ins Gras setzten, wobei Goyle, nachdem auch er zu ihnen gestoßen war, losgeschickt worden war um ein Polster zu organisieren, das er nicht fand. Frustriert hatte Daphne nach einem Hauself gerufen, der sofort vor ihnen allen erschien.

 

Evelyn schaute in die großen Augen der schmalen Kreatur und lehnte sich ein wenig zurück, sich hinter Blaise versteckend.

"Was kann Dobby für die jungen Herrschaften tun? Dobby ist heute für Sie alle Ihr Diener."

 

"Eine Decke", meinte Daphne grob und schickte ihn ohne ein weiteres Wort der Erklärung fort. Trotz der spärlichen Befehle, brachte Dobby nach nur wenigen Sekunden genau das, was sie benötigten.

 

Niemand sagte Danke, also blieb auch Evelyn stumm und half stattdessen die Decke auszubreiten, während Dobby mit einer tiefen Verbeugung in einem Plop verschwand.

 

Evelyn hatte kein Zeitgefühl und beobachtete nur, wie die Sonne sich zäh über ihnen bewegte. Ab und zu kam einer der Erwachsenen vorbei und stellte die üblichen Fragen. "Wie geht es euch?" "Wisst ihr, wo eure Eltern sind?" "Wie gefällt es euch auf Hogwarts." Sie alle kannten sich und die wenigsten beachteten Evelyn, die im Gegensatz zu ihren Klassenkameraden völlig neu auf solchen Veranstaltungen war. Auch Narzissa schaute das ein oder andere Mal vorbei und fragte nach ihrem Befinden. Jedes Mal verschwand sie, jedoch nicht ohne eine Platte mit Getränken und verschiedenen Speisen bei ihnen zu lassen. Verhungern würde im Hause Malfoy niemand.

 

Als Narzissa erneut auf sie zu ging, hatte sie jedoch ein Pärchen dabei, welches selbst von weitem für die Gruppe deutlich hörbar lachte.

 

"Das ist sie", meinte Narzissa schließlich und deutete zu Evelyns Schock direkt auf sie. Ihre Gliedmaßen versteiften sich und erst Blaise Räuspern weckte in ihr den Gedanken, sich zu erheben.

 

Das Paar neben Narzissa betrachtete Evelyn nun neugierig. "Wie war dein Name, Kind?"

 

"Harris, Evelyn", antwortete sie und war überrascht nicht zu stottern.

 

"Harris", die Frau wiederholte den Namen langsam und tauschte einen stummen Blick mit dem Mann neben ihr aus. "Enkelin von Ollivander. Ist das richtig?"

 

Ihr gefielen die Fragen nicht. "Ja, Ma'am. A-adoptiert. Sein Sohn hat mich adoptiert."

 

"Gordon, ja, davon habe ich gehört. Wie alt bist du, Kind?"

 

Sowohl Blaise als auch Millicent sahen sich irritiert an, ehe sie dem Gespräch weiter stumm zuhörten. "Zwölf, Ma'am", antwortete sie knapp, was die Frau nicken ließ. Eine peinliche Stille entstand, die Narzissa schließlich durchbrach.

 

"Evelyn, das sind Ford und Haley Fawley." Evelyn glaubte jede Farbe zu verlieren. Sie nickte langsam, brachte aber keinen Ton zustande, weshalb Narzissa fortfuhr. "Haley hier ist Hector Fawleys Tochter. Die dritte Tochter, oder Liebes?"

 

"Offiziell ja", beantwortete Haley Narzissas Frage mit einem Winken ihrer Finger. "Wer weiß das schon." Sie hielt Evelyn ihre schmale Hand entgegen, die sie zögerlich nahm. "Schön dich zu treffen, Evelyn. Narzissa hat mir erzählt, dass wir wohl verwandt sind."

 

"Ja", sagte Evelyn mit hoher Stimme und zog rasch ihre Hand zurück, damit Haley ihr klopfendes Herz nicht durch die Berührung spürte.

 

"Nun, Draco berichtete mir von ihr", erklärte Narzissa nun an Haley gewandt. "Gordon und seine Frau haben sie adoptiert, nachdem ihre Eltern gestorben sind." Beide sahen Evelyn nun mitleidig an, fuhren aber bald mit ihrem Gespräch fort. "Ihr Vater, es war doch dein Vater, oder Kind?"

 

Sie nickte, wobei sie sich selbst in diesem Moment nicht mehr sicher war, wer ihrer vermeintlichen Eltern zur Familie Fawley gehörte.

 

"Ihr Vater war wohl das Ergebnis einer Affäre deines Vaters." Narzissa sagte den Satz, ohne brüskiert oder überrascht zu sein.

 

"Ein Bruder, also. Nun, Halbbruder. Schade ich hätte ihn gerne kennen gelernt." Haley schaute Evelyn nun freundlich an. "Ich habe das Gefühl, als wüchse meine Familie mit jedem Jahr. Ich habe schon lange den Überblick verloren. Mein Sohn, Richard, ist nur ein wenig älter als du. Ich bin sicher, er würde dich ebenfalls gerne kennen lernen."

Großartig, dachte Evelyn ironisch, noch immer still lächelnd.

 

Ford, der bisher auffällig still war, trat nach vorne. "Und du wohnst jetzt bei Garrick Ollivander. Beeindruckend." Ihr gefiel nicht, wie er Ollivanders Namen betonte.

 

"Ich hatte ihn eingeladen, doch leider konnte er nicht kommen."

 

"Bedauerlich. Wenn auch nicht überraschend. Normalerweise bleibt er gerne unter sich. Umso erstaunlicher, dass er die junge Evelyn hier bei sich aufgenommen hat. Kurios, wirklich kurios." Seine grauen Augen betrachteten Evelyn noch einige Sekunden, bis er sich an Haley wandte. "Glückwunsch zur Nichte." Evelyn schluckte. Ford, vermutlich Haleys Ehemann, schien die Geschichte nicht völlig zu glauben. Haley hingegen wirkte munter und fröhlich darüber ein weiteres Familienmitglied zu haben.

 

"Besuch uns doch in Zukunft, Evelyn. Dann kannst du mit auch gerne mehr über meinen Bruder erzählen."

Evelyn nickte. Ganz sicher nicht. Mit einem letzten Gruß an die wartenden Kinder, verschwanden sie zurück zur Gesellschaft.

 

"Nett, deine Tante."

 

Evelyn drehte sich seufzend zu Blaise. "Sie ist nicht meine Tante. Ich meine, ja ist sie, aber ich kenne sie nicht und werde sie nicht Tante nennen."

 

Millicent grinste und schüttelte den Kopf. "Willkommen in der Gesellschaft." Auch die anderen grinsten und Evelyn verstand, dass sie alle wohl mit beinahe jedem hier irgendwie verwandt waren.

 

"Sei froh, dass du nicht offiziell Fawley heißt", sagte Daphne als sie sah, wie nahe Evelyn dieses Treffen gegangen war. "Sie würden dich nicht mehr aus den Augen lassen. So bist du eher Ollivanders Problem, als ihres."

 

Müde und erschöpft ließ sich Evelyn wieder auf der Decke nieder und fragte sich, wie die Kinder der Reinblüter dieses Leben in der Öffentlichkeit nur aushielten. Auch sie haben ihr eigenes Packet zu tragen.

 

Irgendwann kam Bewegung in die schwatzende Menge an Leuten, was auch die Neugier der Kinder weckte. "Geschenkübergabe", sagte Pansy beinahe ehrfürchtig und zupfte erneut an ihrem Kleid, bevor sie sich zurück zu den Erwachsenen begaben.

 

Ein langer Tisch war auf der Veranda aufgebaut, auf denen gar nicht so viele Geschenke lagen, wie Evelyn vermutet hatte. Sie entdeckte auch das Holzkästchen, wobei ihre Augen von einem hochgewachsenen Mann angezogen wurde, der neben Narzissa stand, den Gehstock locker neben sich auf dem Boden. Lucius Malfoy hatte seine langen Haare mit einer feinen Kette zurück gebunden und hatte seine zweite Hand auf Dracos Schulter gelegt.

 

"Meine Freunde", sprach er, als alle versammelt waren. "Ich freue mich, euch hier alle zu sehen und bin geehrt über die Freundlichkeit, die ihr meiner Familie zuteilwerden lässt. Draco", er machte eine kurze Pause, in der Draco einen kleinen Schritt nach vorne machte, "wird nun eure Geschenke entgegen nehmen."

 

Evelyn hätte Klatschen erwartet, doch stattdessen blieben alle still und schauten zu, wie Draco das erste Geschenk vom Tisch nahm. Lucius blieb an Ort und Stelle stehen, während Narzissa sich neben Draco stellte und leise flüsterte.

"Familie Travers, ich danke Ihnen", meinte er und öffnete vorsichtig die Box. Er präsentierte einige polierte Knochen, auf denen Evelyn Zeichen erkannte.

 

"Natürlich, ein Runenset", sagte Millicent leise, als ob sie damit gerechnet hätte.

 

"Familie Rowle, ich danke Ihnen." Dieses Mal zeigte er eine verzierte Büchse, zu der niemand etwas erklärte.

Ein Geschenk nach dem anderen wurde präsentiert, ab und zu gab es bewundernswerte Worte. Es dauerte einige Zeit bis Evelyn begriff, was die Natur der Geschenke war. Ein wertvoller Hinweis war die Sammlung alter Zaubersprüche von der Familie Zabini.

 

"Wissen", sagte sie leise. "Die Familien schenken ihm Wissen."

Millicent, die sie gehört hatte, nickte. "Altes Wissen. Natürlich nicht die Familiengeheimnisse", sagte sie Augenzwinkernd und wandte sich wieder interessiert den Geschenken zu.

 

"Familie Ollivander, ich danke Ihnen", meinte Draco plötzlich und Evelyn fing seinen Blick auf; als einzige, die von der Familie Ollivander anwesend war. Er präsentierte einen groben Stock, den Evelyn als eher nutzlos ansah. Doch einige neben ihr staunten.

 

"Englische Eiche, sehr wertvoll."

 

Draco nickte ihr zu, ehe er fortfuhr.

 

"Schönes Geschenk", sagte Blaise anerkennend, wobei Evelyn zugeben musste, dass sie nicht viel verstand.

 

"Jetzt bin ich dran", flüsterte Pansy und in der Tat griff Draco nun nach einem hohen Gefäß.

 

"Familie Parkinson, ich danke Ihnen." Innerhalb weniger Sekunden präsentierte er ein hohes Kristallgefäß, das bis oben hin mit schwarzer Erde gefüllt war. Narzissa atmete hörbar ein und auch viele der Anwesenden drehten sich nun zu Pansy oder ihren Eltern um, die alle den Blicken der Anwesenden stand hielten.

 

"Pansy", sagte Daphne schockiert. "War das deine Idee?"

 

Erneut fühlte sich Evelyn verloren und war überfordert mit dem plötzlichen Stimmungswandel. Doch obwohl sie nichts verstand spürte sie, dass Pansys Geschenk entweder eine Beleidigung oder aber eine Herausforderung irgendwelcher Art war.

 

"Blaise?", fragte sie ihn und sah, dass sogar ihm nicht zum Lachen zumute war. "Was bedeutet das?"

 

"Die Parkinsons", begann er langsam, "bieten Draco Pansys Hand an."


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe das Englisch im Text hat nicht allzu sehr gestört. Wir sind in England, da wird nunmal englisch gesprochen, das habe ich versucht anzudeuten.

Ich habe bereits einige Kapitel fertig. Ingesamt sind alle sieben Jahre geplant, es könnte also eine lange Geschichte werden. Für Kritik und Anregungen bin ich natürlich immer offen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
*Kurzer Geschichtlicher Exkurs für die, die es interessiert:

Anne Boleyn war die zweite Frau von König Heinrich VIII., der bekannt dafür war seine Ehefrauen auf die ein oder andere Art und Weise loszuwerden, sobald er sie satt hatte. Boleyn wird heute noch als intrigante nobel Prostituierte darstellet, die durch Einsatz weiblicher Vorzüge es geschafft hat für sich und ihre ganze Familie hohe Stellungen und Ansehen zu erlangen, auch wenn wohl nur ein Bruchteil dessen wirklich wahr ist. Sie war jedoch der Grund, weshalb Heinrich mit der katholischen Kirche brach und seine eigene Kirche, die Church of England, gegründet hat (damit der Gute sich scheiden lassen kann, wann er möchte). Die Königsfamilie gehört noch heute der Church of England an, weshalb es einige strikte Regeln gibt im Bezug zur königlichen Heirat mit einem Katholiken gibt, was dazu führt, dass derjenige aus der Königsfolge geschmissen wird, sollte er oder sie es wagen einen Katholiken zu heiraten. Hätte ein Onkel von unserer Elizabeth keine Katholikin geheiratet, wäre die kleine Elizabeth nie Thronfolgerin und schließlich Königin geworden. Wie passend, dass Anne Boleyn auch noch die Mutter von Elizabeth I war. Erstaunlich, wie ein einziger Mensch selbst 500 Jahre später Einfluss auf das Schicksal Tausender hat, nicht wahr? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Part 2 ist beendet, mit etwa den gleichen Kapiteln wie Part 1. Allerdings haben wir in dieser Zeit ... zwei Tage abgearbeitet. Ich weiß, das Pacing ist momentan sehr langsam, aber das wird demnächst angezogen. Wir werden die sieben Jahre bestimmt nicht in diesem Tempo durcharbeiten, da wäre ich in 10 Jahren ja noch nicht fertig. Ich möchte ihren Anfang und kritisches Einleben jedoch nicht hetzen, und wenigstens jede Unterrichteinheit gebührend durchgehen.

Nächste Woche geht es also mit Part 3 weiter, auf den ich mich persönlich freue :) Noch eine Anmerkung: es folgt ein "Interlude". Der gehört, auch wenn er keine Kapitelbezeichnung hat, zur Geschichte dazu. Mir ist aufgefallen, dass den manche zu überspringen scheinen, was nicht schlimm ist, es funktioniert auch ohne (deshalb keine Kapitelbezeichnung), ich wollte es dennoch gesagt haben :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
In diesem Kapitel rede ich von Samhain. Der ein oder andere könnte es kennen, vielleicht ist es völlig neu. Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen und nur ein wenig über die Aussprache reden. Da streiten sich nämlich die Geister, da die einen eher die moderne Aussprache bevorzugen, die anderen sich eher am Originalwort halten wollen. Falsch ist auf alle Fälle Sam-hane, da das nur die englische Aussprache ist und Gaelisch nicht ausgesprochen wird, wie man es schreibt. Man muss mehrere Regeln beachten, welcher Buchstabe von Vokalen flankiert wird, welcher nicht, denn das nimmt alles Einfluss. Und ein wenig Grammatik kommt auch dazu. So wird aus Sarah ganz schnell Voregg.

Die richtige Aussprache ist entweder Sa-wein mit einem weichen w, ähnlich des englischen "wonderfull", oder aber Sha-vnah. Ich lese es in meinem Kopf als Sa-wein. Die komplette Erklärung wie es nun zu den jeweiligen Aussprachen kommt, wäre zu lang. Falls jemand interessiert ist, darf er mich gerne anschreiben, ich erkläre es ihm ausführlich. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
*Cuiridh mi clach air a chàrn - Heißt in etwa "Ich ehre deren Andenken und halte sie in Erinnerung." Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich wieder ein wenig den Erklärbär spielen. Ein Polyptychon ist ein Gemälde oder ähnliches, das aus mehreren Teilen besteht. Das können drei Bilder sein, vier, oder mehr, die zusammen ein ganzes bilden. Findet man oft in der sakralen Kunst, wird aber auch so gerne in der Wohnungsgestaltung eingesetzt. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
* Der Dialog könnte an dieser Stelle vielleicht nicht viel Sinn geben, daher möchte ich hier ein wenig erklären, mal wieder :)

Ich persönlich habe immer im Hinterkopf, dass die Charaktere eigentlich Englisch miteinander reden, und obwohl das sogut wie nie relevant ist, kam ich an dieser Stelle einfach nicht an diesem Wortwitz vorbei, denn Zabini hätte ihn meiner Meinung nach definitiv gesagt. Im Deutschen macht es vielleicht nicht viel Sinn, aber damit muss ich leben. ^^

Baby Ratten werden im Englischen Pinky Rats genannt, oder einfach Pinky. Gleichzeitig sagen die Briten aber auch Pinky zu ihrem kleinen Finger. Als Evelyn daher von Baby Ratten als Nahrung redet, also von Pinky, kann jemand wie Crabbe zunächst glauben, sie essen kleine Finger, was Zabini im Vorfeld bereits mit ihm geklärt hat. Das schwirrte ewig in meinem Kopf und ich musste es einfach mit hinein bringen. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück