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Lamiak

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Holaaa mein Lieben!

Diese story ist dabei entstanden, als ich für meinen letzten Umzug ein paar alte Kisten durchwühlt habe und ein paar Seiten dieser alten Geschichte fand. Habe sie dann mehrmals überarbeitet und abgewandelt und das ist dabei herausgekommen.
Ich freue mich wenn ich euch für meine begeistern kann!

Viel Freude beim lesen! ^^
Schreibt gerne Kommis, Fragen usw!

Ciao, Irrati <3 Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hola meine Lieben!

Es freut mich falls ich euchschon für das neuste Kapitel begeistern konnte!
Die Ideen für die Nächsten Kapitel stehen auch schon grob, aber ich bin neugierig was ihr euch vielleicht wünscht in der Fortsetzung?!
Von welchen Charakteren wollt ihr mehr?
Ich habe zu vielen ein ganz klares Bild im Kopf. Da ich zeichnerisch leider weniger begabt bin, würde ich es fabelhaft finden mal eure bildlichen Interpretationen zur Geschichte zu sehen! ^^

Ciao, Irrati <3 Komplett anzeigen

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Arantxa Ibarra Ochoa

„Ist das euer Ernst?!“ schrie Alexis wütend und ließ dabei einen wertvollen Teller zu Bruch gehen. Ihre Eltern, Sam und Darla Pitt, versuchten sie zu beruhigen.

„Lexi, Schatz, das wird das Beste sein und sicherlich eine tolle Erfahrung.“ Besänftigte sie ihre Mom.

„Keine Widerrede, junge Dame!“ wies Sam sie energisch an.

Alexis Leah Pitt wurde von ihren wohlhabenden Eltern zu einem englischsprachigen Internat in Spanien deportiert. Ihre Familie lebte in Los Angeles, eine herrliche Stadt. Die Villa war riesengroß und stand in einer sehr noblen Nachbarschaft, warum sollte sie hier wegwollen?!

„Fein.“ Schnaubte Alexis gereizt. „Schickt mich weg, umso mehr Zeit habt ihr für eure dämliche Firma!“ Sie stapfte tobend an ihren Eltern vorbei, die große Wendeltreppe hinauf in ihr Zimmer. Dieses aufbrausende Gemüt war nie Alexis‘ Art, sie war eher ein sanftmütiger Mensch. Allerdings hatten sie und ihre Eltern oft Meinungsverschiedenheiten. Es war also nichts ungewöhnliches Streit mit ihnen zu haben.

„Jetzt wissen sie nicht mehr was sie mit mir anstellen sollen und schicken mich in die Spanische Pampa.“ Fluchte sie leise.

„Naja, was soll’s… es kann ja eigentlich nur besser werden.“ Während sie ihren Gedanken über das Internat nachhing begann sie zu packen und stopfte ihre herrlichen Sachen in einen gewaltigen Koffer. Nachdem sie fertig war ließ sie sich erschöpft auf ihr Himmelbett fallen. Ihre schulterlangen, haselnussbraunen, glatten Haare schmiegten sich an die seidige Bettwäsche und sie schloss ihre blauen Augen.

Am Sonntagabend fuhren ihre Eltern Alexis zum Flughafen. Die Abschiedsstimmung war nicht gerade herzlich. Im Auto redete niemand ein Wort.

„Da sind wir…“ sagte Darla Pitt mit einem etwas reumütigen Unterton. Alexis hievte den großen Koffer aus dem Kofferraum.

„Auf Widersehen Alexis.“ Sagte ihr Vater würdevoll, aber doch sehr unpersönlich.

„Ja vielleicht.“ Entgegnete das noch beleidigte Mädchen und ging ohne ihren Eltern in die Augen zu schauen davon. Ihr Flug startete bald darauf.

Alexis sah auf ihr Ticket. Nach dem verflucht langen Flug muss sie jetzt auch noch in einen Zug steigen um zum Internat zu gelangen. Sie stöhnte erschöpft und rollte mit ihren blauen großen Augen. Alexis konnte es kaum erwarten nun endlich an ihr Ziel zu gelangen, und sei es nur um sich schlafen legen zu können.

Der Zug war anfangs sehr voll und es gab wenige Plätze, aber sie erwischte glücklicher Weise zwei Sitze am Fenster und starrte müde heraus. Die Landschaft war ein wenig anders als sie es von zu Hause kannte. Alles wirkte hier etwas natürlicher. Große graue Berge zogen vorbei, tief grüne Wälder und goldige Sonnenstrahlen.

„Perdón…“ bat sie eine junge Spanierin, die rasch begriff, dass Alexis nicht von dort stammte. Das Mädchen hatte tiefbraune Augen und ihre Haut besaß einen herrlich südländischen Teint. Sie hielt eine kleine Tasche aus Bast und eine Broschüre vor dem Oberkörper und ihre langen dunklen Haare hingen ihr vorn über die Schultern, bis über ihre Ellenbogen.

„… eh, dürfte ich mich zu dir setzen? Es ist kein weiterer Platz frei.“ fragte sie in einem angenehm spanischen Akzent. Das Mädchen hatte einen eher eigenwilligen Kleidungsstil im Vergleich zu Alexis. Sie trug einen langen schwarzen Rock, Sandalen und ein lockeres braunes Shirt. Ihre Arme hingen voll mit Ketten und bunten Bändern und sie trug ein Tuch im Haar.

„Natürlich.“ Entgegnete Alexis und musterte das Mädchen. „Was liest du da?“ Sie deutete auf die dicke Broschüre auf welcher Langara Ganboa stand.

„Oh das? Darin sind Informationen über das Internat zu dem ich heute fahre.“

„Wohl eher ein halbes Buch.“ Lächelte das Mädchen aus L.A. zurück und begann zu stutzen.

„Moment mal…“ Alexis kramte in ihrer Tasche und zog die gleiche Broschüre hervor die ihre Eltern ihr mitgaben, sie aber nicht einmal geöffnet hatte.

„Meine Eltern schicken mich in genau dasselbe!“ Ein kleiner Funke Hoffnung stieg in Alexis auf. „Wie ist es dort so?“ erkundigte sie sich neugierig.

„Ich habe keine Ahnung.“ Lächelte die Südländerin verlegen „Ich fahre auch zum ersten Mal dort hin. Ich bin von meiner alten Schule in Bilbao geflogen, weil ich zu chaotisch war und nun soll ich zu meinem großen Bruder ins Internat. Als ob er das wieder hinbiegen kann, haha!“ grinste sie.

„Meine Eltern kriegen es nicht fertig neben ihrer Firma normal mit mir umzugehen. Weil sie überfordert sind, haben die mich gleich komplett aus dem Kontinent ausfliegen lassen. Ich komme aus Los Angeles.“ Die Mädchen lächelten sich verständnisvoll an.

„Ich bin Arantxa. Aber du kannst auch Ara zu mir sagen.“ Sie legte den Kopf etwas seitlich und große goldene Ohrringe glitzerten unter ihren dunklen Haaren hervor.

„Alexis Leah Pitt.“ Sie reichten sich die Hände.

„Arantxa ist ein ungewöhnlicher Name…“

„Es ist baskisch. Meine Familie stammt aus der Nähe von Bilbao. Wir sind also nicht wirklich Spanier.“ zwinkerte Arantxa. Alexis verstand noch nicht ganz und nickte nur nachdenklich.

Die beiden 17-jährigen freundeten sich während der Fahrt bereits gut an und verstanden sich von Satz zu Satz besser. Eine natürliche Harmonie baute sich zwischen ihnen auf.

„Ay, hast du eigentlich einen Freund, Lexi?“ Alexis hatte nicht mit dieser Frage gerechnet und schaute sie irritiert an. „Eh…nein, warum?“

„Willst du einen haben?“

„Was?!“

„Mein Bruder geht seit 4 Jahren auf dieses Internat und sagte, dass ich auf jeden Fall einige nette Männer kennen lernen werde, hahahha!“ Sie grinste über beide Ohren und lachte gleichzeitig über die Verdutztheit der Amerikanerin. Doch dann musste auch diese lachen.

Der Zug hielt wenige Stunden später an ihrem Ziel. Langara Ganboa. Eine sehr kleine Stadt, idyllisch gelegen am Ullíbarri-Gamboa, einem wunderschönen See. Hier ließ es sich nun vielleicht doch ganz gut aushalten.

Die Mädchen verließen den kleinen Bahnhof und dort wartete auch schon Arantxas Bruder mit dem Auto auf sie. Die Baskin ließ ihren Rucksack und das Basttäschchen fallen und schloss ihren Bruder liebevoll in die Arme.

„Kaixo, Nael!!!“ freute sie sich und gab ihm auf jede Gesichtshälfte einen schwesterlichen Kuss. Lexi nahm an, dass es sowas wie „hallo“ hieß.

„Oh man Arantxa, du läufst ja immer mehr wie ein Hippie rum! “ lachte er und entließ seine Schwester wieder aus den Armen. Dann erblickte er Alexis.

„Das ist Lexi, sie wird auch auf das Internat mit uns gehen! Wir haben uns im Zug kennengelernt. Sie ist Amerikanerin!“ Alexis ging auf Nael zu und reichte ihm die Hand.

„Hi, nett dich kennenzulernen.“

Nael lud das Gepäck der Mädchen in seinen Wagen und fuhr sie ins Internat.

Schocktherapie

Die Landschaft war wunderschön, beinahe mystisch. Dieses Baskenland, wie sie von ihren zwei neuen Freunden erfuhr, war echt eigenartig und doch faszinierte es Alexis bereits. Nael erklärte ihnen, sie müssen sich zuerst beim Direktor des Internats anmelden und würden dann einen Zimmerschlüssel und eine Einführung bekommen. Am Internatsgebäude angekommen betraten die drei die Eingangshalle. Lexi begutachtet alles ganz genau und schweifte mit ihren Blicken bis an die hohen Decken des alten Gemäuers. Ein unerwarteter Zusammenprall reißt sie aus ihrer Träumerei.

„Au, pass doch auf!“ klagte sie und rieb sich den rechten Arm.

„Tut mir leid, ich bin gestolpert!“ entschuldigte sich ein blonder, junger Mann. Alexis und er schauen sich kurz in ihre blauen Augen.

„Ach, schon okay…“ lächelt sie nun und verlor sich bald wieder in ihren Träumen. Der blonde zwinkerte ihr zu und wendete sich an Nael.

„Du bist Nael?“

„Genau, du bist sicher Colin, nicht wahr?“ Er reichte ihm die Hand. „Tut mir Leid für die kleine Verspätung, ich habe meine Schwester Arantxa noch vom Bahnhof abgeholt.“ Nael griff in seine linke Hosentasche und gab Colin einen Schlüssel.

„Unser Zimmer ist die Nummer 4, im rechten Gang des 1. Stocks. Ich zeig’s dir!“ er wandte sich nun an seine Schwester. „Ihr macht euch besser auf den Weg zum Direktor jetzt. Wir sehen uns später!“ Nael winkte ihnen zu und verschwand mit dem blonden Colin im Gebäude.

„Noch ein neuer, hm? Ich glaube das ist Naels neuer Mitbewohner, sie hatten schon mal telefoniert, weiß ich.“ erkannte Ara.

„Denke dein Bruder behält recht… er ist süß.“ meinte die Amerikanerin verträumt, schüttelte dann diesen Gedanken ab und ermahnte ihre neue Freundin zum Weitergehen. Schließlich wartete der Direktor. Sie nahm Arantxa bei der Hand und zog sie die große Treppe der Eingangshalle hinauf. Sie bekamen eine große Ansprache, die Hausordnung, Zimmerschlüssel, Stundenpläne, Lageplan für die Gebäude und eine lange Belehrung über das Verhalten im Internat und außerhalb.

Das historische Gebäude besaß einen gewissen Charme. Es war nicht zu protzig, auch wenn es gewaltig erschien. Die Architektur war besonders und dennoch klassisch. Alexis und Arantxa gefiel es sofort. In der Eingangshalle teilte eine massive und geschwungene Treppe das Haus in drei Hauptteile. Zwei davon folgten langen, breiten Fluren nach links in die Mädchenzimmer, nach rechts die der Jungen. Der dritte Gang führte zu einem separaten Gebäude mit den Unterrichtsräumen. Wenn man nicht die Treppe hinaufstieg, gelangte man auf der linken Seite in den Speisesaal. Auf der rechten befand sich eine uralte Bibliothek, die Lexi direkt ins Auge gefasst hatte. Sie war ein Bücherwurm. Hinter der Bibliothek schlossen sich Aufenthalts- und Lernräume an. Der Gang hinter der Treppe führte geradezu zu den Sportstätten und einem großen Garten. Auf ihrem Zimmer angekommen, ließen sich die Mädchen erschöpft auf ihre Betten sinken.

„Hey…“ sagte Arantxa „Colin war eben eine echte Schocktherapie für dich, eh?!“ Alexis ignorierte sie bewusst und wechselte grinsend gekonnt das Thema.

„Ich will mir nachher noch die Bibliothek anschauen.“

„Na gut, ich bin später bei Nael in Zimmer 4. Wir sehen uns dann später!“ gab die Baskin geschlagen aber lächelnd von sich.

Die hübsche Südländerin hämmerte etwas später an die Zimmertür ihres Bruders.

„Nael, hemen zaude? (Bist du da?) Mach auf, oder ich komme rein!“ drohte sie grinsend. Es kam keine Antwort, also öffnete sie einfach die Tür. Statt ihrem Bruder jedoch fand sie einen großen schlanken Mann mit einem kurzen dunklen Lockenkopf vor sich.

„Was tust du hier?!“ brüllte sie ihn halb an. Er erschrak sichtlich, drehte sich zu ihr um und verlor das Gleichgewicht und stolperte vor Schreck über seine eigenen Füße. Daraufhin landete er auf seinem Bauch und zu Arantxa’s Füßen.

„Oh…hi.“ Er schaute verlegen zu ihr auf. „Ich bin Nael’s anderer Mitbewohner.“ Arantxa schaute ihn irritiert an, drehte sich um und verschwand genervt, ohne einen Ton aus dem Zimmer. Der junge Mann rappelte sich nun schnell auf und steckte die Hände in die Taschen seiner schwarzen, engen Hose.

„Idiota…“ murmelte er zu sich selbst. Er legt sich eine Hand an die Stirn und schüttelt den Kopf. „Du bist so ein Idiot…“ Im selbigen Moment betrat Nael die Türschwelle.

„Wer ist ein Idiot?“

Der Lockenkopf entgegnete: „Deine Schwester war gerade hier und hat dich gesucht.“

„Seit wann kennst du Arantxa persönlich?“

„Ich… naja ich kenne sie von deinen Familienfotos auf deinem Schreibtisch und euren Telefonaten.“ Er blickte zu den Rahmen hinüber.

„Und der erste Kontakt ging also in die Hose, eh? Kopf hoch, Arriola, vielleicht bekommst du nochmal eine Chance bei ihr!“ er lachte und klopfte seinem leidenden Mitbewohner auf die Schulter. Der Lockenkopf schaute ihn nur mit einem Dackelblick an und erzählte was zuvor passiert war. Nael konnte sich vor Lachen kaum halten.

„Die hat dich wohl ganz schön aus den Socken gehauen, amigo! Mach dir keinen Kopf, sie ist etwas arrogant.“

Zur selben Zeit streifte Lexi durch die Gänge der atemberaubenden Bibliothek. Es roch nach altem Pergament und leicht staubig. Die dunklen Regale stauten sich bis unter die hohe Decke. An manchen lehnten Leitern die die Bibliothekarin manchmal benutzen um an die höher gelegenen Exemplare zu gelangen. Ihre Arme vollgepackt mit Büchern die sich bereits reservieren lassen wollte. Verträumt schaute sie die gewaltigen Regale hinauf und stieß erneut mit jemandem zusammen. Die sorgfältig gestapelten Bücher verteilen sich lautstark auf dem Boden.

„Oh Verzeihung!“ Es war Colin. Schonwieder. Lexi lächelte ihn an und strich sich das Haar hinter die Ohren.

„Schon okay, mach dir nichts draus. Ich habe geträumt, es ist meine Schuld. Du scheinst es echt auf mich abgesehen zu haben heute!“ scherzte sie. Colin half ihr die Bücher wieder aufzuheben.

„Gut, dass Bücher keine Schmerzen empfinden, das würde sonst ganz schön wehtun.“ Sie war verlegen. Colin zeigte ihr ein Lächeln und verabschiedete sich dann höflich.

„Oh mein Gott, Alexis Leah Pitt, du bist so bescheuert… <gut, dass Bücher keine Schmerzen empfinden>“ äffte sie sich selbst nach. Sie ließ sich die Bücher reservieren und ging zurück auf ihr Zimmer, wo Arantxa bereits auf ihrem Bett lag und an die Decke starrte. Sie hob den Kopf als Alexis das Zimmer betrat.

„Da bist du ja endlich, lass uns zum Essen gehen, ich verhungere bald!“ Lexi nickt und beide spazieren durch den Gang zum Essenssaal. An der unteren Treppe trafen sie auf Nael.

„Ey, wo warst du vorhin?!“ motze ihn seine Schwester direkt an.

„Warum, was ist los?“

„Statt dir fand ich Señor ´ich kann nicht laufen` in deinem Zimmer.“ Sie war etwas frustriert.

„Wen hast du denn erwartet, Ara? Du weißt doch dass ich schon ewig einen Mitbewohner habe.“ er lachte herzhaft als er sich an die Geschichte zurückerinnerte.

„Wenigstens einen der schon laufen kann.“ schnaubte sie arrogant.

„Ach komm, gib Arriola eine Chance.“ Er zwinkerte ihr zu. Alexis begann sich interessiert einzumischen.

„Wer ist Arriola, hab ich was verpasst?“

„Nael, das letzte Mal hat er dreimal innerhalb von fünf Minuten angerufen und jedes Mal „perdón número equivocado“ gesagt und aufgelegt, wenn ich abgenommen habe.“ Sie verzog das Gesicht.

„Arantxa, er ist schon eine ganze Weile mein Mitbewohner. Sei nicht so hart zu ihm. Er ist nur etwas… ungeschickt, wenn es um dich geht.“ Nael begann laut zu lachen und legte den Arm um seine genervte Schwester.

„Ach so schlimm kann er doch nicht sein, Ara.“ beruhigte ihre Freundin sie. Die temperamentvolle Baskin rollte mit den Augen und versuchte das Thema zu ignorieren.

Dann stiefelte das hübsche Mädchen mit dem langen Rock in Richtung der Speisehalle. Die anderen zwei grinsten sich an und trotteten vergnügt hinterher und setzten sich gemeinsam an einen der großen runden Tische. Nach einer Weile kam Luken Jaso Arriola mit einem beladenen Tablett auf Nael‘s Tisch zu. Dieser rief ihm freudig entgegen.

„Aqui Arriola!“ er winkte ihn zu sich heran. Luken erkannte das hübsche Mädchen an der Seite seines Freundes und wurde vor Freude regelrecht nervös. Sein linker Mundwinkelverzog sich zu einem Schmunzeln. Er übersah auf seiner Zielgeraden jedoch ein herausstehendes Stuhlbein und blieb mit seinem linken Fuß kurz daran hängen. Lange genug um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und sein Tablett, samt Abendessen, auf den Boden fiel. Er akzeptierte beschämt seine Tollpatschigkeit, verzog die Mundwinkel, gab ein geschlagenes „Hi “ von sich.

„Hallo.“ Gab Alexis nett von sich und winkte ihm zu. Arantxa wandte ihr Gesicht ab und ignorierte seinen Auftritt.

Vamos a Madrid!

Das Abendessen war für Arantxa schnell beendet und sie verabschiedete sich vorzeitig von den anderen. Alexis entschied sich zu bleiben und schaute ihrer Freundin hinterher. Sie nutzte diese Gelegenheit um mehr über die Situation in Erfahrung zu bringen.

„Was hat sie denn gegen ihn?“ Alexis verstand ihre Freundin nicht und wollte die Situation erleichtern.

„Ach mach dir keine Gedanken Lexi, meine Schwester ist oft hochnäsig. Sie hält etwas zu viel von sich manchmal. Obwohl diese Art gar nicht zu ihr passt. Arriola steht auf meine Schwester seitdem ich in sein Zimmer zog vor 4 Jahren. Er fragte oft nach ob sie mal zu Besuch kommen würde oder ob sie es war mit der ich sprach, wenn ich telefonierte.“ Er belächelte das neurotische Verhalten seines Freundes.

„Verstehe…“ beginnt Lexi, „ist doch süß, wenn er so tollpatschig in ihrer Nähe ist.“ Sie zuckte mit den Schultern und räumte ihr Tablett weg.

„Sie findet es eher peinlich…“ gab Nael zu und stand ebenfalls vom Tisch auf.

„Das vergeht sicher noch, vielleicht muss sie ihn einfach erstmal besser kennenlernen.“ Alexis wirkte zuversichtlich und beide gingen zu ihren Zimmern.

Die erste Schulwoche verlief für Arantxa und Alexis ruhig. Sie gewöhnten sich rasch an das neue Umfeld und waren unzertrennlich. Der Unterricht war ertragbar und die meisten Klassenkameraden nett. Arantxa genoss es oft im Mittelpunkt zu stehen und zählte schnell zu einem der beliebtesten Mädchen ihrer Klassenstufe. Lexi interessierte sich wenig dafür, hielt sich eher zurück und vertiefte sich in ihre Bücher. Dennoch stand dies der Freundschaft der beiden keinesfalls im Wege.

Nach der zweiten Schulwoche beschloss Nael einen Ausflug nach Madrid zu unternehmen und lud die beiden Freundinnen und seine Mitbewohner übers Wochenende ein mitzukommen. Arantxa war begeistert, wusste jedoch nicht von den anderen zwei Jungs die mitkommen sollten.

„Das hört sich fabelhaft an! Du wirst Madrid mögen Lexi!“ klatschte sie erfreut in ihre Hände und brachte ihre goldenen Armreifen zum Schellen, als die zwei auf dem Parkplatz vor dem Internat auf Nael warteten.

Nach einer Weile kamen Arriola, Colin und Nael auf sie zu.

„Hey wo wollt ihr beide denn hin?“ rief Lexi Colin und Luken zu.

„Nael erzählte, dass er mit euch einen Ausflug nach Madrid plante und da konnten wir einfach nicht ablehnen. Ich wollte schon immer mal dort hin.“ Freute sich Colin und gesellte sich zu ihr.

„Dein Name war Alexis oder? Ich heiße übrigens Colin Sheffield.“

„Eh…genau. Alexis Leah Pitt.“ Sie freute sich heimlich, dass er ihren Namen wusste.

Arantxa sah ihren Bruder mit Blicken an die hätten töten können und schüttelte den Kopf.

„Traidore! (Verräter)“ murmele sie zynisch.

„Arantxa, du erinnerst dich an Arriola…? “ erkundigte er sich berechnend. Luken nahm eine Hand aus der Hosentasche und winkte den Mädchen zu und gab ein etwas zurückhaltendes „Hi.“ von sich.

„Nicht wirklich.“ Arantxa würdigte Arriola hoch erhobenen Hauptes keines Blickes.

„Wollen wir…?“ schaute Colin Lexi an. Diese gab nur ein Lächeln als Antwort und beide stiegen in Naels Wagen.

„Ich sitze vorn.“ legte Arantxa sofort fest und folgte den beiden. Nael klopfte seinem Freund beim Vorbeigehen auf den Rücken:

„Gut gemacht Arriola, diesmal bist du stehen geblieben!“ er lachte und Luken griff sich verlegen in die kurzen schwarzen Locken.

Nach guten dreieinhalb Stunden erreichten sie Madrid. Es war schon fast September, aber immer noch sehr heiß. Nael beschloss sich um ein Hotel zu bemühen und sich um den Abend und das Essen zu kümmern. Lexi wollte direkt alle Buchläden und Bibliotheken erkunden. Colin erklärte sich direkt bereit sie zu begleiten.

„Ich will mich ein wenig in den Läden umsehen!“ verkündete Arantxa laut.

„Okay, aber Arriola wird dich begleiten, ich will nicht, dass du alleine durch die Stadt rennst und dich wohlmöglich noch verläufst.“

„Eh…okay.“ Luken schaute seinen Freund irritiert und etwas verunsichert an, grinste jedoch über sein glückliches Schicksal.

„Alles klar Freunde, dann treffen wir uns gegen 7 wieder hier, ansonsten ruft einfach an!“

So trennten sich ihre Wege.

Im ersten Buchladen angekommen fragte Colin:

„Liest du viel, Alexis?“

„Machst du Witze? Ich ernähre mich praktisch von ihnen!“ lächelte sie ihn sanft an.

„Und du kannst mich ruhig Lexi nennen, das tun die meisten.“ Erklärte sie.

„Vielleicht mache ich das… oder Leah.“ Er zog einen Mundwinkel hoch und schaute sie an.

„Aber so nennt mich fast niemand.“

„Dann ist es doch ein Grund ihn zu benutzen… “ zwinkerte er ihr zu. Dann konzentrierten sie sich wieder auf die Büchersuche. Zwischen den beiden knisterte es langsam und eine sanfte Harmonie entstand zwischen der Amerikanerin und dem Briten aus Portsmouth.

So eine Harmonie hätte der arme Luken auch gebrauchen können. Die temperamentvolle

Baskin ließ ihn sichtlich links liegen und machte es sehr schwer für ihn an ihr dran zu bleiben. Mit vollen Taschen huschte sie von einem in den nächsten Laden und versuchte Luken abzuschütteln.

Nach einer weiteren halben Stunde hatte Arantxa ihr Ziel erreicht und den von ihrem Bruder auferlegten Aufpasser abgehängt, doch mit Folgen. Während der Verfolgungsjagd hatte sie ihren Weg durch die vielen engen Gassen nicht bedacht und hatte sich verirrt ohne es zu bemerken. Auf der Suche nach einem Rückweg kam sie an einem Klaviergeschäft vorbei und blieb vor dem Schaufenster stehen. Sie schaute gedankenverloren auf die schwarz glänzenden Schönheiten. Sie ließ ihre Taschen auf den Boden sinken und trat näher heran. Sie vermisste diesen Klang der ihr einst so viel bedeutete. Ein gutaussehender, aber verdächtiger Mann kreuzte ihren Weg und sie erkundigte sich selbstsicher nach der Route zu einem Platz von dem aus sie wieder zurückfinden würde. Sie wollte ihm zum Dank etwas Geld anbieten, doch der zwielichtige Mann witterte seine Chance und drängte Arantxa in eine Ecke und bedrohte sie mit einem Messer.

„Mehr Geld!“ schrie er sie an. Verängstigt streckte sie ihm bereitwillig all ihr Bargeld und Schmuck nach und nach entgegen. Ihr stockte der Atem und ihr Herz raste vor Panik. Sie zitterte am ganzen Körper, auch noch nachdem der Mann genauso schnell wieder verschwunden wie er aufgetaucht war. Arantxa sank neben dem Fenster des Klaviergeschäfts an einer Wand nieder und zog ihre von einem langen schwarzen Kleid bedeckten Beine dicht an ihren Körper und vergrub das Gesicht zwischen ihren Knien.

Sie hatte einen Fehler gemacht. Sie war absichtlich entwischt und hatte sich in diese Situation gebracht. Und nun wusste sie nicht wie sie die anderen wiederfinden konnte.

Nach einer halben Stunde saß sie noch in derselben Position, taub von dem Geschehenen und verängstigt sich auch nur einen Meter weiter zu bewegen. Zum Glück fand Luken sie.

„Hey, da bist du ja. Ich habe überall nach dir gesucht… aber das war wahrscheinlich genau dein Ziel.“ Meinte er ironisch und beugte sich etwas zu ihr herunter.

„Lágarte. (Verschwinde.)“ zischte sie ihn an ohne aufzuschauen.

„Ich denke, wenn ich das tun würde, wäre dein Bruder nicht länger mein Freund und würde mich Kopf über an einem Seil aus unserem Fenster hängen.“ Sie schaute ihn etwas angewidert von seiner Antwort an und runzelte die Stirn.

„Wie auch immer…“ Er stand auf und gestikulierte ironisch mit seinen Händen. „Du kannst dir überlegen ob du wieder mit mir zurückgehst oder hier weiterhin in einer verlassenen Gasse vor dich hin schmollst und den nächsten Bus alleine nimmst.“ Er hob die Augenbrauen und wartete auf eine Antwort. Sie ignorierte sein Angebot gekonnt. Er stieß einen enttäuschten Atemzug aus und wendete sich von ihr ab.

„Okay.“ Akzeptierte er ihre stumme Verneinung. Er wollte gehen.

„Ich… ich habe mich verlaufen und dann wurde mir auch noch mein ganzes Geld geklaut.“ Sagte sie beschämt. Luken seufzte einmal tief und drehte sich zu ihr um.

„Wenn du willst musst du nicht mal mit mir reden auf dem Rückweg. Lass mich dich nur zurückbringen.“ Er sprang über seinen Schatten, reichte ihr die Hand und half ihr auf.

„Wir holen dir erstmal einen Kaffee, vamos.“ Er ging voran und die hübsche Baskin trottete ein wenig schuldig hinter ihm her, schaute ihn aber kein einziges Mal an.

Zur selben Zeit begutachteten Lexi und Colin inzwischen schon den 4. Buchladen.

„Leah…?“ fragte Colin beinahe etwas zaghaft.

„Ja?“ Sie drehte sich zu ihm um.

„Wie wäre es mit einem Kaffee?“

„Ich liebe Kaffee! Eine gute Idee.“ Sie grinste über beide Ohren. Nachdem sie den Stapel an Büchern bezahlt hatten suchten sie das nächst beste Café auf und gönnten sich eine kleine Verschnaufpause. Sie saßen sich an einem kleinen runden Metalltisch gegenüber, inmitten einer schmalen Seitengasse.

„Woher kennst du eigentlich Nael?“ erkundigte sich der charmante Brite.

„Von Arantxa. Diese Basken scheinen echt ein ungewöhnliches Völkchen zu sein.“ Gab sie lächelnd zu. Colin nickte.

„Luken ist auch Baske, wusstest du das?“

„Nein ich hatte keine Ahnung.“ Lexi wirkte überrascht. „Er wirkt allerdings sehr nett. Ara sollte wirklich nicht so gemein zu ihm sein.“ Colin nickte zustimmend.

„Ist sie wirklich so arrogant wie ihr Bruder manchmal behauptet?“

„Manchmal, aber tief im Herzen ist sie eine bezaubernde und aufregende Persönlichkeit. Ich denke sie zeigt nicht immer alle Teile ihrer Seele. Sie hat etwas Geheimnisvolles an sich.“

„Vielleicht hat sie Angst etwas Gefühl zu zeigen… im Gegensatz zu Luken, haha!“

„Vielleicht.“

„Und was ist mit dir…?“ Colin versuchte Lexi aus der Reserve zu locken.

„Was meinst du?“ Lexi sah errötend auf und ihm in die blauen Augen.

„Versteckst du dich auch vor Gefühlen?“ er grinste sie verschmitzt an.

„Ganz und gar nicht.“ Alexis stütze ihr Kinn auf ihre Handfläche und funkelte den blonden Jungen herausfordernd an.

„Gut.“ Gab er siegessicher zurück. „Wie wäre es mit nächstem Freitag, du und ich?“

„Fein.“ Sie schmunzelten sich an bis Colin etwas in den Sinn kam.

„Sag mal, was hast du dir vorhin für ein eigenartiges Buch gekauft?“ Alexis zog ein braun eingeschlagenes Buch mit eingravierten Mustern aus ihrer Tasche hervor.

„Meinst du dieses?“ Es handelte sich um ein sehr altes Buch über die Geschichte des Baskenlandes, der Bräuche, Mythologie und Kultur.

„Ja genau. Leihst du es mir mal, wenn du damit durch bist?“

„Na klar. Woher das plötzliche Interesse?“ Colin beginnt zu lachen.

„Nun ja… schließlich wohne ich mit zwei von diesen Chaoten zusammen und will nur vorbereitet sein!“ Beide lachten und genossen die angeregte Unterhaltung. Nach einer Weile brachen sie zum vereinbarten Treffpunkt auf.

Abendessen mit Mari

Die Gruppe war wieder versammelt und gespannt auf Nael’s Abendplanung. Sie fuhren gemeinsam zu ihrem Hotel. Lex und Arantxa teilten sich ein Zimmer, die Jungs teilten sich ebenfalls ein Zimmer. Es war kein sonderlich schönes oder teures Hotel, aber es reichte vollkommen für die eine Übernachtung aus.

Die fünf Freunde genossen ein herrliches Abendessen in einem kleinen Straßenrestaurant und genossen anschließend etwas Rotwein in ihrer gemütlichen Runde. Je später die Nacht wurde, desto interessanter wurden die Gesprächsthemen.

„Hey Ara, ich habe mir heute ein Buch über die Mythologie und Kultur eures Landes besorgt. Es ist unheimlich faszinierend!“ erzählte die blauäugige Amerikanerin und strich sich ihr schulterlanges, seidiges Haar hinten die Ohren. Sie schaute ihre Freundin mit großen erwartungsvollen Augen an.

„Ay, dich scheint das ja brennend zu interessieren!“ Sie freute sich über die Neugier ihrer neuen Freundin und versetzte sich in eine mystische Stimmung.

„Unsere Mythologie ist geprägt von espiritu, Geistern. Viele in unserem Alter schenken unseren Wurzeln keinerlei Beachtung, sind einfach nicht interessiert oder haben es nie gehört. Aber wir sind mit diesen Geschichten groß geworden und noch stark mit ihnen verbunden.“ Sie schaute ihren Bruder geheimnisvoll an. Er setzte die Geschichte seiner Schwester fort.

„Die wichtigste unter ihnen ist Mari. Die Personifikation der Erde und Natur. Es heißt, sie lebt unter der Erde in einer Höhle, eine Frau mit Armen und Beinen eines Tieres.“ Alle lauschten gespannt der Geschichte und nippten weiter an ihren Weingläsern. Arantxa setzte wieder ein.

„Wenn sie umher reist, ist sie von einem Feuerball umgeben. Sie ist verheiratet mit Maju, dem Teufel, einer Gestalt die sowohl Mann als auch Schlange ist. Man sagt, ein Sturm entsteht, wenn sie und Maju sich ihren Gelüsten hingeben.“ Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen aber behielt die mysteriöse Stimmung bei.

„Sie bestraft die Boshaftigkeit der Menschen.“ Bevor Arantxa weiterreden konnte, fügte Luken sich auch in die Geschichte ein.

„Aatxe, ein Geist der oft in Form eines jungen Mannes oder eines feurigen Stiers auftritt, wird von ihr ausgesandt bei Nacht und Sturm. Er bestraft diejenigen die stehlen, lügen und betrügen. Gleichermaßen ist er ein Wächter. Er wittert Gefahren und warnt die Guten unter uns.“ Als er den Satz beendet hatte, blieben alle still. Sogar Arantxa. Sie schaute Luken nur an, ohne Verachtung, mit einem schmalen Lächeln auf ihren Lippen. Der Geschichtsexkurs endete somit. Colin und Alexis waren verzaubert von der Schönheit ihrer Kultur und Naturverbundenheit. So etwas kannten sie aus ihrer Heimat nicht.

Die Gespräche wurden mit der Zeit wieder heiterer und nach ein paar Stunden ging die Gruppe zurück in ihr Hotel um sich ihre verdiente Ruhe zu holen. Die Mädchen ließen sich glücklich in ihre halbwegs bequemen Betten fallen und schliefen rasch ein.

Arantxa schlief sehr schlecht und erschrak aus einem Alptraum. Schweißperlen funkelten auf ihrer Stirn. Sie saß aufrecht in ihrem Bett und schaute zu Alexis hinüber. Diese schlief wie ein Lamm. Arantxa setzte sich an ihre Bettkante und schlüpfte in ihre Latschen. Es war 4 Uhr am Morgen. Alles war dunkel und still. Sie entschloss sich ein wenig durch das Hotel zu wandern um wieder auf andere Gedanken zu kommen und sich zu beruhigen. Sie verließ das Zimmer in ihrem Pyjama und latschte den langen Gang zur Treppe entlang. Auf der Treppe hörte sie Schritte und erschrak kurz.

„Krieg dich wieder ein du Angsthase, das ist ein stinknormales Hotel, auch nachts sind hier Leute die arbeiten.“ Sagte sie genervt zu sich selbst und ging weiter. Am Ende der Treppe bog sie um eine Ecke und blieb verdutzt stehen. Luken stand vor ihr und biss gerade in einen Apfel. In seiner anderen Hand hielt er diverse andere Snacks.

„Aupa!“ erschrak sich dieser. „Arantxa, was machst du hier?“ Er stand mit halbvollem Mund kauend und mit großen Augen vor ihr.

„Was tust du denn hier?“ fragte sie genervt.

„Siehst du doch. Ich hatte Hunger.“ Er wartete kurz ab. „Willst du was?“ er deutete auf seine beladenen Arme. Sie rollte wieder mit den Augen.

„Okay… ich werde dann mal wieder zurück.“ gab Arriola freudig über die nächtliche Begegnung zurück.

„Was tust du um diese Zeit hier?“ wollte er noch von ihr wissen. „Konntest du nicht schlafen?“ Arantxa schaute ihn kurz an.

„Nichts das dich was angehen würde.“ Gab sie kühl zurück. „Nur Alpträume.“ Sie stapfte an ihm vorbei.

„Hier, nimm das.“ Er streckte ihr einen Schokoladenriegel entgegen. „Gegen die bösen Geister.“ Sie schaute ihn abwertend an und verschränkte die Arme vor dem Körper.

„Aatxe wird dich schon nicht holen. Wenn du von unseren Geistern heimgesucht werden würdest, würden sie sich garantiert einen besseren Ort dafür auswählen und nicht dieses stinkige Hotel.“ Versuchte er seine Aufsteigende Nervosität zu überspielen. Arantxa sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Es ist nicht das erste Mal.“ sagte sie zynisch und schnappte den Riegel hektisch aus Luken‘s Hand. „Ich bin ein großes Mädchen und kann schon gut allein auf mich aufpassen!“

„Das bezweifle ich keineswegs…“ begann er, „aber um sicher zu gehen, dass du dich nicht wieder verirrst, solltest du mir vielleicht folgen.“ Er kniff die Augen etwas zusammen. Sein Humor nervte sie. Etwas wütend ging sie die Treppe hinauf, war aber gleichzeitig etwas erleichtert gerade nicht allein zu sein. Anmerken ließ sie es sich selbstverständlich nicht. Luken ging schweigend hinter ihr her und verzog freudig triumphierend das Gesicht hinter ihrem Rücken als hätte der Himmel ihm diese Begegnung geschickt. Er geleitete das Mädchen zu ihrer Tür. Sie schloss diese auf und trat ein.

„Also dann gute…“ bevor er den Satz beenden konnte, drückte sie ihm die Tür vor der Nase zu. „… Nacht.“ beendete er der Vollständigkeit halber seinen Satz.

Luken Jaso Arriola lag den Rest der Nacht wach. Arantxa schlief nun besser. Kein Alp plagte sie mehr die restlichen Stunden. Die hübsche Baskin wurde oft aus dem Schlaf gerissen. Die Träume ähnelten einander sehr. Sie träumte von den espiritu, von Mari, die sie jagte und heimsuchte. Eine von Feuer umgebende, lodernde Frau die nach ihr schrie und griff. Arantxa hatte in ihrem Traum eine andere Gestalt. Sie sah irgendwie anders aus. Wenn sie nur wüsste warum. Es lag nicht an dem schlechten Gewissen, dass sie Luken gegenüber verspürte, denn sie hatte diese Träume schon vorher erlebt. Viele von ihnen.

Familienbande

Am nächsten Morgen waren die Sorgen der vergangenen Nacht wieder vergessen und die fünf saßen an einem üppig gedeckten Frühstückstisch. Arantxa überspielte die Geschehnisse der vergangenen Nacht gekonnt und benahm sich als wäre nie etwas geschehen. Es war ihrer Meinung nach keiner Rede wert. Luken schaute ab und an zu ihr herüber, wurde aber nicht schlau aus ihr. Wenn niemand hinsah, musterte er ihre Gesichtszüge nachdenklich. Sie war anders letzte Nacht. Es schien als hätte sie Angst gehabt. Irgendetwas an ihr ließ ihn nicht los. Während Luken das Mädchen begutachtete lachten Lexi und Ara über eine Lügengeschichte über Arantxas verlaufen. Nael und Colin bemerkten die Abwesenheit ihres Mitbewohners.

„Ey Arriola, alles klar?“ wollte Colin wissen und holte seinen Freund mit einer klopfenden Berührung aus seinen Gedanken.

„Eh ja, bin nur noch etwas müde.“ gab dieser zurück und rieb sich die Augen.

„Sag mal, ist bei euch daheim eigentlich alles klar, Nael?“ erkundigte sich der Lockenkopf.

„Ich denke schon, warum fragst du?“

„Ach nichts, deine Schwester erwähnte nur etwas von ein paar Alpträumen gestern.“

„Sie hat sie schonwieder…“ nuschelte Nael zu sich selbst. „Mach dir keine Gedanken, sie ist tough.“

Nach dem Frühstück packten alle ihre Taschen und machten sich auf zu ein paar Stunden Sightseeing in der Stadt. Am späten Nachmittag fuhren sie zurück ins Internat.

Am nächsten Tag ging Colin in einer Unterrichtspause auf Lexi zu.

„Leah!“

„Colin, hey!“

„Kann ich dich mal was fragen?“ er versuchte das Gespräch vor anderen zu verstecken und zog sie sanft um eine Ecke.

„Was ist denn los?“ Lexi wirkte überrascht.

„Luken und Nael erwähnten neulich etwas darüber, dass Arantxa Alpträume habe. Schon seit einer ganzen Weile. Sie tauchen wohl immer wieder auf. Hast du etwas Ungewöhnliches an ihr bemerkt?“

„Was? Ihr spinnt doch, haben euch die Geistergeschichten den Kopf verdreht oder was?“ sie belächelte seine Nachfrage. Colin legte eine Hand auf ihre Schulter.

„Es wirkte ziemlich ernst. Gib etwas Acht auf sie, ja?“ Sie schaute ihn leicht verwirrt an und stimmte dann nickend zu.

Alexis und ihre Freundin unterhielten sich am Ende des Tages über Freizeitangebote. Sie saßen zusammen mit Nael an einem Tisch im Essenssaal. Nael beriet sie über die verschiedensten Sportangebote, Literaturzirkel, die Ausgabe einer Internatszeitung und künstlerische Aktivitäten. Alexis war wie geschaffen für einen Club der sich ausschließlich mit guter Literatur auseinander setze und beschloss beizutreten. Nael war seit zwei Jahren im Ruderteam, welches einmal wöchentlich auf den schönen Ullíbarri-Gamboa See trainierte. „Was ist mit dir Arantxa, willst du nicht auch irgendwo beitreten?“ erkundigte sich ihr Bruder.

„Hm…ich weiß nicht.“ Gab die braunäugige von sich und spielte gelangweilt mit einer geflochtenen Haarsträhne.

„Was ist mit Musik…?“ hakte Nael vorsichtig nach. Alexis schaute ruckartig zu ihrer Freundin herüber: „Musik?“ Arantxa schnaufte einmal.

„Ja vielleicht… ich weiß nicht.“ Sie wirkte etwas bedrückt und schüttelte den Gedanken ab.

„Ach komm, es hat dir früher sehr am Herzen gelegen.“ Er versuchte ihr einen Ruck zu geben. „Ich kann dich zum Musikraum begleiten morgen!“

„Ja, vielleicht.“ Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf.

„Ich wusste gar nicht, dass sie Musik mag.“ Gab Lexi erstaunt zu.

„Ja sie spielte früher viel Klavier. Unsere Mutter brachte es ihr bei.“

„Warum hat sie aufgehört?“ Nael schwieg eine kleine Weile auf Alexis Frage.

„Unsere Eltern sind vor fünf Jahren gestorben. Danach setzte sie sich nie wieder an ein Klavier. Ich hörte ihr und unserer Mutter gerne beim Üben zu. Sie spielten oft alte folkloristische Stücke. Aber auch anderes.“ Er lächelte bei der Erinnerung daran. Lexi’s Augen weiteten sich und sie hielt erschrocken eine Hand vor den Mund.

„Oh du meine Güte… Nael, es tut mir leid!“ es war ihr sichtlich unangenehm das Thema angesprochen zu haben. Er schüttelte nur sanft seinen Kopf.

„Es ist okay. Mach dir keine Gedanken. Es ist schon eine Weile her. Wir lebten danach bei meinem Großvater in Bilbao. Ara machte ihm das Leben ganz schön schwer. Ich wollte damals in dieses Internat und er schickte sie nun hinterher, weil er inzwischen zu alt ist um sich ausreichend um sie kümmern zu können. Wir haben nur unseren einen Großvater. Die Familie unserer Mutter war nie ein Thema. Wir kennen sie nicht einmal. Was genau damals mit unseren Eltern geschah haben wir nicht recht mitbekommen. Zuerst war Vater verschwunden und ein paar Tage später übergab uns unsere Mutter in die Obhut von Großvater. Kurz darauf war auch sie von uns gegangen. Abuelo erzähle uns es sei ein Unfall gewesen bei dem Vater starb. Und Mutter kurze Zeit später an deren Folgen.“

„Wie traurig das zu hören…“ Alexis senkte den Kopf und legte aus Beileid eine Hand auf Naels Schulter.

„Es ist wirklich okay Lexi, mach dir keine Sorgen. Aber immer, wenn Arantxa damals von Alpträumen heimgesucht wurde, spielte sie Klavier. Es half ihr. Kannst du nicht auch versuchen sie zu überreden wieder zu spielen?“

„Aber natürlich.“

„Danke. Ich muss jetzt langsam weiter. Mach‘s gut Lexi!“ Er verabschiedete sich und ging. Lexi saß noch eine Weile nachdenklich am Tisch und beschloss die anderen zwei Jungs in ihren Plan Arantxa einem Klavier wieder näher zu bringen, einzuweihen. Am darauf folgenden Tag nervten die vier Freunde die Baskin solange mit ihren Vorträgen über Musik solange bis Arantxa am Ende des Tages sich vor die Musikräume drängen ließ. Nael verabschiedete sich für sein wöchentliches Training und Lexi, Luken und Colin empfanden ihren Auftrag als ausgeführt und gingen auch zufrieden von dannen. Arantxas Herz klopfte als sie vor dem großen wunderschönen Flügel stand. Sie setzte sich zaghaft und legte vorsichtig ihre Finger auf die schwarzen und weißen Tasten. Der Flügel gab bezaubernde Töne von sich. Ein elektrisches Kribbeln durchzog Arantxa’s Körper als sie die ersten Noten spielte, stoppte dann aber abrupt. Sie stand wieder auf.

„Das bringt doch nix.“ Sagte sie zu sich selbst und drehte sich um.

„Willst du etwa schon gehen, Ibarra?“ entgegnete ihr jemand. Luken lehnte im Türrahmen.

„Hast du etwa gelauscht du Spanner?!“ sie war sichtlich erzürnt.

„Dein Bruder sagte ich darf dich nicht gehen lassen bevor du nicht wenigstens ein komplettes Stück gespielt hast. Und, auch wenn ich kein großartiger Komponist oder Musikversteher bin, glaube ich diese paar Tönen gelten nicht als komplett.“ Er zog seine Augenbrauen erwartungsvoll hoch und blieb standhaft. Arantxa schnaubte abtrünnig und setzte sich zurück an den Flügel. Sie verfluchte ihren Bruder und Luken innerlich. Sie legte ihre Finger erneut auf die Tasten und gab sich den so lang vermissten Klängen hin. Luken bewegte sich keinen Zentimeter und hörte ihr einfach nur zu. Er wär überwältigt von der Schönheit die gerade den Raum ausfüllte.

Als Arantxa das Lied beendete, stand sie beleidigt auf.

„Zufrieden, pegote (Quälgeist)?!“

„Das war doch… ganz nett.“ ärgerte er sie etwas. Er stand noch immer im Türrahmen mit vor dem Oberkörper verschränkten Armen. „Ich glaube ich kenne dieses Lied.“

„Es heißt `Lamiak´. Quita (Aus dem Weg), Arriola!“ Sie ging auf ihn zu, schubste ihn aus dem Türrahmen und ließ den Musikraum hinter sich.

Von Kämmen und Küssen

Alexis Leah Pitt verschlang das Buch über die baskische Mythologie in nur wenigen Tagen. Sie fraß es buchstäblich auf. Am späten Freitagnachmittag betrat Arantxa ihr Zimmer und fand eine halb verzweifelnde Alexis vor sich. Diese zog Kleidungsstücke im Sekundentakt aus ihrem Schrank und rief ihrer Freundin zu.

„Was soll ich nur anziehen?! Hilf mir!“ Shirts und Röcke flogen ihr entgegen.

„Ah ist heute deine Verabredung mit Colin?“ sie funkelte die Amerikanerin an und begann breit zu grinsen.

„Jaaaa…“ stöhnte diese. „Ich kann mich nicht entscheiden was ich anziehen soll und dabei wollte ich vorher noch einmal in die Bibliothek!“ Arantxa hob einen dunkelbraunen knielangen Rock und ein weißes T-Shirt vom Boden auf.

„Nimm das, das sieht hübsch an dir aus.“ Sie hielt die Kleidungstücke vor Alexis Nase. Diese zog sich flink um, knotete ihre glatten Haare halb aus dem Gesicht und rief im rauslaufen laut „Daaanke, Ari! Bis später!“. Und weg war sie.

Diese machte nur eine winkende Handbewegung und ließ sich schnaufend auf ihr Bett fallen.

„Na klasse, und was mache ich nun heute Abend? Vielleicht hat Nael etwas Zeit.“ Sie legte die Arme unter ihren Kopf und schloss die Augen für ein paar Sekunden.

Lexi schaute zur Uhr. Genau zwei Stunden bis sie sich mit Colin treffen würde. Genug Zeit für mehr Leselektüre. Die alten Geschichten der Basken hatten sie in ihren Bann gezogen und Lexi war durstig nach mehr Informationen. Sie setzte sich an einen großen dunklen Holztisch in einem der Lernräume und schlug ihre Bücher auf. Die Zeit verstrich. Der Abend legte sich über das Internat und den See. Es klopfte an der Tür des Mädchenzimmers.

„Hallo Arantxa, ist Leah da? Ist sie fertig?“ Er wirkte etwas nervös vor Vorfreude.

„Tut mir leid, die ist vorhin wie ein geölter Blitz in die Bibliothek abgezischt. Ich dachte sie wäre bereits zurück. Du findest sie sicherlich noch dort! Eure Verabredung würde sie sich niemals entgehen lassen.“ Die Baskin zwinkerte ihm aufmunternd zu. Er schnaufte einmal, als hätte er es schon geahnt und machte sich auf den Weg in die alte Bibliothek.

Als Colin die Halle betrat war es seelenruhig, es waren kaum noch Leute hier. Er durchforstete jeden Gang und gelangte schließlich zu den Lernräumen. Diese besaßen große Fenster. Er ging forschend an jedem einzelnen vorbei und fand wenig später wonach er suchte. Alexis saß in ein Buch vertieft an einem großen Tisch, nur sie und ihre Bücher. Auf dem Tische eine kleine Kerze die ein wenig mehr Licht spendete und das zerknüllte Papier eines Fruchtriegels. Sie war so vertieft in ihre Lektüre, dass sie nicht einmal aufsah und den am Fenster stehenden Colin erblickte. Er klopfte sanft an die Scheibe, Alexis hob verwirrt den Kopf und ließ die Kinnlade fallen als sie ihren Fehltritt realisierte. Er ging zu ihr.

„So, du verbringst lieber deinen Freitagabend mit staubigen Papier als mit mir, hm?“

„Oh du meine Güte, Colin…Es tut mir so leid! Ich habe die Zeit völlig vergessen! Entschuldige vielmals!“ Er lächelte nur, da er genau diese Seite an ihr so mochte. Er schob einen Stuhl dichter an den ihren und setzte sich.

„Dann zeig mir doch mal für was du mich versetzt hast.“ Er grinste um sie zu ärgern.

Sie schmunzelte schuldig und wandte sich dem aufgeschlagenen Buch zu. Sie strich über die Seiten und schlug eine zurück. Auf dieser war ein Bild einer hübschen jungen Frau erkennbar.

„Lamia.“ Sagte Lexi und ihre Augen funkelten vor Neugier. Sie zeigte mit ihrem rechten Zeigefinger auf die Frau auf dem Bild. Bei genauerem Hinsehen erkannte man, dass diese Frau auf einem Felsen eines Flusses saß. Ihre Füße waren mit Schwimmhäuten versehen und kleinen Krallen. Sie sahen der einer Ente sehr ähnlich. Sie trug langes, wallendes Haar, welches ihr bis zu den Oberschenkeln reichte. In den Händen hielt sie einen Kamm. Er sah beinahe goldig aus und besaß Verzierungen.

„Noch mehr Legenden?“ Er zog einen Mundwinkel hoch. Es gefiel ihm wie energisch Lexi sich auf diese Geschichten stürzte.

„Es ist fantastisch. Und gruselig zugleich…“

„Okay, ich war auf so etwas vorbereitet.“ Grinste er und zog eine Thermoskanne mit Kaffee und zwei Bechern aus seinem Rucksack. Darauf folgten etwas Obst und zwei Sandwiches. Alexis staunte über ihn. Sie funkelte ihn lieblich an und versuchte ihr Lächeln etwas zu unterdrücken. Colin packte die Verpflegung auf den Tisch.

„Es ist zwar nicht was ich eigentlich im Sinn mit `Abendessen´ hatte, aber…“ Alexis unterbrach ihn.

„Es ist perfekt.“ Sagte sie dankend und schaute ihn liebevoll an.

Colin lehnte sich an und legte einen Arm über die Rückenlehne von Lexis Stuhl.

„Also, was hast du über diese Lamia rausgefunden?“ Alexis blickte wieder auf die Abbildung der Frau und begann zu erzählen.

„Diese elfenartigen Frauen sind sehr schön und nobel. Manchmal lockten sie mit ihrer Schönheit Männer an. Sie besitzen diese Kämme und fahren sich damit durch ihre langen Haare. In dem Buch steht auch, dass die Menschen, wenn sie einer Lamia begegneten, oft von ihren Kämmen angezogen wurden. Sie sollen aus puren Gold sein. Wenn ein Mensch sich dem Kamm näherte, erzürnte er die Lamia. Stahl ein Habgieriger einen, heißt es, würden die Lamia ihm solange Leid zufügen bis sie den Kamm wieder in ihren Händen halten. Allerdings soll es auch vorgekommen sein, dass Männer die einer Lamia halfen, belohnt werden.“ Sie schaute wieder auf. „Ist das nicht unfassbar?“ Alexis sprühte vor Aufregung über die Geschichte.

„Ja es ist…gruselig.“ Lachte Colin. Er reichte Lexi eine Tasse mit heißem Kaffee. Dann ließ er sie eine Weile weiter über andere Dinge erzählen die sie in dem letzten Buch gelesen hatte. Wenn sie begeistert von etwas redete, konnte er nicht anders als sie anzuschauen. Er bewunderte ihre Leidenschaft für das Gelesene. Dann plötzlich unterbrach er sie.

„Hey, Leah.“ Alexis stoppte und sah ihn leicht irritiert an. Er setzte sich etwas vorgebeugt auf seinem Stuhl zurecht und schaute das Mädchen mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie schaute nur erwartungsvoll zurück. Dann legte er seine Hand an ihr Kinn und zog es zu sich um sie zu küssen. Lexi ließ dies zu, dann lächelte sie.

„Womit habe ich das denn verdient?“

„Ich wollte es eben.“ Gestand er selbstsicher. Lexi biss sich etwas auf die Unterlippe und schaute wieder auf ihr Buch. Die beiden verbrachten den gesamten Abend in dem kleinen Raum der Bibliothek und erzählen sich Geschichten bis tief in die Nacht. Colin begleitete sie zu ihrem Zimmer, gab ihr einen kleinen Abschiedskuss und sie verabschiedeten sich voneinander. Als Alexis in ihr Zimmer trat, war sie allein.

„Nanu?“ wunderte sie sich. Wo war ihre Mitbewohnerin? Es war spät in der Nacht, Arantxa’s Bett war zerwühlt, aber sie befand sich nicht darin. Wo konnte sie stecken?

Arantxa hatte das Zimmer schon vor einer Weile verlassen. Sie erwachte erneut aus einem Alptraum. Aber es war ein anderer als beim letzten Mal. Nicht Mari verlangte nach ihr, sondern ein anderer Dämon. Es handelte sich um eine uralte siebenköpfige Schlangenfigur namens Herensuge. Der Geist kam aus der Tiefe und dürstete nach Blut. Er tötete und verwüstete alles in seinem Weg und Arantxa war mitten drin. Angst ließ sie aus dem Traum schrecken. Nun wanderte sie wie auch schon in Madrid durch die Gänge. Unbewusst strich sie durch den Gebäudeteil in dem die Unterrichtsräume lagen. Sie ging weiter und schaltete ein kleines Licht in der Musikhalle an. Dort war wieder dieser wunderschöne, schwarz glänzende Flügel. Sie ging hinüber und setzte sich auf den Hocker vor dem Instrument. Leise und langsam begann sie zu spielen. Ihre Schultern entspannten sich und ihr Gesicht nahm einen weniger verkrampften Ausdruck an. Kleinlaut hallte die Melodie durch den Unterrichtsflügel.

Auch Luken erwachte in der Nacht ohne ersichtlichen Grund. Er setzte sich auf die Bettkannte und schaute aus dem Fenster seines Zimmers. Die anderen schliefen tief und fest. Von seinem Fenster konnte er auf eine Fensterfront der Lehrräume schauen. Er stellte fest, dass eines von ihnen erleuchtet war. Neugierig tapste er noch etwas verschlafen hinüber. Schon im Gang vernahm er leise das Klingen des Flügels. Er runzelte seine Augenbraunen und schritt voran. Leise näherte er sich der Tür die einen kleinen Spalt offen stand und lugte hinein. Arantxa entlockte dem Flügel die schönsten Melodien. Es erstaunte und überwältigte ihn was er sah. Er wandte seinen Blick auf den Boden, lächelte zaghaft und ging zurück auf sein Zimmer ohne sie zu stören.

Tobsucht

Das erste große Event des Internats nahte heran. Das jährliche Septemberfest. Es fand seinen Ursprung in der Verabschiedung des Sommers und des Willkommen Heißens der kälteren, nassen Jahreszeit. Es stand ganz im Zeichen der fallenden Blätter die der nahende Herbst mit sich brachte. Es war noch warm aber die Bäume im großen Garten des Gebäudes begannen sich bereits zu verwandeln. Das grün wich aus ihnen und machte Platz für gelbe und rote Töne. Der Schulhof sah wie durch Zauber verwandelt aus. Arantxa schlich sich nachts immer öfter in das Musikzimmer. Niemand wusste davon, außer einem. Alexis freute sich auf das Fest. Es erinnerte sie an die Schulbälle in ihrer Heimat. Die Mädchen machten einen Ausflug in die nächstgelegene Stadt um sich Kleider zu besorgen.

„Und hat dich Colin schon gefragt ob du ihn begleiten wirst?“ wollte Arantxa wissen.

„Nein, noch nicht. Aber ich hoffe er wird es bald tun.“ Sie freute sich bereits auf diesen Moment.

„Mit wem wirst du gehen Ara?“

„Hm…“ sie überlegte kurz und schaute in die Luft. „Ich weiß noch nicht, vielleicht frage ich Nestor.“

„Den? Warum gehst du nicht mit Luken?“ Ihre Freundin stichelte und lachte.

„Ew, spinnst du?! Doch nicht dieser Tollpatsch! Da lacht mich doch jeder aus!“ entgegnete Arantxa bestürzt. Sie hob ihre Nase hoch und verkündete sie finde definitiv jemand besseren und widmete sich wieder der Kleiderwahl. Lexi rollte mit den Augen und tat es ihr gleich.

„Perfektua!“ freute sich die Baskin als sie ihr Kleid endlich fand.

„Lexi, ist Colin jetzt also dein Freund?“ Ibarra war neugierig.

„Ich weiß nicht…wir haben das nicht so genau besprochen.“ Antwortete sie verlegen.

„Dann ist das Fest die ideale Gelegenheit das herauszufinden!“ lachte Arantxa.

Den Jungs fiel die Wahl ihrer Kleidung deutlich einfacher. Nael hatte seinen Anzug vom bereits vergangenen Jahr wieder hervorgeholt. Er stand ihm noch genauso gut. Er half seinen Freunden ebenfalls welche auszusuchen, was schnell erledigt war.

„Colin, du und Alexis also…?“ Wollte Nael wissen. Colin schaute verlegen und stolz auf seine dunkelblaue Krawatte in der er versuchte einen Knoten zu bekommen.

„Ja. Ich werde sie später bitten mich zu begleiten. Was ist mit euch?“

„Ich habe Irati gefragt, wir verstehen uns ziemlich gut seit einer Weile.“ Gibt Nael freudig zurück. „Sie ist ein tolles Mädchen, und wenn ich Glück habe bemerkt sie nicht einmal, dass ich nicht tanzen kann!“ Die Jungs lachten.

„Ich werde Arantxa fragen.“ Die Jungs schauten Luken mit angehaltener Luft an.

„Ist das dein Ernst?“ wollte Nael ungläubig wissen. Luken schluckte.

„Du kannst es versuchen…“ meinte Colin ungewiss. „Wenn du sichergehen willst, frag Jente. Ich glaube die hat ein Auge auf dich geworfen.“ Jente war ein blondes Mädchen ihrer Klassenstufe. Sie saß im Unterricht hinter Luken und fand immer eine Ausrede um ihn anzusprechen. Sie war hübsch und hatte ein ausgeglichenes, freundliches Wesen. Luken verunsicherte der Gedanke Arantxa würde ihn ablehnen.

Am nächsten Tag fasste er sich ein Herz. Er hatte sich sogar rausgeputzt. Er trug ein olivgrünes Leinenhemd, welches er an den Ärmeln hochgekrempelt hatte. Er war groß und schlank und es stand im ausgezeichnet. Nach den ersten Unterrichtsstunden nahm er seinen Mut zusammen und suchte Arantxa. Er fand sie schnell, umgeben von einer Traube ihrer ebenso beliebten Anhänger. Aufgeblasene Leute die ihn nur schräg anschauten und Arantxa anstießen als er bei ihnen stand.

„Kaixo. Arantxa hast du mal einen Moment?“ die anderen Mädchen in der Runde begannen zu tuscheln und zu kichern.

„Was willst du Arriola?“ sie bewegte sich keinen Schritt und sah ihn mit überheblicher Miene an. Luken wartete kurz ab, aber niemand schien sich vom Fleck zu bewegen.

„Ich eh…“ begann er zu stottern. Die gehässigen Mädchen unterbrachen ihn.

„Der bringt ja kaum ein Wort raus.“ Sie fingen an zu lachen.

„Ibarra…w-würdest du…“ er pausierte kurz und holte tief Luft. „Ich möchte, dass du mich zum Fest begleitest.“ Er hielt die Luft an und lächelte gequält. Die hochnäsigen Mädchen blickten sich gegenseitig an. Arantxa sagte gar nichts. Er atmete aus. Sie schaute sich um und wirkte wie eine vollkommen andere Person, als die die er am Klavier entdeckt hatte.

„Das glaubst du doch nicht im Ernst, dass ich mit einem peinlichen Tölpel wie dir dort aufkreuze.“ Die Mädchen lachten und gingen langsam beiseite. Ein herber Schlag für den Lockenkopf. Er senkte seine Schultern und überlegte kurz wie er die Schmach gekonnt übergehen konnte. Er rümpfte die Nase, nickte selbstironisch und machte Witze.

„Natürlich nicht.“ Unbehaglich stand er da und versuchte seine Enttäuschung zu überspielen, als die Mädchen und Arantxa sich umdrehten und gingen.

„Vielleicht habe ich nur Fieber und rede ungewollt dummes Zeug vor mir her…“ murmelte er und steckte die Hände in die Hosentaschen. Keiner hörte mehr was er sagte.

Aus der Ferne hatte Lexi das Ganze mitbekommen. Luken tat ihr leid. Ja, er ist ungeschickt und zynisch, manchmal auch ein neurotischer Spinner. Aber das machte ihn doch so sympathisch.

Die Zeit bis zum Fest verging schnell. Arantxa und ihre Gruppe von Schäfchen beteiligten sich an der Organisation des Events. Es fand im Garten hinter dem Gebäude statt. Es war ein lauer Septemberabend und die Sonne begann schon zu sinken als die ersten eintrafen. Runde Tische waren aufgebaut. Die Band auf der im hinteren Teil stehenden Bühne sorgte für die richtige Musik an dem Abend. Die Tische waren halbkreisförmig um eine Fläche vor der Bühne verteilt und herrlich verziert. Rote Beeren und buntes Laub verschönerten sie, Lichterketten hingen in den Bäumen und Fackeln erleuchteten den Weg zurück ins Internat. Weiße Girlanden hangelten sich von Baum zu Baum. Ein Büffet mit köstlichen Tapas und ausreichend Getränken fand man ebenfalls auf der linken Seite. Es sah wundervoll aus. Der Direktor hielt eine kleine Ansprache und eröffnete das Fest. Nael und Irati, Colin und Alexis und Arantxa mit ihrem Begleiter Nestor erreichten das Fest gemeinsam. Nestor war ein muskulöser, gutaussehender Mitschüler der Mädchen. Er kam aus Barcelona. Er behandelte Arantxa gut und schien von ihr und ihrer Beliebtheit angetan. Diese genoss die Aufmerksamkeit von dem ebenfalls beliebten jungen Mann. Nachdem die Freunde schon ihr erstes Getränk hinter sich hatten, tauchte nun auch Luken auf. Aber nicht allein, wie von Arantxa vermutet. Sondern in Begleitung der hübschen Jente.

„Hey Leute, das ist Jente.“ Stellte er sie vor. Jente begrüßte alle freundlich. Arantxa gefiel die Situation nicht.

„Gut seht ihr alle aus.“ Bemerkte Luken.

„Ja, du siehst umwerfend aus Arantxa!“ komplimentierte Jente die Baskin. Ein langes dunkelgrünes Kleid fiel über Arantxas schlanke Beine bis zum Boden. Ihren Rücken zierte ein großer mit Spitze überdeckter Ausschnitt, welche sich auch teilweise über ihre Schultern erstreckte. Ihr Haar hatte sie hochgesteckt mit einem Kamm. Strähnen ihres langen Haares die er nicht mehr fassen konnte, fielen ihr über die Schultern und ins Gesicht. Ihr schmales Handgelenk zierten einige goldene Armreifen, und Ringe ihre Ohren.

„Du auch.“ Gab sie kühl gespielt zurück. Luken schaute sie aufmerksam an.

„Lass uns was zu essen holen, Luken. Bis später Leute!“ Bat die blonde Schönheit und zog ihn freundlich von der Gruppe weg. Arantxa folgte ihnen mit düsteren Blicken.

„Komm Nestor, ich will tanzen. “ Diesem gefiel die plötzlich stürmische Art mit der sie ihm zur Fläche zerrte und ließ sich dies grinsend gefallen. Die anderen sahen sich das kleine Theaterstück mit an. Alle genossen das Fest, es wurde viel gegessen, erzählt und getanzt. Die Gruppe, bis auf ein paar Ausnahmen, verstanden sich blendend. Der Abend war harmonisch und das Fest ein voller Erfolg. Die Musik war geschmackvoll ausgewählt und lud die Paare zum Tanzen ein.

„Wollen wir?“ lud Colin seine Freundin erneut nach einer kleinen Pause ein auf die Tanzfläche zurück zu kehren. Sie willigte ein und ergriff seine Hand die er ihr hinhielt. Alexis legte ihren linken Arm auf seine Schulter. Er legte seine freie an ihren Rücken und zog sie sanft etwas dichter an sich heran. Sie lächelte ihn daraufhin an.

Arantxa stand am Buffet und schenkte sich ein neues Getränk ein. Sie beobachtete von ihrem Posten aus Luken und Jente wie sie tanzten. Wenn er lächelte zeichneten sich niedliche Grübchen an seinen Wangen ab. Selbst der schwarze Anzug mit der schmalen schwarzen Krawatte stand ihm. Sie drehte der Fläche den Rücken zu und goss sich erneut ein Getränk ein. Bevor sie es bemerken konnte kam Jente auf sie zu um ihren Durst zu stillen.

„Ein toller Abend!“ schnaubte sie freudig los. „Und Luken ist so ein Gentleman!“

Arantxa rollte mit ihren dunklen Augen und äffte Jente hinter ihrem Rücken nach.

„Wow, das ist aber eine tolle Spange die du da im Haar trägst.“ Sie starrte auf den glänzenden Kamm der Arantxa’s Frisur zusammenhielt.

„Danke.“ Gab sie nüchtern zurück und kippte ihr Getränk runter. Luken stieß zu ihnen.

„Na unterhaltet ihr euch nett?“ Arantxa ignorierte ihn. Jente nickte überschwänglich.

„Ich geh dann mal wieder.“ Sagte die Baskin nüchtern und suchte ihren muskulösen Begleiter um sich auf der Tanzfläche mit ihm abzulenken.

„Ich glaube sie mag mich nicht sonderlich.“ Befürchtete Jente. Luken schaute ihr nach und wandte sich wieder seiner Begleiterin zu.

„Mach dir keinen Kopf, die hat sicher nur einen schlechten Tag.“

Es wurde lange gefeiert. Der Abend wandelte sich zur Nacht und einige verließen das Fest bereits. Unter ihnen waren Lexi und Colin die ersten. Arantxa ließ Nestor nicht los solange sie noch Arriola und Jente auf dem Fest erblickte. Sie beobachtete wie sie sich am Rand unterhielten und einige Male auf das Internatsgebäude deuteten und dann einvernehmlich nickten. Sie wollten wohl bald gehen. Arantxa teilte Nestor mit sie wolle gehen. Er akzeptierte und verabschiedete sich von allen. Arantxa nahm energisch seine Hand und stiefelte an Luken und Jente vorbei.

„Wir gehen dann mal!“ sagte sie absichtlich laut. Luken bat seine Begleiterin um einen kurzen Moment und ging Arantxa und Nestor nach.

„Arantxa, kann ich kurz mit dir reden?“ Diese blieb stehen.

„Was willst du, Arriola?“ sie wirkte genervt.

„Entschuldige uns einen Moment Nestor.“ Der Spanier nickte und ging vor.

„Es wäre toll, wenn du etwas netter zu Jente wärst. Sie hat sich den ganzen Abend bemüht. Was hast du denn gegen sie?“ Stellte er sie ruhig zur Rede. Arantxa wich seinem Blick aus und schnaubte verärgert.

„Ich kann sie einfach nicht leiden mit ihrer dämlichen `ich bin so nett und mag alle Menschen´ Attitüde.“ Wieder äffte sie sie nach und verzog das Gesicht dabei.

„Oh, als ob dein hirnloses Muskelpaket ein besserer Gesprächspartner ist!“ Er wurde etwas wütend.

„Ich wette der Typ weiß nicht mal was für Töne du einem Klavier entlocken kannst, geschweige denn, dass du nachts nie durchschläfst und durch die Gänge wanderst, welche Schokoriegel du magst und…“ er stoppte kurz „Er kennt doch nicht mal die Hälfte deiner Persönlichkeit!“ er stand dicht vor ihr und versuchte sich wieder zu beruhigen. Arantxa lehnte mit dem Rücken an einer Wand im hinteren Eingangsbereich des alten Gemäuers. Sie konnte ihre Wut über seine Worte nun nicht mehr zurückhalten und stieß ihn von sich weg und begann auf seine Arme zu hauen die er schützend vor sich hielt.

„Du Idiot!“ beschimpfte sie ihn. „Was weißt du schon?!“

„Aua! Hey, lass das!“ doch sie hörte nicht auf. „Arantxa, ay…! Schon gut, genug, ich entschuldige mich. Hör auf oder ich bekomme noch blaue Flecken!“ Sie ließ von ihm ab und rannte die große Treppe hinauf. Er verschnaufte einmal. Jente stieß wieder zu ihm.

„Alles okay bei euch?“

„Ja, mach dir keine Gedanken.“ Zum Glück hatte sie nichts von alldem mitbekommen.

„Luken, schau mal.“ Sie deutete auf eine dunkle Ecke am Fliesenboden.

„Ist das nicht Arantxa’s Spange die sie vorhin im Haar trug? Sie muss sie verloren haben. Ich werde sie ihr morgen zurückgeben. Vielleicht haben wir dann einen besseren Start.“ Lächelte die Blonde zuversichtlich.

„Ja, du kannst es versuchen. Lass uns gehen, ich bin müde.“ Luken geleitete Jente noch bis zu ihrem Zimmer und verabschiedete sich höflich von ihr. Sie gab ihm einen kleinen Kuss auf die Wange zum Dank für den schönen Abend. Sie spürte, dass er niedergeschlagen war und mit den Gedanken woanders.

„Vielleicht bis zum nächsten Mal.“ Sagte sie lächelnd und schloss die Tür hinter sich.
 

Alexis wurde von eigenartigen Geräuschen geweckt. Sie war noch sehr verschlafen und hatte Probleme ihre Augen zu öffnen.

„Ara… weißt du eigentlich wie spät es ist?“ schmollte sie verträumt. Sie zog ihre Decke über den Kopf und drehte sich zur Wand. Weiteres kramen und panisches Fluchen kam ihr zu Ohren.

„Was tust du denn??“ Alexis setzte sich auf und öffnete krampfhaft ihre Augen und versuchte sie an das eindringende Tageslicht zu gewöhnen.

„Er ist weg!“ gab Arantxa hektisch von sich und entleerte eine Schublade auf ihrem Bett.

„Was ist weg?“

„Mein Kamm. Den ich gestern im Haar trug.“ Sie durchwühlte das ausgeschüttete Gut.

„Du meinst die goldene Spange? Hattest du sie nicht als du das Fest verlassen hast?“ Alexis wurde langsam munterer.

„Ich dachte es, ich muss sie irgendwo verloren haben. Dieser dämliche Arriola hat mich ganz durcheinander gebracht!“

„Beruhige dich erstmal Ara. Wir finden ihn schon, ich helfe dir suchen.“ Beide durchkämmten das Zimmer. Mit jeder Minute wurde Arantxa ungehaltener. Als sie fertig waren, glich das Zimmer einer Müllhalde. Sachen lagen quer im Zimmer verstreut.

„Ich muss ihn einfach finden. Ich kann ihn nicht verlieren!“ sie räumte hektisch ihre Schränke wieder ein.

„Beruhige dich wieder Ara, ich gehe nachher die Anderen fragen und dann suchen wir den Garten und die Flure ab. Er wird schon auftauchen.“ Arantxa setzte sich verzweifelt auf ihr Bett und legte die Hände vors Gesicht.

„Mutter gab ihn mir.“ Sie war vollkommen aufgelöst. Lexi verstand. Es war sicher das einzige was ihr von ihren Eltern geblieben war. Sie legte ihre Hand auf die Schulter ihrer Freundin und verschwand im Badezimmer.

Als sie herauskam war Arantxa verschwunden. Vermutlich suchte sie bereits die Gänge ab. Alexis machte sich auf den Weg zum Zimmer der drei jungen Männer. Sie klopfte an und musste nicht lange warten bevor Nael ihr die Tür öffnete.

„Ist für dich, Colin.“ Grinste er und schob die Tür weiter auf. Colin strich sich soeben ein graues Shirt über den nackten Oberkörper. Lexi errötete leicht.

„Ähm… e-eigentlich…“ Sie musste sich kurz sammeln. „Arantxa ist ganz aufgelöst. Sie hat ihren goldenen Kamm verloren. Sie ist völlig außer sich deswegen.“ Nael verstand.

„Ja, unsere Mutter gab ihr dieses Ding.“ Er machte eine ernste Miene.

„Wo ist sie jetzt?“ erkundigte sich Colin aus dem Hintergrund des Zimmers.

„Im Garten vermute ich.“

„Ich werde ihr beim Suchen helfen.“ Damit verließ Nael das Zimmer.

Aus der linken hinteren Ecke drang ein verschlafenes Knurren unter einem Deckenberg hervor.

„Was ist denn hier los?“ Ein lockiger Kopf mit noch halb geschlossenen Augen kam unter einem Berg aus Kissen hervor.

„Bei dem Lärm kann doch keiner in Ruhe schlafen“ Er ließ den Kopf wieder in die Kissen sinken.

„Arantxa hat den Kamm ihrer Mutter verloren, den sie gestern im Haar trug.“ Klärte Colin und trat dichter zur Tür.

„Hey.“ Sagte er leise lächelnd und gab Lexi einen Kuss. „Wir werden sie bei der Suche unterstützen. Steh auf und hilf uns.“ Colin warf ein auf dem Boden liegendes Hemd nach ihm und verließ mit Lexi den Raum. Der schläfrige junge Mann stöhnte erschöpft und streckte ein Bein aus seiner Decke.

„Aber Jente wollte ihr doch den Kamm bringen heute…“ murmelte er im Halbschlaf in eins seiner Kissen, doch niemand war mehr dort um es zu hören.

Arantxa wurde immer ungehaltener auf der Suche nach ihrem Schmuckstück. Trotz der Geschichte hinter dem Kamm, dachten die Freunde Arantxa würde übertreiben. Sie selber merkte wie eigenartig sie sich verhielt, konnte das Verlangen nach dem Accessoire jedoch nicht unterdrücken. Sie spürte ein heißes Brennen in ihrer Brust, das stärker wurde je länger er verschwunden war. Die Ungewissheit machte sie rasend. Ihr Körper glühte beinahe und ihr ihr Bewusstsein trübte sich. Als stände sie unter Adrenalin. Ihr Herz bebte und ihre Stimme nahm einen seltsam grellen Ton an. Lexi bemerkte, dass sie sich eigenartig verhielt, sagte jedoch nichts zu ihr. Als Luken sich endlich erfolgreich aus den Federn geschält hatte und dabei war sich anzuziehen, klopfte es an seiner Tür.

„Einen Moment!“ rief er zu Tür. Er knöpfte sich das alte Hemd halb zu und öffnete. Es war Jente.

„Hey!“ gab er freundlich von sich. „Hast du Arantxa gefunden?“

„Nein, noch nicht. In ihrem Zimmer war niemand, da dachte ich, ich schaue bei dir vorbei. Weißt du wo sie sein könnte? Obwohl ich zugeben muss, dass dieses Ding sehr hübsch ist, ich hätte gerne selbst so etwas.“ Sie schaute sehnsüchtig auf den goldigen Kamm in ihren Händen.

„Du musst ihn zurückgeben, Arantxa wird uns sonst allesamt ins Grab mitnehmen.“ Scherzte er etwas unsicher. Vielleicht entsprach das sogar eher der Wahrheit in diesem Moment.

„Ich glaube die anderen sagten, sie wollte im Garten suchen. Komm schon.“ Darauf verließen beide den Gang und schlenderten in Richtung Hinterausgang.

„Er ist nicht hier.“ Sagte die Baskin düster. Ihre Muskeln begannen sich zu verkrampfen und ihre Sicht verschwamm zunehmend. Die Gruppe beschloss im Gebäude weiter zu suchen.

„Hey, geht’s dir gut Ara? Dur wirkst etwas…“ Lexi berührte den Arm ihrer Freundin und erschrak. Ihr Arm war glühend heiß.

„Oh! Du wirst doch kein Fieber haben?!“ fragte sie besorgt. Arantxa log.

„Es ist nichts. Ich will nur den Kamm finden.“ Lexi beunruhigte das Ganze immer mehr. Sie ging zu Colin. „Etwas stimmt nicht mit ihr. Sie benimmt sich eigenartig.“ Flüsterte sie ihm zu.

Plötzlich blieb Arantxa auf dem Weg in das Gebäude stehen. Ein dumpfer Impuls durchfloss ihren Körper. Von weitem rief Luken ihnen zu.

„Hey, wir haben ihn, ihr könnt aufhören zu suchen!“ Arantxas Blick fokussierte sich wieder, und das auf eine einzige Person. Jente hielt ihren Kamm in den Händen. Dunkle Schatten zeichneten sich unter Arantxas Augen ab, ihre Pupillen weiteten sich. Sie ballte die Fäuste und stieß sich die eigenen spitzen Fingernägel in das Fleisch ihrer Handflächen. All ihre Sinne schienen überstimuliert. Ihr Herz klopfte gegen ihren Rippenbogen als wollte es zerbersten. Sie stieß ein ohrenbetäubendes, grelles Kreischen von sich und raste auf Jente zu. Diese sah ihr Unglück nicht früh genug herannahen. Arantxa stieß sie mit beiden ausgefahrenen Krallen voran von sich weg. Jente wurde auf den Rücken geschleudert und ließ den Kamm fallen. Keiner konnte so schnell reagieren und alle waren nicht sicher was gerade geschah. Was war nur in sie gefahren?

„Jente, alles okay?“ fragte Luken besorgt und kniete sich zu ihr nieder. Jente rieb sich die Ellenbogen und nickte. Immer noch stand die tobsüchtige Arantxa direkt vor ihnen. Luken erschrak bei dem Anblick der sich ihm bot. Heftig atmend und glühend stand sie da, dunkle Schleier umrahmten ihre sonst so wundervollen braunen Augen. Sie riss den Kamm an sich und schrie Jente mit heiserer Stimme an.

„Verschwinde oder du wirst es büßen müssen!“ Alle trauten ihren Augen nicht. Das war nicht Arantxa wie sie sie kannten. Sie war wie besessen. Die junge Frau beruhigte sich nun langsam. Sie stand weiterhin vor Jente und Luken. Ihre Augen teuflisch entstellt aber ihr Atem ging normal und ihre Körpertemperatur schien sich zu normalisieren. Sie blickte herrisch auf die beiden hinab, ging an ihnen vorbei und verschwand in der alten Internatsvilla. Die Freunde standen wie versteinert da. Keiner wusste was er sagen oder tun sollte. Luken half Jente auf und entschuldigte sich aufrichtig bei ihr für Arantxas Verhalten.

„So ist sie sonst nicht, es tut mir wirklich leid. Vielleicht hätte ich ihre Spange an mich nehmen sollen.“ Er klang schuldbewusst.

„Du hast doch nichts verkehrt gemacht, Jaso!“ warf Nael ein. „Ich habe keine Ahnung was gerade mit meiner Schwester vor sich geht. So habe ich sie noch nie gesehen.“ Besorgt ging er um nach ihr zu sehen.

Nael ging zu dem Mädchenzimmer im Obergeschoss und klopfte vorsichtig an die nur angelehnte, offene Tür. Keine Reaktion.

„Ari…?“ Wieder nichts. „Ich komme rein!“ kündigte er sich an. Alles was er vorfand war ein großes Durcheinander im Zimmer und seine Schwester, schlafend auf dem Bett. Er vermutete die Anstrengung und emotionale Belastung haben sie wohl überanstrengt. Er legte sie vernünftig in ihr Bett und deckte sie liebevoll zu. Dann begann er das Zimmer, möglichst leise, etwas zu ordnen. Er legte den Kamm auf den kleinen Hocker neben dem Kopfteil ihres Bettes.

„Was hast du nur angestellt…? Kein Wunder, dass sie dich von der Schule geworfen haben. Vielleicht ist es besser Großvater um Rat zu fragen.“ gestand er sich ein.

Tauchstation

Arantxa schlief den gesamten Tag durch. Sie schlief als hätte man ihr jegliche Kraft geraubt von allein wieder aufzuwachen. Als der nächste Tag anbrach schlief sie immer noch. Lexi machte sich Sorgen und versuchte sie zu wecken. Sie hockte sich nehmen das Bett und strich ihrer Freundin das Haar aus dem Gesicht.

„Hey Dornröschen… Zeit aufzuwachen.“ lächelte sie. Arantxa rührte sich nicht. Lexi fasste sie an der Schulter und rüttelte sanft daran.

„Ara, wach auf.“ Noch immer regte das Mädchen sich nicht. Alexis bekam es mit der Angst zu tun und wurde lauter.

„Arantxa, steh auf!“ brüllte sie sie an. Die Lider der Baskin begannen zu zucken und Leben hauchte wieder über ihr Gesicht. Sie öffnete langsam die Augen. Sie fühlte sich schwindelig und durstig. Ihr Kopf pulsierte unangenehm.

„Lexi?“ fragte sie als ihre Augen begannen sich wieder zu fokussieren. „Was ist los?“

„Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“ Sie schloss erleichtert kurz ihre Augen und stand wieder auf. Arantxa wirkte verwirrt, als ob sie sie fragte wie sie ins Zimmer gekommen war. Sie schaute sich ungläubig um und erblickte den Kamm auf dem Hocker neben ihrem Bett. Lexi folgte ihren Blicken.

„Du hast gestern eine ziemliche Szene veranstaltet wegen dem Ding. Ich weiß, er ist von deiner Mutter, aber…“ Arantxa unterbrach sie.

„Ich habe was…?“ sie verstand nicht auf was ihre Freundin anspielte. „Was redest du da?“ sie schaute Lexi mit zusammengekniffenen Augen an und richtete ihren Oberkörper auf.

„Ich denke du schuldest Jente und Luken eine Entschuldigung.“ Gestand sie ihrer verwirrten Mitbewohnerin. Sie packte ein paar Bücher zusammen und verließ das Zimmer. Arantxa ließ sich zurück ins Bett fallen und schnaufte genervt.

Nach einer Weile konnte sie sich überwinden sich aus ihrem Bett zu schälen. Sie machte sich fertig und nahm am Unterricht teil. Den gesamten Tag fühlte sie sich erschöpft, ausgelaugt und müde. Ihr Gedächtnis wies Lücken über die Geschehnisse der letzten Tage auf, was sie beunruhigte. Am Ende des Schultages hatte ihr Kopf das Gewicht einer massiven Bleikugel. Und immer noch fühlte sie sich durstig. Als würde sie vertrocknen. Auch beim Abendessen stand sie noch neben sich. Nael erkundigte sich nach ihrem Befinden und erzählte ihr was passiert war. Doch keine Erinnerungen kamen zurück. Sie log und entschuldigte sich bei ihm. Sie gab vor, dass ihr nichts fehlte. Von diesem Tag an trug sie den Kamm ihrer Mutter immer bei sich. Nicht im Haar, einfach in ihrer unmittelbaren Nähre. Als sie am Ende des Tages wieder in ihrem Bett lag musterte sie den Kamm eindringlich.

„Was hat es mit dir auf sich…?“ flüsterte sie nachdenklich und begutachtete die eingravierten Muster auf ihm. Alexis schlief schon eine Weile. Arantxa konnte kein Auge zu machen. Und immer noch fühlte sie sich unwohl. Sie beschloss einen Spaziergang zum Flügel zu machen.

Zur selben Zeit saß Luken noch wach auf seinem Bett und schaute aus dem Fenster. Auch ihn ließ nicht los was passiert war. Er hielt sich noch fern von Arantxa, er war enttäuscht von ihrem Verhalten. Aber auch er bemerkte, dass etwas ungewöhnlich an ihr war. Er bemerkte, dass im Unterrichtsflügel ein Licht brannte. Er ahnte, dass es Arantxa war, ging aber nicht zu ihr. Stattdessen legte er sich in sein Bett und schlief. Es war ein unruhiger Schlaf.

Arantxa konnte in dieser Nacht halbwegs gut schlafen, fühlte allerdings wieder dieses Verlangen nach Flüssigkeit, Wasser. Sie erwachte viel zu früh an diesem Morgen. Sie verließ das Internatsgebäude als der Morgen noch grau und nebelig war. Die Sonne stand noch nicht sehr hoch am Himmel. Sie wanderte gedankenverloren durch die Nachbarschaft, hinunter zum See. Der Ullíbarri-Gamboa war ein wunderschöner Fleck in der Landschaft. Still und unberührt lag er dort. Keinen Laut konnte man vernehmen. Die Oberfläche des Sees war dunkel und spiegelglatt. Ein paar Felsen und vereinzelte Bäume zierten seine Ufer. Arantxa trat näher heran bis ihre Füße fast das Wasser berührten und starrte nachdenklich in die Ferne. Sie verspürte den Drang das Wasser zu berühren. Sie hockte sich hin und tauchte ihre Hände in das angenehm kühle Nass. Sie schloss ihre Augen und genoss das Gefühl. Es war als würde ihr Körper das Wasser einziehen. Ihr Durst stillte sich allmählich. Sie stand auf und blickte um sich. Es war sehr früh, niemand war zu so einer Zeit unterwegs. Sie begann sich die Sachen vom Körper zu streifen und auf dem nächstgelegenen Felsen abzulegen. Nackt stand sie am Ufer des Sees und schob ihre Fußspitzen langsam in den matschigen Sand. Sie trat immer weiter in den See. Das Gefühl des kühlenden und samtenen Wassers auf ihrer Haut war einzigartig in diesem Moment. Noch einmal blickte sie sich um. Niemand war zu sehen. Sie ging weiter in den See bis sie bis über die Hüften im Wasser stand. Ihre langen offenen Haare berührten fast die Wasseroberfläche. Dann tauchte sie hinein.

Wenn Arriola nicht mehr schlafen konnte, ging er manchmal joggen. So wie auch an diesem vernebelten Morgen. Noch immer hatte er kein Wort zu Arantxa gesprochen. Jente meinte zu ihm, dass Ibarra nicht mehr alle Tassen im Schrank habe. Wahrscheinlich sei sie nur aus Eifersucht so geplatzt und es hatte nichts mit dem Kamm zu tun. Warum sollte man deshalb so durchdrehen? Sie war überzeugt Arantxa gefiel es nicht, dass sie und Luken Zeit miteinander verbrachten. Er dachte während des Laufens über ihre Worte nach. Da konnte unmöglich was dran sein, Ibarra ignorierte ihn so oft. Er lief an einer Baumreihe nahe des Sees entlang und erblickte aus der Ferne den herrenlosen Klamottenhaufen von Arantxa. Er wunderte sich kurz, lief aber vorbei. Nach etwa zwanzig Minuten passierte er dieselbe Stelle. Wieder sah er den kleinen Haufen an Kleidung. Er stoppte langsam und ging etwas näher heran. Er zog die Kopfhörer aus seinen Ohren und lauschte. Da war ein Plätschern. Erst ein leichtes, dann wurde es immer lauter. Er ging vorsichtig einen Schritt näher und hielt sich hinter einigen Bäumen versteckt. Arantxa tauchte auf und schnappte nach Luft. Luken erschrak. Was tat sie da? Sie wirkte als rang sie nach Luft, hustete, rieb sich Wassertropfen von den Augen um sehen zu können. Sie gelangte näher ans Ufer. Luken traute seinen Augen nicht, hielt sich aber weiterhin bedeckt. Je weiter sie aus dem Wasser trat, erkannte er, dass sie vollkommen nackt war. Die langen Haare hingen ihr über die Brust. Er schluckte und spürte die Hitze in seinem Kopf aufsteigen. Er schaute sie mit leicht geöffnetem Mund und erweiterten Augen an. Sie war unbeschreiblich. Sein Gesichtsausdruck spiegelte pure Sprachlosigkeit wider. Er vergaß alles um sich herum. Er schluckte noch einmal und zwang sich zum Wegsehen. Arantxa bemerkte von alldem nichts. Sie zog sich seelenruhig an und wrang ihre Haare mit den Händen aus. Dann setzte sie sich auf den Felsen, der zuvor ihre Kleidung beherbergte, zog den Kamm ihrer Mutter aus der Hosentasche und begann ihre wallenden dunkelbraunen Haare damit zu entwirren. Sie fühlte sich erfrischt und wesentlich wohler in ihrer Haut. Luken schaute erneut zu ihr. Aufmerksam beobachtete er wie sie sich mit dem Erbstück kämmte. Es wirkte fast hypnotisch. Nach einer Weile verließ sie den See. Luken rannte ebenfalls zurück. Auf dem Weg begegneten sie sich nicht erneut.

Nach dem Unterricht an diesem Tag ging Ibarra zum Raum ihres Bruders und dessen Klassenstufe. Sie trat würdevoll hinein und ging auf Jente zu die sich mit Luken unterhielt. Jente erschrak und verkrampfte als sie vor ihr stand. Luken stockte der Atem.

„A-Arantxa… was…“ Er begann zu stottern und hatte Mühe sich zu sammeln.

„Jente.“ Sagte sie emotionslos. „Verzeih meinen Ausbruch neulich.“ Diese nickte ihr nur ungläubig zu. Dann verließ Arantxa das Klassenzimmer. Nael und Colin schauten etwas irritiert zu Luken, erkannten ihre Entschuldigung jedoch an. Arantxa war zu stolz um einen Fehler einzugestehen, besonders wenn sie sich nicht daran erinnerte. Also log sie um die Stimmung in der Gruppe wiederherzustellen.

Am Abend verspürte sie keinen Hunger, begleitete die anderen also nicht zum Abendessen. Stattdessen ging sie in das Musikzimmer. Sie schloss die Tür hinter sich und setzte sich an den wunderschönen Flügel. Bezaubernd traditionelle Melodien entlockte sie dem Instrument. Beim Essen bemerkte Luken ihre Abwesenheit.

„Hey Lexi, wo ist denn Arantxa?“ erkundigte er sich.

„Die hatte keinen Hunger. Sie ist bestimmt in unserem Zimmer. Soll ich ihr was ausrichten?“

„Nein schon okay.“ Er stocherte in seinem Essen und dachte darüber nach was er am Morgen sah. Nach ein paar Minuten stand er auf und verließ die Gruppe die sich noch bei ihrem Essen unterhielt. Eilig räumte er sein nur halb gegessenes Mahl beiseite. Er ging die Treppe hinauf und bog in den Mädchengang. Er erreichte die Zimmertür von Alexis und Ibarra. Er klopfte an. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe als niemand öffnete. Dann machte er kehrt und ging auf das Musikzimmer zu.

Dort vor der geschlossenen Tür angekommen, hörte er das Mädchen spielen. Er legte die Hand auf den Türgriff und öffnete leise. Sie sah beinahe friedlich und zufrieden aus, wenn sie spielte. Die untergehende Sonne, die durch das Fenster eindrang, legte einen warmen goldigen Schleier auf ihr dunkles Haar. Leichtfüßig glitten ihre schmalen Hände über die schwarz-weißen Tasten und drückten sanfte Melodien aus dem Körper des Instrumentes. Ganz genau prägte er sich diesen Anblick ein. Er fror das Bild in seinem Kopf ein. Sie bemerkte ihn und unterbrach das Spiel.

„N-Nicht aufhören.“ bat er und schaute sie an. Der Moment entglitt allmählich. Er war zu schön um ihn jetzt schon vergehen zu lassen. „Was willst du hier?“ Sie wirkte nicht zornig. Eine samtweiche Art begleitete ihre Stimme. Sonst erschien sie immer etwas schroff und spitz, aber nicht jetzt. Die südländisch gebräunte Haut um ihre Augen lag glänzend und entspannt, keine Zornesfalten erkennbar. Er schloss die Tür hinter sich und trat näher.

„Ich habe nach dir gesucht.“ Er versuchte eine Ausrede zu finden um das Gespräch zu starten. Er fasste sich mit einer Hand an den Hinterkopf und fuhr mit den Fingern durch seine kurzen schwarzen Locken. „Nett, dass du heute bei Jente warst.“

Ein unangenehmes leichtes Kribbeln machte sich in ihrer Brust breit. Ein ganz schwaches Drücken in dem Moment als seine Stimme auf sie eindrang. Sie wurde etwas ungeduldig und schaute von ihm weg in der Hoffnung auch das drückende Kribbeln loszuwerden.

„Was…eh…hast du heute Morgen eigentlich am See getrieben?“ Das Kribbeln kehrte mit einem spontanen Impuls wieder zurück. Sie drehte sich ruckartig um und schaute ihn mit weiten Augen an.

„Woher weißt du davon?! Spionierst du mir nach?“ Sie kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen. Arantxa war verunsichert, dennoch blieb sie ruhig. Neugier war es die nun großer war als Empörung oder Schuldzuweisungen.

„N-Nein! Ich war joggen und sah dich auf einem Stein sitzen… d-du hast dir die Haare gekämmt.“ Die Region um ihre Augen entspannte sich nun wieder etwas.

„Und?“ fragte sie. Die Neugier wuchs ins Unermessliche, wurde aber hinter einer Fassade ihrer gespielt emotionslosen Stimme verborgen.

„Was hast du so früh dort getrieben?“

„Wenn du es wissen musst…“ Ihre Stimme nahm einen leicht vorgegaukelt überheblichen Ton an. „Ich war schwimmen.“ Sie zog ihre Augenbrauen hoch als sei es völlig normal für sie und wandte sich wieder dem Flügel zu. Ihre Handflächen wurden etwas feucht und ein trockener Geschmack legte sich auf ihre Zunge. Ein Kloß steckte ihr im Hals bei dem Gedanken Arriola wisse was sie dort getrieben hatte. Ganz im Gegensatz zu ihr selbst. Sie legte ihre Finger auf die Tasten des Klaviers und setze die Melodien fort. Das Lied das ihre Mutter ihr beibrachte. Aus Unsicherheit und Nervosität spielte sie dieses vertraute Stück. Arriola hielt einen Moment inne und lauschte den ruhig fließenden Noten. Sie weckten längst vergessene Kindheitserinnerungen. Er war 7 Jahre alt gewesen als er das erste Mal von dieser Geschichte hörte.

„Mein Vater ist bei der Marine. Er erzählte mir von einer Legende über espiritu die im Wasser lebten und manchmal Männer anlockten. Sie kämmten sich die Haare an der Küste, genau wie du heute Morgen. Es hat mich daran erinnert.“ Sie wusste nicht was die darauf hätte antworten sollen, oder ob die Geschichte sich noch fortsetzte, also spielte sie weiter ohne auf seine Bemerkung einzugehen. Was wollte er damit sagen?

„Lamiak.“ sagte er kurz darauf. „Das selbe Lied, dass du schonmal gespielt hast, oder?“ Sie sagte nichts und spielte einfach nur die wunderbare Melodie. Manchmal glitt ein Lächeln dabei über ihre Lippen. Arriola saß mit angewinkelten Beinen auf dem Boden neben dem Piano und schaute ihr zu. Die Arme um die Knie geschlungen, manchmal legte er das Kinn auf ihnen ab. Sie sah bildschön aus in diesem Moment. Ihre Haare fielen in einem langen geflochtenen Zopf über ihre rechte Schulter, Strähnen hingen ihr im Gesicht. War es ein Zufall, dass sie die Erinnerung an diese Kindheitsgeschichte weckte oder hatte es keinerlei Bedeutung? Es war als läge eine mystische Aura um sie herum, als wäre sie darin eingebettet. Wie eine übernatürliche Schutzschicht war sie davon umgeben und diese öffnete sich in nur raren Momenten wie diesem. Das Lied endete. Sie nahm die Hände von den Tasten des Instruments und schaute auf ihre Knie. Neugier siegte über ihren Stolz.

„Arriola?“ Er sah zu ihr auf. „Ich kann mich nicht mehr erinnern.“

Er blickte sie fragend und verwundert über ihre Offenheit an. Die Aura war fort. Keine Schutzschicht mehr.

„Erinnern, woran?“

„Heute Morgen.“ Noch immer blickte sie auf ihre Knie, dabei ballte sie ihre Hände zu Fäusten. Ihre Stimme wirkte so zart auf einmal. „Ich weiß, dass ich an den See ging. Ich wollte ins Wasser. Ich fühlte mich nicht wohl…wie…ausgetrocknet.“ Die Schutzschicht war vollkommen aufgelöst in diesem Moment. Sie ließ es zu und suchte nach einer Antwort, bei ihm. Vielleicht hatte er mehr gesehen als er zugab.

„Ich verstehe nicht. Willst du mir sagen du weißt nicht mehr, dass du schwimmen warst…oder dir am Ufer die Haare gekämmt hast?“ Er wurde stutzig und runzelte misstrauisch die Stirn. „Wie soll das gehen?“

„Ich weiß es nicht. Es war dasselbe am Tag nach dem Septemberfest. Jente…“ sie zögerte kurz. „Ich kann mich nicht daran erinnern.“ Sie wirkte plötzlich etwas verunsichert. Sie verstand nicht was mit ihr passierte. Luken sah sie schweigend mit einem besorgten Gesicht an. Er wusste nicht was er sagen sollte, nur dass er rausfinden muss was passiert war.

„Ich glaube ich verliere den Verstand… wie meine Mutter.“ Der junge Mann mit den Locken rutsche etwas dichter zu ihr und legte tröstend eine Hand auf ihr Knie.

„Du bist nicht verrückt.“ Ein sanfter Blick spiegelte sich auf seinem Gesicht wieder. Er war weich und stützend, keinerlei Verurteilung, Spott oder Unglaubwürdigkeit lag in ihm. Aufrichtigkeit und Vertrauen lagen in ihm und schauten direkt zu ihr. Sie schaute ihn an und registrierte zum ersten Mal, dass seine Augen braun waren. Kein helles, goldiges braun, eher ein dunkles, tiefes Mahagoni umrandet von tiefschwarzen Wimpern.

Schwimmtraining

An diesem Wochenende fuhr Nael mit seinen Teamkollegen in ein Rudercamp. Ein großer Wettkampf stand bald bevor, der letzte. Über den Winter gab es immer eine Saisonpause, weshalb die Gruppe dann nur noch in den Fitnessräumen trainieren konnte. Es war also sehr wichtig noch ein letztes Wochenende auf dem Wasser verbringen zu können. Alexis und Colin waren zu einem unschlagbaren Team herangewachsen in der kurzen Zeit. Sie ergänzten und inspirierten sich gegenseitig. Da das Land noch sehr neu für sie war, stellte ein gemeinsames Wochenende in Bilbao eine gute Gelegenheit dar es Schritt für Schritt besser kennenzulernen. Arantxa war abgelenkt aufgrund der vergangenen Ereignisse. Unruhe legte sich auf ihr Gemüt. Wenn sie wissen wollen würde, was mit ihr geschehen war, müsste sie sich besser beobachten und das ging nur ohne die anderen, ohne Ablenkung. Also blieb sie im Internat. Sie konnte ein paar ruhige Tage ebenso gut nutzen um sich ganz dem Flügel zu widmen. Seine Klänge beruhigten sie, ihre Wirkung auf ihre innere Balance war beinahe magisch. Sobald sie spielte durchströmte eine Ausgeglichenheit und Harmonie ihre Seele. Arriola schien keine besonderen Pläne zu haben die sie interessiert hätten. Vielleicht traf er sich mit Jente. Jedenfalls hatte die schöne Baskin ihre Ruhe in den nächsten Stunden. Sie genoss die Stille am Abend, die ihren wirr schwirrenden Gedanken erlaubte sich zu setzen. Die Nacht war leise und dunkel. Irgendwie beruhigend.

Arantxa schreckte aus einem Traum hoch diese Nacht. Ihr Puls raste, ihre Kehle schnürte sich immer dichter und ihr Atem wurde schneller. Ihre Fingerspitzen füllten sich mit einem kribbelnden Gefühl, dass sich in wenigen Minuten über ihre gesamten Handflächen ausbreitete. Halluzinationen erfanden lange entstellte Krallen an den Stellen wo sonst ihre zierlich, fraulichen Finger waren. Dieses kratzig-trockene Gefühl legte sich erneut an die Innenseiten des Rachens. Taumelnd versuchte sie etwas Trinkbares im Zimmer zu finden, ohne Erfolg. Es war wie der Wunsch nach Regen in einer Wüste. Ihre Beine gaben nach, sie konnten keinen festen Stand finden. Sie stolperte unbeholfen in den Flur und hinüber zur großen Treppe. Sie sank am Geländer auf den Boden, lehnte sich an das Holz der Treppe. Der Boden wirkte kälter und härter als sonst. Es dauerte einige Minuten bis sich die Schwäche ihrer Knie verflüchtigte und sie wieder stark genug waren das Mädchen zitternd in die Senkrechte zu stemmen. Das kribbelnde Gefühl in den Handflächenbegann sich allmählich zu verziehen. Der lange Gang den sie hinunter schlurfte wirkte meilenweit und das Ziel in unendlicher Entfernung. Die vorgetäuschten Krallen begannen wieder sich in Fingerformen zurück zu verwandeln. Sie erreichte Zimmer 4 in der Mitte des endlosen Flures und klatschte ihre flache Hand mehrfach gegen die Tür. Nach wenigen Sekunden tat sie dies erneut. Das zweite Klopfzeichen brachte ihr mehr Erfolg. Luken öffnete verschlafen mit nicht mal halb geöffneten Augen die Tür.

„Wer auch immer du bist, ist dir bewusst, dass es mitten in der Nacht ist und ich dabei war den besten Traum aller Zeiten zu haben…? “ Er zwang sich langsam und mit großer Anstrengung seine schweren Lider zu heben.

„Fällt dir gerade echt nichts Besseres ein?“ keuchte Arantxa mit schmerzverzerrtem Gesicht. Ihre Stimme klang heiser und kratzig.

„Hm?“ fragend zog er verschlafen die Augenbrauen hoch und hoffte sie würden seine Augen weiter öffnen. Arantxa atmete noch immer schwer. Er schaffte es seine Augen zu öffnen und zu realisieren wer an seinem Türrahmen lehnte.

„Ay, dios mío…“ Er sah sie mit offenem Mund an. Arantxa ging ohne Worte an ihm vorbei und ließ sich in das Bett ihres Bruders sinken.

„I-Ist alles in Ordnung?“ Die Aufregung brachte ihn zum Stottern. Sie lachte erschöpft.

„Sehe ich etwa so aus?“ Unsicher begutachtete er sie und quasselte weiter unbeholfen vor sich hin, „Naja, du hast schonmal besser ausgesehen…“, bemerkte aber im selben Moment seine Taktlosigkeit, „Nein! Eh…w-was ich meine ist…Ich meine, du siehst immer, eh, gut aus. Also…hübsch. Heute vielleicht etwas weniger. Sagen wir 70%...nein, 75…okay, 80!“ Seine Konzentration ging gegen null.

Sie schaute ihn verwirrt an. Entwaffnet durch seine Aufregung stolperte er fast über seine eigenen Füße. Zum Glück fand er schnell eine sichernde Stütze in dem großen Kleiderschrank des Zimmers, welcher ihn davor bewahrte das Gleichgewicht zu verlieren. Er versuchte seine Ungeschicktheit zu verdecken indem er sich mit einem Ellenbogen dagegen lehnte und die Beine kreuzte. Arantxas Atem beruhigte sich langsam und ihr Kopf begann klarer zu werden. Sie legte sich eine Hand an die Stirn und winkelte auf dem Rücken liegend ihre Beine an. Erst jetzt konnte Luken einen klaren Gedanken fassen und bemerkte wie schlecht es ihr ging. Mit jeder weiteren Sekunde sog er das Bild in sich auf, das sein Gehirn schließlich verarbeiten konnte. Es war ein gräulicher Anblick der sich ihm bot. Ihre Verwundbarkeit bereitete ihm große innerliche Qualen. Besorgt und zugleich gewillt alles in seiner Macht Stehende zu tun um ihr zu helfen, trat er an ihre Seite und legte eine Hand an ihre Stirn.

„Ibarra, du kochst ja…ich hole dir ein Glas Wasser!“ Er holte ihr etwas zu trinken und sie kippte es in einem Zug runter. Ein altes verknittertes T-Shirt über seinem Stuhl bot das richtige Substrat und wurde mit Wasser übergossen. Auf der Bettkante sitzend, tupfte er ihr mit dem durchtränkten Stoff über die Stirn. Sie schloss ihre Augen und sog das Wasser gedanklich in sich auf.

„Ich schwöre, wenn du jemandem davon erzählst…!“ hauchte sie ihm drohend zu und zog ärgerlich ihre Augenbrauen zusammen.

„Halt die Klappe und lass mich dir helfen.“ gab er mit Nachdruck von sich und machte eine erwartungsvolle Geste mit den Händen. Sie schaute ihn an, nickte und schloss die Augen wieder. Zum ersten Mal bemerkte sie, dass ein kleiner Leberfleck seine Wange verzierte, rechts neben seinem Nasenrücken. Sie schlief schnell wieder ein. Luken blieb noch eine Weile neben ihr sitzen und legte ihr sein zusammengerolltes, nasses T-Shirt auf ihre Stirn. In seinem Bett grübelte er. Was war los mit ihr? Vielleicht ein Virus? Aber warum konnte sie sich neulich an nichts erinnern? Nachdem er sich vergewisserte, dass Arantxa tief und ruhig schlief, schloss auch er seine Augen. Aber nicht für lange.

Die Baskin schnappte laut nach Luft als sie aus einem neuen Alptraum erwachte. Heiser schrie sie auf und riss Luken damit aus dem Schlaf. Er zuckte zusammen und richtete sich schlagartig auf. Arantxa saß heftig atmend auf dem Bett und krallte die Finger in den Bettbezug. Luken eilte zu ihr herüber und versuchte sie zu beruhigen.

„Ist schon okay“ wollte er den Schmerz des aufgebrachten Mädchens mildern, „es war nur ein Traum. Alles ist gut. Dir passiert hier nichts.“ Er setzte sich neben ihr auf das Bett und legte besorgt und schützend einen Arm um sie. Tiefe dunkle Augenringe zierten ihr verzweifeltes Gesicht. Ihre Augen wirkten wässrig. Er lehnte sich mit ihr leicht gegen die Wand und strich mit einer Hand über ihren nackten Oberarm. Mit der anderen rieb er sich die müden Augen.

„Wie fändest du es eigentlich mal wieder etwas mehr als nur zwei Stunden am Stück zu schlafen? Könnten wir beide gut gebrauchen.“ seufzte er scherzend. Er hoffte ein paar zu belächelnde Worte würden ihr helfen sich abzulenken.

„Was glaubst du was ich hier versuche?“ gab sie entkräftet aber doch schnippisch zurück. Er lächelte sanft. Sie schien wieder mehr die alte zu sein. Er wollte aufstehen und sie weiterschlafen lassen, nachdem sie wieder etwas zur Ruhe kam. Arantxa griff in den Rücken seines Shirts und hielt ihn fest. Er rollte genervt die müden Augen.

„Dein Ernst?“ Ein unterdrücktes schmales lächeln floss über seine Lippen.

„Cállate! (Halt den Mund)“ befahl sie und krallte ihre Finger weiterhin in den Stoff und vergrub ihr Gesicht im Kissen. Arriola sank geschlagen zu Boden. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Bettseite und ließ erschöpft seinen Kopf nach hinten auf die Matratze überkippen. Arantxa griff nach einem neuen Stück Stoff um sich zu vergewissern er würde nicht wieder aufstehen.

Ein paar graue Lichtstrahlen weckten Arantxa am nächsten Morgen. Sie blickte um sich und fand Arriola in derselben Position wieder. Angelehnt ans Bett, den Kopf nach hinten gekippt, Arme und Beine lang vom Körper weggestreckt und offen stehendem Mund. Sie konnte nicht anders als über diesen Anblick zu schmunzeln. Ihr Körper fühlte sich etwas steif an, also räkelte sie sich sitzend ein wenig und nahm einen tiefen Atemzug. Sie war dankbar in der letzten Nacht nicht allein gewesen zu sein. Ihr Körper fühlte sich staubtrocken an. Sie legte Mittelfinger und Daumen zu einem Kreis zusammen und schnippte gegen Arriola’s Ohr. Dieser schreckte auf. „Was?! Was ist passiert?“ Sein Verstand war noch leicht vernebelt vom Schlafmangel der letzten Nacht und seine Augen klein. Sein Nacken schmerzte, es war definitiv nicht die bequemste Nacht die er hinter sich hatte, aber definitiv bisher die aufregendste. Er rieb sich den Nacken und drehte sich zu Arantxa um die ihn nach der kräftezehrenden Nacht aus dem Schlaf geholt hatte.

„Ich will zum See gehen.“ Sie klang entschlossen.

„O-Okay.“ Er nickte mehrmals mit fragendem Gesicht als wäre es eine Selbstverständlichkeit, war aber zugleich neugierig was sie dort wollte und warum sie ausgerechnet jetzt dorthin musste, aber er stellte keine Fragen. Er nickte nur stumm. Es war seltsam, aber er wollte ihr helfen sich selbst zu verstehen und ihr die Unterstützung geben die sie vielleicht brauchte ohne es offensichtlich zu wollen, geschweige denn sich einzugestehen. Ein unerwartetes Vertrauen ihrerseits lag plötzlich auf seinen Schultern. Es fühlte sich angenehm an.

Draußen war es kälter geworden, der Herbst erstreckte sich jeden Tag mehr über das Land. Oft war die Umgebung um den See von Nebelschwaden umgeben, grau am Morgen und düster am Abend. Auf dem Weg dorthin redeten sie kein Wort. Arantxa wirkte fest entschlossen, mit einem Funken an Ehrfurcht. Luken schritt still neben ihr, vergrub die Hände in den engen Hosentaschen. Die Feuchtigkeit des Nebels kroch zwischen die Fasern seines Kapuzenpullovers. Sie erreichten dieselbe Stelle an der er sie das letzte Mal aus dem Wasser kommen sah. Sie standen am dünnen Ufer und blickten auf den See hinaus.

„Was jetzt?“ wollte er von ihr wissen.

„Ich bin nicht sicher…“ begann sie grübelnd ohne ihn anzuschauen. Man konnte erkennen, dass sie angestrengt nachdachte. Sie erinnerte sich daran wie gut sich damals das samtene Wasser an ihrem Körper angefühlt hatte. Der Gedanke daran legte ihr ein trockenes Gefühl in den Mund und machte sie neugierig. „Ich will etwas versuchen.“ sagte sie nun entschlossen und kniff die Augen etwas zusammen. Gespannt erwartete Luken eine weitere Erklärung. Diese kam jedoch nicht. Stattdessen drehte sich Arantxa zu ihm um, streifte sich ihre Jacke ab und legte sie über Luken‘s Schulter. Er stutze.

„Wa-Was tust du?!“

„Wonach sieht es denn aus? Ich gehe schwimmen.“ Während ihrer halbherzigen Erklärung hatte sie sich bereits ihre Schuhe ausgezogen und schaute den verwirrten jungen Mann herausfordernd an. Er war nicht sicher wie er reagieren sollte.

„Soll ich …eh… etwa auch da rein?“ Man hörte seiner Stimme an, dass er die Feuchtigkeit in seinem Pullover der des Wassers auf seiner Haut deutlich vorzog.

„Nein, du bleibst hier und wartest.“ Er atmete einmal erleichtert auf. „Aber du musst genau zusehen und beobachten was passiert.“

„W-Was?!“ Bei dem Gedanken an Arantxas nackten Körper stieg die Hitze in seinen Körper erneut auf und machte ihn nervös.

„Dreh dich um.“ Ihre Stimme nahm einen entschlossenen Befehlston an. Er folgte den Anweisungen gespannt und hielt weiterhin ihre Jacke fest im Arm. Sein Gesicht schaute in Richtung der Allee mit den Bäumen, hinter denen er sich einst versteckte, sein Rücken war dem See zugekehrt.

„Mach die Augen zu.“ hörte er sie dicht hinter sich. Sein Herz schlug etwas fester gegen die Vorderwand seines Brustkobes und er tat was sie forderte. „Streck die Arme aus.“ Er wurde nervöser. Dann legte sie ihm ein Päckchen aus ihrer Kleidung auf die ausgestreckten Unterarme. Er wusste nicht ob es Erleichterung oder Enttäuschung war, nachdem er erkannte, dass er ihre Sachen verwahren sollte. Dann hörte er sie weggehen. Er lauschte ihren leisen Schritten. Als ihre Zehen das Wasser berührten atmete sie einmal tief durch und schritt voran. Langsam sog sich ihr Körper erneut mit dem angenehm wohligen Gefühl voll. Mit jedem weiteren Schritt gelang sie tiefer in den See und es war als würde sich ihr Verstand vernebeln, doch sie zwang sich konzentriert zu bleiben solang es möglich war. Als sie bis zum Brustkorb in Wasser gehüllt war rief sie Luken zu.

„Arriola! Dreh dich um!“ Ihre Hände verschränkten sich vor ihrem Oberkörper um ihre Blöße vor ihm zu verdecken. Arriola schlug das Herz bis zum Hals. Er wusste nicht was ihn jetzt erwarten würde. Langsam öffnete er die Augen und half seinem festgewachsenem Körper den Befehl zum Umdrehen zu geben. Es dauerte einen Moment ehe er sie anschauen konnte. Ihm fehlten die Worte diese Situation je beschreiben zu können.

„Du musst genau aufpassen, hörst du?!“ Er nickte nur stumm. „Versprich, dass du nicht weggehst!“ Während sie ihm zurief trübte sich ihre Aufmerksamkeit ein. Ihre Füße fühlten sich anders an im schlammigen Untergrund des Sees. Sie trat weiter in den See hinein.

„Agintzen!?(Versprochen!?)“ Sie konnte die Antwort von Luken nicht mehr wahrnehmen. Dann tauchte sie ein. Es fühlte sich gut an, als wäre sie in ihrem Element. Das kühlende Nass umgab sie vollständig, sie hatte keinerlei Angst, Zweifel oder Wut in sich. Eine Harmonie durchströmte sie wie eine Melodie und füllte ihren Körper damit aus. Kein Verlangen aufzutauchen oder zu atmen. Es war wie ein Traum.

Unschlüssig stand Arriola mit ihren Sachen im Arm und starrte auf den Fleck im Wasser wo sie untergetaucht war. Die Situation war äußerst bizarr.

„Und was um alles in der Welt soll ich jetzt solange tun?“ sarkastisch hob er beide Arme erwartungsvoll in die Luft. Er schaute sich kurz um und setzte sich nicht weit entfernt auf den Boden. Mit angezogenen Knien schaute er hinaus auf das glatte, dunkle Wasser. In einiger Entfernung lag die Isla de Zuhatza. Eine kleine Insel in mitten des Ullíbarri-Gamboa. Sie war nicht sonderlich groß oder aufregend. Er und Nael waren ein paar Mal dort in den Vergangenen Jahren. Absolut nichts Besonderes. Sie war überwuchert mit Sträuchern und massiven, alten Bäumen. Ein wirrer Wald der nichts bot als Grün. Wo war Arantxa geblieben? Sie tauchte nicht auf, es war als wäre sie nie da gewesen. Nur ihre verlassenen Sachen überzeugten ihn, dass sie tatsächlich in den See ging. Er zweifelte beinahe an seiner Wahrnehmung. Was wollte sie nur in diesem See? Es ergab keinen Sinn für ihn. Warum konnte sie sich an nichts erinnern? Vielleicht gab es Substanzen in dem See die das Erinnerungsvermögen angriffen, Verschmutzung. Aber so recht wollte er das nicht glauben. Man konnte von der Stelle mehr als die Hälfte des Sees überblicken. Minuten vergingen. Die Sonne war inzwischen höher am Himmel und sog ein wenig die Feuchtigkeit aus Luken‘s Pullover. Sobald er mit den Gedanken abschweifte, zwang er sich dazu aufmerksam zu bleiben und den See nicht aus den Augen zu verlieren. Sie musste wiederkommen. Er wartete geduldig und machte sich gedanklich Notizen. Er hatte es versprochen. Er würde solange ausharren bis sie wiederkam. Er setzte sich in den Schneidersitz, verschränkte die Arme vor dem Körper und wartete.

Stunden waren vergangen und in Luken wuchs die Ruhelosigkeit. Ungeduldig wackelte er mit seinem rechten Fuß. Er versuchte sich die Bilder ins Gedächtnis zurück zu holen als er Arantxa auf dem Stein sah, wie sie sich durch die Haare fuhr. Sie wirkte wie in Trance, aber so zufrieden. Als säße sie am Klavier. Diese beiden Zustände ihres Gemüts ähnelten einander sehr. Er wollte entschlüsseln was hier vor sich ging. Was hatte ihr gestriger Fieberwahn mit dieser Faszination mit dem See gemeinsam? Sie war so durstig gewesen, erinnerte er sich, vielleicht wollte sie deshalb schwimmen gehen. Vielleicht kühlte es sie ab? Er verwarf diesen idiotischen Gedanken. Es musste etwas anderes dahinterstecken. Noch immer keine Spur von ihr. Es war bereits Nachmittag und die Sonne begann langsam wieder zu sinken. Auf dem Rücken liegend kam ihm ein Gedanke. Er rief sich wiederholt die Geschichte seines Vaters ins Gedächtnis zurück. Wiederholt kam sie ihm in den Sinn. Es nervte ihn, dass er immer wieder daran denken musste. Es war eine alte Geschichte, nur ein Märchen. Er stand auf und klopfte sich den Dreck von der Hose. Er wanderte auf und ab am Ufer. Dann blieb er auf einmal stehen und schaute auf den Stapel von Arantxas Kleidung.

„Ich frage mich ob…“ begann er seinen Gedanken zu festigen. Der Bereich zwischen seinen Augenbrauen lag in kleinen Falten. Er nahm Arantxas Kleidung an sich und begann sie zu durchforsten. „Oh Gott, Arriola, wenn sie dich erwischt, bist du dem Tode geweiht.“ Gestand er sich nervös ein und vergewisserte sich zwischendurch ob sie wieder auftauchte. Er wurde fündig. In ihrer Jacke bekam Luken etwas Festes zu fassen. Er griff in die kleine Tasche und holte hervor was in ihr steckte. Eindringlich musterte er den goldenen Kamm in seiner Hand. Er war ein wirklich hübsches Erbstück. Auf seiner Vorderseite waren Muster eingraviert. Er war nicht sicher ob sie eine Bedeutung haben oder nur als Schmuck dienten. Es ähnelte einem Baum oder einer Blume. Von unten aus ragte ein Stamm empor, gebildet aus mehreren dünneren Linien. Er lief aus in einem rundlichen Gebilde, deren Ränder schleifenartige Linien schmückten. In ihrer Mitte vereinigten sie sich alle. Der Stamm des Musters besaß sogar zwei Blätter. Luken zog sein Handy aus der Hosentasche hervor und fotografierte das Muster und den Kamm mehrmals. Die Sonne begann zu sinken als er ein leises plätschern vernahm. Ruckartig drehte er sich um und suchte den See mit seinen Augen ab. Der Sonnenuntergang tauchte ihn und die Umgebung in ein warmes orange-rotes Licht. Etwas tat sich an der Wasseroberfläche. Die zuvor glatte Oberfläche wölbte sich. Er war zu weit entfernt als das Luken etwas hätte genauer erkennen können. Es war totenstill, nur das leise Gluckern des Sees und der Wind, der auffrischte, waren zu hören. Luken’s Blick biss sich an einer Wölbung des Wassers fest und er versuchte angestrengt sich jede Einzelheit genau einzuprägen. Die Wölbung wuchs und der Umriss einer Person wurde erkennbar. Es musste einfach sie sein. Gefesselt stand Luken mit halb offenem Mund und aufmerksamen Mahagoni-Augen da, den Kamm fest in der rechten Hand. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

Nach weiteren Sekunden war er sicher, dass sie es war. Er atmete erleichtert auf. Langsam und fließend schritt sie immer weiter auf das Ufer zu. Ihre nassen langen Haare verdeckten ihre Nacktheit nur teilweise. Er zwang sich wegzusehen. Ruhig und neugierig kam sie auf ihn zu. Er warf den Kopf in den Nacken und richtete seinen Blick krampfartig in den Himmel.

„Gott, Arantxa tu‘ mir das bitte nicht an…“ nuschelte er verlegen den Wolken zu. Sie blickte ruhig auf ihn aus geringer Entfernung.

„Du warst ziemlich lange weg. Seit wann kannst du eigentlich 11 Stunden die Luft anhalten und planschen gehen?“ versuchte er tollpatschig die unangenehme Situation zu bereinigen, doch sein Geschwätz wurde ignoriert.

„Du hast etwas das mir gehört.“ Ihre Stimme klang etwas greller als gewöhnlich. Luken stutze kurz aber realisierte was sie meinte. Sie streckte ihm die offene Hand entgegen und forderte es ein.

„Oh, ja…“ ohne den Blick auf sie zu richten streckte er ihr den Kamm entgegen. Ihre Finger wirkten blass, waren aber von einmalig zarter Haut geprägt. Es war eigenartig.

„ich habe ihn mir nur kurz angeschaut, ehrlich.“ Er hoffte ihre eiskalte Rache würde ihn nicht treffen wie Jente damals.

„Danke.“ gab sie gnädig zurück. Er konnte nicht anders als sie nun anzusehen. Er musterte ihre vom Wasser strähnigen Haare die ihr ins Gesicht vielen und langsam zu trocknen begannen. Ihre Gesichtszüge waren entspannt, keinerlei negative Emotion war von ihrer samtigen Haut zu lesen. Etwas war anders an ihr. Eindringlich prüfte er sie, als er einen grünlichen Strich in ihrer Iris lokalisierte. Er schob sein Gesicht dichter an ihres um den Strich in ihrem linken Auge besser zu analysieren. Je länger er ihn anstarrte desto dünner wurde er, bis er vollkommen verschwunden war. Arantxa blickte ihn aufgelöst an, als erwache sie aus einem Traum. Zu ihrem Schrecken stellte sie fest, wie sie gerade vor ihm stand und wie eindringlich er ihr ins Auge starrte. Sie räusperte sich, so dass Luken ihre Wesensveränderung auffiel.

„Wie wäre es, wenn mir jemand eine Jacke geben würde?!“ Sie blickte beschämt aber stolz von ihm weg und biss sich peinlich berührt auf die Lippen. Ihr Begutachter wirbelte ungeschickt herum, ergriff ihre Sachen, streckte ihr diese entgegen und hielt sich die freie Hand über sein Gesicht. „Oh man…“ pustete völlig überfordert von der Situation. Er drehte sich von ihr weg und starrte verlegen auf seine Füße. Arantxa sagte nichts und legte ihre Sachen hinter einem großen Felsen wieder an. Auf diesem sitzen versuchte sie geduldig ihre langen, dicken Haare mit dem Kamm ihrer Mutter zu entwirren. Stumm und gleichmäßig ließ sie ihn durch ihre Strähnen gleiten. Der Anblick weckte Kindheitserinnerungen in Luken. Wieder diese Geschichte seines Vaters.



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