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Was ist eigentlich Liebe

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Damit ist mein 'Erstgeborenes' fertig und nimmt am markierten WB teil. Der von mir gewählte Satz ('Total kitschig, genau wie du es magst) war dann doch nicht so leicht unterzubringen, wie ich anfangs dachte und die Story plätschert stellenweise nur so vor sich hin ... aber egal. Ich bin fertig geworden. Yay. Komplett anzeigen

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Ihr Geheimnis

Kapitel 1 - Ihr Geheimnis
 

„Hikari, warte!“ Takeru packte eilig seine Tasche und lief seiner Freundin nach, die schon aus dem Klassenzimmer verschwunden war. Sie drehte sich um und ging rückwärts weiter, wobei sie ihn munter zur Eile antrieb.

„Auf, auf. Wochenende! Henzo-sensei hat uns so viele Hausaufgaben aufgegeben, dass es eh nur noch halb so lang ist.“ Sie verzog das Gesicht bei dem Gedanken. „Er ist der einzige Lehrer, der seinen Schülern so etwas antut.“ Takeru grinste und legte im Gehen einen Arm um ihre Schulter.

„Er ist auch der einzige Lehrer, der im Unterricht Musik anmacht, weil er meint, wir lernten dann besser. Nimm’s nicht so schwer, ich helf’ dir doch.“

„Was wollen wir denn heute unternehmen?“, fragte Hikari und wechselte das Thema. „Gehen wir schwimmen?“ Das war so ziemlich die einzige sportliche Aktivität, die Hikari freiwillig und gerne machte.

„Vielleicht später“, entgegnete Takeru. „Ich wollte erst zu Papa. Ich habe dort letzte Woche mein Buch vergessen.“

Takerus Eltern hatten sich getrennt, als er gerade mal vier Jahre alt war. Seitdem lebte er bei der Mutter und sein Bruder Yamato beim Vater. Und obwohl einige Jahre Funkstille herrschte, wollte Takeru irgendwann seinen Vater wieder sehen und so kam es, dass er schließlich alle zwei Wochen übers Wochenende bei ihm war. Zu seinem Vater hatte er schnell eine recht enge Bindung, aber Yamato ließ ihn kaum an sich heran.

„Oh na toll“, nörgelte Hikari. „Und was soll ich machen?“ Takeru zog amüsiert seinen linken Mundwinkel hoch. „Hausaufgaben - dann hast du’s hinter dir.“ Sie seufzte, dann hellte sich ihr Gesicht auf und sie sagte: „Oder ich komm einfach mit.“ Er verzog ein wenig das Gesicht. „Bist du sicher? Es ist ziemlich weit - dabei geht mindestens die andere Hälfte deines Wochenendes drauf.“

Sie hakte sich lachend bei ihm unter. „So weit ist es nicht, und das Wochenende ist lang genug.“ - „Hört, hört.“

Nach zwanzig Minuten Bahnfahrt stiegen sie aus und gingen noch ein Stück zu Fuß weiter. Vor einem Mehrfamilienhaus blieben sie schließlich stehen und Takeru betätigte die Klingel. Kurz darauf ertönte der Summer.

Die Wohnung der Ishidas lag im vierten Stock, und Hikari stellte betrübt fest, dass es keinen Fahrstuhl gab.

„Du bist wirklich ein faules Ding“, bemerkte Takeru freundlich, dessen Kondition weitaus besser war, und stieg bereits die ersten Stufen hinauf.

„Ich kann nichts dafür, Sport liegt mir eben nicht“, verteidigte sie sich.

„Dann warte hier, ich bin ja gleich wieder da.“

Aber das wollte Hikari auch nicht. Als sie beide oben ankamen, stand die Tür zur Wohnung offen. Takeru klopfte noch einmal laut und trat dann ein. „Hallo? Ich bin’s. Papa, bist du zuhause?“

„Der ist unterwegs“, kam die Antwort von irgendwoher. Takeru warf Hikari einen entschuldigenden Blick zu, und sie spürte, dass ihm die Situation aus irgendeinem Grund unangenehm war. Aufmunternd lächelte sie ihn an.

Takeru suchte mit den Augen nach seinem Buch, konnte es aber nicht entdecken.

„Warte hier“, bat er Hikari, die sich mit unverholener Neugier umsah, ihm dann aber doch folgte und fast in ihn hineinlief, da er plötzlich stehen blieb. Sie schaute an ihm vorbei und direkt auf Yamato, der offensichtlich gerade aus einem Zimmer kam. Tatsächlich hatte er den Türöffner betätigt und die Zeit, bis der Besuch oben war, sein Fernsehprogramm weitergeschaut. Sein Blick streifte sie ganz kurz, und dann sagte er nicht unfreundlich zu seinem Bruder: „Warum bist du hier?“

„Ich habe ein Buch hier vergessen, das brauch ich Montag.“ Yamato nickte, ging in sein Zimmer und kam gleich darauf mit dem Buch zurück. Takeru ließ es in seiner Tasche verschwinden und bedankte sich.

Yamatos Blick fiel wieder auf Hikari. Er hatte sie natürlich erkannt, obgleich er sie vor bald vier Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Hikari stellte ihrerseits fest, dass Yamato unwahrscheinlich hübsch war und rückblickend dachte sie, dass man es damals schon hatte erahnen können. Seine blonden Haare waren länger als Takerus und fielen locker ins Gesicht, die stahlblauen Augen wirkten wach. Er war etwa so groß wie Taichi, aber ein wenig schmaler. Yamato trug eine schwarze Jeans und ein weinrotes Hemd, bei dem nur die mittleren Knöpfe geschlossen waren.

„Wollt ihr was trinken?“, fragte Yamato an seinen Bruder gerichtet.

„Weiß nicht“, sagte dieser und schaute zu Hikari. „Möchtest du?“ Sie nickte, ohne Yamato aus den Augen zu lassen.

„Dann Cola, bitte.“

In der Küche beobachtete Hikari die beiden Brüder. Sie wirkten vertraut miteinander, aber irgendwie auch fremd, als ob etwas Unsichtbares zwischen ihnen stünde. Sie unterhielten sich, lachten auch ein bisschen, aber immer war da ein gewisser Abstand zu spüren. Sie führte das auf die frühe Trennung ihrer Eltern zurück und darauf, dass die beiden sich in dieser Zeit auch selten gesehen hatten. Ihr fiel auf, wie ähnlich sie sich sahen und wie unterschiedlich sie sich doch gebärdeten. Yamatos Art zu reden war einfach und auf das Nötigste beschränkt, wohingegen Takeru sich oft etwas gehoben und sehr höflich ausdrückte. Aber in ihrer beider Augen lag manchmal derselbe melancholische Ausdruck.

Nach einer viertel Stunde erhob Takeru sich schließlich, und Hikari, die ihr Glas bis eben nicht einmal angerührt hatte, leerte es rasch in einem Zug und folgte den beiden auf den Flur. Unterwegs griff sie kurzentschlossen in ihre Tasche und zog das erste, das sie fand – ihren Haustürschlüssel – heraus, und legte es unauffällig auf die Kommode hinter das Telefon.
 

„Warum klingelst du?“, fragte Taichi zur Begrüßung, als seine Schwester am frühen Abend heimkam.

„Hab’ irgendwo meinen Schlüssel verlegt“, murmelte sie, ohne ihn anzusehen, weil sie bei dem Gedanken grinsen musste. Morgen würde sie hinfahren und ihren Schlüssel wieder abholen. Sie hatte gehört, dass Yamato das Wochenende zuhause verbringen wollte, und vielleicht ergab sich dann eine Gelegenheit, sich mit ihm zu verabreden. Yamato hatte eine anziehende Wirkung auf sie gehabt, ein Gefühl in ihr ausgelöst, dass sie so noch nicht kannte. Bisher hatte sie sich in dieser Richtung noch nicht näher mit Jungs befasst, sie war jetzt fünfzehn, „noch nicht heiratsfähig“, wie Taichi immer sagte und bis zu dem Zeitpunkt auch nicht interessiert gewesen. Aber nun flatterte ihr Magen vor Aufregung auf den nächsten Tag; sie malte sich jetzt schon aus, wie es sein würde, ihn mit Yamato zu verbringen - und ahnte nicht, in was sie sich da verrannte.
 

Am Samstag machte sie sich gegen Mittag auf den Weg. Ihrer Familie sagte sie nichts, sie fand, dafür sei es noch viel zu früh. Außerdem war sie nicht sicher, wie ihr Bruder heute zu Yamato stand, und sie wollte nicht schon Theater deswegen, wenn sie noch gar nicht wusste, wie es mit ihm weitergehen würde. Vielleicht hatte er ja auch kein Interesse an ihr, dann wollte sie sowieso nicht, dass es jemand erfuhr.

Eine Stunde später stieg sie schließlich am Bahnhof aus. Den kurzen Fußweg hatte sie sich gemerkt, und endlich stand sie nervös vor dem roten Mehrfamilienhaus. Hoffentlich war Yamato allein, dachte sie noch, als sie die Klingel drückte. Der Summer ertönte, sie schob die Tür auf und erklomm die etwa sechzig Stufen. Irgendwie hatte sie erwartet, die Tür würde wieder einfach so offen sein, aber diesmal stand Yamato bereits in derselben und sah ihr entgegen.

„Hey.“ Er sagte es ohne besondere Regung, etwa so, wie man einen Lieferjungen begrüßt. Dennoch verstärkte sich das Kribbeln in ihrem Bauch bei seinem Anblick und sie schaffte es nicht, ihm direkt in die Augen zu sehen.

„Hi!“, brachte sie ein wenig atemlos hervor, und weil er nichts sagte, fuhr sie etwas verlegen fort: „Ich glaube, ich habe meinen Schlüssel gestern hier vergessen.“

„Hab’ nichts gefunden.“

„Oh … darf ich nachsehen?“ Die Idee kam ihr plötzlich sehr dumm vor und sie spürte ihre Wangen heiß werden. Yamato zuckte mit den Schultern und ließ sie eintreten. Er beobachtete sie, wie sie scheinbar zufällig die Kommode im Flur absuchte und schließlich ihren Schlüssel fand. Es kam ihm natürlich komisch vor, dass er dort lag, aber er dachte sich weiter nichts dabei.

Eine peinliche Pause entstand, in der Hikari innerlich mit sich selbst rang. Die ganze Sache erschien ihr nun einfach lächerlich. Yamato hatte es sicher längst durchschaut und hielt sie für eine blöde Gans. Am liebsten würde sie einfach gehen. Andererseits war dies wahrscheinlich ihre einzige Chance, ihn zu fragen.

„Magst du Schokoladeneis mit Sahne?“ Sie hatte sich vorher überhaupt keine Gedanken gemacht, was sie sagen wollte, irgendwie hatte sie gehofft, es würde sich einfach etwas ergeben. Die Frage war auch nicht sehr elegant, und Yamato zog die Augenbrauen leicht hoch.

„Ich meine, hast du Lust, ein Eis zu essen? Jetzt? Mit mir?“ Hikari wollte über ihr unfähiges Stammeln in Tränen ausbrechen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

Yamato sah sie ein paar Sekunden schweigend an. Ihn amüsierte ihr Anblick. Aus Eis machte er sich zwar nicht viel, aber er erkannte, dass er gute Aussichten auf ein anderes ‚Dessert’ hatte und willigte ein. Hikari war so erleichtert darüber, dass sie es nur schwer verbergen konnte.
 

Yamato mochte kein Schokoladeneis, stattdessen bestellte er sich eine Portion Kokoseis, aber allem Anschein nach schmeckte diese ihm auch nicht sehr gut, denn er aß nur wenig davon. Sie hatten schnell eine kleine Eisdiele gefunden und sich an einen der weißen Plastiktische gesetzt. Es war nicht sehr voll, und die meisten kauften sich ein Eis und zogen dann sofort weiter. Yamato hatte für sie beide bezahlt

Die Stimmung war noch etwas angespannt. Yamato erzählte wenig von sich und fragte auch nicht viel, und Hikari war so nervös, dass ihr einfach nichts einfallen wollte. Schließlich aber nahm sie sich ein Herz und fragte: „Du bist im vorletzten Jahr der Oberschule, nicht? Weißt du schon, was du danach machen willst?“ Yamato runzelte leicht die Stirn. „Du klingst ja wie mein Vater.“ Er hob den Blick und sah sie kurz an, und da sie betroffen wirkte, fügte er hinzu: „Ich weiß es nicht. Vielleicht werde ich weiter studieren. Ingenieurswesen oder so.“ Yamato lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Oder ich pack meine Sachen und geh auf Tournee.“

Auf seinem Gesicht erschien ein leichtes Lächeln, und er sah einen Moment in die Ferne. „Oh, mit den Teen-Age Wolves?“, fragte Hikari dankbar über den Themenwechsel.

Das war der Name der Band, in der Yamato Gitarrist und Sänger war, und damit endete ihr Wissen über diese eigentlich auch schon. Hikari hatte nie einen Auftritt gesehen, geschweige denn, eine Ahnung von der Musikrichtung. Aber bestimmt würde Yamato gern davon erzählen. Er grinste schief und sah sie wieder an. „Wahrscheinlich müssten wir dann über einen neuen Namen nachdenken. Teenager sind wir ja dann nicht mehr.“

Hikari wartete ein paar Sekunden, aber offensichtlich war das Thema für ihn schon beendet, denn er stocherte abwesend mit dem Löffel in seinem Eis herum, ohne zu essen. Sie seufzte sehr leise und aß ihr Eis weiter, während sie überlegte.

„Ich würde so gern einmal bei einer Bandprobe zusehen“, sagte sie schließlich.

„Vielleicht später mal“, erwiderte er unverbindlich.

Es war wirklich nicht einfach, mit Yamato umzugehen. Ein paar weitere Themen, die Hikari ansprach, wurden so einsilbig von ihm beantwortet, dass sie immer frustrierter wurde, und als sie ihr Eis aufgegessen und das von Yamato sich endgültig verflüssigt hatte, fand sie es an der Zeit, aufzubrechen.

Der ganze Plan war offensichtlich schief gegangen; er hatte kein Interesse an ihr, vielleicht war sie ihm auch zu jung oder er vergriff sich nicht an der besten Freundin seines Bruders.

„Willst du schon nach Hause?“, fragte Yamato und wirkte plötzlich enttäuscht. Sie wunderte sich über diese Gefühlswandlung, sagte aber lediglich: „Ja, ich muss noch Hausaufgaben machen.“

„Hm“, machte er, „und morgen?“

Sie hob scheinbar gleichgültig die Schultern, doch ihr Herz machte einen Satz. Wollte er sich gerade mit ihr verabreden?

„Willst du vorbeikommen?“

Hikari lächelte. „Gern.“
 

Hikari ging noch ein bisschen spazieren, um das so neue Gefühl alleine zu genießen.

Bei jedem Gedanken an Yamato kribbelte es in ihrem Bauch; wenn sie sein Gesicht vor sich sah, war sie so davon eingenommen, dass sie beinahe gegen einen Laternenmast lief. Sie musste außerdem fast die ganze Zeit grinsen und das sah für Unwissende sicher komisch aus.

Hikari fühlte sich beschwingt und irgendwie fraulicher. Da war tatsächlich ein Junge, ein junger Mann sogar, der sich für sie interessierte und sie wieder sehen wollte und noch dazu sehr gut aussah. Sie hätte schreien mögen vor Glück.

Zuhause, überlegte sie, wollte sie vorerst aber nichts erzählen. Es kam ihr irgendwie erwachsener vor, so eine wichtige Sache erstmal für sich zu behalten und zu sehen, wie es weitergehen würde.

Kurz vor dem Abendbrot traf sie zuhause ein. Ihre Mutter kam gerade ins Wohnzimmer, als Hikari die Haustür hinter sich schloss, und Taichi deckte bereits den Tisch.

Mutter wirkte etwas verwundert, aber nicht verärgert.

„Hikari, Hallo. Wo warst du solange? Takeru hat für dich angerufen.“

Hikari fiel auf die Frage keine Antwort ein, daher überging sie diese einfach und sagte: „Danke, ich ruf nachher zurück. Muss noch kurz ins Zimmer.“

„Wart’ mal, Kleines“, rief Taichi munter und setzte seiner Schwester nach.

„Was willst du?“, fragte Hikari argwöhnisch, weil er überlegen lächelnd in ihrer Zimmertür stehen blieb.

„Du warst heute nicht bei Takeru.“

„Das ist kein Geheimnis.“

„Bei wem warst du?“

Das ist ein Geheimnis.“ Sie wand schnell ihren Blick ab und tat, als suchte sie etwas in ihrer Tasche

„Ein Junge aus deiner Klasse?“, forschte Taichi weiter nach.

„Nein.“

„Aus der Oberstufe?“

„Nein.“ Taichi machte große Augen.

„Ein Lehrer?“

„Mach dich nicht lächerlich!“

Taichi lehnte sich an den Türrahmen, machte ein gleichgültiges Gesicht und sagte betont beiläufig: „Ich muss nur warten, bis du Takeru anrufst und von der anderen Leitung mithören.“

Sie schmunzelte. „Darauf fall ich nicht rein. Du bist zu anständig für so etwas.“

„Na schön, ich lass’ dir dein Geheimnis. Ist wahrscheinlich sowieso nur eine Kleinkindschwärmerei.“ Er grinste und wich aus, als sie ihm gegen die Schulter boxen wollte.

Takeru war nicht ganz so nachgiebig, als sie ihm später am Telefon zu erklären versuchte, wo sie war, ohne zu sagen, wo sie war.

„Gehen wir morgen zusammen schwimmen?“, fragte er schließlich ein wenig genervt.

„Ich kann nicht, ich bin schon verabredet“, antwortete sie schuldbewusst.

„Na schön, dann bis Montag.“

„Bitte sei nicht sauer.“

„Bin ich nicht. Bis bald.“

Hikari hatte schon ein schlechtes Gewissen, dass sie nicht mal ihrem besten Freund die Wahrheit sagen mochte. Wahrscheinlich würde Yamato es ihm ja eh bald sagen, und vielleicht würde Takeru sich gekränkt fühlen, wenn er es nicht von ihr zuerst erfuhr. Was war denn so schlimm daran, dass sie sich mit seinem Bruder traf? Es konnte doch sogar ganz lustig sein, wenn sie mal zu dritt etwas unternehmen würden. Gleich Montag würde sie ihr Versäumnis nachholen.

Cups and Kisses

Am Sonntag stand Hikari lange vor dem Spiegel und betrachtete sich kritisch darin. Bisher hatte sie sich nie zu viele Gedanken um ihr Aussehen gemacht und angezogen, wonach ihr gerade war. Aber diesmal dachte sie, müsse sie anders an die Sache rangehen. Nur hatte sie keine Ahnung, was das eigentlich genau bedeutete. Ihre kurzen Haare hatte sie wie meistens mit einer farbenfrohen Spange hinters Ohr geklemmt. Aber was sollte sie anziehen? In den Filmen probierten die Mädchen immer ein halbes Dutzend verschiedener Outfits an, ehe sie sich dann schließlich für eines entschieden. Das war meistens ein kurzer Rock oder Kleid. Hikari trug aber nicht gerne Röcke, und ihre Kleider waren nicht kurz. Und was gefiel Yamato überhaupt? Standen alle Jungs auf enge, knappe Teile? Gestern hatte sie eine Jeans und eine am Bauch geknotete Bluse angehabt, und Yamato hatte sie dennoch zu sich eingeladen. Hikari entschied sich schließlich für ein Outfit, in dem sie sich wohlfühlte und nicht das Gefühl haben würde, verkleidet zu sein.

„Ich finde es lästig, dass du neuerdings dauernd in meiner Tür stehst und mich beobachtest“, sagte Hikari sachlich, nachdem sie ihren Bruder entdeckt hatte, der mit verschränkten Armen am Türrahmen lehnte und interessiert zuschaute. „Wie lange bist du schon hier?“

„Nicht so lange, wie du befürchtest. Ich hab nichts gesehen.“ Taichi ging gemächlich herüber und setzte sich auf ihr Bett. „Und außerdem: mach doch die Tür zu.“

Hikari sah ihren Bruder einen Moment schweigend an. Dann fragte sie rundheraus: „Worauf achten Jungs als erstes bei einem Mädchen? Auf die Klamotten? Das Gesicht? Wie sie geht und redet? Oder auf ihre Figur?“ Taichi runzelte die Stirn. „Was soll die Frage?“

Hikari drehte sich um die eigene Achse. „Würde ich dir so gefallen?“ „Du siehst gut aus“, antwortete Taichi schulterzuckend, worauf Hikari beinahe enttäuscht reagierte. „Klar, dass du das sagst. Du bist mein Bruder. Aber wenn wir jetzt ein Date hätten?“ „Dann sähest du immer noch gut aus.“ „Von dir ist wohl keine Hilfe zu erwarten“, seufzte Hikari. „Was erwartest du? Du triffst dich mit irgendeinem Typen und ich soll dir auf blauen Dunst Tipps geben. Sag mir wenigstens, wer es ist.“ „Das geht nicht. Noch nicht.“

Sie drehte sich wieder zum Spiegel und Taichi sah sie plötzlich nachdenklich an.

Er hatte manchmal Witze darüber gemacht, dass Hikari sich nie mit Jungs – Takeru ausgenommen – verabredet hatte, und jetzt tat sie es und machte ein Geheimnis daraus, obwohl er erwartet hätte, dass sie es unbedingt würde erzählen wollen. Es versetzte ihm zwar keinen Stich, aber er begriff, dass seine Schwester gerade begann, ein neues Kapitel in ihrem jungen Leben aufzuschlagen und sich seiner brüderlichen Obhut entzog.

„Du wirst ihm schon gefallen, Kleines“, sagte er unverwandt, worauf sie ihm einen dankbaren Blick schenkte und sich dann auf den Weg machte.

Mutter versäumte es zum Glück, genauer nachzufragen, da sie annahm, sie würde sich wie immer mit Takeru treffen. Sie sagte nur: „Komm nicht so spät nach Hause, und grüß schön.“

Taichi dachte, wie blind Eltern manchmal waren, wenn es um ihre Kinder ging, die flügge wurden.
 

„Guten Tag, ich wollte zu Yamato“, erklärte Hikari eine knappe Stunde später fast kleinlaut, als sie oben an der Wohnungstür auf dessen Vater traf. Irgendwie hatte sie erwartet, Yamato würde wieder am Geländer stehen.

Ishida-san nickte und bat sie herein, und im gleichen Moment kam Yamato aus seinem Zimmer und holte sie ab.

„Ich wollte deinen Vater nicht stören“, sagte sie im Zimmer, weil sie glaubte, zu einem ungünstigen Zeitpunkt gekommen zu sein.

Yamato runzelte die Stirn und entgegnete: „Den stört überhaupt nichts.“ Und ehe sie etwas erwidern konnte, fragte er: „Möchtest du was trinken?“

„Nein. Darf ich mich umsehen?“ „Meinetwegen.“

Hikari wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber Yamatos Zimmer war äußerst spartanisch eingerichtet: heller Teppichboden, ein Bett, ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank, ein Regalbrett an der Wand, alles aus dunklem Holz. Auf dem Wandbord standen ein paar Manga, Bücher und CDs, aber persönliche Gegenstände waren kaum vorhanden, sah man von dem Foto ab, auf dem Yamato offensichtlich mit seinen Bandmitgliedern zu sehen war und das ohne Bilderrahmen einfach gegen ein paar Bücher gelehnt war.

Und in der Ecke hinter der Tür, sehr sorgsam, stand seine Gitarre. Dazu wirkte alles sauber, kein Staub, kein Schmutz waren zu sehen.

Sie las die Titel auf den CD-Covern durch und erkannte nicht einen davon.

Yamato hatte sich indessen verkehrt herum auf seinem Stuhl niedergelassen, so dass die Lehne zwischen seinen Beinen war. Während Hikari offensichtlich sehr interessiert an seiner Zimmereinrichtung war, betrachtete er sie unverholen. Sie trug eine schwarze Leggings und etwas, das für ihn wie eine Mischung aus Kleid und T-Shirt wirkte. Es saß nicht sehr eng, hatte kurze Ärmel und endete über ihren Knien. Dazu war es leuchtend rosa und ließ sie fast kindlich wirken.

„Willst du etwas davon hören?“, fragte er freundlich, da sie immer noch die CDs studierte.

„Wenn du was anmachen willst“, entgegnete sie ihm zugewandt.

„Im Moment nicht. Setz dich doch.“

Hikari nahm auf dem Futonbett Platz.

„Du verstehst dich nicht so gut mit deinem Vater, oder?“, fragte sie vorsichtig. Es war für sie unbegreiflich, wie man zusammenleben konnte und dabei so schlecht miteinander auskam.

Yamato hob scheinbar gleichgültig die Schultern. „Man gewöhnt sich dran.“

„Das hört sich nicht gut an“, sagte sie traurig.

„Wir haben uns damit abgefunden, ich zumindest, mehr gibt es nicht zu sagen.“ Seine Stimme und Miene verrieten seine Ungeduld. Hikari schwieg betroffen und suchte nach einem neuen Thema, aber alles erschien ihr zu gefährlich, um angesprochen zu werden. Wenn er doch von sich aus etwas sagen würde.

Doch aus irgendeinem Grund schien auch er nicht recht zu wissen, was er sagen sollte.

„Weißt du, ich hätte jetzt doch gern etwas zu trinken“, sagte sie, um das Schweigen zu durchbrechen.

„Klar.“ Er ging aus dem Zimmer. Hikari seufzte. Gut, wenn er nach so privaten Dingen wie seine Familie nicht befragt werden wollte, dann blieben ja immer noch Hobbys. Ihr Blick fiel wieder auf die Gitarre, die in einer Halterung hinter der Tür stand. Sie ging zu ihr und glitt mit den Fingern sachte über das glänzende Holz, das an einigen Stellen bereits Kratzer aufwies. Sie hatte ihn noch nie darauf spielen gehört, aber sie erinnerte sich an die Mundharmonika vor einigen Jahren und an die zauberhaften Klänge, die er diesem unscheinbaren Ding entlocken konnte. Wie würde es klingen, wenn er die Saiten der Gitarre in Schwingungen versetzte?

Sie zupfte vorsichtig daran, und es klang dumpf.

„Einfach zupfen reicht nicht“, erklärte Yamato, der gerade mit zwei Bechern und einer Flasche Wasser wieder ins Zimmer kam.

„Entschuldigung“, sagte Hikari hastig, sprang auf und verschränkte die Arme hinterm Rücken. „Ich wollte nur sehen, wie es klingt.“ Sie wirkte schuldbewusst wie ein beim Bonbon klauen ertapptes Kind. Yamato blieb unschlüssig stehen.

Hikari war ihm früher nie besonders aufgefallen, sie war halt die kleine Schwester seines damaligen Freundes: manchmal niedlich, meistens quengelig und völlig uninteressant.

Als er sie dann am Freitag wieder gesehen hatte, war er zwar angenehm überrascht, wie sie sich entwickelt hatte, fand sie mit fünfzehn Jahren aber eigentlich zu jung. Dann war sie am Samstag wiedergekommen, hatte ihn schüchtern um seine Begleitung gebeten und ihm zu verstehen gegeben, dass sie mehr von ihm wollte. Eine ernsthafte Beziehung kam für ihn zwar nicht infrage, aber gegen ein bisschen Spaß hatte er im Grunde nichts einzuwenden.

Und während er noch mit ihrem Alter haderte, blickte sie ihn aus großen Augen fragend an.

Warum war sie zu ihm nach Hause gekommen? Sie schien eigentlich nicht der Typ Mädchen zu sein, der leicht zu haben war, so unsicher, wie sie unter seinem Blick wurde. Offenbar hatte sie ein Problem mit längerem Augenkontakt, denn sie senkte nun den Blick und biss sich auf die Unterlippe und, vielleicht um ihre Hand zu beschäftigen, spielte mit dem Kettchen um ihren Hals. Ihre schmalen Finger berührten ihr Schlüsselbein, und seiner Meinung nach war das mitunter der erotischste weibliche Körperpunkt.

Sie sah sich wieder um und er betrachtete sie weiter.

Hikari war unschuldig und unerfahren; von Flirten hatte sie keine Ahnung, ganz zu schweigen von Koketterie. Wenn sie sich auf eine Art bewegte, die irgendwie hinreißend wirkte, dann war das bloß ein Versehen. Sie wusste einfach noch nicht, wie sie ihre Reize, die sie bestimmt besaß, gezielt einsetzen konnte, um einen Jungen zu verführen und wahrscheinlich war ihr nicht mal in den Sinn gekommen, dass Yamato irgendwelche Hintergedanken gehabt haben könnte, als er sie zu sich nach Hause eingeladen hatte. Und vielleicht war diese fehlende Berechnung der Grund, warum er sie trotzdem wollte. Sie reizte ihn, sie machte ihn neugierig. Er wollte wissen, wie sie sich anfühlte, wie sie aussah, wollte sie einmal besitzen. Am liebsten natürlich sofort, aber er bezweifelte, dass sie das auch gut finden würde.

Und obwohl Yamato aktuell kein Interesse an einer festen Beziehung hatte, war er doch bereit, ein bisschen Komödie zu spielen, um Hikari rumzukriegen.

Er stellte schließlich die Becher ab und nahm seine Gitarre aus der Halterung. Wenn es eine Sache gab, die Yamato sentimental werden ließ, dann war es die Musik. Er war mit Leidenschaft Sänger und mehr noch Gitarrist, und obwohl er gerne gewisse Vorzüge genoss, die seine Bekanntheit mit sich brachte, so hatte er die Musik doch noch nie gezielt dazu eingesetzt, um ein Mädchen herumzukriegen. Hikari würde nun also die erste und wahrscheinlich einzige Privatvorstellung von ihm erhalten.

Als er sich auf seinen Stuhl setzte, sah er sie kurz an. Sie wirkte freudig, beinahe aufgeregt, und erst auf sein „Setz dich doch“, nahm sie wieder auf dem Bett Platz.

Yamato schlug die ersten Takte von Yesterday von den Beatles an und beobachtete Hikari dabei. Kannte sie das Stück? Was gefiel ihr überhaupt? Er selbst mochte die westliche Musik sehr und ließ sich auch von dieser inspirieren. Einige Stücke der Teen-Age-Wolves, an deren Entstehung er maßgeblich beteiligt war, waren auf Englisch.

Hikari saß ganz ruhig vor ihm und sah und hörte zu. Tatsächlich erkannte sie den Song nicht und Yamato sang auch nicht dazu, aber etwas an der Art, wie er spielte, berührte sie.

Sie konnte sein Gesicht nicht richtig erkennen, da ihm die Haare in die Stirn fielen, aber er wirkte entspannt, und als er einmal den Kopf hob und sie scheinbar ansah, hatte sie doch das Gefühl, er würde durch sie hindurchsehen.

Yamato hörte ungefähr nach der Hälfte des Liedes auf und legte seine Hand auf die Saiten, um sie zum Verstummen zu bringen.

„Hör nicht auf“, bat Hikari. „Das war so schön.“ Er lächelte kaum merklich und fragte: „Spielst du ein Instrument?“ Hikari wollte ehrlich mit Nein antworten, aber dann fiel ihr etwas ein, wovon sie glaubte, Yamato vielleicht ein wenig beeindrucken zu können. Sie nahm ihren leeren Becher, atmete nervös durch und begann, Becher und Hände rhythmisch gegeneinander zu klatschen.

Yamato erkannte den Cupsong und war überrascht. Er selbst hatte ihn auch schon nachgespielt und trommelte unterstützend mit den Fingern im Takt. Das Klatschen schien ihr leicht zu fallen, aber kannte sie den Text?

Hikari holte an der richtigen Stelle Luft und bewegte ihre Lippen, doch die Nervosität siegte und sie blieb stumm.

Yamato wartete in paar Takte und sang dann selbst die erste Strophe, wobei er sie auffordernd ansah.
 

I've got my ticket for the long way 'round

Two bottle whiskey for the way

And I sure would like some sweet company

And I'm leaving tomorrow, wha-do-ya say?
 

Hikari nahm ihren Mut zusammen und stimmte mit ein. Den Refrain sangen sie gemeinsam und Yamato zupfte leise auf der Gitarre dazu.
 

When I'm gone

When I'm gone

You're gonna miss me when I'm gone

You're gonna miss me by my hair

You're gonna miss me everywhere, oh

You're gonna miss me when I'm gone
 

When I'm gone

When I'm gone

You're gonna miss me when I'm gone

You're gonna miss me by my walk

You're gonna miss me by my talk, oh

You're gonna miss me when I'm gone
 

Hikari hatte eine klare, wenn auch etwas dünne Stimme, aber sie sang mit Gefühl, und ihre Stimme zitterte nur ein ganz bisschen vor Aufregung. Trotzdem ließ sie sich nicht aus dem Takt bringen und klatschte fehlerfrei bis zum Ende.

Da grinste sie verstohlen, aber erleichtert, und Yamato, der es nun wissen wollte, war mit einer raschen Bewegung bei ihr, kniete sich halb auf die Bettkante, so dass er über ihr war, die Gitarre achtlos hinter Hikari aufs Bett geworfen, und küsste sie, noch ehe sie richtig begriff, was geschah.

Ihre Lippen schmeckten fast unangenehm süß; Yamato wusste, dass Mädchen gerne Lipgloss benutzten, sich aber keine Gedanken darum machten, dass dieses Zeug beim Küssen beim Küssen eher abtörnend war. Trotzdem hörte er nicht auf und als Hikari leicht die Lippen öffnete, schob er seine Zunge in ihren Mund

Ihr wurde fast schwindlig vor Aufregung. Yamato hatte sie schlichtweg überrumpelt. Natürlich wollte sie ihn küssen, aber in ihrer Phantasie war das irgendwie anders, obwohl sie gar nicht genau sagen konnte, wie. Sie hatte sich den ersten Kuss einfach unschuldiger und romantischer vorgestellt, mit weniger Zunge und mehr Blickkontakt. Trotzdem verursachte es ein angenehmes Kribbeln im Bauch, wenn sein Griff nur weniger fest wäre. Sie hatte das Gefühl, er wollte sie um jeden Preis daran hindern, sich von ihm zu lösen.

Tatsächlich fiel es Yamato fast schwer, Hikari nicht auf die Matratze zu drücken. Dass sie diesen Kuss auf so eine Art erwiderte, hatte er nicht erwartet, fand es jedoch sehr anregend.

Trotzdem löste er sich schließlich von ihr und sah sie abwartend an.

Sie hatte rote Wangen und glänzende Augen – und offensichtlich keine Ahnung, wie sie nun reagieren sollte. Wieder spielte sie mit dem Halskettchen, an dem Yamato nun einen kleinen Delphin aus Silber erkannte, und sah stumm vor sich auf den Boden.

„Woher hast du die Kette?“, fragte er, um irgendwas zu sagen.

„Die hat Takeru mir geschenkt.“ Hikari umschloss den Anhänger schützend und fuhr fort: „Zum Geburtstag vor drei Jahren und als Zeichen unserer Freundschaft. Ich hab sie seitdem nicht einmal abgelegt.“ Sie sagte es, als habe das irgendeine Bedeutung, und Yamato schnaubte beinahe verächtlich, während er aufstand und die Gitarre an ihren Platz brachte.

Hikari war ein verträumtes kleines Ding, naiv und unreif und Yamato würde nicht seine Zeit verschwenden, mit ihr über Freundschaftsanhänger zu plaudern. Der kurze Moment, da er ihr gegenüber so was wie Anerkennung verspürt hatte, war verflogen. Als er sich wieder umdrehte, war Hikari ebenfalls aufgestanden und erklärte:

„Ich werde jetzt besser nach Hause gehen.“ Und Yamato, der eher einen Tränenausbruch erwartet hatte, war überrascht, als Hikari auf ihn zu ging, ihren Kopf an seine Brust legte und fast schüchtern die Arme um ihn schlang.

Erst jetzt fiel Yamato auf, wie klein sie eigentlich war: sie reichte ihm gerade mal bis zur Schulter. Er fasste sie bei den Armen, schob sie bemüht sanft von sich und sagte: „Pass auf dich auf“, was in Anbetracht seiner unmoralischen Absichten beinahe ironisch klang, und als er sie zur Tür gebracht hatte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn fast schüchtern auf den Mund.

Brüder

Eine liebe Angewohnheit von Takeru war es, morgens am Schultor auf Hikari zu warten. Er war immer sehr pünktlich und sie kam meist erst in den letzten Minuten. So auch heute.

„Hi“, sagte er und schaute sie regungslos an.

„Hi.“ Sie fragte sich, ob er noch ärgerlich war, als er sich schon wortlos auf den Weg machte.

„Takeru, warte mal.“

„Schon gut, du musst es mir nicht sagen.“ Er meinte es ernst. Also hatte Yamato ihm noch nichts erzählt.

„Ja, aber ich möchte es. Du kennst denjenigen nämlich.“ Nun wurde er doch hellhörig und wand sich zu ihr um. Hikari stand noch immer am Schultor und machte ein schuldbewusstes Gesicht. Irgendwie amüsierte ihn ihre Scheu.

„Nun sei keine Gans und komm her“, sagte er freundlich, und als sie da war: „Wer ist es?“

„Dein Bruder.“ Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. „Yamato?“

Hikari verzichtete auf die Gegenfrage, ob er denn noch andere Brüder hätte und erklärte:

„Ich war am Samstag noch mal da, wir sind zusammen Eis essen gegangen ...“

„Yamato mag überhaupt kein Eis.“

„Ja, aber ich glaube, er mag mich.“ Die Worte lösten Entzücken in Hikari aus, ihre Wangen wurden warm. Als sie allerdings Takerus finstere Miene sah, verschwand ihr Grinsen, und sie fragte halb besorgt, halb verärgert: „Hast du vielleicht was dagegen.“

„Ich hätte nichts dagegen, wenn ich glauben könnte, dass er es ernst meinte“, war seine niederschmetternde Antwort, mit der er sich wieder auf den Weg machte.

„Was soll das heißen?“ Sie waren jetzt mittendrin im frühmorgendlichen Gewühl, und Hikari hatte Mühe, den Anschluss nicht zu verlieren. Takeru hakte sie kurzerhand bei sich unter und sprach mit gedämpfter Stimme: „Mein Bruder ist leider nicht sehr nett zu Mädchen. Ich will nicht sagen, dass er sie reihenweise abschleppt, aber seine Bekanntschaften wechseln doch recht häufig.“

„Woher weißt du das? So oft bist du ja nicht da.“

„Aber mein Vater. Es ist ja auch nicht nur das. Yamato hat einen Hang zum Jähzorn. Ich weiß nicht, ob er dir was tun würde, aber darauf solltest du es nicht ankommen lassen.“

„Du redest nicht sehr nett über deinen Bruder.“

„Ich sage nur die Wahrheit. Leider. Du solltest ihn nicht wieder sehen.“

„Und wenn ich es doch tu?“

Er seufzte bekümmert. „Dann pass bitte auf dich auf.“

Er klang ernsthaft besorgt. Hikari vertraute Takeru blind, sie wusste, er würde nie etwas sagen, dass er nicht so meinte, aber diesmal konnte sie es nicht nachvollziehen.

„Dein Bruder kann sich ändern“, sagte sie.

„Möglich. Aber so schnell?“ Sie waren am Klassenzimmer angekommen, in dem noch völliger Disziplinmangel herrschte, da der Lehrer noch nicht anwesend war. Takeru ging an seinen Tisch und setzte sich.

„Geht es wirklich nur darum?“ Hikari stand, sich auf seinem Tisch aufstützend vor ihm und schaute ihn prüfend an.

„Was meinst du?“

„Ich meine, es könnte gut einen anderen Grund geben, warum du nicht willst, dass ich deinen Bruder treffe.“ Takeru machte ein interessiertes Gesicht.

„Du willst ihn nicht mit mir teilen.“ Noch im selben Moment bereute Hikari ihre Worte, aber es war zu spät. Takeru wurde selten richtig wütend, aber er war empfindsam und nahm sich vieles zu Herzen. Und wenn nun seine beste Freundin kam und ihm vorwarf, er wäre eifersüchtig, weil sie seinen Bruder treffen wollte, verletzte ihn das. Sie sah es ihm sofort an und entschuldigte sich schnell, aber damit machte sie es nicht ungeschehen.

„Vergiss es“, sagte er mit fremder Stimme. „Ich sage nichts mehr dazu, aber behalte wenigstens im Hinterkopf, was ich bisher gesagt habe.“

In dem Moment betrat der Lehrer das Klassenzimmer und Hikari hatte bis zur Pause keine Gelegenheit, mit Takeru zu reden.

Er wollte tatsächlich nichts mehr dazu sagen und bat sie, dies zu akzeptieren, so wie er ihre Beziehung zu Yamato fortan respektieren würde. Sie war einerseits erleichtert, aber andererseits spürte sie, dass er es nicht ganz ernst meinte.

Und jetzt stand etwas zwischen ihnen.
 

Die nächsten Tage entwickelten sich für Hikari zu einer Art Achterbahnfahrt der Gefühle. In Takerus Nähe fühlte sie sich eingehemmt. Über Yamato sprachen sie nicht; er fragte nicht danach und sie, die eigentlich gerne darüber reden wollte, traute sich nicht. Sie fanden auch nicht zu ihrem vertrauten Ton zurück und verbrachten kaum mehr Zeit außerhalb der Schule zusammen. Als es ungefähr zehn Tage so ging, beschloss sie, das Thema vor Yamato zur Sprache zu bringen.

An einem Mittwoch traf er sie in der Nähe ihrer Schule. Wie immer, wenn sie ihn sah, machte ihr Herz kleine Luftsprünge, und sie rannte ein bisschen, um schneller bei ihm zu sein.

„Hallo. Schön, dass du da bist“, sagte sie fröhlich, und er erwiderte ihr Lächeln nur ein wenig zurückhaltend und küsste sie leicht auf die Wange.

„Worauf hast du heute Lust? Kino?“, fragte er und nahm ihr die Schultasche ab. „Ich würde gern über etwas mit dir reden“, erklärte Hikari wenig diplomatisch. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass die Brüder ihre Differenzen beilegen sollten.

Yamato sah sie argwöhnisch an. Gespräche, die so begannen, endeten meistens nicht gut.

Hikari erwiderte den Blick kurz und senkte dann die Augen. Yamato sprach ja nicht gern über unangenehme Dinge, und nun bekam sie Angst vor einer möglichen Überreaktion.

„Es ist wegen Takeru“, begann sie vorsichtig und blickte zu ihm auf. „Hast du in letzter Zeit mit ihm gesprochen?“

Yamato seufzte leicht genervt. Takeru war letztes Wochenende bei ihnen gewesen, natürlich hatte er mit ihm gesprochen. Oder vielmehr hatte Takeru auf Yamato eingeredet und ihn ermahnt, mit Hikari bloß keine Spielchen zu treiben. Etwas uncharmant hatte Yamato ihn gebeten, sich herauszuhalten. Aber das sagte er nicht.

„Wir haben uns kaum gesehen. Wieso?“ Hikari schniefte leise und senkte wieder den Blick. „Er ist nicht einverstanden, dass wir … dass ich mit dir …“ „Zusammen bin?“, beendete Yamato den Satz ein bisschen ungeduldig und warf sich Hikaris Schultasche über die Schulter. Hikari nickte und sah unglücklich zu ihm auf. „Er ist sehr still in letzter Zeit. Mit mir redet er nicht mehr viel.“ „Und was soll ich da machen?“ Er wusste, dass sie gerne etwas anderes von ihm gehört hätte, aber was Takeru und sie für Streitereien hatten, war ihm mehr oder weniger egal, auch, wenn er selbst das Streitobjekt war. Außerdem hatte er keine Lust, sich anzuhören, was Takeru über ihn erzählte, daher fuhr er schulterzuckend fort: „Takeru hat seine eigene Meinung, dagegen kann man nichts machen.“ Hikari ließ nicht locker.

„Dir scheint er auch auszuweichen, oder?“ „Möglich.“ „Stört es dich nicht?“

Yamato biss die Zähne aufeinander. Das Gespräch störte ihn. Hikari störte ihn. Er war nicht hergekommen, um sich Vorhaltungen machen zu lassen, weil sein kleiner Bruder in der Trotzphase steckte. Er atmete laut aus, während er den Arm mit ihrer Tasche wieder herunternahm und sich mit der freien Hand durchs Haar fuhr. „Wir sollten mit ihm reden“, fuhr Hikari einfach fort, die nicht bemerkte, dass Yamato immer böser wurde. „Bestimmt ist er sehr unglücklich.“ Yamato schnaubte verächtlich, dann sah er Hikari einen Moment an und in ihr nichts anderes, als das kleine Mädchen von damals; naiv und quengelig.

Für eine Sekunde wollte er ihr die Tasche in die Hand drücken und einfach gehen, aber dann fiel ihm etwas ein, und er erklärte in herablassendem Tonfall: „Unser lieber Takeru hat ein Problem damit, dass wir uns treffen, und du willst ihm nachlaufen? Bitte. Aber dir ist doch wohl klar, dass die einzige Lösung ist, dass wir uns eben nicht mehr treffen?!“

Hikari schwieg betroffen, und Yamato hatte erreicht, was er wollte.

Hikari hatte sich zu früh zu schnell von ihm abhängig gemacht, zumindest psychisch, doch seelische Erpressung war für sie ein Fremdwort, und er brauchte bloß die richtigen Worte, um ihre Angst vor einer Trennung zu schüren. Da stand sie nun vor ihm, mit gesenktem Kopf und Tränen in den Augen, hin- und hergerissen zwischen langjähriger Freundschaft zu Takeru und erwachender Zuneigung zu Yamato. Sie tat ihm fast leid und so sagte er bemüht sanft: „Lass ihm einfach Zeit. Er beruhigt sich schon wieder.“ „Und wenn nicht?“

Yamato war im Trostspenden nicht sehr geübt, und allmählich wurde er ungeduldig. Seit fast zehn Minuten stand er hier mit Hikari vor ihrer Schule, unter den neugierigen Blicken einiger Schüler, die an ihnen vorbeigingen und sich bestimmt fragten, warum das Mädchen vor ihm am Weinen war.

Einen letzten Versuch unternehmend, stellte er ihre Tasche auf den Boden und legte beide Arme um Hikari. Fast dankbar schmiegte sie sich nun an ihn, aber der von ihm befürchtete große Heulanfall trat nicht ein. Stattdessen legte sie ihre Hände in seinen Nacken und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihren Kopf an seine Brust zu legen. Jemanden auf diese Art und Weise zu umarmen, war für Yamato ungewohnt; wenn er sonst ein Mädchen in den Armen hielt, dann entweder kurz und freundschaftlich zur Begrüßung, oder leidenschaftlich und verlangend küssend, weil er mit diesem schlafen wollte. Mit Hikari schlafen wollte er zwar irgendwann auch, sonst wäre er bestimmt nicht hier, doch in dieser Umarmung lag soviel Fremdes für ihn, fremde Gefühle und Erwartungen, dass er sie nicht lange aushielt und sie schließlich löste.

„Geht’s wieder?“, fragte er etwas heiser, und sie nickte und lächelte endlich wieder. Erleichtert atmete Yamato durch und hob die Schultasche wieder auf. „Gehen wir.“
 

Sie gingen ins Kino und sahen irgendeinen Actionfilm. Yamato bezahlte die Tickets und wollte auch das Popcorn kaufen, aber Hikari weigerte sich, alles auf seine Kosten zu machen und bezahlte das Popcorn und die Getränke für beide. Es machte ihr nichts aus, dass dafür beinahe ihr restliches Taschengeld draufging; sie wollte Yamato zeigen, dass sie kein Püppchen war, das sich auf jedes Vergnügen einladen ließ.

Sie setzten sich auf ihre Plätze in der hinteren Reihe, Yamato links von Hikari, das Popcorn zwischen ihnen und die Getränke in den Halterungen an den Sitzen. Sie unterhielten sich gedämpft ein wenig über die Schule und naschten dabei, bis schließlich der Film begann.

Der Film war unterhaltsam, aber viel erregender war Yamatos rechte Hand, die sich im Laufe des Films erst auf ihr Bein legte, und schließlich unter ihrem Rock der Schuluniform verschwand, wo sie die Innenseite ihrer Schenkel massierte. Hikari keuchte erschrocken und wollte ihn wegstoßen, aber Yamato blieb hartnäckig und beruhigte sie. Es würde ja keiner etwas merken, sie säßen in der letzten Reihe und es wäre dunkel im Saal.

Hikaris Wangen wurden heiß, sie sah sich vorsichtig nach rechts um, aber die dort Sitzenden hatten tatsächlich nur Augen für den Film. Sie biss sich auf die Lippe und schaute nach links zu Yamato. Im schwachen Licht trafen sich ihre Blicke. Seine Miene verriet mal wieder nichts von seinen Gedanken, aber er beobachtete sie genau mit grimmiger Zufriedenheit, während seine Hand weiter zwischen ihren warmen Schenkeln steckte, die sie, um das Gefühl zu verstärken, zusammenpresste. Ihr Anblick amüsierte ihn; mehr noch, der fast ängstliche Ausdruck auf ihrem Gesicht, etwas zwischen Scham und Lust, erregten ihn nun selbst, und für einen Moment war er versucht, ihre Hand zu nehmen und in seinen Schoß zu legen, aber das ging dann wohl doch zu weit. Dennoch hatte er erreicht, was er wollte, nämlich das Feuer in Hikari zu entfachen, und so zog er seine Hand schließlich zurück, strich ihren Rock wieder glatt, führte ihre Hand an seinen Mund und küsste sie auf den Handrücken. Dann wandte er sich wieder der Leinwand zu und genoss die Vorstellung, dass Hikari vor unerfülltem Verlangen, wahrscheinlich beschämt über ihre Gefühle, neben ihm saß und ihre Gedanken sortieren musste.
 

Sie hatte ihn für den Rest des Films nicht mehr angesehen und auch nichts gesagt. Aber als sie später draußen waren und zum Bus gingen, legte sie fast zärtlich ihre linke Hand in seine rechte und lächelte still vor sich hin.

Gegenwind

Mit gemischten Gefühlen sah Hikari am nächsten Morgen Takeru vor dem Schultor auf sie warten. Trotz ihrer etwas abgekühlten Freundschaft stand er noch immer jeden Tag vor Schulbeginn dort und erwartete sie. Dann lächelte er zur Begrüßung, hakte sie bei sich unter und ging mit ihr zum Klassenzimmer.

„Heute schreiben wir den Mathetest. Hast du gestern noch gelernt?“ Hikari schlug sich in Gedanken gegen die Stirn. Den Mathetest hatte sie total vergessen. Yamatos Berührung hatte sie noch lange beschäftigt und sie hatte zwar am Abend noch die Hausaufgaben erledigt, aber für den Test hatte sie nicht mehr gelernt. Normalerweise tat sie dies immer mit Takeru zusammen und ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie ihn vermisste. Mit Yamato war es aufregend und neu, aber auch schwierig, weil sie oft nicht wusste, wie sie sich verhalten oder was sie sagen sollte, ohne ihn zu verärgern. Bei Takeru brauchte sie diese Angst nicht zu haben.

„Ich habs vergessen“, gestand sie.

„Ich habe dich angerufen, aber deine Mutter sagte, du seiest nach der Schule gar nicht nach Hause gekommen.“ Es lag höchstens ein Hauch von Vorwurf in seinen Worten und er sah sie schräg von der Seite an. „Es läuft also ganz gut bei euch beiden?“ Hikari konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als sie mit „Ja“ antwortete und einen Moment wollte sie „Sehr gut sogar“ hinzufügen, ließ es dann aber sein, weil sie dachte, Takeru könnte sie für überheblich halten, nachdem sie seine Warnungen missachtet hatte. Zu ihrer Enttäuschung fragte er auch nicht genauer nach, und sein Gesicht verriet seine Gedanken nicht. Hikari hätte zu gern gewusst, was er dachte, aber sie hatten das Klassenzimmer erreicht, und Takeru setzte sich an seinen Platz.
 

„Wenn ich Glück habe, reicht es noch für eine Vier“, sagte sie später missmutig, als sie für das Mittagessen anstanden. Takeru hob die Augenbrauen. „Das bringt deinen Notendurchschnitt nur ein bisschen durcheinander.“ Hikari schrieb sonst zuverlässig Zweien und manchmal eine Drei, es passte nicht zu ihr, dass sie das Lernen vernachlässigte.

„Beim nächsten Mal vergesse ich es nicht“, versprach sie.

Mit ihren Tabletts in den Händen suchten sie sich einen freien Tisch und setzten sich.

„Wenn du willst, können wir wieder zusammen lernen“, sagte Takeru über den Tisch hinweg und begann zu essen. Hikari lächelte. „Gern.“

Sie schaute Takeru einen Moment schweigend zu, wie er seinen Gemüsereis aß, und das schlechte Gewissen drückte auf ihre Brust. Yamato hatte nicht recht. Die Unstimmigkeiten zwischen den Brüdern konnte sie vielleicht nicht beseitigen, aber das musste doch nicht heißen, dass sie sich zwischen ihnen entscheiden musste. Sie könnte mit Yamato zusammen sein und sich trotzdem auch wieder mit Takeru treffen.

„Darf ich dich was fragen?“, begann Hikari. Ihr zögerlicher Tonfall ließ Takeru aufblicken und er sah, wie sie nervös mit ihrer Gabel spielte. „Es geht um meinen Bruder, nehme ich an?“ „Ja.“ Sie holte tief Luft. „Weißt du, ob er schon oft … ob er schon viele Freundinnen hatte?“ Takeru runzelte die Stirn und sagte nur: „Nein“, ehe er wieder in seinem Reis herumstocherte. „Aber - er hat schon. Oder?“, forschte sie weiter. „Keine Ahnung. Denke schon“, antwortete er ungeduldig. Das war doch kein Thema, über das er mit ihr reden wollte. Doch sie fuhr in gedämpftem Tonfall fort: „Ich frag nur, weil ich glaube, dass er irgendwann …“ „Um Himmels Willen!“, entfuhr es Takeru und er warf seine Gabel in den Reis. „Ich will das nicht hören“, zischte er. Hikari wirkte betroffen. „Tut mir leid. Ich will nur wissen, was er von mir erwartet.“ Takeru sah sie eine Weile finster an. Dann sagte er: „Um ehrlich zu sein: ich weiß es nicht. Yamato erzählt mir nichts über seine Beziehungen und ich bin daran auch nicht interessiert. Aber wenn du meine Meinung hören willst: Du bist zu jung, um an so was zu denken.“ „In vier Monaten werde ich sechzehn“, erwiderte sie fast trotzig, worauf er mit einem halb verächtlichem Laut reagierte. „Das meine ich. Du rechtfertigst dich damit, dass du bald Geburtstag hast.“ Er seufzte und sah sie nun wieder freundschaftlich an. „Letztendlich musst du selber wissen, was du willst. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“

Er stand auf und nahm sein Tablett. „Ich gehe raus. Wir sehen uns später.“

Hikari blieb zurück mit dem Gefühl, dass das Gespräch nicht so verlaufen war, wie sie gehofft hatte. Aber was hatte sie sich eigentlich erhofft? Spätestens seit dem gestrigen Kinobesuch musste ihr doch selbst klar sein, dass Yamato eines Tages mit ihr schlafen wollen würde. Und Takeru hatte natürlich recht: sie musste diese Entscheidung selbst treffen.
 

Nach der Schule ging sie diesmal gleich nach Hause. Yamato hatte Bandprobe, und obwohl sie sehr gerne dabei gewesen wäre, wollte er sie nicht mitnehmen.

Sie war ein wenig gekränkt darüber, aber andererseits hatte sie in der letzten Zeit auch die Schule ganz schön vernachlässigt, und so war es gut, dass sie den heutigen Nachmittag Zeit hatte, den Stoff aufzuarbeiten.

Sie saß bereits über den Hausaufgaben, als ihre Mutter vom Einkaufen zurückkehrte und sie in ihrem Zimmer aufsuchte. Wie immer fragte ihre Mutter, ob es etwas Neues gäbe, und wie immer wollte Hikari mit „Nein, Mama“, antworten. Bisher hatte sie ihrer Familie noch nichts von Yamato erzählt. Erst war es ein aufregendes Geheimnis gewesen, aber nach fast zwei Wochen hatte sie das Gefühl, ihn zu verstecken.

„Mama, können wir kurz reden?“ „Natürlich, Schatz. Geht es um die Schule?“ „Nein, nicht die Schule.“ Die bevorstehende schlechte Note verschwieg sie und wartete, bis ihre Mutter auf dem Bett Platz genommen hatte. „Also dann. Wer ist es?“ Hikari öffnete überrascht den Mund, und Mutter lächelte wissend. „Hast du gedacht, ich würde nicht merken, wenn meine Tochter sich plötzlich nach der Schule herumtreibt? Und Takeru fragt auch immerzu nach dir.“ „Warum hast du nichts gesagt?“ „Warum hast du nichts gesagt?“ Hikari schaute etwas verlegen zur Seite. „Ich wollte erstmal abwarten. Wie es sich entwickelt und so.“ „Und wie entwickelt es sich so?“ Hikari spürte ihre Wangen heiß werden, und mehr als ein „Gut“, brachte sie in Gegenwart ihrer Mutter nicht heraus.

„Also: wer ist der Junge, der dir schlaflose Nächte bereitet?“ Hikari schmunzelte über die Wortwahl ihrer Mutter, dann antwortete sie, in der vagen Hoffnung, sie würde „Takerus Bruder Yamato“, nicht sofort mit Taichis altem Freund[/] in Verbindung bringen, deren gemeinsame Freundschaft kein gutes Ende genommen hatte. Mutter schien einen Moment zu überlegen. „Der Yamato? Er ist doch auch Taichis Freund, nicht? Aber das ist ja schön, dann muss ich mir bestimmt keine Sorgen machen.“

Hikari lächelte unsicher. Konnte es so leicht sein?

„Lad ihn bald ein, ja? Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen. Er ist nett. Ein bisschen wortkarg, aber wenn ihr beide mit ihm befreundet seid, muss er einfach ein anständiger Mensch sein.“ Hikari wollte vor Erleichterung lachen. Mutter machte sich offensichtlich keine Sorgen, weder über den Altersunterschied, noch über den Grund, warum sie Yamato lange nicht mehr hier gesehen hatte. Und sie fragte sich urplötzlich, was Eltern eigentlich wirklich über ihre Kinder und deren Leben wussten.
 

Hikaris gute Stimmung hielt bis kurz vor dem Abendessen. Sie hatte noch eine ganze Weile gelernt und räumte gerade ihre Schulsachen in die Tasche, als jemand an ihre Tür klopfte und sie gleich darauf aufstieß.

„Taichi!“ Sie sah ihren Bruder überrascht an. Er kam nie ohne Aufforderung in ihr Zimmer, wenn die Tür geschlossen war. Und er sah wegen irgendwas böse aus.

„Was ist los?“, fragte sie beunruhigt. „Gar nichts. Außer, dass Mama mir eben erzählt hat, dass du mit meinem Freund Yamato zusammen bist.“ Er betonte meinem Freund auf ganz hässliche Weise und sah Hikari fast finster an. „Und?“, entgegnete diese empört über seinen Auftritt. Taichi antwortete nicht sofort. Etwas sagte ihm, dass er auf diese Art nichts bei Hikari erreichen würde, und so besann er sich und sagte ruhig: „Ich hab das nicht erwartet, okay? Ausgerechnet Yamato.“

Dabei waren sie tatsächlich mal sehr gut befreundet gewesen, Yamato und Taichi. Yamato hatte zwar damals schon einen relativ unumgänglichen Charakter besessen; von einem Moment auf den anderen konnte bei ihm die Stimmung umschlagen und er ziemlich unfreundlich werden, dennoch hatte Taichi meist gewusst, wie er mit der Situation umzugehen hatte. Aber dann kamen die ersten Erfolge mit den Teen-Age-Wolves und Yamato merkte schnell, wie selbst ein kleiner Ruhm sich positiv auf das Interesse an seiner Person auswirkte.

Es wäre falsch zu sagen, er wäre größenwahnsinnig geworden, wo er sich doch immer im Klaren darüber war, dass sie erfolgstechnisch noch in den Kinderschuhen steckten. Aber sie hatten dennoch Fans und Anhänger, und Yamato sowie seine Bandkollegen gingen noch zur Schule, was bedeutete, dass er ihnen täglich begegnete. Hier lernte er schnell, wie er die Begeisterung der Mädchen für sich nutzen konnte. Anfangs mochte er vielleicht noch so was wie Skrupel gehabt haben, und als er viel später Taichi davon erzählte, prahlte er auch nicht mit seinen Eroberungen. Tatsächlich sprach er fast mit Verachtung darüber, denn die Mädchen seien doch selbst schuld, wenn sie sich auf so was einließen.

Taichi stellte Yamato zur Rede, dieser wurde wütend und ihre Freundschaft endete schließlich - beinahe mit einer Schlägerei.

Hikari seufzte unglücklich. „Warum denkt ihr alle so schlecht von ihm? Takeru hat mir auch schon den Kopf gewaschen.“ Taichi sah sie fast mitleidig an. Da stand sie nun, zum ersten Mal verliebt und mit dem Gefühl, die halbe Welt gegen sich zu haben. „Dann hör doch auf ihn. Er ist immerhin sein Bruder.“ „Ihr seid schöne Brüder. Euch so gegen das Glück eurer Geschwister zu stellen“, sagte sie leidenschaftlich, und in ihrer Vorstellung wirkte sie erwachsener, als sie war. Taichi hätte über diesen trotzigen Ausspruch beinahe gelacht, stattdessen sagte er besänftigend: „Ich mache mir einfach Sorgen. Yamato kann ziemlich …“ „Ich will das nicht hören. Hört auf zu sagen, dass er ein schlechter Mensch ist oder dass ich einen Fehler mache.“ Sie schniefte und sah ihn jetzt direkt an. „Was auch immer er damals gemacht hat, ist mir egal. Ich bin jedenfalls glücklich.“ Sie errötete, hielt seinem Blick jedoch tapfer stand. Und Taichi spürte nun den kleinen Stich, der ihm sagte, dass seine Schwester sich schließlich ein ganzes Stück von ihm entfernt hatte. Er seufzte resigniert.

„Ist gut. Ich lass dich in Ruhe. Sei bitte trotzdem vorsichtig, Yamato ist ein Wolf im Schafspelz.“
 

Hikari war bestürzter, als sie zugegeben hätte. Nun hatte auch ihr Bruder sie vor Yamato gewarnt; der Mensch, dem sie auf der Welt vielleicht am meisten vertraute. Und doch ergaben diese Warnungen für sie keinen Sinn. Taichi und Takeru zufolge war Yamato ein selbstsüchtiger, nahezu böser Mensch, der sich nicht um anderer Leute Gefühle scherte. Doch ihr gegenüber hatte er sich bisher sehr großzügig und freundlich gezeigt, sah sie einmal davon ab, dass er sie hin und wieder scharf zurechtwies, wenn sie ein Thema ansprach, das ihm nicht gefiel. Ansonsten behandelte er sie meist sehr zuvorkommend und vor allem respektvoll. Hikari ahnte es nicht, aber die vielen kleinen Berührungen, die wie zufällig wirkten, waren von Yamato reine Berechnung. Er hoffte, auf diese Weise das Feuer in ihr weiter zu schüren, sie dazu zu bringen, endlich den nächsten Schritt zu tun. Nach zwei Wochen langweilte es ihn, sich nur mit ihr zu unterhalten. Sie war schüchterner, als er anfangs gedacht hatte, und bisher war zwischen ihnen nicht mehr passiert als ein paar Küsse und die Kleinigkeit im Kino. Wann immer er versuchte, sie zu verführen, blockte sie ab und nuschelte beschämt: „Noch nicht, bitte.“

Heute hatte er sie wenigstens dazu überreden können, mit ihm ins Schwimmbad zu gehen.

Es war Samstagnachmittag und dementsprechend voll, und Yamato war lange vor Hikari fertig und nutzte die Zeit, sich umzusehen. Er hielt sich im Schwimmerbereich im Wasser am Beckenrand auf und positionierte sich so, dass er die Tür der Damenduschen im Blick hatte, um Hikari nicht zu verpassen, wenn sie denn endlich käme, und vertrieb sich nebenbei die Zeit damit, die Mädchen anzusehen. Es war beinahe bedauerlich, dass er mit Hikari verabredet war und nicht flirten konnte.

Trotzdem amüsierte er sich. Nur etwa einen Meter neben ihm saßen zwei Mädchen und ließen die Beine im Wasser baumeln. Er hörte, wie eine über eine dritte Freundin herzog, da diese sich „im Moment wie eine widerliche Zicke“ aufführte. Er hörte nur halb hin, aber das Bikinioberteil der Rednerin gefiel ihm irgendwie. Es war auf den ersten Blick nur ein rotes Stück Stoff, das sich über ihren runden Busen spannte, aber durch das grüne Band, das in ihrem Nacken verknotet war, wirkten diese wie zwei gewaltige Kirschen. Offensichtlich war das so gewollt, denn auf ihrem weißen Bikinihöschen entdeckte er ebenfalls kleine Kirschen. Yamato hatte durchaus Sinn für solche Spielereien, und ungeniert betrachtete er das Mädchen, das er auf fünfzehn oder sechzehn Jahre schätzte. Und weil er so damit beschäftigt war, sie anzustarren, sah er die Attacke nicht kommen und bekam eine volle Ladung Wasser ins Gesicht gespritzt. Er brauchte einen kurzen Moment, um sich zu besinnen und die Situation zu begreifen; Offensichtlich hatte die Zuhörerin irgendwann bemerkt, dass er auf den Busen ihrer Freundin starrte und deren Ehre mit einem Wasserangriff verteidigt.

„Was soll das?!“, keifte sie nun und hüpfte ins Wasser, wo sie sich vor ihm mit leichten Arm- und Beinbewegungen über der Oberfläche hielt. Yamato sah sie belustigt an und hob den rechten Mundwinkel leicht hoch. „Was denn?“ „Was glotzt du sie so an?“ Wieder spritzte sie mit Wasser nach ihm, und das genügte, um ihn stachelig zu machen. Er wischte sich übers Gesicht und raunte: „Reg dich nicht so auf. Sie hat es doch nicht gestört.“

Dabei warf er der Freundin, die noch immer am Beckenrand saß und die Szene beobachtete, einen kurzen Blick zu. Sie erwiderte diesen und für den Bruchteil einer Sekunde erschien ein Lächeln auf ihren Lippen. „Du hast keine Manieren“, befand die erste und musterte Yamato abschätzig. Dieser hätte gern noch etwas darauf erwidert, aber durch Zufall hatte er Hikari entdeckt, die sich suchend nach ihm umsah. Sein Blick blieb kurz an ihr haften, denn abgesehen von dem grünen Badeanzug sah er zum ersten Mal alles von ihr.

„Du glotzt wohl jede an“, blaffte das Mädchen im Wasser vor ihm, das seinem Blick gefolgt war, und fügte stirnrunzelnd hinzu: „Die ist zu jung für dich.“ Yamato ärgerte sich über sie und um ihre Aussage Lüge zu strafen, sagte er: „Ist meine kleine Schwester.“ „Dann pass auf, dass sie nicht an Typen wie dich gerät“, setzte sie noch einen drauf, worauf er grimmig dachte: Zu spät. Und dann schwamm er so dicht an ihr vorbei, dass er sie dabei berührte, was sie mit einem verärgerten: „Hey!“, kommentierte.

„Ihr Jungs seid doch alle gleich“, sagte da das Mädchen im Kirschbikini, als er auf dessen Höhe war. Er hielt an und sah zu ihr hoch und glaubte, um ihren Mund einen amüsierten Zug zu erkennen. „Wie sind wir denn?“, fragte er herausfordernd. „Respektlos. Sobald ein Mädchen Haut zeigt, gilt es für euch als Freiwild. Selbst im Schwimmbad ist jeder Bikini eine Einladung für euch, auf den Busen zu starren.“ Yamato hatte mit so einer Antwort nicht gerechnet, und ihre herablassende Art ärgerte ihn. „Manche Mädchen haben leider nicht mehr zu bieten als einen hübschen Bikini.“ Er wartete nicht auf ihre Antwort und schwamm mit raschen Zügen zu Hikari.

„Da bist du“, sagte diese erleichtert, nachdem er sie erreicht hatte. Sie setzte sich an den Beckenrand und ließ sich dann ins Wasser gleiten, wobei sie sich weiterhin am Rand festhielt, weil sie im Gegensatz zu ihm hier noch nicht stehen konnte. Der Vorfall hatte an Yamatos Ego gekratzt, und um sich besser zu fühlen, brauchte er jetzt Hikari. Hoffentlich hatte sie nicht wieder ihre moralischen Allüren. „Küss mich“, raunte er ihr zu. Die Chance bestand immerhin, dass die beiden Mädchen zu ihm herübersahen. Sollten sie doch aus allen Wolken fallen, wenn er seine Schwester küsste.

„Jetzt?“, fragte Hikari und sah sich beklommen um. Yamato zog sie ungeduldig an sich und küsste sie einfach, und er war erleichtert, dass sie sich nicht wehrte. Sie im Arm haltend drehte er sich mit ihr halb um die eigene Achse, sodass er zu den Mädchen herüberschielen konnte, die ihn tatsächlich beobachteten. Natürlich würde ihnen schnell klar sein, dass Hikari nicht seine Schwester war, aber allein für diesen Moment fühlte er sich besser. Und um Hikari eine Freude zu machen, machte er eine Weile das, was ihr Spaß machte, wenn es auch bedeutete, ein ums andere Mal die alberne Wasserrutsche zu benutzen. Nach dem fünften Mal streikte er jedoch und sie sahen eine Weile beim Turmspringen zu.

„Takeru und ich verteilen immer Noten“, erzählte Hikari, die am Beckenrand saß und die Beine im Wasser baumeln ließ. Yamato war im Wasser geblieben und hielt sich locker am Rand fest, fragte aber nur dumpf: „Wozu?“ Sie hob die Schultern. „Nur so.“

Yamato runzelte die Stirn. „Für den Schwierigkeitsgrad des Sprungs oder die Ausführung?“ Es interessierte ihn nicht wirklich, aber worüber sollten sie sich sonst unterhalten? „Für alles.“ „Aha. Und was kriegt dieser Köpfer von dir?“ Er nickte zu dem letzten Springer, der gerade im Wasser gelandet war. Hikari überlegte kurz. „Eine zwei plus.“ „Du bist ja nicht sehr anspruchsvoll.“ „Vielleicht. Aber ich würde nie von dort runterspringen.“ „Höhenangst?“ „Nur Angst.“ „Warst du schon mal da oben?“ Sie schüttelte heftig den Kopf.

Yamato war schneller aus dem Wasser, als sie etwas erwidern konnte und zog sie sie am Arm hoch. „Was hast du vor?“, fragte sie, obwohl sie die Antwort wusste. „Du springst“, erklärte er im Befehlston und wollte sie zum Sprungturm ziehen. „Nein“, sagte sie fast panisch und so laut, dass einige Umstehende sich umsahen und Yamato aufmerksam ansahen. Hikari begriff, dass sie ihn wie einen Sittenstrolch dastehen ließ und ging schnell mit ihm, um zu zeigen, dass alles in Ordnung war, raunte ihm aber zu: „Ich kann nicht, ich hab angst.“

„Das weißt du nicht, wenn du nie oben warst.“

Sie erreichten die Leiter und er schob sie vor sich, immer noch am Arm festhaltend. Vor ihnen warteten noch drei Springer, doch Hikaris Knie zitterten jetzt schon. Würde er sie wirklich zwingen, gegen ihren Willen da hoch zu steigen? Noch zwei. Sein Griff war fest, sie spürte seinen Körper dicht hinter sich. Noch einer. Er schob sie nach vorne. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Wie viele Stufen hatte diese Leiter? Nun war sie dran. Zögernd griff sie nach der Stange und setzte einen Fuß auf die unterste Sprosse, sagte aber mit Schulterblick zu Yamato: „Ich trau mich nicht.“ Sie nahm den Fuß wieder herunter und trat einen Schritt zurück, wobei sie gegen Yamato stieß.

„Geht’s weiter da vorne?“, fragte jemand hinter ihnen genervt, worauf Yamato mit: „Halt die Klappe“, antwortete. Trotzdem schob er Hikari mit sanfter Gewalt weiter.

Sie stieg die Leiter herauf und er blieb ganz dicht hinter hier. Der Weg nach oben war dann auch gar nicht so schlimm, aber als sie das Sprungbett begehen sollte, wurde ihr ganz mulmig zumute. Der Boden war unerwartet fern, und schlagartig wurde ihr der vermeintliche Schwindel klar. Vom Boden aus war dieser Sprungturm tatsächlich fünf Meter hoch, aber das Wasser unter ihr war durchsichtig und ging noch mal etwa zwei Meter in die Tiefe; Hikari sah sich praktisch fast sieben Meter über dem Grund – und diese Tatsache ließ sie regelrecht erstarren. Ihre Beine begannen zu zittern und sie fröstelte. „Ich möchte wieder runter“, sagte sie flehend und wollte umdrehen, wobei sie die Hand nach Yamato ausstreckte. „Nach unten geht’s hier lang“, sagte dieser trocken, nahm ihre Hand und zog sie mit sich bis zum Ende des Brettes. Sie wollte sich wehren, aber die Angst, dabei herunterzufallen war größer, und ehe sie wusste, wie ihr geschah, hörte sie Yamato „Luft anhalten“, sagen - und dann kippte sie nach vorne. Panisch schloss sie die Augen und wartete auf den schmerzhaften Aufprall. Stattdessen tauchte sie ein in kühles, weiches Wasser, und dieser Widerspruch machte sie orientierungslos. Verzweifelt ruderte sie mit den Armen und Beinen, und dann durchbrach sie die Wasseroberfläche.

„Geht doch“, bemerkte Yamato trocken, der ruhig auf der Stelle schwamm und sie mit einem ironischen Lächeln ansah, nachdem sie sich das Wasser aus dem Gesicht gewischt hatte.

Sie suchte seinen Blick, lachte erleichtert und hielt sich an seinen Schultern fest.

„Das war unglaublich!“ Sie war so aufgeregt, dass Yamato Mühe hatte, sich mit ihr über Wasser zu halten. Doch wo er sie für gewöhnlich belächelte, wenn sie allzu euphorisch auf etwas reagierte, blieb er diesmal nachsichtig, denn offensichtlich wirkte sich der Erfolg positiv gegen ihre Berührungsängste aus, und sie schlang die Arme um seinen Hals und drängte sich an ihn. Ihr halbnackter Körper an seinem erregte ihn, und mittlerweile wurde es anstrengend, sich und sie über Wasser zu halten. Mit einem Arm presste er sie weiter an sich, mit der anderen Hand tastete er nach dem Beckenrand, fand ihn und zog sich heran.

„Und welche Note gibst du mir dafür?“, fragte sie grinsend, und ihre Finger spielten mit den Haaren in seinem Nacken. „Du bist ja nicht allein gesprungen“, entgegnete Yamato trocken, lächelte jedoch dabei. Und zu seiner Überraschung antwortete sie mit einem fast stürmischen Kuss.

Yamato musste sich noch immer mit einer Hand am Beckenrand festhalten, aber mit der anderen hielt er Hikari fest an sich gedrückt. Zum ersten Mal konnte er fast ungehindert durch Stoff ihre Haut streicheln und spüren, und sie zog sich diesmal nicht beschämt zurück. Sie waren noch immer im tiefen Bereich des Beckens, und Hikari klammerte sich sprichwörtlich an ihn, als fürchtete sie, zu ertrinken, während sie ihn doch so voller Leidenschaft küsste.

Tatsächlich hatte Hikari für einen Moment fast alles um sich herum vergessen. Der Sprung vom Turm hatte sie aufgekratzt und jede Menge Glückshormone durch ihre Blutbahn gejagt, was sie in eine derart aufreißerische Stimmung versetzte. In diesem Augenblick genoss sie seine feste Umarmung und seine gierigen Küsse.

Bis sich plötzlich jemand über ihnen räusperte. Hikari sah erschrocken, und Yamato genervt auf. Zu ihnen beugte sich ein junger Bademeister herunter, in Lehrermanier mit den Händen hinterm Rücken. „Entschuldigt bitte“, sagte er herablassend, „das ist ein Familienbad. Sowas könnt ihr hier nicht tun.“ „Was tun?“ „Das hier ist ein Familienbad. Ihr müsst euch mit euren Intimitäten zurückhalten.“ „Das ist doch ein Scherz“, brauste Yamato auf. „Wer beschwert sich denn?“ Hikari befürchtete, er würde demjenigen sofort die Nase brechen. Sie löste sich beschämt aus seiner Umarmung und sah hoch in das Gesicht des Bademeisters, der nun wichtigtuerisch fortfuhr: „Außerdem seid ihr zu zweit vom Turm gesprungen. Das ist ebenfalls verboten.“ Yamatos Miene wurde noch düsterer, falls das überhaupt möglich war, und er war drauf und dran, aus dem Wasser zu steigen, aber Hikari hielt ihn am Handgelenk zurück. Ihr war die Situation unangenehm und sie wollte nur, dass Yamato sich einsichtig zeigte und nicht noch mehr Aufsehen erregte. Mit einem letzten abschätzigen Blick auf Yamato, sagte der Bademeister: „Haltet euch an die Regeln oder geht nach Hause.“ Damit ging er und ließ einen verärgerten Yamato und eine verunsicherte Hikari zurück. Nicht nur, dass sie Angst gehabt hatte, Yamato könnte ausrasten, ihr war der ganze Vorfall auch so furchtbar peinlich, dass sie das Schwimmbad sofort verlassen wollte. Und obwohl Yamato wider Erwarten sehr ruhig geblieben war, schaffte sie es nicht, ihm an diesem Tag noch einmal so nahe zu sein. Irgendwas in ihr sträubte sich dagegen.

Yamato war leidlich genervt von diesen Rückschlägen und fragte sich wieder, ob es die ganze Mühe wert war. Hikari war immerhin erst fünfzehn, hatte noch nie einen Freund gehabt und machte gerade ihre ersten Erfahrungen mit Yamato, der selbst kein Typ für eine ernsthafte Beziehung war.

Yamato war durch den Erfolg seiner Jugendband, den Teen-age Wolves, verwöhnt. Zwar war ihnen der große Durchbruch noch nicht gelungen, aber sie traten auf diversen Veranstaltungen auf und waren zumindest regional bekannt. Zudem sah Yamato auch noch sehr gut aus, was nicht unerheblich dazu beitrug, dass die Mädchen sich ihm nahezu an den Hals warfen. Und schnell hatte er begriffen, wie er das zu seinem Vorteil nutzen konnte, was trotzdem nicht bedeutete, dass sich jedes Mädchen abschleppen ließ, und ein einziges Mal hatte er sich deswegen schon eine Ohrfeige eingefangen.

Wieso er aber nun auf Hikari so viel Energie verwendete und sich bemühte, sie in sein Bett zu kriegen, war ihm ein Rätsel. Natürlich könnte er sie einfach abschieben und schauen, ob sich woanders eine Gelegenheit ergab, aber irgendetwas an ihr reizte ihn. Vielleicht war es, weil sie trotz anfänglicher Anhimmelei ihrerseits nicht sofort mit ihm geschlafen hatte und er nun sehen wollte, ob und wann er sie doch noch rumkriegte.

Trotzdem nahm er sich die nächsten Tage eine Auszeit und ignorierte Hikaris Anrufe einfach. Hoffentlich fühlte sie sich wenigstens ein bisschen schlecht und bereute ihre wehleidige Reaktion, dachte er böse.

Jetzt oder nie

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Für immer

Am nächsten Morgen beim Frühstück wurde es noch einmal unbequem für Hikari. Sie hatte es geschafft, Mutter in ein Gespräch zu verwickeln, dass sie von ihrer eigentlichen Frage nach dem gestrigen Abend ablenkte, aber als schließlich eine kurze Pause entstand, fragte Vater ganz unverhofft mit ruhiger Stimme: „Und was hast du uns zu erzählen, Hikari?“

Sie sah ihren Vater an und fühlte sich ertappt. „Wieso?“, fragte sie vorsichtig.

Yagami-san sah seine Tochter fast streng an. „Wo warst du gestern?“ Hikaris Wangen wurden rot, aber Vater fuhr fort: „Wenn deine Mutter mich richtig informiert hat - im Gegensatz zu dir hat sie das nämlich – dann triffst du dich seit Wochen mit einem Jungen namens Yamato. Ich würde doch gerne mehr über ihn wissen, er scheint dir ja sehr wichtig zu sein.“ In seinen Worten lag nicht nur Interesse, sondern auch der Vorwurf, dass sie bisher nichts von Yamato erzählt hatte.

„Ist das der Yamato, der hier damals ein- und ausging und den Mund nicht aufgekriegt hat?“, forschte ihr Vater weiter. „Taichis Freund, meinst du.“ Damit erhoffte sie sich Verstärkung von ihrem Bruder, der auch prompt Vaters Blick auf sich zog. „Dein Freund? Hast du noch mit ihm zu tun?“ Taichi trommelte mit den Fingern leicht gegen seine Tasse und überdachte seine Antwort, wobei er Hikaris flehenden Blick förmlich auf sich spürte. Wenn er jetzt log, würde Vater zufrieden sein und wahrscheinlich nur darauf bestehen, dass Yamato so schnell wie möglich hier aufkreuzte. Sagte er aber die Wahrheit über Yamato, würde er Hikari ins Verhör nehmen und ihr vielleicht sogar den Umgang mit ihm verbieten.

„In letzter Zeit nicht so“, antwortete Taichi schließlich. „Und warum nicht?“, fragte Herr Yagami weiter, worauf Taichi mit den Schultern zuckte. „Ist komisch, wenn er die ganze Zeit mit Hikari rumhängt.“ „Wie meinst du das?“ Taichi machte ein gequältes Gesicht. „Sie ist meine kleine Schwester. Ich will nicht dabei sein, wenn sie mit ihrem Freund zusammen ist.“ Hikari hätte fast gelacht, wenn es nicht so ernst gewesen wäre. Aber selbst ihr Vater schmunzelte und Mutter sagte: „Hikari ist immerhin schon fünfzehn. Sie ist ein Teenager.“ Daraufhin wurde er wieder ernst und sagte zu seiner Tochter: „Ich möchte, dass du Yamato hierher einlädst. Und zwar bald. Bis dahin keine Treffen mehr mit diesem Jungen.“ Hikari nickte. Mit diesem Ausgang konnte sie vorerst zufrieden sein. Und optimistisch, wie sie gerade war, dachte sie daran, Yamato direkt einzuladen.
 

Am Mittag rief sie bei Yamato an. Sein Vater nahm ab und leitete das Gespräch weiter.

„Hi“, erklang es am anderen Ende der Leitung.

„Hallo Yamato, schön, dass du da bist.“ Sie lächelte dabei und spürte, wie ihre Wangen rot wurden.

„Tja, wie geht’s?“, fragte er nur.

„Gut, danke.“ Ihr Herz schlug schneller. Wie würde er auf die Einladung reagieren?

„Ich muss dich um einen Gefallen bitten“, begann sie. „Meine Eltern möchten dich gerne kennen lernen. Ich soll dich zu uns einladen.“

Sie hörte ihn leise atmen, aber er sagte nichts, also fuhr sie fort:

„Ich darf dich erst wieder treffen, wenn du hier warst.“ Sie verzog unglücklich das Gesicht dabei. Immerhin war sie fast sechzehn; ihr Vater könnte ruhig etwas mehr Vertrauen in sie haben.

„Ich hab leider viel zu tun in nächster Zeit“, sagte er schließlich. „Wird schwierig.“

Hikaris Herzschlag setzte eine Sekunde aus. So richtig konnte sie die Bedeutung seiner Worte noch nicht erfassen, aber sie spürte, dass da etwas nicht stimmte.

„Du müsstest nur für ein oder zwei Stunden herkommen. Bitte, sonst darf ich dich nicht treffen.“

„Wie gesagt: viel zu tun.“

Hikari war enttäuscht über seinen mangelnden Willen, aber dann fiel ihr etwas ein.

„Ist es wegen Taichi? Er wird an dem Tag nicht hier sein, versprochen.“

Yamato schnaubte beinahe belustigt. „Wegen dem ist es nicht. Ich denke einfach, das mit uns klappt nicht.“ Hikari schluckte. „Wie meinst du das?“, fragte sie dünn, und seine Worte rissen ihr den Boden unter den Füßen weg.

„Es war nett mit dir, aber ich bin im Moment nicht an einer festen Beziehung interessiert.“

Hätte Hikari mehr Erfahrung auf diesem Gebiet, wäre ihr trotz aller Verletztheit vielleicht noch eine boshafte Bemerkung eingefallen, aber so fragte sie nur mit erstickter Stimme:

„Hab ich was falsch gemacht?“

Am anderen Ende stellte Yamato plötzlich fest, dass er doch nicht ganz so abgebrüht war, wie er immer dachte. Hikari tat ihm beinahe leid. Er wusste, dass er ihr in diesem Moment das Herz brach und spürte so was wie ein schlechtes Gewissen. Schnell wollte er dieses Gespräch beenden.

„Warum rufst du nicht Takeru an? Er wartet bestimmt nur darauf, dass du wieder Zeit für ihn hast.“

Sie hörte den bösen Spott in diesen Worten und endlich wurde sie wütend. Mit den Worten „Fahr zur Hölle“ drückte sie auf das rote Hörersymbol und warf das Telefon von sich, so dass es vom Bett rutschte und auf dem Boden landete. Dann atmete sie einmal tief durch und brach in Tränen aus. Der Schmerz war so entsetzlich, die Scham tat ihr Übriges, und Hikari weinte minutenlang über den Verlust. Sie rief Takeru natürlich nicht an, obwohl ein Teil sich nach ihm sehnte, aber wie konnte sie von ihm verlangen, sie zu bedauern, wo er sie doch von Anfang an gewarnt hatte?
 

Hikari hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Hin und wieder überfiel der Schmerz sie wieder und die Trauer zog in ihr Herz, und Hikari weinte lange, um gleich darauf ins andere Extrem zu fallen und Yamato böse zu verfluchen, was zur Folge hatte, dass sie am Abend völlig erschöpft war, als es an ihrer Tür klopfte, die gleich darauf geöffnet wurde. Es war ihre Mutter. „Hikari. Takeru hat schon wieder angerufen.“ Sie verstummte, als sie ihre Tochter mit rotgeweinten Augen auf dem Bett liegen sah. „Was ist passiert, mein Kind?“ Sie war besorgt, was Hikari schmerzte, doch sie konnte nicht darüber sprechen. Mutter war an ihr Bett getreten, hatte sich auf die Kante gesetzt und strich Hikari über die Haare. „Was ist los? Hast du Streit mit Yamato“, fragte sie wieder. „Ich möchte nicht darüber reden“, antwortete Hikari mit erstickter Stimme, und Mutter respektierte das. Sie verließ das Zimmer mit den liebgemeinten Worten: „Es wird sicher alles wieder gut“ und „Das Essen ist in einer halben Stunde fertig.“ Natürlich erschien Hikari nicht bei Tisch.

Später am Abend musste sie jedoch zur Toilette. Die Tür zu Taichis Zimmer stand offen und sie sah, dass er auf dem Bett lag und einen Manga las. Vorsichtig trat sie ein und als er sie bemerkte, fuhr er hoch. Sein Blick war besorgt. Ob er es schon ahnte?

„Geht es dir gut?“, fragte er vorsichtig. Sie senkte den Blick und schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Du hattest recht.“ Ihre Arme schlossen sich um ihren Oberkörper und sie schluckte. „Ich war so dumm.“

Taichi wusste nicht genau, was er tun sollte. Er hätte sie gerne in den Arm genommen, aber sie wirkte verschlossen und abweisend, und so sagte er nur: „Du bist nicht dumm. Yamato ist ein Meister der Manipulation.“ Und ein guter Schauspieler. Hatte er ihr doch wochenlang vorgemacht, dass er sie gern hätte. Sie fühlte sich so gedemütigt und ausgenutzt. Als sie sich zum Gehen wandte, sagte Taichi: „Kleines, es tut mir wirklich leid, dass du das durchmachen musst. Ich wollte es dir ersparen.“ Hikari spürte erneut ein Kloß im Hals und Tränen aufsteigen. Ohne auf seine Worte zu reagieren, verließ sie das Zimmer. Taichi sah ihr nach und wusste, dass seine kleine Schwester nie mehr dieselbe sein würde.
 

Am Abend erhielt sie unerwarteten Besuch. Sie hatte es irgendwann geschafft, aufzustehen und sich ein wenig frisch zu machen, nur um dann wieder ins Bett zu kriechen und sich zu verstecken. Aber es klingelte an der Haustür, und Hikari war alleine. Lustlos schleppte sie sich zur Tür und war überrascht, Takeru zu sehen.

Für einen Moment sahen sie sich schweigend an, dann sagte sie scheinbar ruhig: „Er hat Schluss gemacht.“ Takeru seufzte und nickte. Er hatte es gewusst. Yamato selbst hatte ihn angerufen und gesagt, er solle sich um Hikari kümmern. Mehr nicht, doch das war auch gar nicht nötig. Wortlos hatte Takeru aufgelegt und sich auf den Weg gemacht.

„Tut mir leid“, sagte er zu Hikari. Es klang echt, und sie spürte abermals, wie die Tränen in ihr aufstiegen. Ohne zu zögern machte er einen Schritt nach vorne und schloss sie in die Arme. Sie klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende an den sprichwörtlichen Strohhalm und schluchzte haltlos. Er sagte nichts, hielt sie einfach fest und wartete. Und sie spürte seine Wärme und wusste, dass er der Einzige war, der ihr aus diesem Schmerz würde helfen können. Takeru war so anders als sein Bruder, selbstlos und beständig. Auch jetzt, nachdem sie ihn doch so einfach ersetzt hatte, war er für sie da und gab ihr Halt. Und Hikari machte eine Entdeckung: Sich zu verlieben war die eine Sache; sie ging manchmal schnell und unüberlegt, weil das Herz überstürzt reagiert. Takerus Treue beruhte jedoch nicht einfach auf Freundschaft. Seine Zuneigung zu ihr war Liebe. Die andere Sache, die Zeit und Erfahrung brauchte und nichtmal körperliche Nähe. Und die für ein ganzes Leben reichte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ja, der Cupsong war zu der Zeit, da die FF spielt, längst nicht so populär. Das fällt dann wohl unter künstlerische Freiheit. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Tales_
2018-11-10T07:25:55+00:00 10.11.2018 08:25
Hi,

vielen Dank für deine Einsendung!
Hikari/Yamato ist für mich ein eher ungewöhnliches Paar, aber du hast die Geschichte wirklich gut rübergebracht. Für Hikari tat es mir wirklich sehr leid, da sie so etwas einfach nicht verdient hatte. Yamato war wirklich sehr egoistisch!

Es war klar das das ganze so ausgehen würde. Sie hatte mehr als eine Warnung erhalten, aber die Liebe hat sie blind gemacht. Es hat Spaß gemacht diese Geschichte zu lesen. Deine Auswahl war gut mit eingebaut und auch so gibt es nichts zu beanstanden.

Gruß Tales


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