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Land unserer Väter

Magister Magicae 1
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich musste nochmal ein paar Tatsachen abändern, weil mir da ein Fehler mit den verschiedenen Arten von Magie unterlaufen war. Also nicht wundern, ihr Lieben, wenn euch das hier zum Teil schon bekannt vorkommt. :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier ebenso: inhaltliche Änderung aufgrund Fehler meinerseits.
Danke an Salix für den entsprechenden Hinweis. ^^ (Aber die Szene mit dem Feuerlöscher musste einfach da bleiben! Die habe ich zu sehr geliebt. XD) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und weiter geht´s im Text. ^^
Sorry für die längere Lade-Pause. Ich musste Kapitel 5 (ehemals "Feuerteufel") und 7 (Helfer) nochmal überarbeiten, und in der Folge auch einiges anderes im weiteren Verlauf der Story. Aber jetzt kommt erstmal mein absolutes Lieblingskapitel - zumindest bisher. Bin ja noch nicht fertig. :D Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich lebe noch! ^u^
Ich hab mich vorübergehend von meinen Fachtexten losgerissen und hab mir einen Tag Zeit genommen, um mal wieder ein bisschen Belletristik zu schreiben. Ich hatte gerade soooo eine Lust auf diese Story hier. Und sie liegt ja auch schon lange genug auf Eis. Jetzt muss es endlich mal weitergehen. - Allerdings wird es ab jetzt nicht mehr konsequent immer im Wechsel ein Kapitel Mischka/Waleri und ein Kapitel Ruppert/Urnue geben. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Achtung, Zeitsprung. ^_^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Boar, dieses Kapitel ist mir so schwergefallen. Ich kann einfach keine Schmalzen schreiben. ^^° Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, ihr Lieben, das war´s erstmal wieder von meiner Seite. Mein Vorsprung ist aufgebraucht und mein Urlaub zu Ende. Jetzt kann es wieder ein wenig dauern, bis ich zum Weiterschreiben komme. Habt eine schöne Zeit bis dahin. ^_^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ätsch, da bin ich wieder! :-b
Es ist endlich Wochenende und ich konnte einfach nicht widerstehen, noch ein paar Worte zu schreiben. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Auf dieses Kapitel freue ich mich schon seit Tagen diebisch. XD
Ich hab beim Schreiben Tränen gelacht und hoffe, ihr mögt es auch. Komplett anzeigen

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Beschützer

[Moskau, Russland]
 

„Petze-Petze Lise

morgen gibts Gemüse,

übermorgen Schweinebraten,

da seid ihr alle eingeladen“
 

Der Singsang, ein Chor aus etlichen Kinderstimmen, hallte über den ganzen Schulhof, als Mischka nach dem Unterricht aus dem Gebäude kam. Gehässiges Lachen mengte sich darunter. Mitten auf dem Schulhof stand ein kleines Mädchen mit langen, dunkelbraunen Locken, umringt von den anderen Schülern ihrer Klassenstufe. Sie zog ein verbittertes Gesicht, weil sie weg wollte, aber nicht durchgelassen wurde. Sie drückte ein Schulbuch an sich und hatte schon Wuttränen in den Augen.
 

„Petze-Petze ging in' Laden,

wollte Schweizer Käse haben.

Käse Käse gab es nicht,

Petze-Petze ärgert sich.

Ärgert sich die ganze Nacht,

hat vor Wut ins Bett gemacht“, ging es erbarmungslos weiter.
 

Einer der Schüler spritzte das Mädchen mit seiner Trinkflasche nass. Ein anderer begann, ihr derb die Haare zu zerwuscheln. Jemand versuchte ihr die Tasche wegzureißen. Wieder dieses garstige Lachen, wie nur böse Kinder es hinbekamen. Sie sangen weiter dieses gemeine Lied, dessen Wortlaut eindeutig auf ihr Opfer bezogen war.

Das reichte jetzt. Mischka warf seinen Ranzen in die Ecke und rannte los. „Lasst Inessa in Ruhe!“, brüllte er schon von weitem.
 

„Am Morgen kommt die Mutter rein

und sagt zu ihr: du altes Schwein!

Kommt der Vater noch dazu

und sagt zu ihr: du dumme Kuh!“
 

Die 5.-Klässler schafften es noch, die Strophe komplett zu beenden. Keiner hatte auf eine eventuelle Einmischung geachtet. Sie waren alle miteinander viel zu beschäftigt damit gewesen, ihre Mitschülerin zu ärgern. Erst als Mischka sich kopflos in den Pulk hinein stürzte und wie ein Besessener alles boxte und trat, was er in Reichweite bekam, wurden sie munter. Ein paar mutige Jungen nahmen die Herausforderung direkt an und begannen sich mit dem Blondschopf zu prügeln. Die meisten suchten aber das Weite oder blieben zumindest in sicherer Entfernung stehen, um als Kreis Schaulustiger zuzuschauen und die Jungen anzufeuern.

„Euch werd' ich zeigen, was es heißt, meine Schwester zu ärgern!“, fluchte Mischka und rangelte sich verbissen weiter, obwohl seine Gegner in der Überzahl waren.

Irgendwann ging ein genervter Lehrer dazwischen, löste die Pausenhof-Schlägerei auf und schleppte die mutmaßlichen Rädelsführer zum Direktor.
 

Der Schulleiter, ein drahtiger End-Vierziger mit einem langsam immer deutlicher werdenden Grauanteil im Haar, rollte schon mit den Augen, als er den blonden Jungen nur zur Tür herein kommen sah. „Bogatyrjow, du schon wieder ...“, stöhnte er. Er musste gar nicht fragen, was los gewesen war. Mischkas blutige Nase und das leicht zugeschwollene, rechte Auge sprachen Bände. Mal wieder eine Prügelei. Das war schon die dritte in diesem Schuljahr, in die er involviert war. „Hast du es denn wirklich nötig, Kleinere zu verhauen, sag mal?“

„Haben die 'Kleinen' es etwa nötig, auf meiner Schwester rumzuhacken?“, entgegnete Mischka trotzig. So viel jünger waren die übrigens auch nicht. Er war in der 6. Klasse, also gerademal ein Jahr älter als seine Schwester und der Rest ihres Jahrgangs.

Der Schulleiter schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich verstehe, daß du dich als Inessas großer Bruder berufen fühlst, sie zu beschützen. Aber ihr solltet lernen, eure Streitigkeiten mit etwas weniger Gewalt zu lösen.“

„Ich hab ja nicht angefangen!“, beharrte der Junge und funkelte dabei den 5.-Klässler neben sich böse an.

„Wer angefangen hat, ist mir egal. Tatsache ist, daß ihr alle mitgemacht habt. Ich werde mit euren Eltern darüber sprechen. Und ihr schreibt mir bis übermorgen alle beide einen Aufsatz über gewaltfreies Streiten. Mindestens 5 Seiten“, entschied der Direktor. „Jetzt gebt euch die Hand, ihr zwei. Vertragt euch wieder und dann schert euch nach Hause. Und lungert bitte nicht mehr auf dem Schulhof rum, sonst gibt es am Ende gleich wieder die nächsten Rangeleien.“
 

Muffelig verließ Mischka das Büro des Schulleiters. Er fühlte sich total ungerecht behandelt. Wieso durfte er seiner Schwester nicht helfen, wenn sie auf dem Schulhof gepiesackt wurde? Sollte er etwa tatenlos zusehen? Ihre Klassenkameraden waren einfach doof, die verstanden nur eine saftige Tracht Prügel. Und der Direks offenbar auch, nur konnte man den leider nicht verhauen. Der 12-Jährige setzte ein Lächeln auf, als er seine Schwester wartend draußen im Gang sitzen sah.

Sie sprang sofort auf und fiel ihm mit einem „Mischka!“ um den Hals.

„Hey. Lass uns heim gehen, Inessa“, schlug er ruhig vor und strich ihr über die dunklen Haare. Sie kam optisch komplett nach ihrer Mutter, während Mischka mit seinen blonden Strubbelhaaren eindeutig nach dem Vater geraten war.

„Geht es dir gut?“, wollte sie besorgt wissen.

„Ja.“ Er nahm ihr den Schulranzen ab und trug ihn in einer Hand, während er seinen eigenen längst wieder auf dem Rücken hatte. „Worum ging es diesmal?“

„Ich habe eine 5 in Mathe geschrieben.“

„Na, ist doch super. Glückwunsch“, lächelte Mischka sie an. In Russland gingen die Schulnoten von 5 bis 1, wobei die 5 die beste Note war. Eine 5, 4 oder 3 galt gemeinhin als 'bestanden'.

„Meine Klassenkameraden beschimpfen mich aber als Streber.“

„Ach, hör nicht auf sie. Die sind nur neidisch“, entschied der Junge, legte ihr den freien Arm um die Schultern und kam sich dabei unglaublich erwachsen vor. Wie so ein großer Bruder eben sein musste. „Irgendwann werden sie schon verstehen, daß man gute Noten einfach braucht, wenn man es im Leben zu was bringen will.“

„Und wann wirst DU endlich verstehen, daß man gute Noten braucht?“, schmunzelte sie ihren Bruder vielsagend von der Seite an. Seine Noten waren ja auch nicht gerade traumhaft. Mischka war ein Schüler, der sich eher in der Mitte des Notenspektrums bewegte.

„He! Ich weiß, daß man sie braucht, ja!?“, protestierte er. „Ist halt nicht jeder so ein Superhirn wie du. Wenigstens hänsel ich dich nicht für deine guten Noten!“
 

Mischka schloss die Wohnungstür auf und wuschelte gewohnheitsmäßig erstmal den kleinen, weiß-braunen, langhaarigen Pinscher durch, der ihnen wie immer sofort entgegen gesprungen kam. Das Fellknäuel gehörte der griesgrämigen, alten Frau, die mit hier wohnte. Abgesehen davon, daß der Hund am laufenden Band kläffte und alles vollhaarte, fand Mischka ihn aber eigentlich ganz süß.

Diese 6-Raum-Wohnung hier war eine Kollektiv-Wohnung, in der ganze 6 Familien zusammen lebten. Mischkas Familie, die Bogatyrjows, hatten nur ein Zimmer. Die alte, verwitwete Frau mit dem Hund hatte auch ein eigenes. Die Jeschows, die im hintersten Zimmer wohnten, hatten ein Kind in Mischkas Alter und passten häufiger mit auf Mischka und Inessa auf, wenn ihre Eltern verhindert waren. Das Bad und die Küche teilten sich alle. Es war ein Leben auf engstem Raum und unter permanenter, gegenseitiger Überwachung. Man hatte eigentlich nie Privatsphäre. Aber andere Wohnungen bekam man in Russland so gut wie nicht. Jedenfalls nicht als Normalverdiener. Darum waren alle so scharf darauf, irgendwo eine eigene Datsche oder eine Ferienhütte zu haben. Dort war man dann endlich mal unter sich.

„Hi, Mam', wir sind wieder da“, grüßte Mischka und stellte die beiden Schulranzen, die er getragen hatte, in die Ecke.

„Mein Gott, Kind, wie siehst du schon wieder aus?“, gab seine Mutter mit Blick auf seine blutige Nase zurück.

„Ich hab Inessa gerettet!“

„Na, wenn das so ist ...“, scherzte sie und drückte jedem ihrer Kinder einen Schmatz auf die Stirn. Dann schickte sie die beiden zum Händewaschen ins Bad. Nach dem Kaffeetrinken würden sie mit der Bahn in ihre Datsche am See fahren und das ganze Wochenende dort bleiben. Ihr Mann, der Vater der beiden, kam am Abend nach der Arbeit ebenfalls dorthin nach.

Inessa kehrte als erste aus dem Bad zurück. Sie holte ihre Hausaufgaben aus dem Schulranzen und setzte sich damit an den Tisch, um beim Essen ihrer Prjaniki-Lebkuchen schonmal damit anzufangen. Sie war eigentlich immer fleißig. „Dürfen wir Pipp mitnehmen, wenn wir an den See fahren?“, wollte sie wissen, womit sie den kleinen, wuscheligen Pinscher der alten Frau meinte.

„Ich hab nichts dagegen“, stimmte ihre Mutter lächelnd zu. „Frag Frau Beloussov ruhig, ob sie dir ihr Hündchen mitgibt. Bestimmt freut sie sich, wenn sie mal ein Wochenende lang nicht mehrfach am Tag Gassi gehen muss. Sie ist ja nicht mehr so fit.“

„Dürfen wir im See schwimmen?“, warf auch Mischka seine Wünsche ein.

„Nein! Wo denkst du denn hin? Es ist kein Sommer mehr!“, entrüstete sich seine Mutter fassungslos. Sie goss ihm Kakao ein.

Macho

[London, England]
 

Ruppert riss die Vorderradbremse an, und den Gashebel bis zum Anschlag, so daß der Hinterreifen seines Motorrades durchdrehte. Die Maschine brach zur Seite aus. Sie schleuderte unter viel Qualm und Lärm um ihr eigenes Vorderrad. Der Student zirkelte binnen weniger Sekunden ein paar mal im Kreis herum und zog dabei mit dem Gummi des Hinterreifens einen dicken, schwarzen Strich auf dem Asphalt. Nach einigen Runden wollte er das Motorrad etwas unbeholfen wieder zum Stehen bringen. Bei seinem Bremsversuch kippte er zwar fast samt der schweren Maschine zur Seite um, aber er grinste breit.

Edd stand daneben, die Hände in den Hosentaschen. Er teilte die Begeisterung seines Schützlings nicht im Mindesten. „Du hast echt nur Blödsinn im Kopf.“

„Und du bist ein Langweiler.“

„Du studierst Mathe! Wer ist hier der Langweiler?“

„Ich studiere kein Mathe!“, verteidigte sich Ruppert und stellte den dröhnenden Motor wieder ab, um sich besser unterhalten zu können. „Ich studiere Bankwesen, ja?“

„Du studierst irgendwas Langweiliges mit Zahlen. Also ist es langweilig“, hielt Edd ihm dennoch humorlos vor. Er hatte bis heute nicht verstanden, wieso der feine Herr nicht auf einen Magister Magicae studierte, sondern einen ganz profanen, nicht-magischen Studiengang vorzog. Ruppert war ein Magier. Ein Hellseher, um genau zu sein. Magisch begabte Menschen waren selten. Ruppert war aus dieser Sicht eigentlich etwas Besonderes. Etwas Besseres als normale Menschen. Warum nutzte er dieses wahnsinnig tolle Talent nicht?

Der Autoverkäufer kam hektisch händewedelnd angerannt. Er war von dem Stunt ebenfalls nicht ansatzweise so begeistert wie sein Kunde. „Hören Sie, fahren Sie mir nicht die Reifen kaputt! Sie radieren ja das ganze Profil runter!“

Ruppert winkte lässig ab. „Ist schon okay. Ich kaufe das Motorrad. Lassen Sie uns den Vertragskram regeln.“ Er klappte den Standfuß herunter, rutschte vom Sattel und ließ das Rennrad, das er getestet hatte, einfach mitten im Hof des Autohauses stehen.

Das besänftigte den Fahrzeughändler wieder. „Gern.“ Er lief langsam los, Richtung Gebäude, damit die beiden Herren ihm folgen konnten. „Wie wollen Sie bezahlen?“

„Bar in einer Summe.“

Der Verkäufer blieb abrupt wieder stehen und glotzte den fast noch als jugendlich zu bezeichnenden Halbstarken ungläubig von der Seite an. „In Ihrem Alter? Wo haben Sie das Geld her? Haben Sie eine Bank überfallen?“

Ruppert Edelig lachte. „Hab ich nicht nötig. Die Bank gehört mir.“ Er hatte entschieden, das Erbe seines Vaters anzutreten. Der war auch schon Banker und Ruppert wollte die Bank seines Vaters irgendwann übernehmen. Genau darum studierte er in die wirtschaftliche Richtung, und nicht in die magische.
 

Edd heftete sich an seine Fersen. „Verrätst du mir mal, wie du dir das vorstellst?“, hakte er nach. Diese Diskussion hatte er schon vorher mehrfach erfolglos mit seinem Schützling geführt. Er selber hatte weder ein Motorrad, noch den dafür nötigen Führerschein, um ihn auf etwaigen Spritztouren zu begleiten. Wollte Ruppert etwa alleine draußen rumfahren? Oder den Genius hinten auf dem Schwiegermutter-Sitz mitnehmen?

„Nicht mein Problem.“

„Doch, ist es! Wenn du auf der Astralebene angegriffen wirst und keiner da ist, um dich zu schützen, WIRD es dein Problem sein!“

„Dann wechsel ich eben nicht auf die andere Ebene“, schlug Ruppert grinsend vor, mächtig gut gelaunt von seinem Motorrad in spe. Seine Sommersprossen strahlten dabei mit seinen rotbraunen Haaren um die Wette, was sein ansonsten eher unscheinbares Gesicht aber auch nicht attraktiver machte. Ruppert war rein optisch eigentlich ein sehr langweiliger Junge.

„Das kannst du dir nicht immer aussuchen. Angriffe von der Astralebene ereilen dich auch, wenn du selber gerade noch auf der stofflichen, irdischen Ebene bist!“

Rupperts glückliches Grinsen wich einem gefährlich genervten Gesichtsausdruck. „Edd, ich will das jetzt nicht hören! Halt die Klappe!“, befahl er.

Und das tat der Greifen-Genius. Edd wusste nur zu gut, was passierte, wenn Ruppert von Genii genervt war.
 

Ruppert saß in der Warteecke der Bankfiliale herum und langweilte sich. Aber er wusste, daß die Bankkunden Vorrang hatten. Wenn er einfach unangemeldet hier bei seinem Vater auf Arbeit aufkreuzte, musste er damit leben, daß er mitunter draußen warten musste, bis der seine Kunden abgefertigt hatte.

Edd saß neben ihm und trommelte mit den Fingern auf dem Oberschenkel. Er wusste ebenfalls nichts mit sich anzufangen.

Der Student merkte auf, als sich die Tür endlich öffnete.

Edelig Senior kam aus seinem Büro. Er verabschiedete noch in Ruhe seinen neuen Schuldner, der gerade einen Kreditvertrag bei ihm abgeschlossen hatte, und als der weg war, strahlte er übergangslos Ruppert mit einem breiten Lächeln an. „Sohn!“, posaunte er ihm gut gelaunt entgegen und streckte ihm grüßend beide Arme hin.

Ruppert verzog das Gesicht. „Dad, ich bin keine 5 mehr! Erwartest du, daß ich dir in die Arme falle?“

„Einen Drücker wirst du doch wohl für deinen alten Herrn noch übrig haben!“, verlangte Edelig Senior eingeschnappt.

Dann lachten sie beide und umarmten sich doch kurz. Beiläufig schenkte der Banker auch Edd noch ein fröhliches 'Hallo'. Das Verhältnis zwischen Ruppert und seinem Vater war schon immer sehr gut gewesen. Ruppert war auch ganz nach seinem Vater geraten. Die roten Haare hatte er von ihm geerbt, ebenso den Faible für Geld und Zahlen. Nur war Edelig Senior selbst kein magisch Begabter. Er war nur ein ganz gewöhnlicher Mensch. Rupperts Urgroßvater war Magier gewesen. Ob sowas ein paar Generationen überspringen konnte? Edelig Senior hatte sich jedenfalls sehr gefreut, als sich herausgestellt hatte, daß sein Sohn ebenfalls magisch begabt war.

Ruppert grinste euphorisch. „Wir haben die Ergebnisse für diese dämliche Prüfung in Volkswirtschaft zurück bekommen.“

„Oh! Und?“

„1,3!“, warf er seinem Vater an den Kopf. „Damit hab ich den Abschluss schon fast in der Tasche. Ich hab mehr als genug Punkte zusammen, es kann eigentlich gar nichts mehr schiefgehen.“

Edelig Senior zeigte sich stolz. „Haha! Ganz mein Sohn! Das sollte gefeiert werden!“

„Habe ich schon! Ich hab mir gerade eine Ducati Streetfighter gekauft“, erzählte Ruppert. Der 22-Jährige war immer noch etwas high davon.

„Echt? Das ist ja cool. Mit der musst du mich auch mal fahren lassen!“

„Kauf dir selber eine!“, lachte Ruppert.

„Stimmt. Ich könnte mir wirklich eine kaufen, dann können wir ja zusammen Touren fahren! Wie wäre das?“

Edd räusperte sich im Hintergrund. „Ich möchte darauf hinweisen, daß ich mich nicht dafür verantwortlich sehe, wenn Ruppert allein draußen rumkurvt und ihm was passiert. Ich werde nicht in meiner Greifen-Gestalt hinter ihm herfliegen wie ein Schutzengel. So schnell wie eine Ducati bin ich nämlich nicht.“ Und selbst wenn er so schnell gewesen wäre, hätte er das nicht getan. Hier in England war es nämlich ungern gesehen, wenn Genii in ihrer wahren Erscheinung herumschwirrten. Das machte den normalen Menschen zu viel Angst. Dafür hatten Genii ihre menschlichen Tarn-Gestalten schließlich.

Edelig Senior zog ein grübelndes Gesicht. „Das ist wohl nicht von der Hand zu weisen. Dann wirst du wohl am besten den Motorrad-Führerschein machen und dir auch eine Maschine kaufen!“, entschied er.

Dem Genius schlief übergangslos das Gesicht ein. Das war ein Scherz, oder? Sowas konnten wirklich nur Bankenbesitzer sagen. Der Mann wusste ja schon gar nicht mehr, wieviel Geld er überhaupt besaß.

„Also ... so leid es mir tut, ich muss wieder an die Arbeit. Lass uns heute Abend weiter darüber reden, ja?“, schlug der Banker vor und pappte seinem Sohn nochmal die schwere Pranke anerkennend auf die Schulter.

„Ich weiß. Ich wollte dir auch nur schnell von meiner 1,3 erzählen.“

„Ja. Das hast du gut gemacht.“

„Bis später, Dad!“

„Bis später, Sohn! Ich versuche, heute mal pünktlich nach Hause zu kommen.“
 

Edelig Senior schob sich mit der Gabel ein Stück Steak in den Mund und mampfte. Das Essen war wirklich allererste Sahne. Er saß gerade mit seinem Sohn am Abendbrot-Tisch. Die Haushälterin und Edd pflegten nicht mit ihnen gemeinsam zu essen. Die alte Dame hatte standesgemäß sowieso nichts am Tisch der Hausherren zu suchen, und Edd war bei Familiengesprächen auch eher ein unangenehmer Faktor. Er war ein Greif und seine Anwesenheit machte es Menschen unmöglich, zu lügen. Im Beisein eines Greifen konnte man nur die Wahrheit sagen. Es war nicht so, daß Ruppert und sein Vater sich gern und viel angelogen hätten, aber allein der psychologische Faktor, den das Wissen um die Anwesenheit eines Lügendetektors mit sich brachte, machte alle Gespräche unglaublich gezwungen und unentspannt. Obwohl Edd inzwischen schon recht lange in der Familie lebte, hatte man sich daran nie gewöhnt. Darum war sehr früh beschlossen worden, dem Genius während der gemeinsamen Mahlzeiten Freizeit einzuräumen.

Rupperts Mutter blieb dem Abendessen heute ebenfalls mal wieder fern. Sie war sehr kränklich und oft unpässlich. Es war nicht selten, daß sie sich lieber in irgendeinem Zimmer verbarrikadierte, ihre Ruhe haben wollte, und sich ausruhte.

„Also, wann kannst du dein Motorrad abholen?“, wollte Edelig Senior wissen.

„Der Händler sagt, er braucht so anderthalb Wochen, um die Zulassung abzuwickeln und die Nummernschilder zu beschaffen und so. Er ruft mich an, wenn alles geklärt ist.“

Sein Vater nickte. „Ich hab nochmal nachgedacht. Dein Genius Intimus hat Recht ...“

„Nenn ihn nicht so! Edd IST nicht mein Genius Intimus!“, zischte Ruppert sauer. „Mein gottverdammter Genius Intimus ist nie aufgetaucht!“

„Tja, weil du offenbar keinen hast!“, hielt sein Vater sachlich dagegen. Dieses Thema war immer wieder ein Spiel mit dem Feuer. Aber es half ja nichts.

„Unsinn. Jeder Magi hat einen.“

„Es muss wohl irgendwas schiefgegangen sein. Vielleicht ist dein Schutzgeist schon im Kindesalter gestorben, oder sowas. Wir waren doch nun schon bei einem Hellseher und haben versucht, das silberne Band zurück verfolgen zu lassen. Da war nichts, du hast es doch gehört.“

„Der Typ war ein Stümper!“, entschied Ruppert aufgekratzt.

Sein Vater hob hilflos die Hände. „Sollen wir es lieber nochmal bei einem anderen Hellseher versuchen?“

„Nein!“, entschied der Student harsch. „Ich bin froh, daß der scheiß Genius nie aufgetaucht ist. Und ich wäre auch froh, wenn du Edd endlich rausschmeißen würdest! Er ist lästig!“

Edelig Senior seufzte theatralisch. „Ich verstehe bis heute nicht, warum du so einen Hass auf Genii hast.“

„Herrgott nochmal, Dad, ich bin 22! Ich brauche keinen Babysitter mehr!“

„Darum geht es auch nicht. Edd ist nicht dein 'Babysitter'. Er ist dein Leibwächter. Weil magisch Begabte nunmal nicht ohne einen Schutzgeist auskommen.“

Kämpfer

[Yokohama, Japan]
 

Waleri erzeugte eine halbe Sekunde Zeitverschleppung, die ihm vollauf reichte, um das Gleichgewicht seines Gegners zu brechen, und schob ihn mit Wucht über die Linie der Kampffläche. Gewonnen!

„Drecksau!“, fluchte sein Kontrahent stinksauer und stempelte ihm rigeros die geballte Faust mitten ins Gesicht, bevor der sich über seinen Sieg freuen konnte.

Waleri ging übergangslos zu Boden, wie ein gefällter Baumstamm, und presste sich stöhnend beide Hände auf die Nase. Das hatte er nicht kommen sehen. Im Sumo waren Schläge ja auch gar nicht erlaubt, schon gar nicht ins Gesicht.

„Betrüger! Mit dir trainiere ich nicht mehr! Du bist eine Schande für die altehrwürdigen Kampfkünste Japans!“

Der Meister trat hinzu und sah sich das Spektakel fragend an. „Yazuno, du solltest dich etwas mehr in Selbstbeherrschung üben“, meinte er gelassen. „Was ist passiert? Hat er schon wieder mit Magie gekämpft?“

„Ja, hat er!“, maulte Waleris Trainingspartner wütend. Der schweinsbäckige Sumo-Ringer schnaubte und nahm arge Ähnlichkeit mit einem verärgerten Pummeluff an.

Der Russe konnte nichts dazu sagen. Er war immer noch damit beschäftigt, sich stöhnend am Boden zu wälzen. So ein Mist. Er hatte die Zeitverzögerung schon wieder übertrieben, so daß sein Gegner es bemerkt hatte. Eine Millisekunde zu lange verschleppt, einen Wimpernschlag zu lange gehalten, und seine Trainingspartner merkten es. Er musste seine magische Fähigkeit noch sehr viel feiner zu dosieren lernen, damit ihr Einsatz nicht auffiel. Und Sumo-Ringer mochten plump aussehen, aber sie waren wache, hochtrainierte Kerlchen, denen im Kampf wirklich nichts entging. Die achteten auf jede Nuance in Mimik und Gestik ihres Gegenübers.

Der Meister schüttelte ratlos das Haupt. Dieser Glatzkopf war aber auch wirklich lernresistent. Ausländer eben. Die verstanden den Budo-Gedanken einfach nicht, und den Respekt und die Würde, die damit verbunden waren. Überhaupt verstanden die ziemlich viel von der japanischen Kultur nicht. Allein die Anstößigkeit komplett zutätowierter Arme, wie sie hier sonst nur Yakuza trugen, war etwas, das sich Ausländern einfach nicht erschließen wollte. Waleri hatte ja eingangs tatsächlich einen sehr willigen und vernünftigen Eindruck gemacht. Und er war unübersehbar eine wahre Kämpfernatur. Nur deshalb hatte sich der Meister überhaupt dazu breitschlagen lassen, ihn zu trainieren. Der Budo-Gedanke sollte jedem ernsthaften Schüler Respekt zollen und keine Grenzen kennen. Auch keine kulturellen. Aber es war schlicht und ergreifend ein Fehler gewesen, diesen tätowierten, unkultivierten, ausländischen Schläger in sein Dojo aufzunehmen. Zum Glück hatte er Waleri noch nie öffentlich auf die Kampffläche gelassen. Der hätte seine gesamte Sumo-Schule in Verruf gebracht. „Nehmt euch ein paar Bambus-Stecken und prügelt ihn. Und dann werft ihn aus dem Dojo. Ich werde diesen Schüler nicht mehr länger unterrichten“, entschied der Meister ruhig.

„Ja, Meister!“, gaben die Sumo-Ringer, die hier trainierten, einstimmig zurück. Zwei von ihnen packten Waleri an den Armen und zerrten ihn grob hoch, trotz der blutig-roten Suppe, die aus seiner Nase schoss.
 

Was Waleri so an Japan mochte? Keiner mischte sich seltendämlich in die Angelegenheiten anderer ein. Hier konnte man stundenlang in einer Kneipe an der Bar sitzen, eine Ration Alkohol nach der anderen exen, dabei ein Gesicht ziehen wie ein missgestimmtes Warzenschwein und Löcher in die Luft starren, und keiner würde einen fragen, was denn los war. Nur der Wirt kam dann und wann vorbei, goss mit einem Lächeln nach, und verduftete dann wieder.

Der Russe gab sich den nächsten Schnaps auf die Rübe. Es war vorbei. Er war nach Japan gekommen, um Sumo-Ringer zu werden. Er hatte sogar ein Dojo gefunden, das ihn als Ausländer und trotz seines Erscheinungsbildes aufgenommen hatte. Allein das war schon fast ein Fünfer im Lotto. Ohne Kontakte, die ein gutes Wort für einen einlegten, kam man als Ausländer eigentlich gar nicht in japanische Dojos rein. Aber nun war er leider hochkant rausgeschmissen worden. Das war´s. Die Sport-Branche war ein sehr familiärer Laden. Natürlich standen die Kampfschulen in Konkurrenz zueinander. Aber man kannte sich. Keiner würde einen Schüler aufnehmen, der aus einem anderen Stall unehrenhaft rausgeflogen war. Waleri brauchte nie wieder in irgendeiner Sumo-Schule vorstellig zu werden. Was hatte er jetzt also für Optionen? Was sollte er noch hier in Japan? Sumo würde jedenfalls keine Perspektive mehr sein.

Der Wirt huschte vorbei.

Mit einem „Eh!“ hielt Waleri ihn an. „Noch einen bitte!“

Der Kneiper musterte ihn aufmerksam, trotz des trüben Lichtes hier. „Tut mir leid, Sie kriegen von mir nichts mehr.“

„Wieso?“, maulte der Russe uneinsichtig.

„Sie haben genug. Sie wissen doch, daß es hier in Japan verboten ist, betrunken in der Öffentlichkeit rumzulaufen. Die Polizei wird Sie sicher einbuchten, wenn Sie noch weiter trinken. Sie kriegen nichts mehr!“ Mit diesen Worten wuselte er weiter.

Waleri ließ die Schultern hängen. Hatte er gerade noch geglaubt, Japan sei liebenswert, weil man sich hier nicht in die Angelegenheiten anderer einmischte? „Eh!“, machte er, als der quirlige Japaner gleich darauf erneut vorbei huschte, und hielt ihn damit abermals an. „Geben Sie mir eine Flasche Schnaps und die Rechnung. Wenn ich hier nicht mehr trinken darf, trink ich eben zu Hause.“

Der Wirt wirkte nicht gerade einverstanden, aber dagegen wusste er nichts einzuwenden. Mit einem Nicken zog er also los und kam der Aufforderung nach.

Waleri fand die Idee plötzlich gar nicht mehr so übel, zu Hause weiter zu saufen. Er wollte sowieso raus an die frische Luft. Ihm war unglaublich warm, weil er hier drin seine Jacke nicht ausziehen durfte. Seine von den Handgelenken bis zu den Schultern tätowierten Arme waren in Japan gesellschaftlich nicht akzeptiert. Und je eher er heute nach Hause kam, desto mehr Zeit hatte er auch, noch ein paar Kündigungen zu schreiben. Für seine Wohnung, für seinen Festnetz-Telefonvertrag, für seinen Stromanbieter, ... für seinen Job. Zur Hölle mit Japan.
 

Sein Kopf schwirrte leicht. Er hätte vielleicht doch nicht so viel Alkohol verbraten sollen. Zwischen müde und tendenziell genervt rangierte Waleri in dieser Nacht auf Arbeit mit den schweren Paketen herum. Er arbeitete in einer Packstation und belud die LKW´s der Post. Viel Körperkraft hatte er ja. Und nach 3 Jahren konnte er inzwischen auch passabel Japanisch. Aber er redete eben nicht gern, also kam ein Beruf mit Kundenkontakt schonmal nicht in Frage. Und ohne Berufsausbildung waren hochtrabende Jobs sowieso abgehakt, daher hielt er sich an Anlerntätigkeiten. Dauernachtschicht war zwar auch nicht gerade sein Traum, doch von irgendwas musste er schließlich leben, solange es mit der großen, berufsmäßigen Sumoringer-Karriere noch nicht klappte. Nur, die war ihm jetzt endgültig versperrt, nachdem er heute Vormittag unehrenhaft aus seinem Dojo rausgeschmissen worden war.

Als Waleri das letzte Paket verladen hatte und den LKW-Anhänger schließen und verriegeln wollte, verkantete sich eine der beiden Doppeltürhälften mit einem hörbaren Ratschen. Waleri fluchte laut und ungeniert. Wieso konnten die diese schweren Eisentüren nie ölen? Jedes Mal der gleiche Mist! Ungeduldig zerrte er mit beiden Händen an der halb offenen, festgesetzten Tür, bis er schon Angst hatte, eher den Stahl zu verbiegen, als das Scharnier wieder entkeilt zu bekommen. Er warf sich mit der Schulter und gehörigem Schwung gegen die Tür, in der Hoffnung, sie wenigstens ganz zu zu bekommen. Dann wäre alles weitere nicht mehr sein Problem gewesen. Aber Fehlanzeige. Leider war der Türspalt zu klein, um in den Auflieger hinein zu klettern und sein Glück mal von innen zu versuchen. Auf Russisch weiter herum maulend nahm er die Tür von allen Seiten unter die Lupe, um zu sehen, woran genau es denn liegen könnte, und wo die Blockade so richtig saß.

kon-yon-koffu-san, kommen Sie bitte mal?“, hörte er seinen Bezirksleiter aus der Ferne rufen. Unter anderen Umständen hätte er gelacht. Die Japaner brachen sich immer fast die Zunge, wenn sie seinen russischen Familiennamen 'Konjonkow' auszusprechen versuchten. Er hatte hier noch keinen gefunden, der seinen Namen zufriedenstellend hätte aufsagen können. Waleri drehte sich fragend um und sah den Mann mit einer Seite Papier winken. Lustlos ließ er die Tür in Frieden und ging hin.

„Sie wollen kündigen?“, fragte sein Vorgesetzter in einem Tonfall, als wäre das etwas ganz und gar Ungebührliches und wäre ihm noch nie untergekommen. Dabei hielt er ihm seine Kündigung wie einen Beweis vor die Nase.

Waleri bestätigte nur mit einem wortlosen Nicken.

„Gibt es denn Probleme? Hat es etwas mit unserer Firma zu tun?“

„Nein. An der Arbeit liegt es nicht.“

„Brauchen Sie vielleicht mehr Zeit für Ihr Sumo-Training?“, hakte sein Chef weiter nach. Er wusste um Waleris eigentliche Ambitionen. Aber trotzdem war er unzufrieden damit, den großen, starken Kerl gehen zu lassen. Denn der leistete wirklich gute Arbeit. Diesem Knochenjob hielten nicht viele sehr lange Stand.

„Im Gegenteil. Mein Sumo-Training hat sich erledigt. Ich will zurück nach Russland. Hier habe ich keine Perspektiven mehr.“

„Dann liegt es also am Geld?“

Der ließ aber auch gar nicht locker. Waleri unterdrückte einen gereizten Ton. „Ich möchte zurück nach Hause“, bekräftigte er nochmals. „Meine Rücklagen reichen für die Rückreise, und um dort für einen Monat oder zwei mein Überleben zu sichern, bis ich wieder Fuß gefasst habe. Und das ist mehr als mir hier offen steht.“

Sein Chef nickte. „Es ist Ihnen also wirklich ernst.“

Der Glatzkopf brummte mürrisch. Glaubte der Kerl denn, die Kündigung wäre nur Spaß? Ein April-Scherz?

Problemkind

[Verona, Italien]
 

Francesca D´Agou betrat den Kindergarten mit etwas gemischten Gefühlen. Heute war ein entscheidender Tag. Darum war sie auch etwas eher dran als gewöhnlich. Auf dem Gelände rannten ein Haufen Buben und Mädchen herum, laut schreiend und lachend, sich gegenseitig jagend und mit Spielzeug zugange. Es war fast zum Fürchten. Wie konnte man diesen Lärmpegel nur den ganzen Tag ertragen? Francesca beneidete die Kindergärtnerinnen wahrlich nicht um ihren Job.

Ihren Mittleren, den sie abholen wollte, sah sie allerdings nirgends. Das verstärkte ihr mulmiges Gefühl gleich noch etwas mehr. Mit einem tiefen Durchatmen hielt sie auf die Tür zu und betrat das Gebäude. Drinnen kam ihr eine der Kindergärtnerinnen mit einem Tablett voll Geschirr entgegen.

„Hallo, Francesca“, grüßte die junge Frau.

„Hallo, Giulia. Hast du meinen Urnue gesehen?“

„Ja, er ist drinnen. Da hinten, im letzten Zimmer“, meinte sie und deutete mit dem Kopf in die entsprechende Richtung, weil sie keine Hand dafür frei hatte.

„Wieso ist er bei diesem Wetter drinnen?“, wollte Francesca D´Agou erschrocken wissen. Das klang ja förmlich, als wäre irgendwas passiert.

„Wir haben ihn weggesperrt. Er ist uns wiedermal abgehauen. Ehrlich, Francesca, mach ihm endlich klar, daß er das nicht tun soll!“ Mit diesen eindeutig vorwurfsvollen Worten schepperte die Kindergärtnerin mit ihrem Tablett weiter. Weg war sie.

Die Mutter kratzte sich überfordert im Genick und fuhr sich durch die langen, dunkelbraunen Locken. Aber was blieb ihr übrig? Nach kurzem Hadern setzte sie sich wieder in Bewegung.
 

Francesca blieb in der offenen Tür stehen und sah sich um. Da saß ihr 5-Jähriger am Tisch und malte unter den wachsamen Augen einer Kindergärtnerin ein Bild. Die beiden waren allein. Kein anderes Kind weit und breit. Ihr Urnue wirkte dadurch regelrecht isoliert. Als ob er Verbot hätte, mit den anderen Kindern zu spielen. Als ob er irgendwie anders wäre als die anderen Kinder.

Die Erzieherin schaute herum und lächelte leicht, als ihr der unerwartete Besuch zu Bewusstsein kam.

„Hallo ...“, meinte Francesca kleinlaut.

„Hi.“

Urnue sah nicht auf und grüßte auch nicht. Er malte emotionslos weiter an seinem Bild. Der Junge schmollte wohl.

„Warum seid ihr denn bei diesem tollen Wetter nicht draußen?“, wollte seine Mutter wissen. Vorsichtig, als hätte sie Angst vor der Antwort.

„Dein Kind ist wieder ausgebüchst.“

„Ja, hab ich schon von Giulia gehört.“

„Aber diesmal ist er über die Astralebene gegangen, um durch den Zaun zu kommen, weil wir das Tor zugeschlossen hatten. Ich habe beschlossen, ihn lieber nicht mehr aus den Augen zu lassen. Darum sitzen wir hier.“

Francesca seufzte betrübt. „Sowas kriegst du schon fertig, Urnue?“ An sich war das ja eine bemerkenswerte Leistung für einen Jungen seines Alters. Aber auch sehr beunruhigend, wenn er davon mutwillig Gebrauch machte, um abzuhauen.

Der kleine Junge gab bloß einen genervten Ton von sich. Der lange, strubbelige Pony hing ihm so tief in die Augen, daß man von seiner Mimik kaum etwas sah.

Die Erzieherin erhob sich und streckte verspannt ihren Rücken durch. „Versteh mich nicht falsch, Francesca. Du hast da einen süßen und wirklich cleveren, kleinen Zwerg. Aber irgendwas musst du mit ihm tun. Das kann so nicht weitergehen. Wir können nicht aller zwei Wochen die Polizei rufen, damit sie einen 5-Jährigen suchen, der spurlos aus dem Kindergarten verschwunden ist. Er ist uns jetzt schon so oft weggelaufen, obwohl wir wirklich aufpassen, das kannst du uns glauben! Unsere Leiterin hat schon gedroht, deinen Betreuungsvertrag zu kündigen und dich mit Urnue an ein Heim für schwer Erziehbare zu verweisen. Und ehrlich gesagt haben wir auch nicht die Zeit, ihn ohne Pause unter Bewachung zu halten. Wir haben hier noch 30 andere Kinder.“

Francesca nickte betrübt und schaute wieder ihrem Sohn beim Malen zu. Was nur stimmte mit diesem Kind nicht? Er war doch völlig normal, eigentlich auch total lieb und artig und für sein Alter toll entwickelt, sowohl körperlich als auch geistig. Bis auf diese nervenzehrende Macke, ständig das Weite zu suchen. „Ich habe heute mit ihm einen Termin beim Kinderpsychologen. Vielleicht hat der eine Idee, was mit meinem Urnue los ist“, meinte sie leise und entlockte ihrem Sohn damit erstmals ein Aufblicken.

Die Kindergärtnerin reagierte gleichfalls mit einem einverstandenen Nicken. „Er wird im Herbst eingeschult. Bis dahin muss das geklärt sein.“

„Ich weiß.“
 

„Mama, was ist ein Psiloge?“, wollte Urnue neugierig wissen. Er ging anstandslos an der Hand, während sie auf dem Weg zu ihrem Arzttermin waren.

Francesca lächelte ihn an. „Ein Psychologe. Er hilft mir, dich ein bisschen besser zu verstehen, weißt du?“

„Oh, muss ich lauter reden?“

Seine Mutter lachte. „Nein, das meinte ich damit nicht. Um deine Aussprache geht es nicht. Ich weiß nur nicht, warum du manche Sachen machst. Immer wieder, obwohl ich dir ständig sage, daß du es nicht sollst.“

„Du meinst das Laufen ...“, entgegnete Urnue geknickt. „Die Gartenfrauen sind auch immer böse, wenn ich das mache.“

„Es ist nicht einfach nur Laufen“, hielt Francesca ruhig und liebevoll dagegen. „Du läufst weg, das ist etwas ganz anderes. Mama macht sich Sorgen um dich, wenn sie nicht weiß, wo du bist.“

Urnue nickte einsichtig und schaute vor sich auf den Asphalt.

„Warum machst du das, hm? Wieso läufst du immer wieder weg, Schatz?“

„Ich will doch einfach nur in den Norden.“

„Ja, aber warum? Ich verstehe nicht, was du da willst.“

„Ich auch nicht“, gestand der kleine, schwarzhaarige Junge.

Francesca zog die Stirn in Falten. Ihr Sohn wusste selber nicht, warum es ihn ständig in die Ferne zog. War das Besorgnis erregend? Wenn man ihn fragte, sagte er immer nur, daß es ihn eben dort hin trieb.
 

„Guten Tag, Professor Moretti.“

„Guten Tag, Frau D´Agou, immer herein spaziert“, grüßte der alte Herr mit Brille und schneeweißen Haaren und hielt die Tür auf. Er hätte schon längst in Rente sein können, wenn er gewollt hätte, das sah man ihm altersmäßig an. Aber er liebte seine Arbeit so sehr, daß er immer noch weiter praktizierte. Er verfolgte mit, wie sich die Mutter im Sprechzimmer umsah, und lächelte amüsiert. „Sie wirken verunsichert.“

„Nun ja, wissen Sie ...“, begann Francesca ängstlich und hielt sich förmlich an ihrem Kind fest. „Ich bin noch nicht ganz sicher, ob wir hier überhaupt richtig sind. Wir sind nämlich keine Menschen. Wir sind eine Familie von Tiergeistern. Also Genii. Ihr Schwerpunkt ist zwar Kinderpsychologie, aber vermutlich eher die menschliche, und ... also ich hoffe, Sie können uns vielleicht trotzdem helfen ... weil ...“

Professor Moretti lachte. „Nun mal immer mit der Ruhe. Jetzt nehmen Sie doch erstmal Platz und dann reden wir ganz entspannt. Ist das der junge Mann, um den es geht?“

„Das ist mein Urnue, ja.“

„Schön. Hallo, Urnue“, begrüßte der alte Mann daraufhin auch den 5-Jährigen noch mit einem väterlichen Lächeln. „Wie geht´s dir?“

„Gut“, bekräftigte Urnue.

„Na, das hört man doch gern. Such dir einfach einen Sitzplatz aus, ja?“

„Irgendeinen?“

„Irgendeinen!“, stimmte Professor Moretti zu.

„Darf ich hinter dem Tisch sitzen?“, wollte Urnue in kindlicher Euphorie wissen.

Seine Mutter lehnte entrüstet ab, aber der alte Mann lachte schallend. „Natürlich! Dann bist du eben heute der Arzt im Haus. Setz dich nur!“, meinte er kichernd. „Sie haben wirklich einen herzigen Sohn.“

Nachdem sich alle auf ihren auserkorenen Plätzen eingerichtet hatten, inclusive Urnue, der hoheitlich hinter dem Schreibtisch thronte, und nachdem der Psychologe ihnen versichert hatte, daß er auch mit Genii schon ausreichend Erfahrung besaß, wurde die ganze Atmosphäre um einiges entspannter. Urnue beantwortete aufgeweckt und offenherzig alle Fragen des Professors. Er erzählte unter anderem, daß er eine kleine Schwester, Marilsa, hatte, und einen großen Bruder, Antreo, und daß er sich in seiner Familie absolut wohlfühlen würde. Er erzählte, daß er sich ein Haustier wünschen würde, das er aber auch mit seinen Geschwistern teilen würde und nicht zwingend für sich allein haben müsse. Andererseits würde seine kleine Schwester Marilsa in ihrer Wiesel-Gestalt aber auch ein ganz passables Haustier abgeben und sei zum Knuddeln süß. Und im Kindergarten hätte er ebenfalls keine Probleme.

„Tja, aber deine Mama sagt, du würdest häufiger weglaufen“, kam Professor Moretti daraufhin auf das eigentliche Anliegen zu sprechen. „Wenn es dir hier so gut gefällt und du gar nicht unglücklich bist, wieso reißt du denn dann dauernd aus?“

„Ich will in den Norden!“, gab Urnue direkt und unverblümt Auskunft.

„Norden“, wiederholte der Arzt etwas überrumpelt. Er hatte bisher selten Kinder erlebt, die in diesem Alter schon eine klare Vorstellung von der Welt und den Himmelsrichtungen hatten. „Willst du ...“ Er überlegte kurz, wie er die Frage formulieren sollte. „Du willst also nicht weg, weil es dir hier nicht gefällt?“

„Nein.“

„Aber du willst hier weg! Weil ...???“

„Ich weiß nicht. Mich zieht es einfach dort hin.“

„Wie fühlt sich diesen Ziehen denn an? Hörst du Stimmen, die dir sagen, daß du da hingehen sollst? Sowas wie ein unsichtbarer Freund?“

„Nein. Es ist ... eher ...“ Urnue suchte sichtlich nach Begriffen. Mit seinen 5 Jahren fiel es ihm logischerweise schwer, solche undefinierbaren Dinge in Worte zu fassen. „Das ist so wie unser Kühlschrank zu Hause!“

„Weil es da drin kalt ist?“, wollte er verdutzt wissen.

„Nein, weil da das Essen drin ist!“

„Ah! Du meinst, wenn du Hunger hast, dann gehst du an den Kühlschrank, weil du weißt, daß da was zu essen drin ist. Und mit dem Norden ist es genau so. Du gehst nach Norden, weil du einfach weißt, daß da irgendwas ist, was du gerade brauchst.“

Urnue nickte zustimmend und grinste, froh darüber, verstanden worden zu sein.

„Das nennt man 'Intuition', Urnue. Kinder in deinem Alter haben sowas meistens noch sehr ausgeprägt.“

„Ist das böse?“

„Nein, im Gegenteil. Das ist total wichtig, sowas zu haben. Erwachsene könnten sowas auch viel häufiger brauchen“, beruhigte Professor Moretti ihn. Mit einem gemurmelten „Na schön ...“ stand der alte Mann auf und ging zum Regal an der Wand, um einen Atlas heraus zu kramen. Den legte er Urnue vor, aufgeschlagen auf der Weltkarte. „Schau mal, das ist unsere Erde. Weißt du, wo wir sind?“

Der kleine Junge schaute lange ratlos auf das Buch und schüttelte schließlich den Kopf. Hiervon verstand er nur Bahnhof. Also zeigte der Psychologe ihm den Stiefel im Mittelmeer und erklärte ihm, daß das Italien sei. Da Urnue Interesse daran zu haben schien, berichtete er ihm auch noch von den größten, wichtigsten Städten und davon, was eine Hauptstadt war. „Und weißt du denn, wo du hin willst?“

Urnue zeigte in eine Ecke des Raumes. Schräg hinter sich, nach Norden. „Da hin!“

„Ja, aber auf der Karte!“, präzisierte der Professor und deutete in den Atlas. „In welches Land willst du?“

Urnue kratzte sich nachdenklich am Kopf. Er wusste es nicht. Nach einigem Hadern landete sein Finger unschlüssig auf Australien.

Der Arzt bemerkte, daß der Junge nur geraten hatte. Australien war unten rechts, genau wie die Raumecke, in die Urnue eben gezeigt hatte. Das Buch lag ja auch in Leserichtung auf dem Tisch, und nicht nach Norden ausgerichtet. Professor Moretti drehte die Karte testhalber nochmal über Kopf, so daß sie geographisch richtigherum lag und der Norden auch nach Norden zeigte. „Und jetzt?“ Diesmal wählte Urnue Island, was den Psychologen in seiner Vermutung bestätigte. Er hatte nicht nach Karte entschieden, sondern nach der Himmelsrichtung, in die es ihn zog. Aber mehr als die Richtung schien er tatsächlich nicht angeben zu können. „Ist es immer Norden?“, wollte Professor Moretti von Francesca wissen.

Sie nickte ernst. „Es ist schon immer der Norden gewesen. Seit er alt genug war, um auf Händen und Knien zu krabbeln, hat er sich regelmäßig nach Norden davon gemacht. Lange bevor er überhaupt räumliches Vorstellungsvermögen hatte. Wenn er weg war, wussten wir immer schon vorher, in welcher Richtung man ihn suchen musste.“

„Wann läuft er denn in der Regel weg? Mittags? Nachts?“

„Zu jeder erdenklichen Tages- und Nachtzeit. Wann immer sich eine Chance bietet.“

„Hm, also können wir Naturphänomene schonmal ausschließen. Ich kannte mal ein kleines Mädchen, das immer dem Sternbild Orion nachgelaufen ist. Das hat lange gedauert, bis wir dahinter gekommen sind. Aber das scheint hier nicht der Fall zu sein.“

Duellant

[Moskau, Russland]
 

Ein Kind schnappte im Vorbeigehen Mischkas Pausenbrot und rannte lachend damit auf und davon. Mischka sprang stinksauer von seiner Schulbank hoch und nahm die Verfolgung auf. „Gib mir sofort mein Essen zurück!“, schrie er.

Sein Klassenkamerad Igor lachte gehässig und flüchtete den ganzen Gang hinunter, auf die Jungentoilette.

„He, Kinder, ihr sollt hier nicht rennen!“, rief ein Lehrer ihnen nach, aber er fand natürlich keine Beachtung.

In einer Kabine endete die Verfolgungsjagt. Mischka stand breitbeinig in der Tür, sein Kollege hielt das Brot lachend über das offene WC. Beide waren vom Rennen aus der Puste. Aber Mischkas gesunde Gesichtsfarbe rührte eher von der Wut als von den Sporteinlagen her.

„Jetzt werfe ich dein Essen ins Klo!“, kündigte der Junge an.

Mischka verengte drohend die Augen. „Wenn du das machst, dann ...“

„Ja? Was dann!?“

„Dann ... Dann hau ich dir eine auf´s Maul!“, platzte es so unfein wie mutig aus Mischka heraus. Igor war immerhin einen ganzen Kopf größer und gut doppelt so breit wie er selber. Aber die große Klappe haben konnte man ja trotzdem erstmal. Ob man es dann wirklich durchzog, konnte man später immer noch entscheiden.

Sein Klassenkamerad überlegte sichtlich, statt zu lachen. Er wusste, daß Mischka sich noch nie vor einer gehörigen Prügelei gedrückt hatte, auch nicht gegen eine Überzahl. Ganz unrealistisch war diese Drohung also nicht. Andererseits hatte der Hämpfling bei all seinen Schlägereien auch denkbar selten gewonnen. Igor nahm Haltung an, verschränkte die Arme samt dem Pausenbrot in der Hand, und reckte das Kinn. „Das wagst du ja doch nicht!“, zog er Mischka auf.

„Und wie ich das wage!“

„Na, dann los!“, legte der Mitschüler provokant nach und kam einen Schritt auf Mischka zu. Wieder aus der Klokabine heraus. „Komm schon, tu´s doch!“ Noch zwei feste Schritte auf Mischka zu, Mischka selbst wich bereits eingeschüchtert zurück, dann prallte Igor plötzlich mitten in der Bewegung zurück, als wäre er mit Wucht gegen eine Glasscheibe gerannt.

Mischka sah noch das Blut aus Igors Nase schießen, bevor dieser das Essen fallen ließ und sich die Hände stattdessen brüllend ins Gesicht presste. Die rote Suppe quoll sofort haltlos zwischen seinen Fingern heraus. Schockiert ging Mischka auf Abstand.

Sein Klassenkamerad ging rückwärts zu Boden und wälzte sich dort, immer noch schreiend, herum.

Ein Lehrer platzte herein, stürzte fluchend zu Igor und zog ihm die Hände fast gewaltsam aus dem Gesicht, um erkennen zu können, was los war. Igor hatte derweile schon sein halbes T-Shirt vollgeblutet.

Mischka war unfähig, sich zu rühren. Weitere Personen stürmten herein, angelockt von dem Theater, und wollten wissen, was los war. Irgendwo ging ein Wasserhahn los. Jemand brachte eine Ladung Papierhandtücher, die sich der Junge auf die blutige Nase pressen konnte.
 

Eine halbe Stunde später kam Boris Bogatyrjow in die Schule. Er war angerufen worden, daß er seinen Sohn bitte abholen solle. Dazu hatte er eher von der Arbeit verschwinden müssen und der Anraunzer, den er dafür von seinem Chef kassiert hatte, besserte seine Laune auch nicht gerade.

Inzwischen war wieder etwas Ruhe eingekehrt. Mischkas Klassenkamerad war schon längst mit dem Krankenwagen abtransportiert worden. Igor hatte eine gebrochene Nase, offensichtlich in Folge einer Gewalteinwirkung. Mischka saß im Sekretariat der Schule und heulte immer noch Rotz und Wasser, als sein Vater herein kam.

Nachdem er kurz mit dem Direktor der Schule gesprochen hatte, um sich über die Ereignisse und eventuell zu befürchtende Konsequenzen aufklären zu lassen, zog er mit seinem Kind von dannen. Mischka war für den Rest der Woche vom Unterricht ausgeschlossen worden. Ob es einen Schulverweis geben würde, wusste man noch nicht. Das war noch zu beratschlagen, nachdem es eine größere Aussprache mit einem Schulpsychologen, dem betroffenen Kind und dessen Eltern gegeben hatte. Boris Bogatyrjow sagte lange nichts und lief nur düster schweigend neben seinem Sohn her, während sie auf dem Weg nach Hause waren.

„Papa, ich war das wirklich nicht!“, ergriff Mischka also irgendwann als erster das Wort. Irgendwas musste er einfach sagen.

Sein Vater funkelte ihn böse aus dem Augenwinkel an. „Ich habe die Nase voll von deinen ständigen Kapriolen!“

„Aber ich habe Igor nicht geschlagen!“

„Willst du etwa sagen, dein Klassenkamerad hätte sich die Nase selber gebrochen? Du hast ihn in eine Klokabine eingesperrt und damit gedroht, ihn zu verprügeln! Und es war niemand anderes da!“

„Ich hab ihn gar nicht eingesperrt! Und es war ein Unfall! Ich kann das nicht erklären! Seine Nase hat plötzlich ganz von alleine ...“

Der Vater zischte sauer, um ihn zu unterbrechen. „Du bist schon oft genug in Pausenhof-Schlägereien verwickelt gewesen. Dir traue ich so viel Gewaltpotential durchaus zu.“

„Aber ...“

„Halt jetzt den Mund. Ich will deine billigen Ausflüchte nicht mehr hören.“

Mischka begann wieder zu weinen.

„Ja, heul nur. Hausarrest bekommst du trotzdem! Sei froh, daß ich dir nicht den Arsch voll haue, du Tölpel! Du gehörst in ein Erziehungslager, wo man dir mal ein paar Manieren beibringt! Ich hab deiner Mutter immer wieder gesagt, daß sie euch Kinder nicht so verhätscheln soll. Und das haben wir jetzt davon: einen gewalttätigen Sohn. Als nächstes rennst du wahrscheinlich mit einem Messer in die Schule. Ich sollte dich besser gleich auf eine andere Schule schicken, bevor der Direktor dich rausschmeißt.“

„Nein!“, jaulte Mischka verzweifelt auf. Wer sollte denn seine Schwester Inessa beschützen, wenn er nicht mehr da war?
 

Am nächsten Vormittag stand Mischka schlecht gelaunt in der Gemeinschaftsküche und spülte Geschirr. Er war zwar für den Rest der Woche vom Unterricht ausgeschlossen und musste daheim bleiben, aber das hieß ja nicht, daß seine Eltern deswegen auch zu Hause bleiben konnten. Die mussten auf Arbeit. Also hatten sie ihren Sohn gehörig mit Hausarbeiten eingedeckt, um ihn bei Laune zu halten, solange er alleine in der Wohnung saß. Damit er keinen Blödsinn anstellte, hatten sie gesagt.

Frau Beloussov, die alte, griesgrämige Witwe mit dem weiß-braunen Hündchen, erschien in der Küchentür und blieb irritiert stehen. „Mischka. Es ist Mittwoch. Solltest du nicht in der Schule sein?“

„Nein. Ich hab Hausarrest“, gab der blonde Junge wortkarg zurück.

Die Alte machte ein Geräusch wie ein quietschendes Türscharnier, womit sie für gewöhnlich ausdrückte, daß sie gerade schwer am Denken war. „Hast du etwa was ausgefressen?“

„Ich hab einem Mitschüler die Nase eingeschlagen. ... Jedenfalls denken das alle.“

„Ah. Und was denkst du selber?“

Mischka stellte den letzten Teller ins Abtropfgestell und zog den Stopfen aus der Spüle, um das Wasser abzulassen. „Es war ein Unfall. Er ist gegen ein Hindernis gerannt. Ich habe nicht genau gesehen, was es war. Ich war es jedenfalls nicht.“

Frau Beloussov beobachtete aufmerksam das Spülwasser, das strudelnd im Ausguss verschwand, während sie weiter nachdachte. „Aber du hast es gesehen!?“

Mischka rieb sich unmotiviert die Augen. „Ich hab keine Ahnung. Es war, als ob er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen ist, oder so.“

Frau Beloussov nickte verstehend. „Das war kein Unfall, Junge. Das war schiefgelaufene Magie.“

„Was!?“

„Ein typischer Fall von gerade frisch erwachtem und deshalb komplett unkontrolliert eingesetztem, magischen Talent“, bekräftigte sie nochmals. Wahrscheinlich Bann-Magie, ein versehentlich heraufbeschworener Schutzschild, oder sowas. Aber das heraus zu finden, oblag nicht ihr. Darum mussten sich Mischkas Eltern schon selber kümmern. Mit einem schiefen Lächeln hinkte sie zum Kühlschrank, um sich etwas zu essen heraus zu nehmen, und dann wieder aus der Küche hinaus, und verschwand in ihrem Zimmer der Kollektivwohnung.
 

Als seine Eltern am Nachmittag mit Inessa nach Hause kamen, hatte sich im Wohnzimmer der Bogatyrjows nicht sonderlich viel getan. Es war immer noch alles unordentlich. Die Betten waren nicht frisch bezogen, nicht einmal aufgeschüttelt, die Fenster waren nicht geputzt, die Schränke nicht entstaubt, der Linoleum-Boden nicht gewischt, überall lagen noch Sachen herum. Mischka saß am Tisch und starrte verträumt in eine leere Kaffeetasse.

„Solltest du nicht aufräumen?“, wollte seine Mutter wissen. „Was hast du denn den ganzen Tag hier gemacht?“

Mischka schaute sie an und strahlte wie ein Honigkuchen. „Mama!“, grüßte er begeistert. Ein breites Grinsen von einem Ohr bis zum anderen. „Schau mal was ich kann! Versuch mal, die Tasse hochzuheben!“

Hinter ihr trat auch sein Vater noch ins Zimmer ein.

Mit einem brummigen Ton kam seine Mutter also näher und schnappte die Tasse vom Tisch. Oder versuchte es zumindest. Sie pappte wie Bombe auf der Tischplatte fest und ließ sich keinen Millimeter verrücken. „Mischka, was hast du getan!? Hast du die Tasse mit Sekundenkleber auf den Tisch geklebt?“ Sie zog fester an dem Porzellan, in der Hoffnung, es irgendwie wieder lösen zu können. Ihr Gesicht wurde dabei schlagartig finsterer. Das fand sie überhaupt nicht lustig.

„Ich bin magisch begabt! Ein Magier!“, erzählte Mischka stolz wie Bolle und machte eine kryptische Handbewegung. Daraufhin gab die Tasse plötzlich nach und seine Mutter geriet von dem so unvermutet fehlenden Widerstand beinahe ins Straucheln.

Seinen Eltern schliefen synchron die Gesichter ein. „Ach du Scheiße ...“, hauchte seine Mutter entsetzt. „Er ist ein Freak.“ Sie wechselten verunsicherte Blicke.

„Kann man dagegen irgendwas machen? Ist das behandelbar?“, wollte der Vater leise von ihr wissen.

„Ich weiß nicht. Wo kommt sowas denn her?“

„Mama? Papa?“, hakte Mischka nach, in seiner Freude schlagartig massiv gedämpft. Er hatte gedacht, seine Eltern würden das cool finden und stolz auf ihn sein. Immerhin hatte er den ganzen Tag mit der Tasse geübt, um dieses Kunststück hin zu bekommen. Aber ihre Reaktion wirkte eher fassungslos, als wäre das etwas ekelhaftes, krankhaftes.

Single

[London, England]
 

“Liebster Ruppert,
 

Unser Rendezvous gestern war wunderschön und ich möchte mich nochmal dafür bedanken. Du bist ein lieber Kerl. Ich mag dich wirklich sehr. Und auch mit deiner magischen Begabung könnte ich leben. Aber ich muss dir leider sagen, daß ich mir mit dir keine dauerhafte Beziehung vorstellen kann. Ich kann nicht damit umgehen, daß du zu jeder Tages-und-Nacht-Zeit, wo auch immer du gehst und stehst, Edd um dich hast. Im Moment mag es mich noch nicht stören, wenn er bei jedem unserer Dates dabei ist, aber ich denke weiter. Irgendwann wird es peinlich werden, wenn er uns bei unseren romantischen Liebesgesprächen zuhört oder uns beim Küssen beobachtet. Wenn wir irgendwann ein gemeinsames Haus haben, soll er dann etwa mit bei uns wohnen? Mit in den Urlaub fliegen? Mit in unsere Familienangelegenheiten eingeweiht werden? Ich werde dich nie für mich allein haben. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich mit dir eine Nacht verbringen soll, wenn er dabei im Nachbarzimmer sitzt.

Es tut mir leid. Unter einer Beziehung stelle ich mir etwas anderes vor. Ich weiß, du kannst nichts dafür und ihr habt beide keine Wahl. Als Magi musst du einen Schutzgeist haben, das ist nicht zu ändern. Aber ich komme damit nicht klar. Ich brauche mehr Intimsphäre. Ich hoffe, du bist mir nicht böse. Und ich hoffe, du findest ein liebes Mädchen, das mit deiner Situation leben kann und mit dem du glücklich wirst.
 

Deine Kiki.“
 

Etwas verbittert las Ruppert wieder und wieder diese e-mail. Er hatte einen Korb bekommen. Mal wieder. Jedes verdammte Date endete so. Jedes einzelne! Und er konnte nichtmal was dafür. Es war Edd. Dieser verdammte Genius war an allem Schuld. Riesengroßer Mist! Dabei hatte er Kiki so süß gefunden. Er hatte wirklich gehofft, daß es mit ihr ernst werden könnte.

Der Genius platzte ganz selbstverständlich ins Zimmer herein und warf einen Arm voll Wäsche auf Rupperts Bett. Wenn er Langeweile hatte, half er manchmal der alten Haushälterin beim Zusammenlegen der gewaschenen Kleidung, oder sowas.

Ruppert stand von seinem Computer-Drehstuhl auf und kam mit zum Bett herüber. „Lass die Pfoten von meinen Sachen. Wie oft muss ich dir das noch sagen?“, maulte er und nahm Edd die erste Hose wieder aus den Händen.

„Oh, der Herr hat schlechte Laune“, stellte der Genius näckisch fest.

Ruppert packte ihn unvermittelt am Schlawittchen und zerrte ihn zum Computer hinüber, so rigeros und grob, daß der gar nicht wusste, wie ihm geschah. „Noch ein Wort und du erlebst meine schlechte Laune erst so richtig, das verspreche ich dir!“, zischte er dabei. Er drückte Edd fast gegen den Bildschirm.

Erschrocken überflog Edd schnell, was in der immer noch offenen e-mail stand, auf die er buchstäblich mit der Nase gestoßen wurde. Er war sich im ersten Moment nämlich gar keiner Schuld bewusst. Er wusste nur, daß Ruppert wirklich ekelhaft bis hin zu grausam werden konnte, wenn ihm irgendwas nicht passte.
 

Als Magi hatte Ruppert das Sagen und war der Boss, zumindest nach alter Schule. Sein Schutzgeist hatte zu gehorchen. Das wusste Ruppert, machte vollumfänglich Gebrauch von diesem Recht, und nutzte es bisweilen auch regelrecht aus. Eigentlich widerten Genii ihn nämlich an. Aber als magisch begabter Mensch – auch das wusste er – musste er wohl oder übel einen Genius an seiner Seite dulden.

Normalerweise waren Magi von Geburt an über ein silbernes Band mit dem Schutzgeist verbunden, der zu ihnen gehörte. Der Schutzgeist, der Genius Intimus, spürte diese Verbindung und kam ihn suchen, sobald bei seinem Schützling die magische Begabung zum ersten Mal zu Tage trat. Das geschah für gewöhnlich schon in den Kindertagen, irgendwann um die einsetzende Pubertät herum. Bei Ruppert lag das ebenfalls schon 11 Jahre zurück. Dumm war nur, daß sein Genius Intimus nie aufgetaucht war. Sein Vater hatte Ruppert sogar zu einem anderen Hellseher geschleppt, um das silberne Band zurückverfolgen zu lassen und den Schutzgeist selber zu suchen. Aber Rupperts silbernes Band war gekappt gewesen. Es gab schlicht und ergreifend keinen Genius Intimus, der mit Ruppert verbunden gewesen wäre. Daraufhin hatte sein Vater einen ungebundenen Genius als Bodyguard angeheuert, der den eigentlichen Schutzgeist ersetzen und auf Ruppert aufpassen sollte. Als 'Babysitter', wie Ruppert es immer verächtlich nannte. Genug Geld dafür hatte Edelig Senior als Bankenbesitzer ja glücklicherweise. Nur war Ruppert alles andere als froh darüber. Er empfand seine 'Babysitter' nicht als Beschützer oder Freunde, die da waren, um ihm zu helfen, sondern als pure Überwachung, als Bevormundung und Einschränkung seiner Freiheiten.

Soviel Edd wusste, war er bereits der dritte Genius, der als 'Babysitter' für diesen garstigen Rotschopf eingestellt worden war. Die beiden vor ihm hatten die Segel gestrichen, weil sie es nicht mehr ausgehalten hatten, wie grob und verächtlich Ruppert mit ihnen umgegangen war. Aber Edd hatte ein dickes Fell, er ließ sich nicht so leicht ins Boxhorn jagen. Da er auch ein paar Jahre älter als sein herablassender Schützling war, konnte er den ganz gut im Zaum halten. Und die Bezahlung war gut. Weniger in Zahlungsmittel-Währungen, sondern vielmehr in puren Goldklumpen und -barren. Greifen liebten Gold. Sie galten schon seit jeher als die Hüter und Wächter von Goldmienen und dergleichen und kleideten sogar ihre Nester mit Gold aus. Einen Greifen konnte man immer mit Gold ködern. Aber ob er sich diesen Job jetzt wirklich für den Rest seines Lebens antun wollte, wusste Edd trotzdem noch nicht so genau. Solche Situationen wie diese hier ließen ihn immer arg daran zweifeln. Das Leben als ungebundener Genius war doch irgendwie angenehmer, schon weil man da nicht 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche im Dienst war. Die meisten Genii, also Fabelwesen, waren ungebunden. Nur wenige hatten ein menschliches Gegenstück, mit dem sie verbunden waren.
 

„Tja ...“, meinte Edd vorsichtig, nachdem er die e-mail zu Ende gelesen hatte, und richtete sich wieder in eine gerade Körperhaltung auf. Aufrecht stehend war er noch ein paar Zentrimeter größer als Ruppert selbst. Er hatte lange, dunkle Dreadlocks, die er nach hinten zu einem Zopf band, und einen Kinnbart entlang des gesamten Unterkiefers. Zusammen mit den feinen Business-Anzügen, die im Bankgeschäft eben üblich waren, bot das eine äußerst interessante Mischung. „Schade, daß das Mädchen ein Problem damit hat“, kommentierte er.

„Das ist DEINE Schuld!“, pflaumte Ruppert ihn an, inzwischen schon damit beschäftigt, seine Klamotten mit Wut selber zusammen zu legen.

„Jetzt übertreibst du.“

„Ist es zuviel verlangt, ein normales Leben führen zu wollen? Ich will doch nichts weiter als eine Frau heiraten, vielleicht Kinder haben, und einem ganz normalen Job nachzugehen! Wie jeder normale Mensch!“

„Du bist aber kein normaler Mensch, Ruppert. Du bist ein Magi. Du bist zu was Höherem geboren. Damit wirst du dich abfinden müssen.“

„Das will ich aber nicht!“, motzte Ruppert. „Ich will normal sein! Du zerstörst mir mein ganzes Leben! Und da wundern sich immer alle, warum ich was gegen Genii habe.“

Edd musste sich beherrschen, um nichts Falsches zu sagen. Diese Ansage war jetzt alles andere als erwachsen gewesen. Von einem inzwischen 23-Jährigen hatte Edd sich irgendwie mehr Verstand erhofft. Er konnte doch nicht die ganze Welt dafür verantwortlich machen, daß seine Angebeteten ihm immer absprangen. Überhaupt, was konnten denn all die Genii da draußen dafür, daß er eine magische Begabung hatte? „Hast du schonmal darüber nachgedacht, dich nach einem Mädchen umzusehen, das auch magisch begabt ist und selbst eine Genia Intima hat? Die würde mit so einer Form des Familienlebens sicher besser klarkommen.“

„Wenn du mir sagst, wo ich eine finde!?“, trotzte der Student schlecht gelaunt herum.

Also, DABEI hätte Edd ihm helfen können. Wenn Ruppert sich mal für einen magischen Studiengang entschieden hätte und auf einen Magister Magicae studiert hätte, statt sich auf Bankwesen zu stürzen, hätte er auch andere magisch Begabte in seinem Alter kennen gelernt. Jungen wie Mädchen. Aber das sagte er nicht laut, sonst flippte der miesepetrige junge Mann ihm noch komplett aus. „Los, lass uns in die Kneipe gehen und einen trinken, damit du wieder runter kommst“, schlug er stattdessen stoisch vor.

„Nichts dagegen. Mich zu besaufen klingt gerade nach einem super Plan. Du bezahlst! Du bist ja schließlich an allem Schuld!“

„Meinetwegen ...“, seufzte Edd augenrollend.
 

Edd spazierte schon seit einer ganzen Weile schweigend neben seinem Schützling her und beobachtete ihn unauffällig von der Seite. Der Weg zur Bar zog sich etwas. Ruppert hatte eine verschlossene, introvertierte Miene und brütete dumpf vor sich hin. Man musste ihn beinahe am Ärmel festhalten, damit er nicht blind vor ein fahrendes Auto lief, so gedankenversunken war er. „Rob?“

„Hm“, machte der nur, auch wenn er die Kurzform 'Rob' statt 'Ruppert' nicht mochte. Ein Zeichen dafür, wie nieder er wirklich war. Ihn 'Rob' zu nennen, war für gewöhnlich ein garantierter Zünder, um ihn hochgehen zu lassen wie eine Stange Dynamit. Aber jetzt sah er auch weiterhin nicht auf.

„Verrätst du mir etwas?“

„Hm.“

„Was hast du wirklich gegen Genii?“

Ruppert fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. „Du hast die e-mail doch vorhin gelesen, oder etwa nicht?“, grummelte er müde.

„Aber das kann doch nicht alles sein. Ja, immer einen Genius Intimus bei sich haben zu müssen, macht Rendezvous nicht gerade einfach. Und ich sehe ein, daß du trotzig bist und dich ärgerst, wenn du eine Abfuhr kriegst. Aber das ist doch kein Grund, alle Genii der Welt so zu verteufeln. Zumal es so viele verschiedene Arten von ihnen gibt. Du hasst Genii. Und dieser Hass sitzt bei dir tiefer. Da steckt mehr dahinter. Ich würde einfach gern verstehen, was es ist. Hat dir mal irgendein Genius was angetan?“

Helfer

[Moskau, Russland]
 

„Wie, Sie haben keine Arbeit?“

„NOCH nicht“, betonte Waleri. „Ich bin vor ein paar Tagen erst wieder in Russland angekommen. Ich werde mir natürlich eine Arbeit suchen. Aber das geht schlecht, solange ich keine feste Wohnanschrift habe.“

„Wenn Sie kein geregeltes Einkommen haben, werden Sie hier kein Mieter!“

„Aber ich habe doch Geld!“, diskutierte er weiter. „Ich bezahle die ersten drei Mieten im Voraus. Wo ist denn das Problem?“

„Für Mietnomaden ist hier kein Platz!“ Mit diesen Worten wurde ihm die Tür vor der Nase zugeklappt. Wie schon mehrere vorher.

Waleri saugte sich mit Luft voll und ließ diese dann betont langsam wieder entweichen, damit er sich jetzt nicht aufregte. Er hatte schon aufgehört, seine Absagen mitzuzählen. Es war zum Verzweifeln. Hatte man in Moskau keine Arbeit, bekam man keine Wohnung. Und hatte man keine Wohnung, bekam man keine Arbeit. Ein Teufelskreis. Vielleicht sollte er doch von der Hauptstadt erstmal Abstand nehmen und es weiter draußen auf dem Land versuchen. Dort war es bestimmt einfacher, Fuß zu fassen. Der Glatzkopf schob die Hände in die Jackentaschen und spazierte davon. Wo sollte er es als nächstes versuchen? Es war gerade erst kurz nach dem Mittag, der Tag war noch jung. Und auch wenn er jetzt schon keine Lust mehr hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als weiter nach Wohnung und Arbeit zu suchen. Er konnte nicht sehr lange in der Pension wohnen bleiben, in der er sich vorläufig einquartiert hatte, sonst würden seine finanziellen Rücklagen verschwinden wie in einem schwarzen Loch.

Er war kaum ein paar hundert Meter die Straße hinunter gewandert, da brachte ein seltsames Gefühl ihn jäh zum Stehen. Seine rechte Hand ruckte reflexartig zum Magen, obwohl er eigentlich gar nicht so genau einordnen konnte, wo dieses Gefühl wirklich saß. Ein heiß-kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Und eine erleuchtungsartige Erkenntnis verdrängte für einen Moment sämtliche andere Gedanken aus seinem Kopf. Es war ein wenig vergleichbar mit dem Moment, wenn man sich aus heiterem Himmel an etwas furchtbar Wichtiges erinnerte, das man vergessen hatte, zusammen mit dem Wissen, daß man deshalb jetzt richtig am Allerwertesten war.

Waleri brauchte ein paar Atemzüge, um diesen überraschenden Anfall von Eingebung zu verarbeiten und sich überlegend in der Straße umzusehen, dann änderte er seine Richtung. Die Wohnungssuche musste warten. Er hatte jetzt erstmal einem stärkeren Ruf zu folgen, den er selbst noch nicht ganz einschätzen konnte.
 

„He, Hexe, wohin so eilig?“, feixten die vier Schüler, die Mischka an diesem Nachmittag am Schultor abfingen.

Der Junge atmete genervt durch. Er hasste es, wenn die ihn 'Hexe' nannte. Er war ein Magier, und keine Hexe. Dummerweise hatte er die Sache mit der festgebannten Kaffeetasse zu Hause einmal hinbekommen, und danach nie wieder. Er konnte sein Talent noch nicht kontrollieren. Darum glaubte ihm keiner. Seine Klassenkameraden waren bis heute der Meinung, er hätte Igor tatsächlich konventionell krankenhausreif geschlagen, und taten die Sache mit der Magie als Ausrede ab. „Was wollt ihr?“, presste Mischka mürrisch hervor. Er überlegte schon, wie er die möglichst unkompliziert und ohne Aufsehen loswerden konnte. Leider musste er sich still verhalten. Wenn er noch einmal bei einer Rangelei erwischt wurde – völlig egal worum es dabei ging oder wer angefangen hatte – flog er definitiv von der Schule.

„Du hast lange niemanden mehr verhext!“, spottete einer der Mitschüler weiter. „Ist dir der Feenstaub ausgegangen?“

„Halt die Klappe, sonst schlag ich dir deine Nase auch noch ein! Und zwar ganz ohne Magie!“, konterte Mischka sauer und spürte, wie das hier schon wieder in eine handfeste Auseinandersetzung abdriftete. Wieso nur ließ man ihm nie eine Wahl? Er wollte sich ja gar nicht prügeln, aber es wurde ihm förmlich aufgezwungen. „Lasst mich jetzt durch! Ich will gehen!“, verlangte er, in der Hoffnung, diese Situation irgendwie gewaltfrei verlassen zu können.

Aber die vier Jungen, die sich durch ihre Überzahl durchaus sicher fühlten, dachten gar nicht daran, ihm den Weg frei zu geben. Stattdessen zog einer die Jacke weg, die als Sichtschutz über einem bisher undefinierbaren Gegenstand gehangen hatte, und brachte darunter einen Feuerlöscher zum Vorschein. Den hatten die vier wahrscheinlich irgendwo aus dem Schulgebäude entwendet. „Versuch uns doch zu verdreschen, du Großmaul! Mit Magie oder ohne, wir sind vorbereitet!“

„Genau! Du hast ja bloß die große Fresse, das ist alles!“

Ehe Mischka reagieren konnte, war der Sicherungs-Ring gezogen, der Auslöser gedrückt und ein harter, fauchender Pulverschaum-Strahl riss ihn von den Füßen. Er wurde aufs gründlichste mit dem Löschmittel eingeseift und konnte sich nur machtlos spuckend und hustend am Boden wälzen. Bis er irgendwann merkte, daß das Zeug in seinem Gesicht gar nicht ankam. Er hatte instinktiv eine Barriere aus Bann-Magie vor seinem Kopf erzeugt. Aber so wie Mischka sich des Schutzschildes bewusst wurde, verpuffte dieser wieder. Willentlich mit seinem neuen, magischen Talent arbeiten konnte er nämlich noch lange nicht. Zum Glück hatte der Feuerlöscher seinen Inhalt in diesem Moment auch schon entleert und hörte auf, immer mehr weißes Löschmittel zu speien, so daß sich ein Schutz dagegen nicht mehr erforderlich machte.
 

Waleri stand auf der anderen Straßenseite, mit der Schulter an einen Baum gelehnt, die Arme verschränkt, und verfolgte das Spektakel kopfschüttelnd. In ihm spulten eine ganze Reihe von Fragen und Gedanken herunter. Gar kein Zweifel, der blonde Junge, der da gerade eingeseift worden war, war sein Schützling. Waleri hatte kein Problem damit, ein Genius Intimus zu sein, aber wieso jetzt noch? Für gewöhnlich fanden sich Schützling und Schutzgeist schon im Kindesalter. Und wieso war sein Schützling so entsetzlich jung? Normalerweise waren Magi und ihre Schutzgeister doch immer ziemlich gleichalt. Waleri war 31, während der Knabe da bestenfalls 12 oder 13 sein konnte. Okay, auch das allein wäre jetzt kein Beinbruch gewesen. Aber als sein Genius Intimus musste er ständig an der Seite des Jungen bleiben und ihn überall hin begleiten. Musste er jetzt ernsthaft wieder in die 6. oder 7. Klasse gehen? Das war ja furchtbar!
 

„Na, Hexe? Was sagst du jetzt!?“, lachten die vier Jungen gehässig.

„Ihr Schweine!!!“ Mischka sprang auf, musste kurz auf dem glitschigen Löschschaum Halt finden, und wollte sich sofort auf den erstbesten Mitschüler stürzen, den er zu fassen bekam, um ihn ordentlich durchzuprügeln.

„Das reicht jetzt, Kinder!“, ging eine tiefe Bass-Stimme dazwischen und Mischka und sein Gegner wurden am Kragen gepackt und auseinander gezogen.

Ein entrüstetes „Fuck“. Drei der Jungen rannten sofort schreiend davon. Der vierte, der nicht weg konnte, weil er noch im Genick festgehalten wurde, gaffte Waleri einfach nur wie erstarrt an. Der sah aus, als könnte er Eisenstangen mit bloßen Händen verbiegen und mit seinem mächtigen Unterkiefer Konservendose kauen. Die riesige, bullige, breitschultige Statur, der wuchtige, kahlrasierte Kopf mit den harten, kantigen Gesichtszügen, die muskelbepackten Bodybuilder-Arme, bis zu den Schultern hinauf lückenlos zutätowiert, ... er bot aber auch wirklich eine furchteinflößende Erscheinung. Insbesondere, da er ganz bewusst noch seine Jacke ausgezogen hatte, bevor er dazwischen gegangen war, um mehr Eindruck zu schinden. Wenn er in seinen langen Jahren als Boxer im Ring eines gelernt hatte, dann das: Psychologie war wichtig.

Mischka brachte eher ein „Wouw“ heraus und bestaunte Waleri mit wesentlich mehr Faszination und Begeisterung, nicht mit Angst. Er wusste auf den ersten Blick tief in sich drin, daß ihn irgendwas mit diesem Mann verband.

„Du suchst dir jetzt den ersten Lehrer, den du finden kannst, und sagst ihm, wo du den Feuerlöscher her hast, verstanden?“, raunzte Waleri den letzten der vier Unruhestifter finster an.

Der Junge beeilte sich, eingeschüchtert zu nicken.

„Und was auch immer dieser Aufriss sollte, du entschuldigst dich jetzt bei dem Kollegen hier! Vier gegen einen, sowas geht ja mal überhaupt nicht an!“

„Äh-es ... es tut mir leid, Mischka! ... Kommt ... kommt nicht wieder vor!“

„Will ich dir auch geraten haben! Nun zieh schon Leine!“ Waleri drehte den Schüler am Kragen um und gab ihm einen groben Schubs, damit er sich in Bewegung setzte.

Der Klassenkamerad sah auch eiligst zu, daß er Land gewann.

Mischka schmunzelte in sich hinein. „Wouw. Ich glaube, Sie haben mir gerade gehörig den Schwanz gerettet, Mister.“

„Dafür bin ich doch da. Ab jetzt werde ich immer auf dich aufpassen, Partner. Ich bin übrigens Waleri. Waleri Konjonkow. Und mit wem habe ich die Ehre?“

„Mischka Bogatyrjow.“

Der glatzköpfige Hüne nickte verstehend und zündete sich erstmal eine Zigarette an. Die brauchte er gerade echt dringend für seine armen Nerven. „Du bist´n Magi, was?“, hakte er nach. Dabei griff er nach dem leeren, herumliegenden Feuerlöscher und schaute nach, was da für Zeug drin gewesen war. Manche Löschmittel sollte man besser nicht einatmen, oder sollte zumindest einen Arzt aufsuchen, wenn man zuviel davon eingeatmet hatte. Und der Junge war immerhin ziemlich gründlich damit geduscht worden.

„Ja. Das hat sich vor ein paar Tagen rausgestellt. Und Sie sind wohl mein Schutzgeist, oder? Jedenfalls fühlt es sich irgendwie danach an.“

„Oh bitte, Großer, du kannst 'du' zu mir sagen“, grinste Waleri, nahm noch einen Zug von seiner Kippe und stellte den Feuerlöscher wieder beiseite.

Mischka ging im Geiste nochmal das Wenige durch, was sein Klassenlehrer ihm bisher über magisch Begabte und Genii erzählt hatte, während er sich den fremden und doch so seltsam vertrauten Mann genauer anschaute. Obwohl er aussah wie ein Rüpel, hatte Mischka keinerlei Skepsis. Im Gegenteil, er fand den Kerl sogar sympathisch. „Ich dachte, mein Schutzgeist würde in meinem Alter sein. Du bist ganz schön ...“

„Pass auf, was du sagst, Kumpel! Nenn mich ja nicht 'alt'.“

„Nein-nein, 'erwachsen' wollte ich sagen!“

Waleri nickte zustimmend. „Tja, normalerweise. Aber es gab schon immer vereinzelte Fälle, in denen es nicht so war. Wer weiß, woran das liegt. Es wird wohl seine Gründe haben. Na komm, ich bring dich besser nach Hause“, schlug er vor und hielt Mischka die Hand hin. „Du solltest dir das Löschpulver abwaschen und dir saubere Sachen anziehen.“

Reisender

[Verona, Italien]
 

„Hey, ich bin wieder zu Hause.“

„Hi ...“, murmelte Francesca betrübt.

„Na, das nenne ich mal eine herzliche Begrüßung“, scherzte ihr Mann. Er hängte seine Jacke weg, kam mit ins Wohnzimmer und pflanzte sich auf das Sofa. „Was ist los? War der Termin beim Kinder-Doc so schlimm? Wo ist der kleine Wanst überhaupt?“, wollte er schelmisch grinsend wissen, um sie etwas aufzuheitern.

„Urnue und Antreo spielen unten Fußball.“

„Und? Hat es schon Ergebnisse abgeworfen? Einen Verdacht wenigstens?“

Francesca schüttelte den Kopf. „Der Psychologe meint, Urnue ist nach erster Einschätzung völlig normal und es wäre alles in Ordnung mit ihm.“

„Das klingt doch schonmal toll.“

„Ja. Aber wir müssen rausfinden, warum er so zwanghaft in den Norden will.“

Der Vater ließ stöhnend den Kopf in den Nacken fallen. „Der und sein blöder Norden.“

„Das Problem ist nicht Urnue. Das Problem ist der Norden. Irgendwas muss dort oben sein, Giovann. Urnue scheint eine sensiblere Wahrnehmung für irgendwas zu haben, was wir nicht spüren.“

„Du meinst wie ein Zugvogel, der sich am Magnetfeld orientiert?“, wollte der etwas kurz geratene, pummelige Mann mit den zurückgekämmten Haaren wissen. Begeistert klang er nicht gerade.

„Wir müssen jedenfalls rausfinden, warum er so versessen darauf ist.“

„Was willst du denn tun? Ihn einfach gehen lassen?“

Francescas Miene wurde noch eine Spur betrübter. Sie konnte sich jetzt schon denken, wie wahnwitzig ihr Vorschlag klingen musste. „So ähnlich. Urnue wird doch demnächst 6. Ich habe zwar noch ein paar Zweifel, ob es das Richtige ist, aber lass uns ihm zu seinem 6. Geburtstag eine Reise schenken, ja? Rauf in den Norden. Dann hat er seinen Willen und wir werden sehen, was passiert. Anders lösen wir dieses Rätsel nie. Er wird uns sonst bis in alle Ewigkeit immer wieder weglaufen. Und irgendwann werden wir es nicht mehr schaffen, ihn aufzuhalten.“

„Du weißt, daß ich hier nicht weg kann. Nichtmal für eine Woche. Und ins Ausland schon gar nicht“, gab Giovann zu bedenken. „Ich habe wichtige Kunden zu betreuen. Mein Terminkalender ist voll bis ins nächste Jahr.“

„Ja, ich weiß. Ich würde ja auch allein mit ihm losfahren, das ist kein Thema.“

„Hast du denn eine Ahnung, wo es überhaupt hingehen soll?“

Francesca deutete ein Kopfschütteln an. „Wir haben eine Landkarte genommen und von Verona aus einen Strich in die Himmelsrichtung gezogen, die Urnue uns gezeigt hat. Das kann spannend werden. Die Route geht durch die Schweiz, einen Zipfel von Deutschland, durch Frankreich, Belgien, England, Nordirland ... vielleicht sogar bis Island oder sogar Grönland rauf, wenn ich Pech habe. Je nach dem, wie weit in den Norden er will.“

Ihr Mann blies überrumpelt die Wangen auf. „Das wird hart.“

„Ja. Und um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, daß wir in 2 Wochen wieder da sind. Außer wir bleiben schon in der Schweiz hängen.“

„Vielleicht sollten wir mal einen Hellseher fragen.“

„Dazu müssten wir ja erstmal wissen, wonach wir überhaupt suchen. Wir können nicht hingehen und sagen 'Guck doch mal, ob im Norden irgendwas ist!'. Ein paar hilfreichere Angaben wird der schon brauchen. Aber was mir viel mehr Kopfzerbrechen macht, ist, ob ich dich wirklich so lange mit Marilsa und Antreo alleine lassen soll. DAS würde hart werden. Für dich, meine ich.“

Ihr sonst eher fröhlicher Mann ließ den Blick nachdenklich nach unten sinken und überdachte das. „Möglich. Aber nicht so hart wie ein Jugendamt, das uns alle drei Kinder wegnimmt, weil unser 5-Jähriger ständig irgendwo herrenlos von der Polizei aufgegabelt wird und wir angeblich unserer Fürsorgepflicht nicht nachkommen“, entschied er. „Du hast Recht. Grundsätzlich ist das nicht die schlechteste Idee. Ich finde, du solltest gehen.“

„Meinst du?“

„Ja.“ Er legte ihr bestärkend einen Arm um die Schultern.

„Und du schaffst das auch wirklich?“

„Hey, ich bin nicht so unbeholfen wie du denkst!“, meinte ihr Mann gespielt beleidigt. „Und außerdem sind deine Eltern und meine Eltern ja auch noch da. Im Zweifelsfall teile ich die Gören auf sie auf, wenn sie nicht hören.“

Im Kinderzimmer wurden quiekende Rufe laut. Marilsa, ihre 2-Jährige, war also aus dem Nachmittagsschlaf erwacht und verlangte Aufmerksamkeit. Francesca quälte sich antriebslos vom Sofa hoch. So richtig überzeugt war sie noch nicht von ihrem Vorhaben und sicher würde das nicht das letzte Gespräch zum Thema gewesen sein, aber die Zustimmung ihres Mannes machte ihr zumindest etwas Mut.

„Schatz?“, rief Giovann ihr nach, bevor sie im Kinderzimmer verschwand. „Unter einer Bedingung!“

„Ja?“

„Ich will aus jedem Land, durch das du kommst, Ansichtskarten haben!“

Nun konnte sie ein Lächeln doch nicht mehr verhindern. Wenn das seine einzige Sorge war, dann war ja alles gut.
 

Vier Wochen später stieg Francesca auf einem Parkplatz in Frankreich aus dem Auto aus um sich die Beine zu vertreten. Es war jetzt der zweite Tag, an dem sie fast nonstop durchgefahren waren, nur unterbrochen, um zu essen oder zu schlafen. Das Benzin war hier ganz schön teuer, und sowas wie Maut oder Vignetten waren ein Kostenfaktor, den sie vorher nicht bedacht hatte. Sie hoffte, die Ersparnisse, die sie für diese Reise zusammengerafft hatte, würden überhaupt reichen.

Urnue stieg ebenfalls aus und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Immer nur nach vorn. Er schaute nie zurück. Francesca spürte, daß er ungeduldig war und am liebsten sofort weitergefahren wäre. Aber er war verständig genug, um einzusehen, daß seine Mutter vom Autofahren Pausen brauchte. Darum lächelte er nur und sagte nichts. Ihm war trotz seines jungen Alters bewusst, was für einen Aufwand es seinen Eltern machte, ihm so eine Reise zu ermöglichen, und wie viel guter Willen da mit drin steckte.

„Und? Wie sieht es aus?“, wollte seine Mutter wissen.

„Es wird stärker.“

„Was wird stärker?“

„Dieses Gefühl. Das Wissen, wo ich hin muss.“

„Es ist dir immer noch nicht weit genug im Norden, was?“, hakte sie etwas resigniert nach. Sie hatte wirklich gehofft, daß er langsam sagen würde, daß es reichte.

Aber Urnue schüttelte den Kopf. „Ich möchte weiter.“

„Ja, schon gut. Aber heute nicht mehr, Kind. Ich bin fix und fertig. Wir suchen uns eine hübsche Pension und übernachten hier, einverstanden?“
 

„Hey, Liebling. Schön, daß du anrufst. Wo seid ihr inzwischen?“, wollte ihr Mann fröhlich wissen, als Francesca ihn an diesem Abend vom Hotel aus anrief.

„Wir sind kurz vor Calais“, gab sie müde Auskunft.

„Himmel, da seid ihr aber schon weit gefahren. Und? Wie stehen die Dinge?“

„Urnue möchte weiter. Ich schätze, wir müssen mit der Fähre nach England rüber, und dann ... keine Ahnung ... mal schauen.“

„Du klingst frustriert. Ist alles in Ordnung?“

„Ich weiß nicht“, seufzte Francesca. „Langsam glaube ich, es war ein Fehler.“

„Hat sich denn noch gar nichts getan?“

„Doch, schon. Urnue sagte, dieses was-auch-immer-er-da-spürt würde stärker werden. Sieht so aus, als kämen wir unserem Ziel langsam näher.“

„Das heißt also, es GIBT ein Ziel. Das ist doch schon mehr als wir vorher wussten.“

„Aber ich habe Angst, was wir dort finden werden. Oder wo wir etwas finden werden. Die Reise war bis jetzt schon viel teurer als ich gehofft habe.“

„Ist dir das Geld ausgegangen?“, wollte Giovann D´Agou alarmiert wissen.

„Nein. Noch nicht. Aber ich muss ja jetzt schon daran denken, daß wir die ganze Strecke auch irgendwann wieder zurück müssen. Ich schätze, wenn wir nach der Hälfte des Geldes unser Ziel noch nicht gefunden haben, könnten wir Probleme kriegen, wieder nach Hause zu kommen. ... Aber ich kann ja zu Urnue jetzt nicht mehr sagen, daß wir umkehren. Dazu ist es jetzt zu spät.“

„Mach dir darum noch keine Sorgen. Konzentriert euch nur darauf, weshalb ihr unterwegs seid. ... Ist Urnue noch wach? Oder hast du ihn schon ins Bett gesteckt?“

„Nein, er ist noch munter“, meinte Francesca mit einem Lächeln in der Stimme.

„Dann gib ihn mir mal ans Telefon. Ich will die Stimme von meinem Sohn auch mal hören, und fragen wie es ihm geht!“

„Da musst du dich noch einen Moment gedulden. Er steht gerade unter der Dusche. Aber wenn er wieder rauskommt, geb ich ihn dir. Erzähl doch mal, was Antreo und Marilsa bei dir zu Hause machen! ... Obwohl, sag nichts! Ich höre es schon“, schmunzelte sie. Sie hörte das Geplärre und Gestreite der beiden ja schon die ganze Zeit durch den Hörer. Vom Lärmpegel her klang es, als würde Antreo seiner kleinen Schwester an den Haaren ziehen und sie ihn dafür mit der Sandschippe verhauen.

„Jaaa~“, seufzte der gemütliche Wiesel-Genius, den sonst nur wenig aus der Ruhe brachte, einsichtig. „Ich gebe zu, alleine mit den beiden Plagen ist es doch nicht so leicht wie ich vorher dachte. Marilsa vermisst ihre Mama, das merkt man.“

Gast

[Moskau, Russland]
 

Die klassischen, russischen Kollektiv-Wohnungen. Wie hatte Waleri sie in Japan vermisst. Er zwang sich beim Umschauen zum Optimismus. In diesem einen einzigen, großen Zimmer standen vier Betten, ein Sofa, zwei Sessel, ein Esstisch mit sechs Stühlen und eine Anbauwand mit einem kleinen Fernseher. Und in die Ecke war noch ein Bücherregal gequetscht worden. Die Anbauwand und der Großteil des zweckentfremdeten Regals waren der einzige Stauraum für sämtliche Habseligkeiten hier. Schon für vier Personen war das nicht gerade viel Platz. Und hier würden sie künftig also zu fünft leben. Das versprach ja heiter zu werden. Von dem Gemeinschaftsbad ganz zu schweigen, das sie sich mit 5 weiteren Haushalten teilen mussten. Daran wollte Waleri jetzt noch gar nicht denken. Stattdessen spielte er schonmal insgeheim durch, wie man hier noch ein fünftes Bett reinkriegen könnte. Er wollte ja nicht die nächsten 8 Jahre auf dem Sofa schlafen. Vielleicht sollten die mal Doppelstock-Betten in Erwägung ziehen. Die waren unglaublich platzsparend. Naja, zumindest schien seine Wohnungs- und Arbeitssuche damit jetzt geklärt zu sein. Ab sofort wohnte er also hier und war 24-Stunden-Kindermädchen. Es gab Schlimmeres, hoffte er einfach mal.

Als Mischka gewaschen und umgezogen wieder herein kam, stand Waleri gerade vor einem gerahmten Familienfoto, das über dem Sofa an der Wand hing. „Magst du was zu trinken haben, Waleri?“

'Ein gut erzogener Junge', dachte der Hüne und stimmte lächelnd zu. Dann deutete er auf das Foto. „Deine Eltern?“

„Ja. Und meine kleine Schwester Inessa.“

„Sind deine Eltern auch Magier?“

„Nein. In meiner Familie gab es bisher keine.“

Das konnte ja lustig werden. Mit einem unzufriedenen Gefühl schaute sich Waleri weiter das Foto an, bis Mischka ihm ein Glas Limonade in die Hand drückte und sich, ebenfalls ein eigenes Getränk in der Hand, auf das Sofa plumpsen ließ. Waleri setzte sich zu ihm und nippte an dem ekelig süßen Gebräu.

Mischka fuhr mit seinen dürren Spinnenfingern vorsichtig einige Linien auf Waleris Unterarm nach. „Das ist cool. Sowas will ich auch haben!“

„Dafür bist du noch entschieden zu jung.“

„Ist das aufgemalt?“

„Nein.“ Waleri grinste. „Die Farbe ist mit einer Nadel unter die Haut gestochen. Das geht auch nicht mehr ab.“

Mischka schaute ihn schockiert an. „Tut das weh?“

„Jaaa~“, urteilte er abwägend und legte den Kopf etwas schief. Das war schwer pauschal zu beantworten. Kam halt drauf an, wie empfindlich man war. Manche konnten Schmerzen besser ab als andere. „Bei sowas werden die Weich-Eier von den richtigen Männern getrennt.“

„Dann will ich das auch haben!“

„Wenn du groß bist, vielleicht. Und ohne die Erlaubnis deiner Eltern schonmal gar nicht.“

Der 12-Jährige nahm einen großen Schluck aus seinem Limo-Glas, sichtlich auf der Suche nach neuen Gesprächsthemen. „Was hast du denn bisher so gemacht?“

„Du meinst beruflich? Ich bin bisher Boxer gewesen.“

Mischka überdachte das skeptisch. „Ich hab dich doch aber noch gar nie im Fernsehen gesehen“, kommentierte er kindlich naiv und brachte Waleri zum Lachen.

„Vermutlich nicht. Ich bin die letzten Jahre in Japan gewesen. Und es werden ja auch nicht alle Box-Kämpfe im Fernsehen übertragen. Nur die, bei denen es um große Titel geht, weißt du?“

„Warst du schonmal Weltmeister?“

Waleri lachte noch lauter. Der Junge gab ihm Spaß. „Nein“, gestand er dann amüsiert.

„Dann musst du weiter trainieren!“

„Gerne. Wenn ich die Zeit dafür finde. Aber jetzt bin ich erstmal für dich da. Das ist wichtiger“, entschied er und wuschelte ihm die blonden Haare durch.

„Was bist du denn eigentlich für ein Genius?“, bohrte Mischka neugierig weiter.

Der Glatzkopf unterdrückte ein Seufzen. Seine Belustigung nahm wieder ab. So eine Labertasche war er sonst gar nicht. Er redete normalerweise nicht so viel. Auch wenn ihn das Interesse des Jungen freute, verging ihm langsam die Lust am Erzählen. Das war er gar nicht gewohnt, so viel quatschen zu müssen. „Ich bin ein Einhorn.“

Sein Schützling verzog angewidert das Gesicht. „Einhörner sind was für Mädchen!“

Waleri lachte schon wieder schallend auf. „Jetzt bin ich beleidigt!“, scherzte er. „Du hast eine falsche Vorstellung von mir. Ich bin doch kein weißes, glitzerndes Pony. Elasmotherium Sibiricum sind eigentlich Nashörner. Wir haben nur ein Horn, und das mitten auf der Stirn, deshalb werden wir im Volksmund Einhörner genannt. Aber wir sind total cool, das kannst du mir glauben.“

„Ehrlich?“, wollte Mischka zweifelnd wissen.

„Ich bin in meiner wahren Gestalt 2 Meter groß und über 4 Meter lang. Und mein Horn ist nochmal fast 2 Meter lang. Damit ramme ich alles aus dem Weg. Und wenn ich laufe, bebt der Boden. Ich bin ein Panzer auf Beinen, Partner! Mit mir legt sich garantiert keiner freiwillig an!“

„Coooooool~ Kannst du mir das zeigen?“

„Ach, hier drinnen besser nicht“, meinte Waleri bedauernd und nahm erstmal einen Schluck Limonade. „In diesem Zimmer ist sowieso schon kein Platz. Irgendwann mal, wenn wir in den Park gehen, oder so.“

„Darf ich auf dir reiten?“

„Jetzt reicht´s aber! Ich sagte, ich bin kein Pony! ... Mh, naja, nagut. Vielleicht trage ich dich mal. Nur so zum Spaß.“
 

Die Tür wurde mit dem Fuß vorsichtig aufgeschoben und darin erschien eine Frau mit mehreren, schweren Einkaufstüten, welche der Grund dafür waren, daß sie zum Öffnen der Tür keine Hand mehr frei hatte. „Hi, Mischka. Du bist aber früh zu H-...“ Das grüßende Lächeln fiel ihr aus dem Gesicht, als sie Waleri sah. „Mischka ... w-was bringst du für Leute mit nach Hause?“, wollte sie irritiert wissen, ohne beurteilen zu können, was sie von dem riesigen, gefährlich aussehenden Schlägertypen auf ihrem Sofa halten sollte.

Waleri stand höflicherweise vom Sofa auf und ging ihr entgegen. „Hallo, Sie sind wohl Mischkas Mutter. Wenn ich mich vorstellen darf ...“

Schnell warf sie ihre Einkäufe auf den Tisch. Dabei wirkte es eher, als hätte sie Angst, sich verteidigen zu müssen, und nicht als wolle sie ein Hand frei haben, um seinen Handschlag zu erwidern.

„Ich bin Waleri. Ihr Sohn ist ein magisch Begabter und wie Sie sicher wissen, haben die immer einen Genius Intimus. Genau das bin ich und ...“

„MEIN Sohn ist KEIN Magier!“, schrie sie explosiv. Bei diesem Thema ging sie hoch wie ein Pulverfass. „Er hat nur eine blühende Fantasie! Er HAT KEINEN Schutzgeist! Er ist kein Freak!“

„Meine Fresse, kein Grund so ...“

„Und Sie scheren sich jetzt sofort aus meinem Haus raus!“, zeterte sie, ohne ihm zuzuhören, und begann hysterisch mit der Handtasche auf ihn einzudreschen. Sie traf Waleri dreimal an der Schulter, erreichte damit aber nur, daß er schallend lachte und theatralisch den Kopf mit den Armen schützte. Es war unübersehbar, daß sie ihm nicht wehtun konnte. Natürlich nicht. Als Boxer war er ganz andere Prügel gewohnt.

Der kleine, weiß-braune Pinscher von Frau Beloussov kam zur offenstehenden Tür herein gesprintet, sprang an ihr hoch und verbiss sich knurrend in ihrem Jackensaum, als wolle er dazwischen gehen. Allerdings hing das arme Tierchen nur machtlos in der Luft und baumelte bei jeder Bewegung haltlos herum.

Waleri griff irgendwann lachend nach der Handtasche, die schon ein gutes Dutzend Mal auf ihn herunter gedonnert war, und nahm ihr das Ding einfach weg. „Komm, lass gut sein“, bat er kichernd.

Dem Hündchen waren inzwischen auch Frau Beloussov selbst und ein weiterer Mieter aus einem anderen Zimmer gefolgt, angelockt von dem Tumult. „Oksana, beruhige dich doch, um Himmels Willen!“, verlangte die Alte.

„Mein Sohn ist kein Freak!“, schrie sie, inzwischen mit Tränen in den Augen.

„Nein, ist er nicht! Er ist kein Freak, sondern ein Magier! Und du kannst seinen Genius Intimus nicht wieder rausschmeißen, egal ob dir das passt oder nicht! ... Pipp, aus!“, befahl Frau Beloussov ihrem Hündchen, das nach wie vor hinten am Jackensaum von Mischkas Mutter baumelte. Der kleine Pinscher tropfte auch gehorsam zu Boden und trabte zu seiner Besitzerin zurück.

Waleri stand immer noch mit der Damen-Handtasche mitten im Zimmer und hielt sich den Bauch vor Lachen. Diese Familie war einfach zu witzig. Sowohl der kleine Naseweis als auch seine Mutter waren zum Brüllen komisch.

„Sie werden nicht hier bleiben!“, stellte Oksana klar und zeigte dabei mit dem Zeigefinger drohend auf Waleris Nase.

Der Muskelprotz versuchte seinen Lachanfall wieder in den Griff zu kriegen. Dieses Gespräch musste dringend etwas ernster ablaufen. „Doch, werde ich, so leid es mir tut. Ich bin ja selber etwas überrumpelt von der ganzen Sache, gebe ich zu. In meinem Alter noch einen Schützling zu kriegen, damit habe ich selber nicht gerechnet. Aber es ist nun einmal so. Wir müssen alle das Beste daraus machen.“

„Müssen wir nicht!“, blaffte Mischkas Mutter. „Ich weiß nicht, wer Sie sind, oder was Sie meinem Sohn für einen Unsinn eingeredet haben, damit er Sie in meine Wohnung rein lässt, aber Sie verschwinden jetzt auf der Stelle! Raus hier, oder ich rufe die Polizei!“

„Ich bin mit Mischka über ein silbernes Band verbunden. Ich bleibe! ... Die Alternative wird Ihnen nicht gefallen, Oksana.“

„Für Sie immer noch Frau Bogatyrjow!“

Die alte Frau bückte sich schwerfällig, um ihren Hund auf den Arm zu nehmen. „Ich verstehe wirklich nicht, warum du so überreagierst.“

„Wieso!?, heulte Mischkas Mutter daraufhin endgültig los. „Wieso muss mein Junge ausgerechnet eine Teufelsbrut sein? Das ist nicht natürlich! Kann man das nicht behandeln? Oder austreiben, oder sowas? ... Jetzt lockt uns seine dämonische Aura schon solche Gestalten hier ins Haus!“, jammerte sie mit Deut auf Waleri. Dieses schon seit Tagen im Raum stehende Thema, daß ihr Mischka eventuell ein Magi sein könnte, hatte ihre Nerven längst gründlich blank gelegt. Sicher hätte sie unter normalen Umständen weniger verletzende Worte gefunden, aber im Moment agierte sie einfach nur mit einer durchgebrannten Sicherung, nachdem sie gerade mehr und mehr einsehen musste, daß Leugnen zwecklos war.

Waleri nickte überlegen. Er war schon ein wenig froh, seinen Schützling erst jetzt gefunden zu haben. Er hätte nicht gewusst, wie er sich in dieser Situation hätte durchsetzen sollen, wenn er selber erst ein Stöpsel von 12 Jahren gewesen wäre. Der Glatzkopf stellte die einkassierte Handtasche neben die Einkaufstüten und verschränkte selbstbewusst seine mächtigen Arme. Er verkniff sich das amüsierte Feixen, das ihm von der dilettantischen Tracht Prügel immer noch in den Mundwinkeln zuckte. Er wollte nicht überheblich wirken. „Ich soll gehen? Schön. Geben Sie mir den Jungen mit und ich werde gehen.“

„SIE SPINNEN WOHL!?“

„Ich sagte ja, die Alternative würde Ihnen nicht gefallen. Ihre Entscheidung, Oksana. Wenn Sie mir den Jungen nicht geben wollen, gehe ich nirgendwo hin.“

Fremder

[London, England]
 

„Du hasst Genii. Und dieser Hass sitzt bei dir tiefer. Da steckt mehr dahinter. Ich würde einfach gern verstehen, was es ist. Hat dir mal irgendein Genius was angetan?“, wollte Edd überaus sachlich wissen. Dieses Thema musste doch verdammt nochmal auf erwachsenem Niveau zu klären sein. Ruppert konnte sich nicht ewig wie ein kleines Kind benehmen, wenn er mit Genii zu tun hatte.

Der Student hielt nach dem Eingangsschild der Bar Ausschau, die langsam in Sichtweite kam, und überlegte, ob er das jetzt wirklich beantworten musste. Allerdings waren sowohl die Bar als auch die Antwort gleichermaßen wie weggeblasen, als er aus heiterem Himmel angesprungen wurde und sich zwei Arme fest um seinen Bauch schlangen. Ruppert keuchte erschrocken und versuchte der Situation wieder Herr zu werden.

„Finalmente! Ti ho trovato!“ [Endlich! Ich habe dich gefunden!], jubelte der schwarzhaarige Junge, der plötzlich an ihm klammerte. „Ti ho cercato per anni.“ [Ich hab dich jahrelang gesucht!]

„Ääääh ... wa-was!? ... Was wird das denn jetzt? ... Edd, könntest du mal!?“, stammelte Ruppert hilflos, wagte sich in der Umklammerung des Kindergartenkindes kaum zu bewegen, und hielt die Arme in die Luft, als wolle er den Jungen bloß nicht berühren müssen.

„Oh“, war das einzige, was dem Genius dazu einfiel. Statt Ruppert aus dem Griff des Jungen zu befreien, schaute er sich suchend in der Umgebung um. Der musste ja schließlich irgendwo hin gehören. So kleine Kinder rannten für gewöhnlich nicht mutterseelenallein in der Gegend rum. Tatsächlich fand er einige Schritte entfernt auch eine italienische Frau, die genauso schockiert und wie angewurzelt herumstand, eine Hand vor den Mund gelegt hatte, und nur überfordert auf Ruppert und das Kind starren konnte.

„Edd! Jetzt tu doch was, Himmel nochmal!“, fluchte Ruppert.

Der Genius mit den langen, zurückgebundenen Dreadlocks wandte den Blick wieder auf seinen Schützling und den kleinen, italienischen Jungen, der an ihm hing. „Tja ... also wenn ich raten müsste, würde ich sagen, du hast jetzt einen Genius Intimus“, meinte er, selbst etwas verwundert darüber.

„Bitte!? Das da?“ Der Bankers-Sohn hatte immer noch die Arme ablehnend in die Luft erhoben, um mit nichts in Berührung zu kommen.

Edd nickte bekräftigend.

„Wie alt ist der denn?“

„Jünger als du, das ist sicher. Das erklärt, warum ihr euch nicht eher gefunden habt.“

Die Mutter des Jungen hatte ihre Fassungslosigkeit indess endlich überwunden und kam zögerlich näher. „Ciao, signori“, grüßte sie verunsichert auf Italienisch. „Sie ... ähm ... mein Englisch nicht gut.“, gab sie zu.

„Na, wenigstens sprechen Sie überhaupt Englisch! Könnten Sie mal dieses Kind hier weg nehmen?“, maulte der Student aufgekratzt.

„Ruppert, benimm dich!“, verlangte Edd, bevor er sich wieder der Italienerin zuwandte und ein freundliches Lächeln aufsetzte. „Hallo. Mein Name ist Edd. Ist das ihr Sohn?“

Francesca nickte, stellte sich ebenfalls vor und entschuldigte sich für das Verhalten ihres Kindes, welches sie an den Schultern von Ruppert weg zog.

„Der Kleine ist ein Genius Intimus?“, fasste Edd seine Beobachtungen in Worte.

„Ich wusste nicht. Urnue hat etwas gesucht ... darum wir in England ... aber ...“

„Kommen Sie, lassen Sie uns in die Bar dort gehen“, schlug der Genius vor. „Ich schätze, wir haben zu reden.“

„Reden, ja. Reden gut“, murmelte Francesca überfordert und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Damit, daß ihr Urnue ein gebundener Schutzgeist war, hatte sie zu allerletzt gerechnet.

„Edd!“, raunte Ruppert ihm leise zu, in der Hoffnung, ihn noch umzustimmen. „Das KANN nicht mein Schutzgeist sein! Der ist viel zu jung! Wie alt ist der? Fünf?“

Der Greif marschierte forschen Schrittes in die Bar hinein und sah sich um, ohne Ruppert weiter zu beachten. „Hallo!“, rief er laut in den Schankraum. „Gibt es hier irgendjemanden, der Italienisch spricht oder mentale Verbindungen auf der Astralebene sehen kann?“

Einen Moment herrschte Stille in der gesamten Bar.

Ruppert rollte mit den Augen. „Du bist peinlich, Edd“, maulte er, unangenehm berührt davon, daß alle Blicke auf ihnen lagen.

Nach einigen Sekunden meldete sich doch noch ein Mann am hintersten Tisch. „Hier, ich. Silberne Fäden sehe ich zwar nicht, aber als Elementar-Magier kenne ich ein paar andere Testverfahren, um sowas nachzuweisen.“
 

Es klingelte fünfmal in der Leitung, sechsmal. Francesca überlegte schon fast, wieder aufzulegen, weil wohl offensichtlich keiner da war. Dann wurde der Hörer wider Erwarten doch noch abgehoben. Zunächst meldete sich erstmal nur markerschütterndes Kindergebrüll und ein restlos entnervtes „Marilsa, nimm deine Finger aus dem Essen! Du sollst nicht ... Antreo, jetzt hilf deiner Schwester doch endlich mal!“, das in den Raum gerufen wurde. Dann ein hinnehmendes Seufzen. Endlich verschwand das hohle Echo aus der Leitung, als der Hörer ans Ohr genommen wurde. „Familie D´Agou, hallo?“

„Hallo, Giovann, ich bin´s“, grüßte Francesca geknickt.

„Schatz!“, machte er überrascht. „Wo bist du gerade? Ich hab noch gar nicht- Kinder, jetzt seid doch mal etwas leiser! Papa versteht sein eigenes Wort nicht!“, rief er ins Zimmer. Tatsächlich nahm der Krach im Hintergrund daraufhin auch kurz ab.

Unter normalen Umständen hätte Francesca darüber gelacht. Aber ihr war gerade überhaupt nicht nach Lachen zu Mute. „London“, würgte sie nur erstickt hervor.

„Schatz, weinst du!? Ist was passiert?“

„Urnue ist ...“

„Was! Was ist mit ihm!?“, hakte ihr Mann erschrocken nach, als sie nicht weitersprach.

Sie schluckte schwer. „Er hat einen Schützling. Urnue ist ein gebundener Schutzgeist.“

Einen Moment herrschte Schweigen in der Leitung. „Oooookaaay!?“, brachte Giovann irgendwann gedehnt hervor. „Den hat er also die ganze Zeit gesucht, immer wenn er in den Norden wollte?“

„Der Schützling ist schon 23. Seine magische Begabung ist schon vor 12 Jahren erwacht, lange bevor Urnue überhaupt geboren war.“

„Das ist ungewöhnlich.“

Francesca musste sich wieder einem kurzen Heulkrampf hingeben, bevor sie weiterreden konnte. „Ich ... ich bin gerade im Haus der Familie. Das sind Banker, soweit ich das verstanden habe. Jedenfalls haben sie eine große Villa. Ich darf hier mit Urnue erstmal im Gästezimmer wohnen, bis wir alles geregelt haben. ... Aber ... Aber ...“

„Francesca, Liebling“, redete er sanft dazwischen, um sie zu beruhigen.

Sie schniefte. „Der Vater des Schützlings sagt, ich kann ein Jahr hier bleiben. Oder bis Urnue halt genug Englisch kann, um sich hier selber zu verständigen.“

Giovann schnappte nach Luft. „Wie bitte? Du kannst kein ganzes Jahr weg bleiben!“

„Das weiß ich selber!“, heulte sie aufgewühlt ins Telefon. Sie schrie fast. „Aber wenn ich wieder nach Hause komme, dann komme ich ohne Urnue wieder! VERSTEHST du das!?“

Invasor

[Moskau, Russland]
 

„Hallo, Mama! Ich ...“ Mischkas kleine Schwester blieb so angewurzelt in der Tür stehen wie ihre Begrüßung abbrach, als sie eine halbe Stunde später nach Hause kam. Sie starrte Waleri mit riesigen Augen an.

„Hallo, Kleines“, erwiderte diese verkniffen.

„Mama, wer ist das?“

„Beachte ihn einfach nicht.“

„He!“, brummte Waleri beleidigt. „Was heißt hier 'beachte ihn nicht'? Ich gehöre jetzt zur Familie, ja?“

„Darüber reden wir erst noch, wenn mein Mann da ist!“

Waleri winkte abtuend mit der Hand ab, sprang vom Sofa hoch und marschierte unter den todwünschenden Blicken ihrer Mutter zu dem dunkel gelockten Mädchen hinüber. Obwohl er beinahe damit gerechnet hätte, schritt Oksana nicht ein. Er ging vor dem Mädchen in die Hocke, um nicht mehr so viel größer zu sein als sie. Trotzdem wich sie befremdet einen Schritt zurück. „Hallo, du. Ich bin Waleri. Und du musst Inessa sein, hm? Mischka hat mir schon erzählt, daß er eine jüngere Schwester hat.“

„Du siehst aus wie ein Knasti!“, entfuhr es der Kleinen.

Waleri konnte sich ein entrüstetes 'Boar!' nicht verkneifen. Warum mussten Kinder immer so ehrlich sein?

„Inessa, du sollst Fremde nicht mit 'du' ansprechen!“, tadelte ihre Mutter.

Der breitschultrige Glatzkopf stand wieder auf. „Du hast mich vorhin mit der Handtasche verhauen, Oksana. Wir sind nun wirklich keine Fremden mehr.“

„Mama, wieso hast du den Mann denn mit der Handtasche verhauen? Hat er dir etwa was getan?“

Der Boxer warf Oksana Bogatyrjow einen drohenden Blick zu. Sie sollte jetzt bloß nichts Falsches sagen.

„Ich ... ich hab mich nur vor ihm erschreckt“, versicherte sie ihrer Tochter also. Was hätte sie auch anderes sagen sollen? Sie konnte ja nichtmal behaupten, daß dieser wildfremde Mann ihr was getan hätte. Hatte er ja wirklich nicht.

Waleri patschte dem Mädchen liebevoll mit der flachen Hand auf den Kopf.

Daraufhin lächelte Inessa vorsichtig. Auch wenn der Kerl auf den ersten Blick gefährlich aussah, schien man keine Angst vor ihm haben zu müssen, entschied sie in ihrem kindlichen Leichtsinn. „Wieso gehörst du denn jetzt zur Familie? Bist du mit uns verwandt?“

„Du und ich nicht, nein. Aber mit deinem Bruder Mischka bin ich sowas ähnliches wie verwandt.“

„Das ist eine Lüge!“, giftete ihre Mutter hysterisch dazwischen.

Er verschränkte herausfordernd die Arme. „Wenn du einer 11-Jährigen die Seelen-Verbindung zwischen einem Magi und einem Genius Intimus besser erklären kannst, dann nur zu, Oksana.“

„Hör auf, meinen Namen immer so komisch zu sagen, als würdest du dich über mich lustig machen! Ich hab dir noch nichtmal erlaubt, mich überhaupt mit dem Vornamen anzusprechen!“

Mischka selbst saß nur grinsend auf dem Sofa, folgte dem ganzen Theater wie einem Kinofilm und ließ Waleri einfach machen. Als Erwachsener würde der schon alles zu regeln wissen. Mischka sagte kein Wort zu all dem hier. Er fand es toll, wie durchsetzungsfähig der Glatzkopf war und wie souverän er seine Mutter in die Schranken weisen konnte. Ja, seine Eltern waren überhaupt nicht begeistert davon, daß Mischka ein magisch Begabter war. Und das verletzte Mischka durchaus. Schließlich konnte er ja nichts dafür. Er war ja nicht mit Absicht so geworden. Aber mit Waleris Hilfe wurde jetzt sicher alles gut. Waleri konnte seinen Eltern bestimmt klar machen, daß ... tja ... das alles eben!
 

„Mister Konjonkow?“

Ein unterschwelliges Schnarchen und das leise Kichern der anderen schwebten als Antwort durch den Raum.

„Mister Konjonkow!“, wiederholte die Lehrerin nochmal etwas strenger.

„Waleri“, raunte Mischka ihm zu und schubbste ihn unter der Schulbank mit dem Fuß an, um ihn zu wecken. Der Genius lag nämlich gerade vornüber gebeugt mit dem Kopf auf dem Tisch und pennte.

Grummelnd regte sich Waleri und schaute aus kleinen, verschlafenen Augen nach vorn Richtung Tafel. Gott, es war so furchtbar, wieder in die 6. Klasse gehen zu müssen! Das war eine Strafe!

„Mister Konjonkow! Es ist schön, wenn Sie das alles schon wissen und können. Aber seien Sie wenigstens den Kindern ein Vorbild!“, verlangte die Lehrerin.

Stöhnend streckte Waleri seinen Rücken durch, bevor er sich nach hinten gegen die Stuhllehne sacken ließ und die Arme verschränkte. Ein verdammter Mist, das alles hier. Das hatte er nicht verdient.

„Wollen Sie vielleicht an die Tafel kommen, und uns die Mathe-Aufgabe vorrechnen? Damit Sie wieder munter werden?“

„Dazu bin ich nicht hier“, brummte der Hüne in seiner finsteren Bass-Stimme. „Und solange ich den Unterricht nicht störe, kann es Ihnen auch egal sein, was ich mache.“

Mischka musste sich neben ihm das Kichern verkneifen.

Als die Lehrerin daraufhin endlich mit dem Unterricht fortfuhr, griff Waleri sich das Hausaufgabenheft des Jungen und schaute nach, was heute noch so auf dem Stundenplan stand. Es wurde nicht besser. Um genau zu sein, die ganze Woche nicht mehr. Außer am Donnerstag, wenn Sport angesagt war. Das war aber auch das einzige, worauf er sich freute. Er musste sich dringend eine Beschäftigung suchen, die er in die Schule mitbringen konnte. Aber was? Das Lesen von Büchern zählte jetzt nicht gerade zu seinen Hobbies. Er war eher der körperliche Typ. Dem Himmel sei Dank läutete in diesem Moment die Pausenglocke. Die elende Mathe-Stunde war vorbei. Jetzt kam erstmal die etwas größere Frühstückspause. Waleri atmete erleichtert auf. „Ich muss dringend eine rauchen, Partner. Ich geh mal raus.“

„Ist gut!“, stimmte Mischka fröhlich zu und wollte sich anderen Dingen zuwenden.

„Na, du musst schon mitkommen.“

„Ach, stimmt.“ Mischka hatte sich nach den 3 Wochen, die Waleri nun schon an seiner Seite war, immer noch nicht ganz daran gewöhnt, daß sie beide sich nicht trennen durften. Erst wenn Waleri sich zu weit entfernte, erinnerte ein ekelhaftes Gefühl in der Magengegend ihn wieder daran, daß irgendwas verdammt Wichtiges fehlte. Waleri war wirklich jede einzelne Minute da, wenigstens in Sicht- oder Rufweite. Gerade so, daß man mal alleine auf´s Klo gehen oder unter die Dusche springen konnte, mehr Privatsphäre gab es nicht.

„Hör mal ...“, meinte der Glatzkopf auf dem Weg durch das Treppenhaus. „Hast du eigentlich auch irgendwann mal Magie-Unterricht? Dein magisches Talent musst du doch auch trainieren und zu kontrollieren lernen.“

Mischka schüttelte traurig den Kopf. „Du hast doch gemerkt, was meine Eltern von meinem magischen Talent halten. Sie mögen das nicht. Ich soll meine Magie nicht einsetzen, weil das unnormal ist, haben sie gesagt.“

„Also erstens ist Magie nicht gleich unnormal, nur weil nicht jeder Mensch ein Magi ist! Und du kannst dir das auch nicht aussuchen. Die Magie bahnt sich ihren Weg. Wenn du nicht lernst, sie vernünftig zu beherrschen, wirst du sicher Unfälle verursachen. Und unkontrolliert freigesetzte Magie ist gefährlich, glaub mir.“

„Kannst du es mir beibringen?“, wollte Mischka wissen.

Da sie inzwischen eine Stelle vor dem Tor erreicht hatten, wo man sie nicht so direkt sehen konnte, zündete sich Waleri endlich seine heiß ersehnte Kippe an. Auf dem Schulgelände durfte man ja nicht rauchen. Er nahm einen tiefen Zug und ließ den Qualm dann leicht kopfschüttelnd wieder ausströmen. „Du weißt, daß ich von Bann-Magie keine Ahnung habe. Da bin ich dir echt keine Hilfe, Großer“, seufzte er. „Ich kann dir bestenfalls helfen, jemanden zu finden, der Ahnung davon hat. Aber ohne die Zustimmung deiner Eltern wird da kein Weg rein gehen.“

„Die werde ich nie im Leben kriegen. Ich fühl mich ja jetzt schon wie ein Psycho, weil ich 'anders' bin.“

„Ist mir auch schon aufgefallen. Es wäre sicher leichter, wenn du nicht der einzige Magi in der ganzen Familie wärst. Sie scheinen irgendwie nichts mit deinem Talent anfangen zu können.“
 

An diesem Nachmittag standen Boris und Oksana Bogatyrjow gemeinsam am Fenster und schauten mit gemischten Gefühlen zu, wie ihr Sohn und dieser zwielichtige Waleri unten vor dem Haus Ball spielten. Mischka zeigte sich bester Laune und lachte viel, und auch Waleri machte einen verstörend lockeren Eindruck. Er benahm sich, als wäre alles hier völlig normal und genau so, wie es sein müsse.

„Ich kann immer noch nicht glauben, wie selbstverständlich sich dieser Kerl in unserer Wohnung breit gemacht hat“, fand Oksana. „Als würde er hier her gehören.“

„Ich hab mich auch noch nicht so richtig an ihn gewöhnt“, gestand ihr Mann.

„Ich glaube, er tut unserem Sohn nicht gut.“

„Wieso? Wenn ich von der Arbeit komme, sitzen die beiden in der Regel schon zusammen am Tisch und machen Hausaufgaben. Mischka hat vorher noch nie freiwillig seine Hausaufgaben gemacht! Er kriegt es sogar fertig, daß Mischka abends protestfrei zu Bett geht. Und, ich meine, sieh dir das da an!“ Er deutete aus dem Fenster, wo Waleri dem Jungen gerade den Volleyball-Aufschlag erklärte. Waleri behandelte den 12-Jährigen bisweilen wie einen eigenen Sohn.

„Er hat einen schlechten Einfluss auf Mischka“, beharrte seine Mutter. „Weißt du noch, wie Mischka neulich aus der Schule kam, beide Unterarme mit Filzstiften vollgemalt, weil er auch solche Tätowierungen haben wollte? Und ich habe ihn schon mehrfach mit Waleris Zigarettenschachtel rumlaufen sehen!“

„Hat unser Sohn denn geraucht?“

„Weiß ich nicht sicher. Wenn, dann hab ich ihn nicht dabei erwischt. ... Ich bin ja froh, daß dieser dreckige Kerl wenigstens die Finger von unserer Tochter lässt. Wenn ich auch nur den Verdacht habe, daß er sich an Inessa vergreift, schlage ich ihn tot!“

„Wir lassen Inessa ja nicht mit ihm allein“, versuchte Boris sie zu beruhigen.

„Er ist den ganzen Tag mit ihr in der Schule! Und er bringt sie früh hin und nachmittags meistens auch wieder nach Hause!“

„Er ist ja nichtmal ein Mensch, er ist ein Elasmotherium. Er wird ja wohl hoffentlich kein Interesse an menschlichen Mädchen haben.“

„Das ist keine Garantie!“

„Jetzt steiger dich doch nicht schon wieder so rein“, bat Boris etwas genervt. „Ich bin ja auch nicht glücklich, diesen zwielichtigen Kerl hier zu haben, aber wir können es nunmal nicht ändern. Findest du nicht, daß du dich ein bisschen zu sehr von seinem Aussehen leiten lässt?“

„Es ist nicht bloß sein Aussehen! Es sitzt abends auf unserem Sofa und säuft Vodka direkt aus der Flasche!“

„Aber erst, wenn die Kinder schlafen. Er ist ein erwachsener Mann, Oksana. Du kannst nicht von ihm verlangen, abstinent zu leben. Wir tun das ja schließlich auch nicht.“

„Aber wir saufen keinen halben Liter Vodka an einem Abend! Und das JEDEN Abend!!! Wie lange wird es dauern, bis Mischka sich das von ihm abguckt?“

Die Tür ging auf und Inessa kam aus dem Keller zurück, wo sie nachgeschaut hatte, ob die Waschmaschine schon fertig war oder noch lief. Mit ihrer Rückkehr unterbrach sie das Gespräch. Ihre Eltern drehten sich vom Fenster weg und schauten zu, wie sie sich kommentarlos an den großen Esstisch setzte und ein Buch aufschlug. „Schatz, willst du nicht runter gehen und mit Mischka spielen?“, schlug ihr Vater vor.

„Nein. Ich will für die Schule lernen.“

„Fleißiges Kind“, kommentierte er. Einerseits hätte er schon gern ungestört mit seiner Frau weiter diskutiert. Aber er war auch gar nicht so böse drüber, wenn Inessa Abstand von Mischka und seinem Genius Intimus hielt. Die ersten Tage hatte auch Inessa ein sagenhaftes Interesse an Waleri gezeigt. Mit Blick darauf, wie offen und kumpelhaft der mit ihrem Bruder umgesprang, hatte sie ihn sofort als vollwertiges Familienmitglied und Freund eingestuft und hatte wohl gehofft, von ihm ähnlich vertraut behandelt zu werden wie Mischka. Aber Waleri hatte sie hartnäckig immer wieder abblitzen lassen. Er ging mit Inessa zwar freundlich und hilfsbereit um, wenn sie eigeninitiativ zu ihm kam, widmete ihr darüber hinaus aber nicht mehr Aufmerksamkeit als unvermeidbar war. Er war komplett auf Mischka fixiert, andere Menschen interessierten ihn nicht. Nach zwei Wochen hatte Inessa es aufgegeben, Waleri als Freund gewinnen zu wollen, und ignorierte ihn seither schmollend. Aber immer noch besser als wenn sie sich diesem zweifelhaften Erwachsenen weiter an den Hals warf. Boris glaubte sogar, daß sie ein bisschen eifersüchtig war. Sie wollte spürbar auch jemanden ganz für sich allein haben, der nur für sie auf der Welt war. Um so schlimmer, da Mischka sich auch selbst nicht mehr so viel um seine jüngere Schwester kümmerte wie früher. Bevor Waleri aufgetaucht war, waren die zwei ein Herz und eine Seele gewesen und Mischka hatte sich sogar für seine Schwester auf dem Schulhof geprügelt, um sie zu verteidigen. Jetzt beanspruchte dieser dubiose Waleri ihn rund um die Uhr für sich. Man merkte, daß das an Inessa nicht spurlos vorbei gegangen war.

Boris beschloss, sich künftig etwas intensiver mit seiner Tochter zu befassen. Mischka hatte ja jetzt seinen siamesischen Zwilling Waleri und war ausreichend bedient. Er setzte sich mit an den Tisch. „Was lernst du denn da?“, wollte er wissen und warf von hinten einen Blick auf ihren Buchdeckel. „Astronomie ...“, las er überlegend vor. „Wollen wir drei ins Raumfahrt-Museum gehen, Mama, du und ich, und uns das ganze Zeug mal live angucken, was da als trockene Theorie in deinen Büchern steht?“

Retter

[Moskau, Russland]
 

„Ich sagte, ich bin kein Pony, auf dem man reiten könnte!“

„Waleri, du hast es versprochen!“, hielt Mischka ihm sauer vor. „Du hast gesagt, in der Wohnung wäre es zu eng dafür, aber wenn wir im Park sind, zeigst du mir deine wahre Gestalt und trägst mich!“

Der tätowierte Glatzkopf rollte mit den Augen und gab sich geschlagen. In der Tat machte gerade die ganze Familie einen Spaziergang im Park. Es war ein angenehmer Abend. Die schon tiefstehende Sonne tauchte alles in ein mildes Orange. Da es unter der Woche war, waren nur wenige Menschen unterwegs, also würde er hoffentlich keinen stören. „Nagut, Großer, meinetwegen.“ Er zog sich das T-Shirt aus, packte den 12-Jährigen um die Taille, wendete ihn mit spielender Leichtigkeit in der Luft und setzte ihn sich auf die Schultern, als wöge er nicht mehr als ein Kindergartenkind.

Mischka lachte, weil es kitzelte.

Seine Schwester Inessa, die neben ihnen herlief, zog ein mürrisches Gesicht. „Wieso verwandelst du dich nicht erst und lässt Mischka dann aufsteigen? Wäre das nicht einfacher gewesen?“, wollte sie schnippisch wissen.

„Siehst du gleich“, entgegnete Waleri. Mischka wurde noch weiter in die Höhe geschoben, als der Genius unter ihm verschwamm, sich unförmig in alle Richtungen ausdehnte und sich innerhalb weniger Sekunden in ein riesiges Tier verwandelte.

„Ach du heilige ...“ Inessa gaffte mit offenem Mund zu ihrem Bruder hinauf, der nun zwei Meter über ihr saß. Neben ihr stand ein gewaltiges Rhinozeros. Aber im Gegensatz zu heutigen Nashörnern hatte es nur ein einziges, riesiges Horn mitten auf der Stirn, und einen zotteligen, graubraunen Pelz. Es hatte eine Rückenhöhe von 2 Metern und schon ohne das Horn eine Länge von 4 Metern. Ein Elasmotherium Sibiricum. Inessa kannte sowas bisher nur aus Büchern.

Mischka blieb das ‚Wouw‘ förmlich im Halse stecken. Er krallte sich erschrocken im Fell des Genius fest, aus Angst, er könnte herunterfallen. Auch er hatte sich das bei weitem nicht so überdimensioniert vorgestellt. Auf Waleris Rücken zu sitzen, war unangenehm, denn der wuchtige Torso dieser Gestalt war so groß, dass Mischka beinahe im Spagat sitzen musste. Es zog schmerzhaft in den Beinen. Klar, dass er nicht erst nach der Verwandlung hatte aufsteigen können. Ohne fremde Hilfe kam man auf den Rücken so eines gewaltigen Wesens gar nicht hinauf.

Waleri stapfte los und begann mit dem Jungen auf dem Rücken herumzulaufen. Der hatte es ja schließlich so gewollt. Mischka schrie erschrocken auf und klammerte sich noch verkrampfter fest.

„Mischka! Mischka!“ Oksana Bogatyrjow kam armwedelnd und hysterisch kreischend angerannt. „Du Ungeheuer, lass sofort meinen Sohn runter! Aufhören, hab ich gesagt! Gib ihn auf der Stelle wieder her! Du Monster! Du Verbrecher, du!“ Sie trommelte mit den Fäusten aggressiv gegen die Schulter des riesigen Wesens.

Waleri schnaubte ihr aus aufgeblähten Nüstern seinen heißen Atem mitten ins Gesicht und verwandelte sich wunschgemäß zurück in seine menschliche Erscheinungsform.

Oksana zerrte ihren Sohn von ihm herunter, sobald er in Reichweite war, und drückte ihn an sich. „Du barbarische Bestie! Tu das nie wieder!“, keifte sie Waleri dabei voll. „Teufelsbrut! Ich sollte dich bei der Polizei anzeigen!“

„Meine Fresse, krieg dich ein!“, verlangte der Genius genervt. „Du tust ja, als hätte ich Mischka auffressen wollen. Er wollte nur auf mir reiten.“

Oksana zog auch noch Inessa grob zu sich heran, um sie zu schützen. „Lass deine dreckigen Finger von meinen Kindern!“

„Er hat´s doch selber gewollt!“

„Billige Lügen! Halt die Klappe!“

„DU bist die Letzte, die mir den Mund verbieten wird, Oksana.“

„Hör auf, meinen Namen schon wieder so komisch zu sagen!“, jaulte Mischkas Mutter empört auf. Sie hasste es, wenn dieser Schlägertyp sich so offensichtlich über sie lustig machte, noch dazu vor ihren Kindern.

Kopfschüttelnd sammelte Waleri sein T-Shirt wieder ein, streifte es sich über, ließ sie und die Kinder stehen und gesellte sich stattdessen zu ihrem Mann, den er als umgänglichere Gesellschaft empfand. Boris Bogatyrjow war ihm gegenüber zwar auch nicht direkt kumpelhaft, aber im Gegensatz zu der feindseligen Oksana konnte man mit ihm wenigstens noch vernünftige Gespräche führen.

„Du musst etwas Gutes an dieser Dame gefunden haben, was ich nicht sehe, sonst hättest du diese Furie wohl kaum geheiratet“, grummelte Waleri.

„Du machst ihr Angst, das ist alles“, gab Mischkas Vater trocken zurück. „Und mir übrigens auch.“

„Ich verstehe bis heute nicht, was ihr gegen mich habt. Ich meine, abgesehen von der Tatsache, dass ich von euch nicht weg kann, solange Mischka nicht alt genug ist um auf eigenen Beinen zu stehen.“

„Das fragst du allen Ernstes, nach dieser Aktion gerade? Jetzt, wo du dein wahres Gesicht gezeigt hast ...“

„Wahres Gesicht!“, maulte Waleri. „Das klingt, als wäre ich ein Lügner und würde euch etwas vorspielen, was ich gar nicht bin. Es wäre mir lieber, wenn du es ‚meine wahre Gestalt‘ nennen würdest, und nicht ‚mein wahres Gesicht‘.“

„Nenn es wie du willst. Jedenfalls wird mir jetzt erst die ganze Tragweite deiner Existenz bewusst. Ich hatte ja vorher keine Ahnung, was du wirklich bist. Was für eine Urgewalt du bist! Wozu du fähig wärst! Was du anrichten könntest! Mit was für einer ...“ Boris suchte nach Worten, die den Tatsachen ansatzweise gerecht wurden. „Mit was für einer unbeschreiblichen Kreatur ich meine Kinder tagein tagaus zusammengelassen habe!“

„Ich werde gar nichts anrichten! Ich bin auf der Welt, um Mischka zu beschützen, und nicht um Schaden zu stiften, nur mal so am Rande bemerkt.“

Boris Bogatyrjow schwieg und schaute auf den unbefestigten Weg vor sich. Er wollte Waleri gern glauben, aber es fiel ihm schwer. Jetzt sogar noch schwerer als vorher schon. Vertrauen konnte man nicht erzwingen.

„Hör zu, ich würde gern trainieren“, wechselte Waleri das Thema.

„Du meinst Sport?“

„Boxen, um genau zu sein.“

„Was sonst!?“, kommentierte Boris zynisch. Er hob im Vorbeigehen einen Stein vom Weg auf und warf ihn flach über den Boden wie über die Oberfläche eines Sees. „Was anderes würde ein Schläger wie du auch nicht spannend finden.“ Mischka war sowieso schon ein kleiner Raufbold, der sich auf dem Schulhof regelmäßig prügelte. Was sollte erst werden, wenn es in seinem Umfeld auch noch jemanden gab, der ihm diese Gewaltverherrlichung als etwas Unterstützenswertes vorlebte, das man systematisch erlernen und legal trainieren konnte? Jemanden, der Körperverletzung aktiv praktizierte und sie normal fand?

„Ich will bloß Mischka verteidigen können, wenn irgendwas ist. Nein, nicht nur Mischka, sondern euch alle, wenn es drauf ankommt. Aber dazu muss ich fit und möglichst kampferfahren bleiben.“

„Wir können dich wohl kaum davon abhalten, zum Boxen zu gehen“, befand Boris in einer seltsamen Tonlage zwischen Unwillen und Resignation.

„Doch, könnt ihr. Ihr müsstet nämlich meine Mitgliedschaft in irgendeinem Verein bezahlen. Ich habe ja derzeit kein eigenes Einkommen, wie du weißt.“

„Stimmt. Du sitzt auf unserem Sofa, säufst Vodka und lässt dich von uns durchfüttern. Das ist mir nicht entgangen“, konnte Boris sich nicht verkneifen.

Schon wieder dieses leidige Thema. Mischkas Eltern wollten es einfach nicht verstehen. Waleri holte sauer Luft, um etwas zu entgegnen, kam aber nicht mehr dazu, da genau in diesem Moment ein spitzer Aufschrei sie beide herumfahren ließ.

Oksana und die beiden Kinder waren einige Meter zurückgeblieben, während Waleri mit Boris plaudernd vorausgegangen war. Jetzt hatten plötzlich vier große Hunde die drei eingekreist und umringten sie knurrend. Einer senkte angriffslustig den Kopf, als würde er sich auf einen Sprung vorbereiten. Alle vier Hunde hatten so spitze Ohren und lange Schnauzen wie Schäferhunde, waren aber größer und rabenschwarz. Sie umkreisten ihre menschliche Beute mit gebleckten Reißzähnen.

„Sind das Streuner!?“, keuchte Boris entsetzt. Es irritierte ihn, dass die vier alle gleich aussahen, als wären sie von der selben Hunderasse. Das war für einen Pulk von Streunern doch sehr untypisch.

Waleri schüttelte den Kopf. „Feen-Hunde!“

Einer der Hunde sprang vor und schnappte nach Inessa, erwischte glücklicherweise nur den Stoff ihres Pulloverärmels, zerrte sie aber trotzdem brachial davon. Das Mädchen schrie panisch auf. Oksana wollte einschreiten, wurde aber von zwei weiteren Hunden in Schach gehalten.

„Mischka! Einen Schutzschild! Jetzt!“, brüllte Waleri. Er nahm seine Elasmotherium-Gestalt an, wobei sein T-Shirt ratschend zerriss, weil es die gewaltigen Körpermaße dieses Wesens nicht mehr fassen konnte. Waleri galoppierte los, um dazwischen zu gehen. Der Boden donnerte unter den tonnenschweren Schritten des lebenden Panzers.

Mischka stand wie erstarrt in der Gegend herum und rührte sich nicht. Es schien, als stünde er unter Schock. Selbst als Waleri mit seinem gewaltigen Horn den ersten Feen-Hund aus dem Weg tackelte, reagierte der Junge nicht. Ein Hund sprang Mischka frontal an und riss ihn zu Boden. Der 12-Jährige keuchte bei dem Aufprall, weil es ihm die Luft aus den Lungen trieb, aber mehr tat er nicht.

Waleri wendete im Galopp und rannte dabei den Hund über den Haufen, der immer noch die kreischende Inessa mit sich zerrte. Der Hund schnappte geifernd herum und verbiss sich in Waleris Schulter. Ungeachtet dessen hielt Waleri wieder auf Mischka zu. Über die mentale Verbindung spürte er im Kopf seines Schützlings nichts als bleierne Leere und lähmendes Entsetzen. Und er schaffte es auch nicht, stark genug ins Bewusstsein des Jungen durchzudringen, um daran etwas zu ändern. Mischka war nicht imstande, irgendetwas zu tun. Selbst wenn er seine Magie zu kontrollieren gelernt hätte, und selbst wenn er auf die Existenz solcher mächtigen, magischen Wesen vorbereitet worden wäre, wäre er in diesem Moment nicht fähig gewesen, seine Bannmagie irgendwie einzusetzen. Schlimmer noch, die Schockstarre war so stark, dass sie über die mentale Verbindung sogar auf Waleri abfärbte und ihn beeinträchtigte. Der Genius machte einen wütenden Schlenker, um einen Baum zu rammen und dabei den Hund loszuwerden, der sich in seiner Schulter verbissen hatte. Das Vieh riss ihm eine derbe Wunde, als er es gewaltsam abstreifte.

Waleri hatte genug. Er wurde in seiner Vorgehensweise rücksichtsloser. Statt die Feen-Hunde nur aus dem Weg zu stoßen, was offenbar nichts brachte, nahm er diesmal Maß und spießte den nächstbesten frontal auf. Es gab ein mehrfaches, hässliches Knacken, als sein Horn durch die Knochen des Wesens brach. Ein hohes, fiependes Aufjaulen. Es war ein so unangenehmer Laut, dass Waleri akut in seine menschliche Gestalt zurückfallen musste, um sich mit den Händen die Ohren zuhalten zu können. Das Aufjaulen ließ auch die restlichen drei Hunde schlagartig herumschnellen. Sie ließen augenblicklich von ihren jeweiligen Opfern ab und stürzten sich alle miteinander zeitgleich auf Waleri, der nachweislich die ernsthafteste Bedrohung für sie darstellte und schnellstens ausgeschaltet werden musste. In dieser Beziehung waren sie echte Rudeljäger. Beinahe reflexartig riss Waleri eine Hand hoch und setzte seine magische Fähigkeit ein: den Zeitpuffer.

Um ihn herum gefror die Welt zu einem Standbild. Alle Geräusche verstummten und eine Totenstille sank auf ihn herab. Der durchbohrte Feen-Hund lag verdreht am Boden wie ein steifes, hingeworfenes Spielzeug, und war schon im Begriff, sich in Rauch aufzulösen. Die anderen drei hingen vor ihm in der Luft, mitten im Sprung aufgehalten. Waleri blieben nur Sekunden. Er konnte seine Fähigkeit nicht lange einsetzen.

Mangels irgendwelcher Waffen griff er mit bloßen Händen in die Fänge eines Feen-Hundes und riss sie so weit auf, dass der Unterkiefer aus den Gelenken schnappte. Auch den anderen beiden riss er die Unterkiefer aus den Gelenkpfannen. Dann war sein magisches Talent auch schon restlos erschöpft und er musste seinen Zeitpuffer wieder fahren lassen, weil er ihn nicht mehr halten konnte. Um ihn herum setzte ein Zeitraffer-Effekt ein. Die Sekunden, die er zuvor angehalten hatte, rauschten jetzt mit vielfacher Geschwindigkeit an ihm vorbei, um die Verzögerung wieder aufzuholen und sich wieder an den Rest der Welt anzugleichen. Die drei Feen-Hunde, die eben noch in der Zeit eingefroren vor ihm in der Luft gehangen hatten, schossen an ihm vorbei wie Projektile und krachten ungelenk zu Boden. Wenigstens konnten sie nun nicht mehr beißen. Sie wurden sich ihrer schmerzhaften Verletzungen bewusst und suchten heulend das Weite. Augenblicklich kehrte Stille ein, als sie sich von der stofflichen Ebene auf die Astralebene retteten, wo sie von normalen Menschen nicht mehr wahrgenommen werden konnten. Es war vorbei. Und kaum etwas deutete noch darauf hin, dass sie jemals hier gewesen waren. Sie verschwanden wie ein Spuk.

Waleri schaute nochmal in die Runde, ob die Gefahr wirklich gebannt war, dann ließ er sich ächzend zu Boden fallen und legte sich flach auf den Rücken. Er war völlig am Ende. Sein magisches Zeitpuffer-Talent kostete unglaublich viel Kraft, wenn man es länger als zwei, drei Sekunden einsetzte. Stöhnend tastete er nach der fiesen Biss-Wunde, die er zwar in seiner Rhinozeros-Gestalt kassiert hatte, die ihm aber leider auch bei der Rückverwandlung in seine menschliche Erscheinung erhalten blieb. Sie fühlte sich an, als hätte der Feen-Hund ihm einen riesigen Brocken Muskelfleisch aus dem Brustkasten gerissen. Er würde ins Krankenhaus müssen. Je nachdem, um welche Art von Feen-Hunden es sich gehandelt hatte, konnten ihre Bisse ein sehr unschönes Nachspiel haben. Er ärgerte sich fast ein bisschen, dass er den Biestern kaum etwas hatte anhaben können. Waleri hatte sie nur in die Flucht geschlagen, aber ausgekugelte Kiefergelenke oder gebrochene Rippen hielten diese magischen Wesen nicht auf. Ihren stofflichen Körper konnten sie um Null Komma Nichts wiederherstellen. Denen konnte man nur mit Magie wirklich schaden.

Es dauerte lange, bis sich irgendjemand imstande sah, sich um Waleri zu kümmern. Mischka hatte immer noch vor Schreck Wurzeln geschlagen, Inessa kauerte verständlicherweise heulend in einem Gebüsch, und Oksana war hysterischer denn je. Sie umsorgte lieber ihre Kinder.

Mischkas Vater Boris war der erste, der herüberkam und Waleri wenigstens fragte, ob es ihm gut ging.

Der Glatzkopf nickte nur abgehackt.

„Wo kamen die her?“

„Die Raunächte beginnen bald. Die Genii sammeln sich langsam für die große Jagd“, vermutete er und öffnete endlich die Augen, als auch Mischka sich zu ihm gesellte. „Hey, Partner, alles okay bei dir? Ist dir was passiert?“, fragte er seinen Schützling.

„Nein. Und bei dir?“

„Das wird schon wieder.“ Ächzend setzte sich Waleri auf. Er nahm die Hand von der brennenden Schulter, um nach seiner Zigarettenschachtel zu angeln, die neben ihm in der Wiese lag. Glücklicherweise hatte er zumindest eine mit Magie durchwirkte Jeanshose getragen, die die Verwandlung mitgemacht hatte, so dass er sich die nicht auch noch zerrissen hatte. Aber alles, was man in den Taschen mit sich rumtrug, verlor man trotzdem, wenn der Stoff die Verwandlung mitvollzog.

Als nächstes kam auch Oksana angerauscht. Sie zog Mischkas heulende, kleine Schwester hinter sich her. „Jetzt reicht es mir endgültig!“, zeterte sie stinksauer und zeigte drohend mit dem Zeigefinger auf Waleris Nase. „Ich schmeiße dich raus! Jetzt lockst du uns auch noch solche wilden Kreaturen an, die uns in der Luft zerfleischen! Ich habe dich bisher in meiner Wohnung geduldet, aber damit ist jetzt endgültig Schluss! Du bist eine Gefahr für Leib und Leben! Wir haben bisher immer ein friedliches, glückliches Leben geführt! Und wir lassen uns das von dir nicht kaputtmachen! Wenn deine Anwesenheit solche Monster herruft, jage ich dich auf der Stelle aus dem Haus! Du bist ja selber so ein Monster!“

Statt sich eine Zigarette anzuzünden, ließ Waleri sich rücklings wieder zu Boden kippen und stöhnte leise. „Jetzt gibt die auch noch mir die Schuld ...“, murmelte er frustriert in sich hinein. Was nur sollte er mit dieser Frau noch machen, um ihr begreiflich zu machen, dass er zu ihrem Schutz hier war, und nicht um sie mit Haut und Haar aufzufressen?

Geächteter

[Moskau, Russland]
 

Waleri lief suchend durch die Straßen und behielt die Hausnummern im Auge. Irgendwo hier musste es sein. Er blieb vor einer tunnelartigen Durchfahrt in einen Hinterhof stehen und warf einen abschätzenden Blick hinein. Da drin vielleicht? An den Hauswänden war nirgends eine Werbung oder ein Wegweiser angebracht.

„Waleri?“, fragte Mischka, der ihn begleitete, vorsichtig.

„Hm?“

„Bist du böse auf mich, wegen letzter Woche?“

„Wie kommst du darauf?“, gab der Genius zurück, wandte sich Mischka zu und ging vor ihm in die Hocke, um mit ihm mehr auf Augenhöhe zu sein. Sie hatten über den Vorfall im Park nie wieder ein Wort verloren, obwohl Waleri durchaus gespürt hatte, wie sehr es den Jungen beschäftigte. Waleri war froh, dass er endlich bereit war, darüber zu reden.

„Als diese Hunde angegriffen haben, hab ich nur dagestanden und dumm geglotzt. Ich hätte irgendwas tun sollen, aber ich hab dich alleine mit ihnen kämpfen lassen. Und deshalb bist du verletzt worden.“

„Unsinn“, entschied der Hüne mild und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Dafür kannst du nichts. Deine Eltern hätten dir erlauben sollen, dein magisches Talent zu trainieren, dann hättest du vielleicht mehr tun können. Aber so warst du einfach noch nicht soweit. Ich mache dir keine Vorwürfe. Gegen eine Schreckstarre kann man nichts tun.“

„Es tut mir trotzdem leid.“

Waleri schmunzelte. „Keine Ursache, Partner. Und damit ich bei sowas nicht wieder verletzt werde, trainiere ich jetzt!“

„Du solltest dich noch etwas schonen“, befand Mischka. „Der Hundebiss ist noch keine ganze Woche alt!“

„Im Krankenhaus war jemand so freundlich, die Verletzung mit Magie zu heilen. Glaub mir, Großer, ich bin topfit“, versicherte Waleri ihm und stand wieder auf. „Komm, da drin sollte es sein. Wir sind da.“
 

Tatsächlich fanden sie im Hinterhof ein Ladengeschäft mit dem gesuchten, dunkelroten Schriftzug über der Tür, den Waleri schon im Internet gesehen hatte. Die Glasfront war mit Blickfangfolie zugeklebt, damit man nicht hineinsehen konnte. Die Ladenfläche war zu einer kleinen Sporthalle umfunktioniert worden und man wollte drin seine Ruhe vor neugierigen Blick haben. Waleri betrat das Gym und sah sich um. Sofort überfiel ihn eine wehmütige Sehnsucht. Wie hatte er all das hier vermisst! In der einen Ecke vermöbelte jemand einen mannshohen Sandsack, der von der Decke baumelte. Ein Trainer hielt den Sandsack von hinten fest und feuerte seinen Kämpfer an. Weiter hinten arbeitete jemand mittels eines Springseils an seiner Kondition. Hinter dem Boxring mühte sich ein Muskelprotz mit Gewichten auf der Hantelbank ab. Da wurde donnernd eine Boxbirne gehämmert, dort machte jemand Dehnungsübungen. Waleri bekam akut Lust, mitzumachen. Und das Schöne war: seit der Sache im Park hatte Mischkas Vater eingewilligt, ihm die Vereinsmitgliedschaft zu bezahlen. Was wollte man mehr?

Der Trainer ließ seinen Sportler allein am Boxsack zurück und kam herüber. Er war hochgewachsen und hatte eine sportliche, wenn auch nicht übertrieben aufgepumpte Statur. Über seinem kantigen, vernarbten Gesicht thronte ein kurzer Bürstenhaarschnitt. Die eng stehenden, eisigen Augen wirkten hart und stechend. Er trug ein blass-oranges T-Shirt und kurze Boxer-Hosen. „Hey, kann ich euch helfen?“, grüßte er mit interessiert-fragendem Blick. Dabei rieb er sich abwechselnd beide Handgelenke, als wolle er nicht vorhandene Bandagen festdrücken.

„Ja ... äh ... ich wollte mich gern etwas umschauen. Ich spiele mit dem Gedanken, hier Mitglied zu werden“, gab Waleri etwas unschlüssig zu.

Der Mann musterte Waleris muskelbepackte Statur, die bereits auf sportliche Aktivitäten in der Vergangenheit hindeutete. „Haben Sie denn schon mal geboxt?“

„Ist ne ganze Weile her. Ich bin eingerostet“, grinste Waleri schief. „Aber ich würde gern wieder damit anfangen.“

„Sportsachen dabei?“

„Logisch.“

„Na, dann gehen Sie sich doch mal umziehen“, schlug der Trainer vor und zeigte in die Richtung, in der die Umkleiden zu finden waren. „Und dann testen wir im Rahmen einer kostenlosen Probestunde aus, was noch so da ist.“

„Cool, gerne!“, stimmte der Genius begeistert zu.

„Ich bin Vladimir“, stellte sich der Trainer daraufhin endlich vor und hielt ihm sportlich die Hand hin.

„Waleri“, entgegnete der und nahm die Hand an.

In Vladimirs Augen blitzte es kurz rätselhaft auf, dann wanderte sein Blick aber auch schon weiter zu Mischka. „Und was machen wir mit dem Stöpsel hier? Willst du auch mal boxen, Kleiner?“

„Ich weiß nicht ... Ich glaube, ich schau lieber zu“, fand der Junge überzeugt.
 

Kurze Zeit später stand Waleri umgezogen und leicht aufgewärmt im Boxring. Man hatte ihm einen Trainingspartner hingestellt, mit dem er sich einfach mal rumschlagen sollte. Vladimir wusste, dass sein neuer Interessent wegen nichts anderem hier war und einen Heidenspaß daran haben würde, also gab Vladimir ihm, was er wollte. Das steigerte die Chancen, dass er hinterher auch wirklich ein zahlendes Mitglied dieses Boxclubs werden würde, enorm. Vladimir wollte zuschauen und beurteilen, was Waleri noch an Technik, Taktik und Kondition zu bieten hatte, und wo Nachholbedarf bestand.

Mischka schlug fest auf die Ringglocke und drückte die Stoppuhr. Das war seine Aufgabe geworden, damit er nicht unbeaufsichtigt in der Trainingshalle herumrannte und den anderen Schwergewichten in die Quere kam. Vladimir wollte keine Haftung übernehmen, wenn der Junge versehentlich einem Boxer in die Faust rannte.

Beim Klang der Ringglocke holte Waleri aus und stempelte seinem Gegenüber rigoros den Boxhandschuh ins Gesicht. Der Mann krachte auf die Bretter wie ein gefällter Baumstamm und blieb erstmal liegen, worüber Waleri selbst ganz erschrocken war.

Der Trainer zog nur die Stirn kraus und kratzte sich nachdenklich am Ohr. „Okay, du brauchst einen stärkeren Gegner, wie ich sehe“, kommentierte er, ganz die Ruhe selbst. Er hatte inzwischen beschlossen, seinen neuen Interessenten zu duzen. Das war im Sport einfach üblich. „Du gehst ganz schön auf Mann. Hattest du früher schon so einen offensiven Kampfstil?“

„Inwiefern?“, wollte Waleri abgelenkt wissen. Er war damit beschäftigt, seinem halb betäubten Trainingspartner wieder auf die Beine zu helfen, der sich daraufhin etwas unbeholfen durch die Seile aus dem Ring hinaus wand.

„Du solltest zum Gegner wenigstens so viel Abstand halten, dass du beim Schlag deinen Arm ganz ausfahren kannst. Du kämpfst fast auf Ellenbogendistanz.“

„Danke für den Hinweis. Ich werde drauf achten.“ Waleri hatte sich in den letzten Jahren mit Sumo beschäftigt. Wohl deshalb war er jetzt die „Ellenbogendistanz“ gewöhnt, von der der Trainer gerade gesprochen hatte. Im Sumo-Ringen ging es etwas kuscheliger zu als beim Boxen. Das musste er sich schnell wieder abgewöhnen.

Vladimir lehnte sich mit verschränkten Armen in die Ringseile. „Na schön, ich sag dir was, Kumpel. Ich lasse dich hier trainieren, wenn du willst. Meinetwegen kannst du mit den anderen auch Übungskämpfe austragen, wenn du Freiwillige findest. Aber du wirst nicht den Namen meines Fightclubs in der Öffentlichkeit spazieren tragen und schon gar nicht an Wettkämpfen teilnehmen.“

Waleri sah ihn verdutzt an. „Hältst du mich etwa für lebensgefährlich?“, wollte er wissen und äugte seinem Trainingspartner hinterher, der schwankend davontaumelte.

„Nein. Ich halte dich für eine Gefahr für den Ruf meiner Kampfschule, Mister Konjonkow“, stellte der Trainer klar, wobei er den Namen vielsagend betonte.

Waleri atmete tief durch. „Man hat mich seit damals also in guter Erinnerung behalten“, grummelte er. Seinen Familiennamen hatte er dem Mann nicht verraten. Und er hätte auch nie gedacht, dass er nach so vielen Jahren und so viele Kilometer entfernt immer noch erkannt werden würde. Das versetzte seinem Selbstbewusstsein einen ziemlichen Dämpfer. Ja, er war damals wegen exzessiven Betrugs aus dem Sport verbannt worden, weil er seine Zeitpuffer-Fähigkeit im Boxring genutzt hatte. Aber seither war er mehrere Jahre in Japan gewesen. Waleri hätte nie für möglich gehalten, dass sich heute noch irgendwer an ihn erinnerte. Vor allem nicht hier. Damals hatte er ja noch nicht mal in Moskau gelebt und trainiert, sondern viel weiter draußen auf dem Land.

Vladimir schmunzelte überlegen. Er hatte also Recht behalten. Das war wirklich DER Waleri Konjonkow, den er vermutet hatte. Er war sich erst nicht sicher gewesen. Er war Waleri früher nur ein paar Mal auf überregionalen Wettkämpfen begegnet, und das war Jahre her. Aber nun, wo er den Kerl wieder im Ring in Aktion gesehen hatte, hatte kein Zweifel mehr bestanden. „Die wenigsten werden dich noch kennen. Und was mich betrifft, werde ich darüber auch schweigen. Aber zumindest ich als Leiter so eines Boxclubs hier sollte solche Typen wie dich schon auf dem Schirm haben. Für gewöhnlich will man keine Leute in seinem Gym, die wo anders unehrenhaft rausgeschmissen wurden.“

„Schon okay. Ich will weder Ärger haben, noch Ärger machen.“

Vladimir nickte einverstanden und warf einen ernsten Blick zu Mischka hinüber. Der Junge saß immer noch artig hinter seiner Ringglocke und grinste stolz, dass sein Schutzgeist den ersten Kampf so spektakulär gewonnen hatte. „Du hast also ein Kind?“

„Nein, einen Schützling“, gab Waleri zurück.

„Du bist inzwischen ein Genius Intimus? Das überrascht mich.“ Er überdachte das. „Okay, dann verstehe ich, warum du wieder trainieren willst.“

„Kann Mischka hier mittrainieren, falls er Spaß dran findet?“

Der Trainer wog nachdenklich den Kopf hin und her. „Vielleicht. Im Moment habe ich keinen passenden Trainingspartner in seinem Alter. Aber das kann man ja einrichten. Anfangen müsste er sowieso erstmal mit Ausdauer- und Krafttraining und dann mit einem Sandsack. Egal, jetzt bist du erstmal an der Reihe.“ Vladimir ließ suchend den Blick durch seine Halle wandern. „Eh, Yarupolk!“, rief er laut. „Komm her! Ab in den Ring mit dir! Liefer dem Kerl hier mal einen gescheiten Kampf!“

Sturkopf

[London, England]
 

„Ruppert, kann ich dich was fragen?“

„Nein“, entschied der, ohne aus seinem Lehrbuch aufzusehen. Er büffelte gerade für eine Prüfung und gedachte sich nicht stören zu lassen.

Urnue ließ nicht locker. „Ich hab ein Problem mit meinen Hausaufgaben. Kannst du mir das nochmal erklären?“

„Komm, verpiss dich, du kleiner Wichser!“, maulte der Student.

Edd, der Gameboy spielend auf dem Sofa lag, zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. „Ruppert, so solltest du nicht mit ihm reden.“

„Wieso? Er nervt!“

„Er ist ein Kind, Herrgott nochmal!“

„Kein Grund, ihm Narrenfreiheit zu lassen“, entschied Ruppert.

„Du kannst nicht erwarten, dass er dich mit seinem Leben verteidigt, wenn du ihn so behandelst!“

„Wie du schon sagst: Er ist bloß ein Kind. Also kann er mich so oder so nicht retten.“

„Er wird nicht ewig ein Kind bleiben!“

Ruppert brummt nur.

„Du solltest Urnue zur Schule gehen lassen.“

„Wozu?“

„Er unterliegt der Schulpflicht, Ruppert!“

„Ich unterliege auch der Schulpflicht!“

„Du bist Student!“

„Er hat ‘nen Privatlehrer, der zu uns ins Haus kommt! Das reicht! Ich setz mich wegen ihm bestimmt nicht in die 1. Klasse einer Grundschule! Und jetzt lass mich endlich für meine Prüfung lernen, Edd!“

Der Greifen-Genius mit den langen Dreadlocks zog ein uneinsichtiges Gesicht und verschränkte die Arme. „In einer Schule wäre Urnue zumindest mal unter Gleichaltrigen! Ich bin sicher, das würde seiner Entwicklung sehr guttun.“

Ruppert winkte derb ab, womit er das Gespräch unmissverständlich für beendet erklärte.

Seufzend stand Edd vom Sofa auf, legte dem kleinen, italienischen Jungen einen Arm um die Schultern und zog ihn mit sich aus dem Zimmer. „Komm schon, zeig mir mal deine Hausaufgaben“, bot er Urnue an. „Ich erkläre sie dir.“

Urnue standen Wuttränen in den Augen, während er mit dem Bodyguard durch den Flur und die Treppen hinauf ins Obergeschoss ging. „Ruppert hasst mich.“

„Ach, das liegt nicht an dir“, versuchte Edd ihn zu beruhigen und strich ihm tröstend über die Wuschelhaare. „Ruppert kann ALLE Genii nicht ausstehen. Ich wüsste auch gern, warum. Ich habe es noch nicht herausgefunden. Aber irgendwann erfahren wir es schon noch, ganz bestimmt.“

„Aber wie kann ich Ruppert denn umstimmen? Nicht mal, wenn ich fleißig lerne und meine Hausaufgaben mache, ist er stolz auf mich.“

Edd strich ihm abermals durch die Haare. „Lern immer fleißig weiter. Irgendwann wird er stolz auf dich sein.“ Wahrscheinlich war das eine Lüge, gestand er sich ein. Aber was sollte er diesem 6-jährigen Kind schon sagen?

„Hilfst du mir?“

„Ja.“

Langsam schlich sich wieder ein Lächeln auf Urnues Züge. „Ich bin froh, dass du da bist. Und ich hab Angst, dass du weggehen musst.“

Edd schmunzelte warm. „Ich geh so schnell nirgendwo hin. Du bist noch viel zu jung und noch nicht stark genug, um als Rupperts Schutzgeist alleine auf ihn aufzupassen. Die Behörden werden nicht zulassen, dass du mit ihm alleingelassen wirst. Es wird noch sehr lange Zeit jemand bei euch bleiben müssen, der euch beide unterstützt.“

Das schien den Jungen zumindest ein bisschen zu erleichtern. „Ich vermisse meine sorella“, wechselte er geknickt das Thema.

„Ich weiß“, gab Edd nur mitfühlend zurück. Aber machen konnte er nichts. Urnue würde seine Schwester so bald nicht wiedersehen, egal wie man es drehte und wendete. Ruppert hatte deutlich gemacht, dass er nicht „grundlos“ nach Italien fahren würde. Schon gar nicht, um seinem kleinen Schutzgeist einen Gefallen zu tun. Urnues Mutter Francesca war ebenfalls vor einigen Tagen abgereist und endgültig nach Italien zu ihrer Familie zurückgekehrt, nachdem sie zuvor einige Monate zwischen London und Verona gependelt war. Sicher würde Urnue auch sie bald vermissen. Die nächste Zeit würde für den Jungen nicht leicht werden. Und da halfen ihm Rupperts Feindseligkeiten nicht gerade weiter.
 

Edd hatte mit Urnue seit einer guten halben Stunde Rechnen geübt, als Ruppert von unten nach ihm rief. Wie immer hatte der Hellseher einen Nachdruck in der Stimme, der keine Verzögerung duldete. Edd unterdrückte ein Seufzen und klopfte stattdessen Urnue neben sich auf die Schulter. „Du schlägst dich gut. Ich denke, das reicht erstmal. Mach Schluss für heute, okay? Du hörst ja, ich muss runter zu Ruppert.“

Urnue nickte wortlos.

Der Greif ließ ihn in seinem Zimmer sitzen und beeilte sich, die Treppe hinunter und ins Wohnzimmer zu kommen. Ruppert hatte inzwischen einen Laptop vor sich aufgebaut und das Handy in der Hand. „Hier bin ich. Was ist denn los?“, wollte Edd wissen.

Ruppert winkte ihn zu sich herum, damit er mit auf den Bildschirm schauen sollte. „Wir fliegen nach Peru“, stellte er dabei ernst klar. Das war eine Tatsache, eine beschlossene Sache. Daran gab es nichts mehr zu rütteln. Das hörte man an seinem Tonfall deutlich. Auf dem Laptop war eine Zeichnung eines Schmuckstücks abgebildet. Es sah aus wie eine Bleistift-Skizze aus einer archäologischen Aufzeichnung. Das Objekt bestand aus fünf länglichen Metallplatten, die oben und unten mit jeweils einer Schnur aneinander gefädelt worden waren und auf diese Weise eine hautenge Halskette ergaben. Zwischen die Platten waren kleine Perlen als Abstandhalter mit eingefädelt. Auf jeder Platte waren Edelsteine eingearbeitet und komplexe Muster eingraviert, die Edd sofort als magisch erkannte.

Aus irgendeinem Grund wusste Edd, dass Ruppert gerade mit irgendjemandem wegen dieser Kette telefoniert hatte. „Nach Peru?“, war das einzige, was er in diesem Moment über die Lippen brachte.

„Mich hat gerade ein Kunde angerufen. Er will diese Kette hier haben. Leider ist sie nicht mehr in einem Stück. Er hat nur eine der Platten, die restlichen vier Teile sind über die halbe Welt verstreut. Ich soll die fünf Bruchstücke wieder zusammentragen und die Kette wieder komplettieren.“

„Gehst du jetzt unter die Antiquitäten-Händler?“, konnte sich Edd nicht verkneifen.

„Der Kunde zahlt gut dafür“, meinte Ruppert schulterzuckend. „Und es bedarf eines Hellsehers, um die Bruchstücke zu finden. Es ist nicht genau bekannt, wo die alle hin sind. Wir werden suchen müssen.“

„Das gefällt mir nicht“, gestand der Greif und fuhr sich mit der Hand über die nach hinten gebundenen Deadlocks, um zu kontrollieren, ob die alle noch an Ort und Stelle saßen. Das tat er oft ganz unterbewusst und vor allem dann, wenn er etwas unbehaglich fand.

Ruppert warf ihm einen bösen Blick von der Seite zu. „Es ist mir egal, ob dir das gefällt. Bereite dich auf die Reise vor“, trug er Edd im Befehlston auf. „Sieh nach, ob dein Reisepass noch gültig ist, und überlege, was wir für eine längere Reise alles brauchen. Wir werden nicht in 14 Tagen zurück sein. Anfang nächster Woche schreibe ich meine Prüfung an der Uni, danach fliegen wir sofort los.“

„Hast du denn eine Ahnung, was es mit dieser Kette auf sich hat? Die ist eindeutig magischer Natur. Wer weiß, wozu sie mal gedacht war, wenn sie vollständig ist.“

„Edd ...“

„Ist dein Kunde ein Magier?“

„Weiß ich nicht.“

„Solltest du aber!“ Der Greif beugte sich näher an den Bildschirm heran, um die Muster auf den einzelnen Platten zu studieren. „Diese Kette bezieht alle fünf Elemente mit ein, die man in Asien üblicherweise kennt. Das ist ein kompletter, geschlossener Energiekreis. Wenn ich raten müsste, würde ich annehmen, dass diese Kette ihrem Besitzer eine Menge Macht verleihen soll. Insbesondere magische Kräfte, die er ohne diese Kette nicht hätte. Wie alt ist sie, Ruppert? Aus welcher Zeitepoche stammt sie? Und aus welcher Kultur?“

„Edd!“, unterbrach der Student ihn genervt. „Such deinen verdammten Reisepass!“

Der Genius richtete sich wieder in eine gerade Haltung auf und verschränkte die Arme. Er hasste es, wenn Ruppert die offensichtlichsten Probleme und Gefahren ignorierte. Der Student war da echt beratungsresistent. Um so schlimmer, da sie den 6-jährigen Urnue würden mitschleppen müssen. Edd beschloss, mit Rupperts Vater darüber zu reden. Auf seinen Vater hörte Ruppert noch eher als auf einen Genius. „Schön, ich bereite die Reise vor. Aber versprich mir, über dieses Ding noch ein paar Erkundigungen einzuziehen, bevor wir losfliegen!“

Querulant

[Moskau, Russland]
 

Mischka hockte mit einem Stuhl am Fenster, hatte die Ellenbogen auf den Fenstersims und das Kinn in beide Hände gestemmt und starrte dumpf brütend in den Hinterhof hinaus. Seine Eltern saßen mit Inessa draußen, feierten mit ein paar anderen Hausbewohnern ein kleines Sommerfest und stopften sich mit Steak vom Grill voll. Und er war mit Waleri hier oben in der Wohnung eingesperrt und durfte nicht mitfeiern. Nur weil auf der Feier gegrillt wurde und man Angst hatte, dass Mischka den Grill zum Explodieren brachte. Er hatte seine Bann-Magie nicht richtig unter Kontrolle. Bei zu starken Emotionen wie herzhaftem Lachen oder Wut neigten offene Flammen in seiner Umgebung dazu, sich zu Feuerbällen aufzublasen und dann zu verpuffen. Er hatte sowohl den Gasherd als auch Waleris Zigaretten-Feuerzeug schon mehrfach geschrottet. Ihm war auch schonmal ein Wasserhahn explodiert und das aus der Wand schießende Wasser hatte das ganze Bad geflutet. Waleri schob es darauf, dass Mischka nie Unterricht erhalten hatte, um seine magische Begabung kontrollieren zu lernen. Seine Eltern hingegen sagten einfach nur, er sei ein Freak und solle seine Magie gefälligst nicht einsetzen. Schlimmer noch, sie unterstellten dem Jungen, er würde das mutwillig und in böser Absicht machen, wenn in seiner Nähe mal wieder irgendwas hochging, und ließen ihm gnadenlos Strafen dafür angedeihen.

Waleri lungerte muffelig auf dem Sofa herum und trommelte mit den Händen auf die Sitzflächen links und rechts neben sich. Wenn Mischkas Eltern sie schon nicht mitfeiern ließen, hätten sie ihnen wenigstens erlauben können, inzwischen ins Kino zu gehen. Aber sogar das war verboten worden. Waleri hasste Hausarrest in diesen paar Quadratmetern Wohnzimmer hier.

„Tut mir leid ...“, murmelte der inzwischen 15-Jährige.

„Nicht deine Schuld“, grummelte der Hüne maulfaul, wie er meistens war.

„Du bist aber sauer. Das spüre ich über unsere mentale Verbindung.“

Ja, war er. Aber doch nicht auf Mischka. Der konnte ja nichts dafür, wenn seine Eltern beschlossen hatten, ihn zu dissen. Ihr kleiner Lieblings-Sonnenschein Inessa stand bei denen sichtbar höher im Kurs als ihr Sohn Mischka.

„Ich weiß, dass du den Film wirklich gern gesehen hättest“, fuhr Mischka fort. „Und nun sitzen wir dumm hier rum.“

„Ja. Und das an meinem Geburtstag ...“

„Du hast Geburtstag? Heute?“, wollte Mischka erschrocken wissen und wandte sich vom Fenster ab, um ihn anzusehen. Wie ein Schlag in den Magen fiel ihm auf, dass er nach sage und schreibe 3 Jahren noch nicht mal auf dem Schirm hatte, wann sein Schutzgeist Geburtstag hatte. Natürlich hatte Waleri ihnen sein Geburtsdatum irgendwann ganz am Anfang mal verraten. Aber man hatte seinen Geburtstag noch nie gefeiert. Der Genius war für den Rest der Familie bis heute nur widerwillig geduldet aber nie von Interesse gewesen. Und Waleri selbst hatte auch nie mit dezenten Hinweisen bezüglich seines Ehrentages um sich geworfen.

Der Genius Intimus nickte emotionslos. „Ich gebe aber nicht viel darauf“, stellte er klar, da er das furchtbar schlechte Gewissen des Jungen sehr deutlich spürte.

„Wie alt bist du jetzt?“

„34.“

„Das muss doch gefeiert werden!“, entschied Mischka und sprang motiviert hoch, um sich etwas zum Anziehen zu suchen. „Lass uns einen Puff unsicher machen. Wir schnappen uns jeder eine Tussi und jede Menge Bier, und dann: party hard!“

Waleri legte eine amüsante Mischung aus Lachen und Stirnrunzeln hin. „Du bist gerade erst 15 geworden, Partner.“

„Na und? Das stört die dort nicht, solange man genug Geld einstecken hat. Die werden sich hüten, ihre zahlende Kundschaft an die Bullen zu verpfeifen. Dafür haben die das Geld viel zu nötig. Und für´s Kino ist es jetzt eh zu spät. Los, ich bezahle!“

„Tja~ ... Dann wäre es wohl unhöflich, deine Einladung abzulehnen“, entschied der Schutzgeist und machte sich ebenfalls ausgehfertig. Wenn Mischka entschied, entgegen des elterlichen Verbotes das Haus zu verlassen, war das nicht Waleris Problem. Er dackelte nur brav hinterher und passt auf, dass der Junge nicht von magisch begabten Angreifern behelligt wurde.

Mischka spazierte unterdessen zur Garderobe und schnappte sich die Geldbörse aus der Jacke seines Vaters.
 

Als die beiden am späten Abend zurückkehrten, waren Oksana und Boris Bogatyrjow völlig aufgelöst. Sie hatten nicht gewusst, wo ihr Sohn steckte, und hatten ihn auch nicht über Handy erreicht. Mischkas Vater war das Verschwinden seiner Geldbörse natürlich nicht entgangen. Seine Mutter hingegen war eher aufgebracht darüber, dass Mischka verbotenerweise abgehauen war und nun bedächtig schwankte und sich erstmal in hohem Bogen in den Vorsaal übergab. „Du bist ja rotzbesoffen!“, stellte sie sauer fest.

„Ach, er übertreibt nur. Im ‚Opal‘ war er noch rotzbesoffen“, warf Waleri gelassen ein. Auch seine Aussprache war reichlich träge von Alkohol. „Inzwischen ist er schon wieder ganz gut ausgenüchtert.“

„Das ‚Opal‘!? Das ist ein Bordell!“

„Ja“, stimmte Waleri achselzuckend zu und grinste. Seine Mimik ließ keinen Zweifel daran, dass sie beide dieses Bordell in der Tat für das genutzt hatten, wofür es gedacht war.

Mischka erbrach abermals Teile seines Mageninhalts auf den Boden des Flurs.

„Mein Gott, geh gefälligst aufs Klo, wenn es dir hochkommt!“, zeterte sein Vater und bugsierte ihn am Kragen ins Gemeinschaftsbad. „Und halt dir deinen verdammten, hohlen Schädel unter kaltes Wasser, damit du wieder klar im Kopf wirst!“

„Was hast du dir dabei gedacht, mit Mischka abzuhauen!? Ich hatte euch gesagt, ihr sollt die Wohnung nicht verlassen!“, meckerte Oksana unterdessen auf Waleri ein.

„Ich? Ich bin nicht abgehauen. Mischka ist abgehauen. Und wenn er geht, muss ich halt notgedrungen mit. Ist doch nicht meine Schuld.“
 

Mischka kam eine halbe Stunde später aus dem Bad zurück. Sein Magen war inzwischen komplett entleert. Er hatte sich die Zähne geputzt, um den widerlichen Geschmack von Galle und Erbrochenem wieder loszuwerden, hatte sich mit kaltem Wasser das Gesicht gewaschen, was tatsächlich geholfen hatte, und hatte sich umgezogen. Nun trieb ihn aber eine alarmierende Welle des Widerwillens, die er von seinem Schutzgeist über die mentale Verbindung spürte, wieder zu seiner Familie zurück. Irgendwas passierte gerade. Er blieb vor der Zimmertür stehen, als er seine Mutter gedämpft, aber eindeutig wütend, drinnen meckern hörte. Er lugte vorsichtig durch einen Türspalt, um mehr zu erfahren. Sein Vater war gerade nicht im Zimmer.

Waleri hatte sich – zumindest äußerlich absolut gelassen – auf dem Sofa zurückgelehnt und ließ sich von ihr nicht im Mindesten beeindrucken. „Ich beschütze ihn nur vor streitlustigen Genii und Unfällen mit Magie“, meinte er souverän schulterzuckend. „Ich bin doch nicht seine Mami. Für die Erziehung bin ich nicht zuständig.“

„Du hast einen schlechten Einfluss auf meinen Jungen!“, zischte seine Mutter in gedämpfter Tonlage, um nicht das ganze Haus zusammen zu schreien. Dabei fuchtelte sie Waleri unverhohlen drohend mit dem Zeigefinger vor der Nase herum.

Der Schutzgeist gab ein verachtendes Brummen von sich. „Jetzt tu doch nicht so, als ob der Junge dir wichtig wäre. Ihr behandelt ihn wie einen Ausgestoßenen, weil er eine magische Begabung hat. Ja, Magier sind selten, aber sie sind keine Freaks! Im Gegenteil, Magier sind normalen Menschen überlegen. Euer Sohn ist mit einem wunderbaren Talent gesegnet, das ihr anerkennen und fördern solltet. Aber stattdessen gebt ihr ihm das Gefühl, deswegen minderwertig zu sein, und sagt ihm, er soll es unterdrücken. Also wundere dich nicht, wenn er dir zurückgibt, was du ihm angedeihen lässt, Oksana.“

Seine Mutter blies sich beleidigt auf. „Das Geld für den Puff kriegen wir von dir wieder, dass das klar ist!“, legt sie fest.

Waleri lachte mit deutlicher Überlegenheit. „Mit welcher Begründung denn? Ich hab das Geld weder genommen, noch ausgegeben. Holt es euch von Mischka wieder, wenn ihr es zurückhaben wollt.“

„Das ist gar nicht der Punkt! Du bist ein Schmarotzer! Du tust den lieben langen Tag nichts anderes, als auf unserem Sofa zu sitzen, Vodka zu saufen und dich von uns durchfüttern zu lassen!“

Waleri rollte mit den Augen. Langsam wurde diese Predigt lästig. Oksana konnte sich wenigstens mal eine neue Wortwahl einfallen lassen. Sofa, Vodka, durchfüttern lassen. Sie sagte immer wieder das gleiche, wenn es um dieses Thema ging.

„Und jetzt stiftest du ihn auch noch dazu an, es dir gleichzutun! Soll er mal genauso ein schmarotzender Taugenichts werden wie du, der das Geld anderer Leute verprasst? Du faules Pack gehst ja nicht mal arbeiten!“

Das war so nicht ganz korrekt. Waleri hatte sich schon vor fast drei Jahren einen Fight-Club gesucht und wieder begonnen zu boxen, ziemlich bald nachdem er Mischka gefunden hatte. Als Schutzgeist war es wichtig, im Training zu bleiben. Also ging er drei- bis viermal die Woche Sandsäcke und Freiwillige vermöbeln. Sein Alkoholkonsum hatte sich seither übrigens stark reduziert.

„Nein, ich gehe nicht arbeiten“, stimmte Waleri ihr zu. „Weil ich 24 Stunden am Tag den Bodyguard für euren ungeliebten Sohn spiele, den ich nun mal nicht alleine lassen kann. Und im Übrigen finde ich es sehr bezeichnend, dass das Geld dir mehr Kopfzerbrechen macht als die Tatsache, dass dein Minderjähriger sich in Bordellen rumtreibt und Alkohol trinkt. Fragst du dich gar nicht, warum er das tut?“

„Na wegen dir!“, zischte Oksana überzeugt. „Sieh dir unsere Inessa an! Aus der ist was geworden! Sie ist ein reizendes, höfliches, anständiges Mädchen geworden, das immer adrett gekleidet aussieht, in der Schule gute Noten schreibt und normale Freundinnen hat! Sie hat nicht so einen widerwärtigen Umgang wie dich! Mischka ist ein Flegel und kurz davor, in der Schule sitzen zu bleiben! Das ist alles deine Schuld!“

Das reichte jetzt. Mischka schob die Tür auf und kam herein. „Mam', lass meinen Schutzgeist in Ruhe“, verlangte er selbstbewusst. „Du hast keine Ahnung, wie es ist, ein Magier zu sein. Auf uns rumhacken, das ist alles, was du kannst.“

„Hab nicht so die große Klappe, junger Mann!“

„Doch, hab ich!“, hielt Mischka vehement dagegen, um so mehr da er sich des Rückhalts seines Schutzgeistes sicher war. „Waleri hat Recht! Ihr behandelt mich wie Dreck! Als ob ich was für meine magische Begabung könnte. Ich hab mir das nicht ausgesucht. Aber ich muss halt jetzt damit leben. ... Komm, Waleri, wir gehen noch eine Runde raus“, entschied er, obwohl er schon Zähne geputzt hatte und sich eigentlich für die Nacht einrichten sollte. Jetzt hatte er keine Lust mehr zu schlafen, oder sich noch länger mit seiner Mutter herum zu streiten.

„Nichts dagegen“, gab Waleri zurück und stand schwungvoll auf.
 

Mischka lief eine ganze Weile schweigend neben seinem Genius Intimus her. Einfach nur ziellos quer durch das Stadtviertel. Er wusste nicht, was er denken sollte. Waleri hatte gnadenlos in Worte gefasst, was Mischka schon die ganze Zeit als Eindruck gewonnen hatte. Er war in der Familie nicht mehr so richtig willkommen. Aber warum? Nur, weil er magische Fähigkeiten hatte und deshalb 'anders' war? Hatten die Angst vor ihm, weil sie sein magisches Talent nicht verstanden? Oder war das Problem eher, dass man seither ungefragt den dubiosen Schlägertypen im Haus dulden musste, der sich äußerlich einfach als Mensch tarnte, obwohl er, jedenfalls in den Augen seiner Eltern, eigentlich ein Monstrum war?

Waleri spürte über das silberne Band, wie aufgewühlt sein Schützling war. „Hör mal, Partner, deine Mutter hat gar nicht so Unrecht, wenn sie sich Sorgen um deinen Lebenswandel macht. Bordelle und Alkohol sind eigentlich ungeeignet für jemanden in deinem Alter. Zumindest soweit muss ich ihr zustimmen.“

„Was ist schon dabei? Ist doch MEIN Leben!“

„Nein, Mischka. Das ist nicht nur dein Leben“, erwiderte Waleri ruhig. „Es ist auch meins. Du triffst hier Entscheidungen für uns beide.“

Der Jugendliche sagte darauf nichts. Man konnte nur an seinem etwas säuerlichen Gesichtsausdruck erahnen, dass er das bisher wirklich nicht bedacht hatte.

„Wieso zieht es dich zu solchen Dingen, hm?“, fragte Waleri sachlich weiter. Er war ja sicher selbst kein glänzendes Vorbild, aber so einen schlechten Einfluss, wie seine Mutter behauptete, übte Waleri nun auch wieder nicht aus. Puffs und Koma-Saufen lebte Waleri seinem Schützling jedenfalls nicht vor. Woher hatte der das nur? „Du bist doch ein ansehnlicher und kluger Bursche. Du könntest auch Mädchen haben, die du nicht mit Geld kaufen musst. Und du könntest in der Schule gute Noten bringen, statt dir deine Bestätigung im Alkohol zu suchen. Ich weiß, du würdest von deinen Eltern gern mehr Anerkennung ernten. Aber mit sowas schaffst du das bestimmt nicht.“

„Ich will einfach nur Spaß, verstehst du? Das Leben genießen. Wenn meine Eltern mir das nicht ermöglichen, dann ermögliche ich es mir eben selber.“

Waleri steckte sich eine Zigarette an und hielt dem Jungen dann Packung und Feuerzeug einladend hin, wohl wissend, dass der eigentlich noch zu jung zum rauchen war. Mischka zündete sich ebenfalls eine an. Es war nicht seine erste Kippe. Waleri legte seinem Schützling kameradschaftlich einen Arm um die Schultern. „Versteh ich. Aber das ist doch keine Dauerlösung. Spaß muss finanziert werden, weißt du? Du brauchst dringend ein Ziel vor Augen. Eine Perspektive im Leben. Hast du überhaupt schon mal drüber nachgedacht, was aus dir werden soll? Beruflich, meine ich?“

Mischka starrte vor sich auf den Fußweg, weil ihm das eine Projektionsfläche für seine Gedankenbilder bot, und blies den Zigarettenrauch aus. „Ich hab gar keine Ahnung, welche Berufe man als Magier überhaupt ergreifen kann“, gestand er.

„Okay. Dann fragen wir doch mal anders: Was kannst du denn gut und was machst du gerne? Lass uns deine Stärken nutzen“, schlug der Schutzgeist vor. Schon ein bisschen paradox. Er führte hier mit dem Jungen gerade ein Gespräch, das eigentlich seinen Eltern zugestanden hätte. Aber die scherten sich ja leider nicht darum.

„Ich prügel mich gern.“

Das war Waleri nicht entgangen. Anfangs hatte Mischka beim Boxen nur zugesehen, inzwischen trainierte er auch selber mit. Beim Boxen gab es einen Moment, der schicksalsentscheidend war: wenn man das erste Mal so richtig eine „auf die Fresse“ bekam und K.O. ging. Entweder war man danach geheilt und überließ das Boxen anderen lebensmüden Wahnsinnigen, oder man hatte Blut geleckt und wollte danach nie wieder aufhören, sich mit anderen zu prügeln. Das war die Weggabelung, an der Machos, die nur die große Klappe hatten, von den echten Boxern getrennt wurden. Mischka hatte zur letzteren Sorte gehört, sehr zum Leidwesen seiner Mutter. Oksana war ausgeflippt, als sie mitbekommen hatte, dass ihr Sohn sich jetzt nicht mehr nur auf dem Schulhof, sondern auch noch systematisch im Box-Club prügelte. Seine Schulhof-Schlägereien waren zwar sehr viel seltener geworden, seit er jede Prügelei haushoch gewann und sich niemand mehr mit ihm anlegte, aber leider hatte das die ohnehin schon angespannte Beziehung zwischen Mischka und seinen Eltern nicht vereinfacht.

„Ich prügel mich gern. Aber unter Echt-Bedingungen, verstehst du? Ich will kein Boxer werden, wie du, der sich an Regeln halten muss und von einem Schiedsrichter gesagt kriegt, was er wann zu tun und zu lassen hat.“

Waleri überlegte kurz. „Du willst also böse Buben verhauen. ... Dann geh doch in den Justiz-Vollzug. Die Polizei freut sich über magisch begabte Kollegen, wenn sie Genii festnehmen müssen. Und da ich ja auch schon immer ein Fighter war, passe ich da als dein Schutzgeist auch super mit ins Konzept.“

„Meinst du?“

Waleri nickte bekräftigend. „Ist sicher keine schlechte Sache. Ich glaube, das würde zu dir passen. Zu uns beiden.“

„Muss man dafür nicht Aufnahme-Tests bestehen?“

„Tja, etwas an deinen Schulnoten feilen solltest du dafür in der Tat. Aber ich bin sicher, dass du das problemlos hinkriegst, wenn du das wirklich als dein Ziel erkannt hast. Du hättest das Zeug dazu, einen richtig guten Schulabschluss hinzulegen, wenn du nur wüsstest, wofür du das überhaupt machst. Solange du keine Anreize oder Pläne vor Augen hast, ist mir schon klar, dass dir die Motivation zum Lernen fehlt.“

Mischka schaute seinem Schutzgeist einen Moment direkt ins Gesicht, um abzuschätzen, wie gehaltvoll diese Worte wirklich waren. Ob er das ernst meinte, oder hier nur hohle Phrasen dreschen wollte. Aber der wusste, was er sagte. Lächelnd richtete der Junge seinen Blick wieder auf den Asphalt. „Was war denn damals dein Ziel, Waleri? Wolltest du tatsächlich Boxer werden? Hat dich das motiviert?“

„Nein“, schmunzelte der Genius Intimus humorvoll. „Bei mir hat es einfach zu nichts Anspruchsvollerem gereicht. Ich bin nicht gerade ein Überflieger. Und mit einem Zeugnis wie meinem wird die Auswahl an möglichen Berufen zunehmend kleiner. Ich hab damals einfach mein Hobby zum Beruf gemacht, weil es so ziemlich das Naheliegendste war.“

„Du kannst einfach nichts anderes, gib es zu!“, neckte Mischka ihn.

„Vorsicht, Partner. Pass auf, was du sagst!“

Verbündeter

[Moskau, Russland]
 

„Pipp, lauf nicht so weit weg!“, rief Inessa dem weiß-braunen Hündchen hinterher, mit dem sie gerade Gassi ging. Frau Beloussov, die in der Kollektivwohnung, in der auch Mischkas Familie lebte, immer noch ein Zimmer mietete, war inzwischen überhaupt nicht mehr gut zu Fuß. Sie konnte ihren kleinen Pinscher nicht mehr über längere Strecken Gassi führen. Deshalb hatte es sich schon länger eingebürgert, dass Mischka und Inessa das Tierchen am Wochenende mitnahmen und lange Spaziergänge machten, während Frau Beloussov unter der Woche nur kleine Runden ums Haus drehen konnte.

Inessa lief weit voraus und spielte mit dem Hündchen, während Mischka eher mussmutig hinterdrein trottete. Er hasste diese lästigen Pflichtspaziergänge inzwischen, die er jedes Wochenende aufgehalst bekam.

„Wieso redest du eigentlich kein Wort mehr mit deiner Schwester?“, wollte Waleri nachdenklich wissen, der mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen neben dem Jungen her spazierte.

„Weil sie doof ist!“, entgegnete Mischka trotzig.

„Quatsch. Sie ist ein gutes Mädchen. Aber euer Verhältnis ist irgendwie sehr angespannt. Du bist eifersüchtig, weil eure Eltern sie scheinbar mehr mögen, oder?“

„Ich? Nein. SIE ist eifersüchtig!“ Er warf Inessa einen düsteren Blick hinterher. „Früher waren wir ein Herz und eine Seele. Aber seit du da bist, hat sie sich irgendwie verändert. Ich schätze, sie will auch einen eigenen Schutzgeist haben, der nur für sie da ist.“

„Ach was. Sie mag mich doch nichtmal.“

„In den ersten zwei, drei Wochen schon. Aber du hast sie ja abblitzen lassen“, grinste Mischka schief. „Sie hat es mir nie so richtig verziehen, dass ich dich habe. Deshalb genießt sie es auch um so mehr, dass unsere Eltern sie so mit ihrer Liebe überschütten. Ich habe deine volle Aufmerksamkeit, sie hat die volle Aufmerksamkeit unserer Eltern. Ich schätze, das ist für sie ausgleichende Gerechtigkeit.“

„Du solltest versuchen, wieder besser mit ihr auszukommen“, fand Waleri trotzdem. „Es ist schade, wenn eine Familie sich selbst so zerrüttet. Es ist schon schlimm genug, dass deine Eltern dich so abschieben. Wenigstens ihr Geschwister solltet zusammenhalten. Meinst du nicht? Eigentlich liebst du deine Schwester doch. Es gab Zeiten, da hast du dich auf dem Schulhof geprügelt, wenn ihr jemand zu nahe kam.“

Mischka kicherte säuerlich. „Inessa!“, rief er seiner Schwester hinterher, als wolle er das sofort ausprobieren und Waleri vom Gegenteil überzeugen.

Sie hob den Ast auf, den sie schon mehrmals für Pipp geworfen hatte, und kam mit fragendem Blick zu ihm zurück.

„Inessa, es ist doch bald dieser Ball an unserer Schule“, hob er an. „Willst du mit mir zusammen da hingehen?“

Seine Schwester zog ein skeptisches bis ablehnendes Gesicht. „Geh doch mit deinem Genius!“, trug sie ihm auf, als stünde dieser gar nicht daneben.

„Waleri werde ich so oder so mitnehmen müssen. Aber mit dem kann ich ja nicht tanzen. Wie soll das denn aussehen?“

„Ich werde erst recht nicht mit meinem Bruder tanzen! Wie soll DAS denn erst aussehen!? Als ob ich´s nötig hätte!“

„Schämst du dich etwa, dich mit mir zu zeigen?“

„Du bist ein Troll, der einen Haufen Muskeln aber nichts im Hirn hat! Statt dir viermal die Woche im Box-Club die Visage polieren zu lassen, solltest du lieber mal für die Schule lernen! Du wirst deinem Genius immer ähnlicher! Nein, danke, ich hab genug andere Jungs, die mich auf den Ball begleiten würden!“ Mit dieser schnippischen Bemerkung rauschte Inessa wieder davon und spielte weiter mit Frau Beloussovs Wuschelhund.

„Da hast du´s“, kommentierte Mischka erstaunlich gelassen in Waleris Richtung, als hätte er schon vorher geahnt, in welche Richtung sich dieses Gespräch mit seiner Schwester entwickeln würde.

Auch der Schutzgeist ließ sich die offene Beleidigung seiner Person nicht anmerken. „Weiß Sie überhaupt, dass deine Noten langsam wieder besser werden, seit wir über deine Berufswahl gesprochen haben?“

„Ich sag doch, sie ist doof.“ Sie gingen langsam weiter und schwiegen sich gegenseitig an, während seine Schwester mit dem Hund voraustobte. Mischka beschloss, mal Jelena aus der Parallelklasse zu fragen. Er glaubte, dass die für den Schulball auch noch niemanden als Begleitung hatte.
 

Am nächsten Nachmittag stand Waleri mit Yarupolk im Ring und boxte. Für ihn war Yarupolk einer der wenigen brauchbaren Gegner hier. Die meisten anderen Sportler in diesem Box-Club hatten Waleris Schlagkraft nichts entgegenzusetzen. Sie waren halt „nur“ Menschen und entsprechend zerbrechlich. Yarupolk als Bergtroll war mit der einzige, der auf Waleris Level rangierte. Auch er war ein lebender Panzer, mit einem Schädel wie einer Abrissbirne und mit Fäusten, die zu nichts anderem da waren als Gegner zu Brei zu hauen. In seiner menschlichen Gestalt trug er einen kurzen, blonden Pferdeschwanz über einem beidseitigen Undercut. Sein Gesicht war breit und kantig und so unsympathisch wie die Gesichter aller Schlägertypen. Seine kleinen Schweinsaugen machten es nicht besser. Aber als Boxer war er ein feiner, fair kämpfender Kerl. Der End-Dreißiger sah durch seine kompakte Statur erstmal gar nicht so groß aus wie er war. Aber spätestens, wenn man seine Klodeckel von Händen abbekam, wurde man sich seiner Größe schon bewusst. Wenn er in den Ring kletterte, stieg er grundsätzlich über das oberste Ringseil.

„Waleri“, schnaufte Yarupolk und tauchte unter einem Schlag weg. „Kannst du mir einen Gefallen tun?“

„Was denn?“

„Ich erwarte nächste Woche eine gewisse Lieferung, die ich für ein paar Tage irgendwo zwischenlagern müsste.“

„Was für eine Lieferung?“, hakte Waleri nach und hob sich beide Boxhandschuhe vor das Gesicht, um einen Schlag abzufangen.

„Na eine Lieferung eben. Du verstehst schon.“ Yarupolk ließ noch ein paar Schläge folgen, durchbrach die Deckung aber nicht.

Waleri wurde klar, dass es hier wohl kaum um legale Waren ging. Dagegen hatte er aber nichts. Im Keller von Mischkas Eltern war Platz. Sie nutzten den Keller so gut wie nie. Er musste den Bogatyrjows ja nichts davon erzählen. „Du kennst also so gewisse ... naja ... Leute?“, fragte Waleri direkt nach. Da sie im Ring gerade ungestört waren, alle anderen Sportler mit sich selbst beschäftigt waren und kein Trainer weit und breit zu sehen war, konnten sie ganz offen reden. Niemand hörte ihnen zu.

Yarupolk griente dümmlich und verpasste Waleri einen Leberhaken. „An welche Leute denkst du so?“

„An Verkäufer.“ Waleri schlug fest in das Grinsen mit den buschigen, blonden Augenbrauen, erzielte aber keine sichtbare Wirkung.

Yarupolk revanchierte sich mit einem Kinnhaken. „Was brauchst du? Doping? Drogen? Waffen? Informationen? Geld?“

„An das alles kommst du ran?“ Er ließ überrascht seine Deckung leicht sinken.

Der Bergtroll trieb Waleri mit einer ganzen Schlagserie rückwärts in die Ringseile, so dass er nur noch schützend die Arme um den Kopf schlingen konnte. Allerdings war das mehr Waleris Verwunderung als seiner kämpferischen Unterlegenheit geschuldet. „Schon möglich. Kommt drauf an, was du haben willst. Und wieviel. Und wie schnell“, meinte Yarupolk dann gleichmütig, als würden sie hier nur über den Verkauf eines Tüte Tomaten auf dem Wochenmarkt reden. Er trat zurück und entließ Waleri wieder aus den Seilen, in denen er lehnte.

„Ich dachte an eine Schusswaffe. Nichts besonderes. Meinetwegen ein stupider 6-Kammer-Revolver, das würde mir völlig reichen.“

„Hast du was damit vor?“

„Nein.“ Waleri verpasste seinem Gegner eine Links-Rechts-Kombination. „Ich will mich nur gern verteidigen können, falls mal was ist. Als Schutzgeist eines Magiers gerate ich das eine oder andere Mal in Konfrontationen. Und dabei treffe ich auch immer mal wieder auf Gegner, die man nicht einfach K.O. boxen kann.“ Er zog den Kopf zurück, um einem Schwinger auszuweichen. „Ich hätte gern eine Waffe, um mich besser zu fühlen.“

Yarupolk nickte bedächtig. „Ich nehme nicht an, dass du einen legalen Waffenschein hast, wenn du mich schon so fragst. Dann muss also eine Waffe her, die nicht zurückverfolgt werden kann. ... Ich schau mal, was ich machen kann“, entschied er und stempelte Waleri eine gerade Linke ins Gesicht.

Waleri ging sofort rückwärts auf die Bretter und blieb liegen. „Woar, Sauhund!“, fluchte er gedämpft zwischen seinen beiden Boxhandschuhen hindurch, mit denen er sich die Nase hielt, und wand sich am Boden. „Ich hasse es, wenn du das tust! Wieso ist deine Linke so scheiße schnell!?“

„Tja, immer gut aufpassen, tawarisch“, belehrte Yarupolk ihn freundschaftlich und hielt ihm helfend eine Hand hin. „Komm wieder hoch!“

Der Trainer tauchte mit fragendem Blick am Ring auf. „Ist alles gut bei euch?“ Auch wenn Vladimir diese beiden Kolosse noch nie lange am Boden hatte liegen bleiben sehen, sorgte er sich doch pflichtgemäß um das Wohl seiner Sportler.

„Ja-ja, alles bestens“, versicherte Waleri, während er sich von seinem Trainingspartner wieder auf die Beine ziehen ließ. Da sie beide klobige Boxhandschuhe an den Händen hatten, gestaltete sich das nicht so einfach.

„Hab ich euch nicht gesagt, ihr sollt wenigstens Zahnschienen tragen, wenn euch schon die Helmpflicht nicht interessiert?“, maulte Vladimir die zwei Boxer voll.

Sie warteten wortlos, bis der Trainer seine Schimpftriade losgeworden war und wieder verschwand. „Also, was ist?“, hob Yarupolk dann von Neuem an und nahm wieder Kampfhaltung ein. „Kommen wir ins Geschäft?“

Partner

[Moskau, Russland]
 

Die Musik auf dem Schulball war inzwischen sehr viel ruhiger und romantischer geworden. Das Licht war gedämpft und es herrschte wieder eine Lautstärke, bei der man sich unterhalten konnte. Natürlich hatten die Jugendlichen auf ihrer selbst organisierten Feier eine vernünftige Disco gewollt. Aber die wilde Party-Phase war langsam vorbei und der Abend klang aus. Die ersten lagen schon betrunken unter den Tischen und schliefen ihren Rausch aus, einige waren auch schon heimgegangen. Die Mehrheit lungerte nur noch in den Sitzecken oder rauchend draußen vor der Tür herum. Zum Tanzen waren sie inzwischen alle zu müde.

Waleri saß an einem Tisch am Rand, den Unterkiefer in beide Hände gestützt, und langweilte sich zu Tode. Sein Schützling machte keine Anstalten, den Ball so schnell zu verlassen. Er schaute sich frustriert um. Die große Sporthalle der Schule war mit goldenen Vorhängen und bronzefarbenen Stoffbahnen ausgeschmückt. Am Rand gab es ein paar Sitzgelegenheiten, Tische und Stühle wie in einem Café, die ursprünglich auch mal sehr geschmackvoll mit Deckchen, Blüten und Konfetti dekoriert gewesen waren. Jetzt waren sie nur noch Ablagefläche für leere und halbvolle Plastikbecher. Die vielen, kleinen Lichtpünktchen, die von der Disco-Kugel durch die ganze Halle gestreut wurden, machten einen mit der Zeit ganz wirr. Wenigstens die Laser-Show war inzwischen wieder abgeschalten worden. Auf der Tanzfläche waren, abgesehen von zertretenen Chips und herumrollenden Flaschen, nur noch drei tanzende Pärchen und ein schlafender 10.-Klässler mit einem Partyhut aus Pappe auf dem Kopf.

Mischka war einer derjenigen, der immer noch auf der Tanzfläche herumschunkelte. Er und seine Begleiterin Jelena tanzten eng umschlungen und schmachteten sich gegenseitig an. Mischka kam nicht umhin, ihr das eine oder andere Kompliment zu machen.

Das Mädchen aus Mischkas Parallelklasse war ein süßes, kleingeratenes Ding mit zwei hellbraunen, geflochtenen Zöpfen, einer Brille mit runden Gläsern auf der Nase, und einem züchtigen Kleid, das einer Klosterschülerin gut zu Gesicht gestanden hätte. Man sah ihr schon rein optisch an, was für ein anständiges Mädchen sie war.

„Du bist echt süß“, wisperte Mischka ihr zu und schlang die Arme noch etwas zärtlicher und verheißungsvoller um ihre Mitte.

Jelena kicherte leise. „So betrunken bist du doch noch gar nicht“, gab sie zurück.

„Eben. Dann muss es ja stimmen.“

„Ich hab dich bis gestern immer für einen totalen Idioten gehalten“, gestand sie und lächelte Mischka süß an. „Aber du bist ja doch manierlicher und charmanter als ich dachte.“ Sie streckte sich zu ihm hoch und hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. „Du bist auch süß, Mischka.“

„Findest du?“

Sie nickte grinsend.

Der Junge fuhr sich verlegen mit den Fingern durch die blonden Haare, dann küsste er Jelena seinerseits.

„Es ist schon spät. Wir sind fast die letzten“, bemerkte sie.

„Soll ich dich nach Hause bringen?“

„Ich will noch nicht nach Hause. ... Aber hier will ich irgendwie auch nicht bleiben.“ Sie dachte einen Moment nach. „Kommst du eine Runde mit raus? Wir könnten uns in die Wiese setzen und die Nacht genießen.“

„Gern. Ich sag nur kurz Bescheid.“

Jelena sah sich nach Waleri um, als hätte sie ganz vergessen, dass der auch noch existierte. Er hielt sich zwar im Hintergrund und versuchte, sie beide nicht zu auffällig unter Beobachtung zu halten, ging aber trotzdem nie außer Sichtweite. Vor allem weil er so viel älter und erwachsener war, wirkte er wie der reinste Aufpasser. „Muss er denn wirklich mitkommen?“, wollte das Mädchen wehleidig wissen.

„Wir sind ganz ungestört, versprochen.“
 

Waleri erwachte aus seiner halbschlafartigen Langeweile, als Mischka plötzlich vor ihm stand und ihn unschlüssig musterte. „Was ist? Gehen wir?“, wollte Waleri müde wissen, weil er diesen Blick nicht deuten konnte.

„Dir macht die Party keinen Spaß, hm?“, stellte Mischka entschuldigend fest.

„Es sind deine Feier und dein Mädchen. Genieße es ruhig.“

„Hör mal ...“ Mischka begann verlegen von einem Fuß auf den anderen zu treten. „Wir würden uns gern ... naja ... absetzen, verstehst du? ... Also ... in die Natur. ... Nur wir zwei. Alleine, und so.“

„Ein Schelm, wer Böses dabei denkt“, kommentierte der Genius zynisch.

„Könnte durchaus passieren. Ich meine, in unserer Kollektiv-Wohnung können wir ja wohl schlecht ... Da haben wir kein Zimmer für uns alleine.“

„Von mir aus, tu was du nicht lassen kannst. Ich bin nicht deine Mutti. Ich werde es dir nicht verbieten.“

„Jaaaaa, aber ...“, druckste Mischka weiter herum. „Du verstehst doch sicher, dass wir dich dabei nicht brauchen können, oder?“

„Und du verstehst sicher, dass ich dich nicht außer Reichweite lassen kann.“

„Komm schon, Waleri!“, jammerte der Junge. „Du weißt über unsere mentale Verbindung auch so, dass alles in Ordnung ist. Du musst nicht in Sichtweite bleiben.“

Der Genius rollte mit den Augen. Diese pubertierenden Jugendlichen immer. „Ich werde mir Mühe geben, dich nicht zu stören, du notgeiler Lümmel.“

„Danke, Waleri!“ Mischka eilte freudestrahlend davon, zurück zu seiner Jelena.

„Nimm mich das nächste Mal lieber mit, wenn du Mädels aufreißt“, maulte der bullige Glatzkopf leise in sich hinein und zückte das Handy. Er war immerhin auch ein Mann. Es machte ihm jetzt schon Sorgen, welche Auswirkungen die mentale Verbindung zu Mischka auf ihn haben würde, wenn Mischka heute wirklich noch was mit diesem Mädchen zum Laufen brachte. Er würde sich davor abschirmen müssen, um nicht das zu spüren, was Mischka dabei empfand.
 

Hinter Waleri krachte ein Ast. Trotzdem blieb der Genius ganz gelassen an seinem Baumstamm lehnen und sah sich nicht um. Er wusste ja, wer da kam. Stapfende Schritte näherten sich von hinten, die um so mehr Lärm machten, je mehr der Besucher sich darum bemühte, leise zu sein.

„Da bist du ja“, brummte es schließlich entnervt aus der Dunkelheit.

Waleri hob mit einem „Ssschhh!“ den Zeigefinger an die Lippen und wandte sich endlich dem Neuankömmling zu. „Wieso hast du so lange gebraucht?“

„Deine sms mit der Wegbeschreibung war lausig! So findet man dich ja nie!“, beschwerte sich Yarupolk mit gesenkter Stimme. Er wusste zwar noch nicht, warum er leise sein sollte, hielt sich aber trotzdem an die Mahnung.

„Im tiefsten Wald stehen halt keine Wegweiser.“

„Was tun wir hier? Wieso bist du nicht zur Telefonzelle gekommen, wie wir es ausgemacht hatten?“

Waleri deutete auf die Waldlichtung hinaus, auf der Mischka und Jelena im Gras lagen und die Sterne beobachteten und sich nicht die Bohne darum scherten, dass es schon 2 Uhr in der Nacht war, wo jeder normale Mensch hundemüde sein und schlafen sollte. „Mein Schützling hatte andere Pläne“, meinte er nur.

Yarupolk rutschte eine Augenbraue über die Stirn, als er die zwei schwer verliebten Kids bemerkte. Das erklärte, warum er leise sein sollte. Waleri versuchte also unsichtbar zu sein, um die beiden nicht zu stören. „Du hast Mischka nicht erzählt, was wir machen, oder?“

„Nein. Deshalb konnte ich ihm auch schwerlich sagen, dass ich eigentlich zur Telefonzelle will. Er hätte sofort wissen wollen, warum.“ Eigentlich wären sie auf dem Heimweg ohnehin an dem geplanten Treffpunkt vorbeigekommen, so dass Waleri ihm gar nichts hätte sagen müssen. Aber Mischka hatte sich halt spontan für einen anderen Heimweg entschieden, mit Zwischenstopp im Wald.

Yarupolk gab einen brummenden Ton von sich, der das Thema beendete. „Naja, egal. Hast du das Zeug mitgebracht?“

„Sicher.“ Waleri zog eine Tüte aus seiner Jackentasche, in der allerlei gesammelter Krimskrams zu finden war. Uhren, goldene Ketten, goldene Ringe, edelsteinbesetzte Ohrringe, EC-Karten und ähnlich wertvolles Zeug.

„Das ist viel. Wo hast du das in so kurzer Zeit alles her?“

Waleri lächelte in sich hinein. „Mit meiner Fähigkeit, die Zeit anzuhalten, fällt es mir nicht schwer, im Vorbeigehen Passanten um ihren Krempel zu erleichtern, ohne dass jemand etwas sieht oder merkt.“

„Sehr gut“, lobte Yarupolk und hielt ihm im Gegenzug ein Bündel Geldscheine hin. „Wir kommen künftig bestimmt häufiger ins Geschäft.“

„Das würde mich freuen. Irgendwie muss ich ja mal zu Geld kommen. Das ist doch kein Leben, so ganz ohne eigenes Einkommen und nur auf die Gnade von Mischkas Eltern angewiesen“, grinste Waleri. „Sag mir einfach, was du brauchst.“

„Goldschmuck ist schon okay. Der ist schwer zurückzuverfolgen und bringt viel Geld. Ich glaube, EC-Karten lohnen sich nicht. Wenn man fremde Konten leerräumt, merkt das immer irgendjemand. Geldautomaten sind einfach zu gut überwacht.“

„Okay, dann halte ich die Augen nach Schmuck offen. Denkst du an die Knarre, die ich bei dir bestellt habe?“

„Ich arbeite dran“, versprach der Bergtroll-Genius und warf wieder einen Blick hinaus auf die Lichtung. Die beiden Jugendlichen waren immer noch vollauf mit sich selbst beschäftigt und merkten nichts von diesem Gespräch. Aber Yarupolk gedachte sein Glück trotzdem nicht weiter zu strapazieren. „Ich geh dann mal wieder. Wir sehen uns im Box-Club.“

„Ja“, stimmte Waleri ruhig zu. „Wir sehen uns.“

Gauner

[Moskau, Russland]
 

Yarupolk prügelte Waleri eine Rechts-Links-Kombination in den Leib. Obwohl die Schläge gesessen hatten, blieb eine adäquate Reaktion aus. Yarupolk stöhnte genervt. „Komm schon, was ist los mit dir? Warum kämpfst du nicht vernünftig?“

„Was meinst du?“, maulte Waleri nicht minder genervt zurück.

„Du hast keine Deckung. Und austeilen tust du auch nicht. Du stehst einfach nur rum und lässt dich verkloppen. Warum bist du schon seit Wochen so unkonzentriert?“

„Bin ich das? Tut mir leid.“

Der Bergtroll-Genius ließ die Fäuste sinken und brach den Trainingskampf ab. „Was hast du? Rede mit mir.“

Waleri fuhr sich mit dem Box-Handschuh über den Nasenrücken, um Zeit zum Finden passender Worte zu gewinnen. „Ich bin zurzeit frustriert von meinem Leben. Seit Mischka seine Freundin hat und so schwer verliebt ist, stecke ich echt in der Misere.“

„Weil du für ihn nicht mehr an erster Stelle stehst?“

„Nein, ach, das wäre meine geringste Sorge“, befand er. „Es ist, weil er am laufenden Band mit ihr rumvögelt. Ich bin mental mit Mischka verbunden. Ich spüre diese Triebe, die dabei in ihm toben, durchaus auch. Aber im Gegensatz zu Mischka kann ich ihnen nicht nachgehen. Und leider kann ich mich nicht komplett von ihm abschotten. Wenn ich ihnen nicht dabei zugucken will, muss ich ja wenigstens auf der geistigen Ebene aufpassen, dass nichts passiert.“

Yarupolk grinste anzüglich. „Du brauchst ein Mädchen, Kumpel.“

„Und woher?“, grummelte Waleri unwillig. „Mischka wird mich wohl kaum in einen Puff begleiten, wenn er selber in festen Händen ist.“

Yarupolk überlegte einen Moment hin und her. „Lass uns morgen nochmal drüber reden, wenn ich wieder meine Lieferung in deinem Keller einlagere.“
 

Als Yarupolk am nächsten Tag vorbeikam, hatte Waleri das Gespräch längst wieder vergessen. Daher schaute er erstmal reichlich dumm, als sein Boxer-Kollege zum ersten Mal in Begleitung erschien. Wie immer hatte er einen rundherum zugeklebten Pappkarton bei sich, den er in Waleris Keller deponieren wollte. Er war nicht größer als ein Postpaket. Waleri hatte ihn nie gefragt, was in den Kartons eigentlich drin war. Er wollte es gar nicht wissen. Wenn Yarupolk ein paar Tage später nochmal auftauchte und sein Paket wieder abholte, war Waleri schon zufrieden. Heute bekam Yarupolk sein Paket allerdings von einer mürrisch dreinschauenden, junge Dame hinterhergetragen.

Waleri zog gerade eine frisch gewaschene, noch nasse Jacke aus der Waschmaschine im Keller, als Yarupolk sich zu ihm gesellte.

„Hey“, grüßte der Sport-Kollege ihn verwundert. „Musst du jetzt schon das Waschweib für Mischkas Familie spielen? Sind die inzwischen so sauer, dass du nicht arbeiten gehst, dass sie dir den Haushalt aufs Auge gedrückt haben?“

„Nein. Es ist bloß ne gute Ausrede, um in den Keller zu verschwinden und dich zu treffen, ohne dass es jemand mitbekommt. Und Mischka ist oben mit seinem Mädchen alleine in der Wohnung“, brummte Waleri missgestimmt. Er klatschte die Jacke in den Wäschekorb und räumte die Waschmaschine weiter aus.

„Du hast schlechte Laune“, bemerkte Yarupolk. Er grinste dabei leicht, als wolle er Waleri aufziehen.

„Du kannst dir sicher denken, was die beiden da oben machen. Sie wollen ihre Ruhe vor mir, um ungestört ... du weißt schon.“ Er schauderte, als er genau in diesem Moment eine Welle der Erregung von Mischka abbekam. Ja, er spürte sehr genau, was Mischka da oben gerade machte. Und er hasste es. Sauer versuchte er, die mentale Verbindung zu seinem Schützling weiter zu dämpfen, und konzentrierte sich stärker auf die nasse Wäsche, um sich davon abzulenken.

Yarupolk feixte. „Dann ist mein Timing ja super. Ich hab dir was mitgebracht.“ Er packte seine Begleiterin grob am Oberarm und schob sie Waleri hin.

Sie trug einen Minirock, ein tief ausgeschnittenes Oberteil mit Leoparden-Muster und im Gesicht jede Menge Schminke. Ihre langen, dunkelbraunen Haare waren zu langen Korkenzieher-Locken gedreht. Der Appell ans Stammhirn funktionierte, wie Waleri bei ihrem Anblick sofort schmerzlich bemerkte. Seine Hand fuhr unbewusst zu seinem Bauch und er unterdrückte ein Stöhnen. Er versuchte, seine Selbstbeherrschung zu wahren. „Wer ist sie denn?“, wollte er gequält wissen.

„Marischka, eine Bekannte von mir.“ Der Bergtroll-Genius legte ihr einen seiner mächtigen Arme um den Hals und zog sie zu sich heran. Sie machte dabei kein sehr glückliches Gesicht, sagte aber nichts. „Sie ist eine illegale Einwanderin“, fuhr Yarupolk fort. „Und sie weiß, was wir hier in Russland mit illegalen Einwanderern machen. Also wird sie fein artig sein und nichts sagen. Sie weiß, was ihr sonst blüht.“

„Yarupolk, das ist ...“

„Nimm sie ruhig. Sie gehört dir.“

„Yarupolk!“

„Viel Spaß!“, grinste der Kerl, nahm Marischka das Paket aus den Händen, dann wandte er sich zum Gehen. Er ließ Waleri und das Mädchen allein im Waschkeller stehen und zog die Tür von außen zu.

Waleri stöhnte auf, als sein Schützling Mischka ihm eine neuerliche Welle der ungezügelten Lust schickte, die er oben in der Wohnung gerade mit seiner Jelena auslebte. Waleri war zwar durchaus in der Lage, sich von dem silbernen Band zwischen sich und Mischka bis zu einem gewissen Grad abzuschotten und sich abzulenken. Aber gerade die Urinstinkte waren leider am schwersten zu ignorieren. Was für ein elendes Timing ...
 

Waleri saß auf einem Stuhl und starrte Löcher in die Luft. Sein Blick war völlig leer. Er hatte sich die linke Hand unter den rechten Ellenbogen geklemmt, so dass sein Unterarm vor seinem Bauch lag als hätte er Magenschmerzen. Mit Zeige-, Mittel- und Ringfinger der anderen Hand fummelte er an seinen Lippen darum, kurz davor ins Fingernägelkauen umzuschlagen.

„Waleri! Antworte verdammt nochmal!“, schrie Mischka ihn an und donnerte lautstark die flache Hand auf die Tischplatte, was seinen Genius Intimus tatsächlich zusammenzucken ließ. „Was hast du getan!?“

Waleri holte tief Luft. „Das gleiche wie du, wenn ich mich nicht irre.“

„Ich habe kein Mädchen vergewaltigt!“

„Ich auch nicht. Sie hat sich nicht gewehrt.“

„Und du denkst, das ist Beweis genug!?“, schrie Mischka weiter.

Waleri schaute kurz auf seine Fingernägel, wie um sicher zu gehen, dass er sie tatsächlich nicht abgekaut hatte, und ließ die Hand schließlich kraftlos in seinen Schoß fallen. Sein Blick richtete sich auf den blonden Jungen und wurde dabei düster. „Falls es dir entgangen ist: wir sind da oben drin miteinander verdrahtet!“, rief er Mischka in bösem Tonfall in Erinnerung, wobei er sich vielsagend gegen den Schädel tippte. „Jedes Mal, wenn du auf deiner Jelena liegst und ich nicht aufpasse, spüre ich das, als wäre ich es selber. Ich bin genauso ein Mann wie du, Kumpel! Ich will nicht sagen, dass du mich zu solchen Maßnahmen wie vorhin im Keller gezwungen hast, aber ...“ Waleri überlegte kurz. Dann winkte er ab. „Doch, genau das will ich eigentlich damit sagen.“

„Gibst du jetzt ernsthaft mir die Schuld!? Soll ich vielleicht im Zölibat leben, nur weil ich einen Schutzgeist habe?“

„Nein! Aber du könntest etwas mehr Rücksicht darauf nehmen, dass du einen hast! Du bist nicht alleine auf der Welt!“, polterte Waleri zurück. Auch seine Stimme wurde langsam deutlich lauter.

„Was willst du von mir!? Such dir doch selber eine Tussi! Kann ich etwa was dafür, dass du keine Frauen abkriegst!?“

„Jetzt wirst du ungerecht! Vergiss nicht, dass ich mein gesamtes Leben dir unterordne und rund um die Uhr für dich da bin! Dafür könntest du ruhig etwas dankbarer sein!“

„Dankbar!? Du hast eine Frau vergewaltigt und schiebst es jetzt mir in die Schuhe!“

„Ich hab sie nicht ...!!!“

Die Tür ging auf und Inessa kam mit befremdetem Blick herein. „Wouw! Wouw! Euch hört man ja bis ins Treppenhaus. Ich hätte nie gedacht, dass ihr zwei euch auch mal streiten könnt“, merkte sie an und stellte ihre Tasche säuberlich in die Ecke. „Ich habe euch bisher immer nur unzertrennlich erlebt. Was ist denn passiert?“

„Nicht so wichtig“, nörgelte Mischka, schob sich an ihr vorbei und verließ das Zimmer. Er war gereizt wegen der Unterbrechung, wollte seinen momentanen Ärger aber auch nicht vor seiner Schwester ausbreiten.

Inessa schaute Waleri an, der am Tisch sitzen blieb und dem Jungen mit verbissenem, fast hasserfüllten Blick hinterher funkelte. Sie beschloss, lieber nicht weiter nachzuhaken. Die beiden Kerle würden das schon unter sich zu klären wissen.

Der Genius durchbohrte mit seinem finsteren Blick noch einen Moment lang die Tür, bevor er die Fingerknöchel wieder an seine Lippen hob und erneut in dumpfes Brüten verfiel. Er war schlagartig stinksauer. Er war sauer auf Mischkas Egoismus. Er war sauer, dass Yarupolk ihm dieses Mädchen angeboten hatte. Und er war sauer auf sich selbst, ehrlich zu Mischka gewesen zu sein. Er konnte ja schwerlich leugnen, dass er sich mit einem Mädchen vergnügt hatte. Das hatte Mischka über ihre mentale Verbindung genauso deutlich gespürt wie er selber Mischkas Aktivitäten mit seiner Jelena gespürt hatte. Aber er hätte einfach sagen sollen, er wäre mit ihr verabredet gewesen und alles sei im gegenseitigen Einvernehmen von statten gegangen. Das hätte vermutlich viel Ärger verhindert. Zum Glück wusste Mischka nur von diesem Mädchen, und nicht von allem, was er und Yarupolk sonst noch so trieben.
 

An diesem Abend stand Waleri im Bad und begutachtete im Spiegel unmotiviert seine Miene mit dem Bart aus Rasierschaum. Seinen Kopf hatte er schon kahlrasiert, jetzt war noch das Gesicht dran. Aber ihm war inzwischen die Lust vergangen. Er hatte so einen Hass auf Mischka und auf sich selbst. Er hatte mit seinem Schützling den ganzen Tag kein Wort mehr gesprochen. Die immerzu brodelnde Wut, die sie beide aufeinander hatten, und die sie über ihre mentale Verbindung wechselseitig sehr lebhaft zu spüren bekamen, war anfangs mal eine ganz nette Abwechslung gewesen, zumal es Waleris Grundstimmung ohnehin gut abbildete. Aber jetzt, nach etlichen Stunden des Grolls, ermüdete und zermürbte es ihn nur noch. Er schaute auf das Rasiermesser in seiner Hand. Versuchte, sich dazu durchzuringen, es sich endlich auf die Wange zu setzen und seine Rasur zu beenden. Er konnte ja nicht die ganze Nacht hier im Bad vor dem Spiegel stehen bleiben. ... Aber stattdessen drückte er die Klinge auf seinen linken Unterarm und zog sie langsam über die Haut. Sofort schoss Blut darunter hervor.

Mischka riss keine Sekunde später die Tür auf und kam hereingestürzt. „Waleri! Was machst du!?“, keuchte er gehetzt. Er hatte es über die geistige Brücke zu Waleri mitbekommen, hatte es noch zu verhindern versucht, war aber zu spät. „Nein! Tu doch sowas nicht!“, bat er wehleidig. Er schnappte das linke Handgelenk seines Schutzgeistes, damit der seinen Arm nicht wegzog, und presste die flache Hand auf die Schnittwunde, um die Blutung zu stoppen. Dann atmete er tief durch. Versuchte, sich wieder zu beruhigen.

Waleri ließ ihn gewähren und ließ nur wortlos das Rasiermesser ins Waschbecken fallen. Sein Gesicht blieb dennoch eine versteinerte Maske.

Mischka hob vorsichtig den Blick und schaute ihn verunsichert an. Er wusste, dass er nicht ganz unschuldig daran war. „Waleri, warum machst du das?“, fragte er leise nach, womit er klar die Verletzung auf dem Arm meinte. Seine stundenlange Wut auf den Genius war wie weggeblasen. Jetzt waren da nur noch Sorge und ein unterschwelliges, schlechtes Gewissen. Als Waleri nicht antwortete, angelte Mischka nach einer Handvoll Toilettenpapier, um das anstelle seiner bloßen Hand auf die Schnittwunde zu drücken. Der Schnitt war nicht tief, nur ein oberflächlicher Ritzer, der schon fast wieder aufgehört hatte zu bluten. Aber trotzdem schockierte er Mischka. „Es tut mir leid, Waleri“, fand der Junge kleinlaut. „Komm schon, wir finden einen anderen Weg. Bitte mach sowas nicht. Tu dir selber nichts an. Das würde ich mir nicht verzeihen.“

„Ich hasse dich ...“

„Ich weiß.“

„Ich hasse dich!“

„Ja doch“, seufzte Mischka und konzentrierte sich weiter auf den Schnitt an Waleris Unterarm.

„Ich hasse dich“, meinte Waleri noch ein drittes Mal. Ruhig und beherrscht, aber dennoch mit einer unterschwelligen Wut versehen.

„Ist ja gut. Was willst du denn von mir hören?“, entgegnete der matt.

„Keine Ahnung“, gab der Genius missmutig zu. Er zog seinen Arm aus Mischkas Griff und kümmerte sich selbst um seine Blessur. „Ich streite ja nicht ab, dass das moralisch nicht ganz einwandfrei war, was ich heute gemacht habe. Aber ich bin einfach so stinksauer, dass du nicht verstehst, warum ich das gemacht habe.“

„Ich versteh schon, warum du das gemacht hast“, erwiderte der Junge ernst. „Mir fällt nur keine schnelle Lösung dafür ein. Soll ich dir jedes Mal eine Prostituierte herbestellen, wenn ich mit Jelena schlafe? Willst du das?“

Waleri schnaufte nur, enthielt sich aber einer Antwort. Darüber musste er selber erstmal in Ruhe nachdenken. Kommentarlos fischte er sein Rasiermesser aus dem Waschbecken, wusch es unter dem Wasserhahn sauber und setzte seine Rasur fort.

Befehlshaber

[London, England]
 

Edd und Urnue standen im Wohnzimmer und schauten gemeinsam zur Deckenlampe hinauf. Eine der Glühbirnen war wohl durchgebrannt. Sie leuchtete nicht mehr. Die Lampe hing allerdings zu hoch, als dass man mit einem Stuhl oder ähnlichem noch hinan gekommen wäre. Edd seufzte lustlos. „Ich werde wohl die Leiter aus dem Keller holen müssen“, stellte er fest.

„Du bist doch ein Greif. Kannst du da nicht rauffliegen?“, wollte Urnue wissen.

„In geschlossenen Räumen lass ich das mal lieber bleiben.“

„Nagut, warte ...“ Der Junge suchte sich ein Stück freie Wand und legte beide Hände dagegen. Unter seinen Handflächen leuchtete ein grünlicher Schimmer auf. Ein Zeichen dafür, dass er Magie einsetzte. Als nächstes stellte er auch noch einen Fuß gegen die Wand. Dann zog er sich an selbiger hoch. Ohne den geringsten Halt. Seine Hände und Schuhsohlen klebten am Putz fest wie angeleimt. Er hatte sie mit Bann-Magie an der Wand festgebannt. Urnue löste die Bann-Magie in seiner linken Handfläche, setzte die Hand ein Stück höher und bannte sie wieder fest. Dann löste er die Bann-Magie in der rechten Hand, setzte diese ebenfalls ein Stück höher, und bannte sie wieder an der Wand fest. Er zog sich hoch. Dann setzte er den linken Fuß höher. Dann den rechten. Dann wieder die linke Hand. So arbeitete er sich wie ein Gecko Schritt für Schritt die Wand nach oben, Richtung Deckenlampe.

Edd fielen fast die Augen vom Stamm. Er hatte keinen Zweifel, dass Urnue dieses Spiel auch über Kopf an der Decke baumelnd fortsetzen konnte, ohne herunter zu fallen. „Meine Güte, wieso kannst du sowas schon? Ist das nicht ein bisschen zu starker Tobak für dein Alter?“ Bann-Magie an vier getrennten, präzise definierten Stellen des Körpers gleichzeitig zu wirken, war schon schwer genug. Aber dann auch noch abwechselnd an jedem der Punkte die Bann-Magie wieder zu lösen, ohne die anderen drei dabei mit abzuwürgen, das war echt beeindruckend.

„Ich darf nur die Konzentration nicht verlieren“, meinte der Junge, nun doch ein bisschen angestrengt. Inzwischen war er an der Deckenlampe angekommen und drehte die kaputte Glühbirne heraus.

„Du bist was Besonderes“, befand Edd anerkennend.

„Meinst du, Ruppert wäre stolz auf mich, wenn er das wüsste?“

„Da bin ich ziemlich sicher. Du solltest es ihm zeigen.“

„Ich bin doch nicht bescheuert!“, gab Urnue schlagartig sehr ernst zurück. Er warf Edd die Glühbirne zu und machte sich wieder auf den Rückweg. „Am Ende kommt Ruppert noch auf die Idee, dass du nicht mehr gebraucht wirst, weil ich schon stark genug bin. Ich werde schön die Klappe halten.“

Edd seufzte verständnisvoll. „Ich werde so oder so nicht ewig da sein, U.“

„Ich weiß. Aber ich muss es ja nicht noch beschleunigen. Wenigstens bis ich volljährig bin, hätte ich dich gern noch hier. Du bist die einzige gute Person in meinem Leben.“

Edd hielt vielsagend die kaputte Glühbirne hoch. „Ich geh mal eine neue suchen.“ Glücklich wirkte er bei dieser Äußerung nicht. Man merkte, dass Urnue ihm nicht egal war, und dass er zu diesem Thema gern noch mehr gesagt hätte, aber nicht wusste, was.
 

Die Küche im Hause Edelig war groß und tadellos aufgeräumt und sauber. Zwei große Fenster sorgten für einen hellen Raum. Das Küchenmöbel war in einem geschmackvollen kirschrot gehalten. An der Wand stand ein Esstisch mit sechs Stühlen, ebenfalls penibel saubergescheuert und akkurat angeordnet. Das hier war das heilige Reich ihrer Haushälterin, deshalb verirrte sich Edd normalerweise nur sehr selten hier rein. Nicht mal zum Essen. Als Personal war er angehalten, seine Mahlzeiten wo anders einzunehmen. Er aß nie zusammen mit den Hausherren am Esstisch. In der Küche traf Edd auf Ruppert, was ebenfalls ein ungewohnter Anblick war.

priwjet, tawarisch“, warf der Hellseher ihm völlig unvermutet an den Kopf.

Edd glotzte ihn einen Moment lang irritiert an und vergaß glatt, seine Glühbirne in den Mülleimer zu befördern. „Redest du neuerdings Russisch?“

„Ich lerne jetzt Russisch, ja.“

„Und ich vermute wohl mal, das hat auch Gründe?“

Ruppert nickte und lehnte sich mit dem Hintern gegen den Rand der Spüle. „Ich nehme an, dass das nächste Bruchstück in Russland sein könnte.“

„Du nimmst an, dass es dort sein könnte?“, betonte der Greif mit gerunzelter Stirn, als würde das in seinen Ohren irgendwie falsch klingen. „Ist das nicht eine etwas dürftige Grundlage für so eine Aktion?“

Ruppert zuckte mit den Achseln. „Wir werden es nicht rausfinden, solange wir nicht hinfahren. Ich will, dass du dir ein Lehrbuch nimmst und auch Russisch lernst. Ich erwarte von dir, dass wir uns mit den Leuten verständigen können, wenn wir dort sind.“

Edd schaute dem Hellseher mit offenem Mund nach, als der fröhlich aus der Küche spazierte. Er konnte es einfach nicht fassen. Es war jetzt beinahe ein Jahr her, dass sie das letzte Bruchstück gefunden hatten. Das dritte von den fünfen. Seither hatte es keine Hinweise mehr auf den Verbleib der übrigen gegeben. Edd hatte schon fast vergessen, dass sie überhaupt noch danach suchten. Woher war Ruppert sich denn aus heiterem Himmel so sicher, dass er in Russland noch eines finden würde? So sicher, dass er sogar die Sprache dafür lernen wollte? Das wirkte ja, als würde er länger dortbleiben und intensiv vor Ort recherchieren wollen. „Russisch lernen!“, maulte Edd begeisterungsfrei in sich hinein. Da hatte er ja vielleicht Bock drauf ...

„Hast du was gesagt?“, rief Ruppert zynisch von draußen.

„Das steht nicht in meinem Arbeitsvertrag, hey!“

„Hör auf, zu jammern!“

„Russland ist verdammt groß!“, rief Edd aus der Küche zurück. Eine Antwort bekam er darauf nicht mehr.
 

Urnue kam einige Minuten später in die Küche und warf sich auf einen Stuhl am Esstisch. Da Edd immer noch damit beschäftigt war, alle Schränke nach Ersatzglühbirnen zu durchwühlen, bekam er Urnues niedergeschlagene Stimmung gar nicht sofort mit. Erst als er ein Schniefen hörte und sich fragend umsah, bemerkte er die Tränenränder in den Augen des Jungen. „Was ist denn passiert?“, wollte Edd erschrocken wissen.

„Ruppert will mit uns nach Russland.“

„Ja, ist mir nicht entgangen.“

„Er will im Oktober hinfliegen und wer weiß wie lange bleiben.“

„Na und?“, hakte der Greifen-Genius mild nach. Das Problem erschloss sich ihm noch nicht so recht. Aber er wusste, dass Urnue kein Junge war, der wegen jeder Belanglosigkeit gleich herumheulte.

„Das heißt, meine Familie kann nicht herkommen, um mich zu besuchen. Sie wollten im Oktober nach London kommen.“

„Oh ...“, brachte Edd nur hervor, als er sich erinnerte.

„Ich hab Marilsa und Antreo seit 3 Jahren nicht mehr gesehen.“

„Wir reden mit Ruppert, ob wir nicht etwas später fliegen können. Auf zwei, drei Wochen wird es ja wohl nicht ankommen.“

„Hab ich gerade versucht“, erzählte Urnue geknickt. „Er lässt nicht mit sich diskutieren.“

Edd schloss die Augen und atmete tief durch. Das durfte nicht wahr sein.

„Edd, warum hasst er mich so?“, wollte der Junge verzweifelt wissen.

„Er hasst alle Genii, das weißt du doch“, seufzte der Greif müde. „Das liegt nicht an dir. Das habe ich dir schon mal gesagt.“

„Aber mich hasst er ganz besonders! Du weißt irgendwas!“

Edd schwieg und wich Urnues Blick aus.

„Sag es mir!“

„Es gibt nichts, was ich dir sagen könnte.“

Urnue schossen schon wieder Tränen in die Augen. „Edd ... bist du jetzt etwa auch noch gegen mich?“

„Ich weiß wirklich nichts, U. Ich habe eine wage, haltlose Vermutung. Aber ich weiß es nicht mit Sicherheit. Ich weiß, wie sehr du unter Rupperts Behandlung leidest und wie sehr dich das prägt. Und ich werde dir keine Gründe dafür nennen, die ich nicht belegen kann. Damit könnte ich ungewollte Zwietracht säen. Das will ich nicht. Ruppert soll uns selber sagen, was sein Problem ist. Irgendwann wird er das bestimmt.“

„Er sagt, dass er keine Frau finden wird, weil ihm immer sein Genius Intimus im Weg stehen wird, der nie von seiner Seite weicht.“

„Das ist Blödsinn.“

„Natürlich ist das Blödsinn“, stimmte Urnue frustriert zu und schaute Richtung Fenster. Einige Sekunden des Schweigens folgten, bis er sich wieder gefasst hatte. „Glaubst du, Ruppert weiß selber nicht, warum er uns so hasst?“

Gleichgesinnter

[Moskau, Russland]
 

Waleri saß im Park auf einer Bank. Es war nicht gerade gemütlich. Wegen der sinkenden Temperaturen trug er bereits eine dicke, gefütterte Jacke. Kein schönes Wetter, um draußen zu sitzen. Er blätterte gelangweilt in der Tageszeitung. Wenn sein Schützling Mischka Zeit mit seiner geliebten Jelena verbrachte – die beiden standen ein Stück weit entfernt in der Wiese – pflegte er gebührenden Abstand zu halten, um den beiden Turteltauben ihre Privatsphäre zu lassen. Er blieb nur so weit in der Nähe, dass er im Notfall noch rechtzeitig eingreifen konnte, falls irgendwas passierte. Das Ganze ging jetzt schon seit Monaten. Mischka machte mit diesem Mädchen wirklich ernst. Er war total verknallt in sie und sprach über nichts anderes mehr. Und von Jelenas Seite aus beruhte das offensichtlich auf Gegenseitigkeit. Waleri versuchte, sich für ihn zu freuen, und hoffte einfach, dass die extreme Flirterei bald abklang und sein Schützling wieder klar im Kopf wurde. Er faltete seine Zeitung wieder zusammen, als er spürte, wie Mischka zu ihm zurückkehrte.

„Scheiße ... Waleri, ich bin sowas von am Arsch! Ich hab ein Problem!“

„Aha?“ Waleri musterte seinen Schützling zwischen interessiert und amüsiert. Er hatte schon über die mentale Verbindung gespürt, dass der am Rad drehte, bevor Jelena in eine andere Richtung davongestiefelt war. Mischka war kurz davor, zu heulen. Wahrscheinlich hatte seine geliebte Jelena ihm einen Korb gegeben. Waleri überlegte insgeheim schon, was er dem Jungen in diesem Fall wohl sagen sollte. „Lass mal hören, Großer.“

„Wie es aussieht, hab ich Jelena geschwängert.“

Waleri lachte herzlich auf und brauchte tatsächlich einen Moment, um sich wieder halbwegs zu fangen. „Respekt, du fängst ja früh an.“

„Gott, das ist das Ende! Sie will das Kind wahrscheinlich sogar behalten. Was soll ich jetzt bloß tun?“, wimmerte Mischka verzweifelt auf.

„Wo ist denn das Problem dabei?“

„Wo das Problem ist? Meine Eltern werden mich umbringen! Und IHRE Eltern erst!“

„Ach was. Du liebst deine Jelena doch, oder?“

„Ja ...“, gab der Junge kleinlaut zu.

„Siehst du? Also kein Problem. Hilf ihr dabei, sich um das Kind zu kümmern. Heirate sie, sobald du rein rechtlich alt genug dazu bist, und fertig. Warum sollte da jemand Terz machen, solange du zu dem Kind stehst und Interesse daran signalisierst?“

„Ich bin erst 15, Mann! Ich kann mich doch nicht um ein Kind kümmern!“, heulte Mischka wehleidig herum. „Ich bin doch selber noch ein Kind!“

„Ich helfe dir ja dabei.“

Mischka stutzte, wodurch ein Moment des Schweigens entstand. „Du!?“, machte er dann zynisch, durch die pure Komik schlagartig aus seinem Selbstmitleid herausgerissen. Der glatzköpfige Schläger sah gar nicht nach einem passablen Papa aus. „Hast du denn schon mal ein Kind großgezogen?“

„Nein, aber ich habe mir immer eins gewünscht. Irgendwann mal, wenn ich meine Boxer-Karriere hinter mir habe. Da hatte ich allerdings noch nicht mit dir gerechnet.“

Mischka zog eine Augenbraue hoch. „Das klang jetzt böse.“

„Ist aber die Wahrheit“, meinte Waleri schulterzuckend. „Ein Genius ahnt nichts davon, dass er mal einen Schützling haben wird, solange bis sich plötzlich aus heiterem Himmel die mentale Verbindung auftut. Und mit 31 Jahren hätte ich auch beim besten Willen nicht mehr damit gerechnet. Normalerweise finden Genii ihre Schützlinge, wenn sie selber noch Kinder sind.“

Mischka schmunzelte leicht und fast etwas beruhigt. „Du und Kinder. Ich hätte gar nicht gedacht, dass du der Typ dazu bist.“

„Ach, es gibt so vieles, was du niemals von mir denken würdest, Partner. Wie weit ist Jelena denn?“

„Offenbar schon im 4. Monat.“

Waleri nickte nur verstehend, wusste aber nicht mehr recht, was er dazu noch sagen sollte. Es musste wohl ziemlich bald nach dem Schulball passiert sein. Viel länger als 4 Monate waren Mischka und Jelena ja noch gar nicht zusammen. Nun, Abtreibungen wurden in Russland bis in den 7. Schwangerschaftsmonat hinein vorgenommen. Daran wäre es also im Notfall nicht gescheitert. Aber wenn Jelena das Kind behalten wollte, war das ihr gutes Recht.

„Hast du eine Familie?“, hakte Mischka nach. Langsam beruhigte er sich wieder.

Waleri schüttelte den Kopf.

„Auch keine Eltern, oder so?“, wollte der Junge verwundert wissen. Er hatte Waleri in der Tat noch nie mit jemandem telefonieren oder e-mails schreiben sehen.

„Ja, doch, das natürlich schon. Aber der Kontakt zu ihnen ist inzwischen sehr lose. Sagen wir, ich war nicht gerade das perfekte Kind, wie Eltern es sich wünschen würden. Auf die Schule habe ich gepfiffen und hab mich stattdessen nächtelang in den Straßen rumgetrieben, hab mit Hehler-Ware gedealt, mich geprügelt und mich Genussmitteln jeglicher Art gewidmet.“

Mischka konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. So in etwa hatte er seinen Schutzgeist auch eingeschätzt. „Aber einen Schulabschluss hast du schon, oder?“

„Gerade so. Aber frag nicht, was für Noten da draufstehen. Mit ´ner 0190 davor würden die eine super Sex-Hotline abgeben.“

„Du bist ein tolles Vorbild, ehrlich“, kicherte der Junge amüsiert.

„Ich war bisher Berufs-Boxer, mehr muss keiner über mich wissen.“ Waleri raffte sich von der Parkbank auf. Die Zeitung ließ er einfach liegen. „Los, lass uns auf den Schreck einen trinken gehen.“

„Bin dabei. Aber ich nenne es lieber ‚feiern gehen‘.“

„Dann freust du dich also auf das Baby?“

Mischka überlegte kurz. „Irgendwie schon ein bisschen, wenn ich ehrlich bin. Ja.“ Kurz herrschte Ruhe. Dann entschlüpfte ihm wieder ein leiser Fluch. „Kannst du dir vorstellen, dass ich immer noch 15 bin, wenn das Kind geboren wird?“

„Tja ... Du wirst nicht immer 15 bleiben, keine Angst.“

Der Junge spazierte eine Weile nachdenklich schweigend neben seinem Genius Intimus her. Ihm brannte spontan etwas auf der Seele, das er vorher nie bedacht hatte, und das er erstmal irgendwie brauchbar in Worte fassen musste. „Waleri?“, rang er sich irgendwann doch durch. „Es tut mir leid, dass ich dich erst jetzt, nach 3 Jahren, nach deiner Familie frage. Genauso wie mit deinem Geburtstag neulich, den ich auch erst nach 3 Jahren so richtig für voll genommen habe. Du musst ja denken, du wärst mir völlig egal.“

Waleri brummte amüsiert. „Ich rede ohnehin nicht gern darüber. Wenn ich etwas für so wichtig halte, dass du es wissen solltest, sage ich es dir schon“, wiegelte er das Thema nur ab. Bisher war der Knirps wohl zu jung gewesen, um solche subtilen Sozialkompetenzen an den Tag zu legen, und war auch mehr als genug mit seiner eigenen Situation und seinen eigenen Eltern beschäftigt gewesen. Er war einfach nur froh gewesen, dass Waleri für ihn da war und auf ihn aufpasste, hatte seine Hilfe in allen Lebensbereichen gern in Anspruch genommen, hatte sich aber nie für dessen Vergangenheit oder Gefühle interessiert. Warum auch? Waleri war ja der Ältere und Stärkere von ihnen beiden. Ihre Rollen als Beschützer und Schutzbedürftiger waren klar verteilt. Waleri war derjenige, der sich für Mischka zu interessieren hatte, nicht umgekehrt. Mischka hatte den Genius in gewisser Weise als sein Eigentum angesehen, ähnlich einer Maschine, oder schlimmer noch, einem Statussymbol mit dem man angeben konnte. Und Waleri war niemand, der unaufgefordert aus dem Nähkästchen plauderte.
 

Eine Stunde später saßen die beiden in der nächstbesten Kneipe und kippten sich ein Glas nach dem anderen hinter die Bühne. Waleri nahm mit Bier vorlieb, weil man davon nicht ganz so schnell betrunken wurde und er sich der Bodyguard-Verantwortung gegenüber seinem Schützling zumindest noch am Rande bewusst war. Der 15-Jährige hingegen becherte ungeniert puren Vodka. Waleri ließ ihn machen. Sie redeten nicht viel. Waleri selbst war ohnehin ganz dankbar dafür, wenn er mal nicht reden musste. Und Mischka war mit sich selbst und seiner wankelmütigen Zukunft beschäftigt.

Waleri sah sich in der Bar um und nippte dabei an einer Zigarette. Es war nicht sonderlich hell hier drin. Das rustikale Massivholzmöbel war schmierig, die Luft verraucht, im Hintergrund leierte leise ein Radio. Hinter dem Tresen polierte der Wirt Gläser mit einem Tuch, das nicht wirklich zur Sauberkeit der Trinkgefäße beitrug. Um diese Zeit war nicht viel los. Sie waren fast die einzigen Gäste. Nur am Nachbartisch saßen noch drei Leute. Waleri fand sie interessant, weil bei ihnen einiges nicht zusammenpasste. Es handelte sich um zwei erwachsene Herrschaften in feinen Anzügen. Diese Klamotten passten so gar nicht in diese Spielunke, in der sie hier saßen. Einer der beiden hatte lange, dunkle Dreadlocks, die hinten zusammengebunden waren, was wiederrum auch nicht zu dem seriösen Anzug passte, den er trug. Die beiden noblen Herren waren außerdem klar nordeuropäisch, hatten aber ein südländisches Kind bei sich. Waleri konnte sich keinen Reim darauf machen, wie dieses Kind in die Gruppe passte, und wie sie alle drei zusammen hier in diese Kneipe passten. Wenn er die leisen Gespräche richtig einschätzte, sprachen die zwei Erwachsenen Englisch miteinander.

Waleri musste die drei etwas zu intensiv gemustert haben, denn plötzlich wandte sich der Rotschopf zu ihm um. „Verzeihen Sie, darf ich Sie kurz stören?“, wollte er in schwerfälligem Akzent wissen, der sofort verriet, dass er kein russischer Muttersprachler war.

„Was?“, machte Waleri verwirrt. Er hatte nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden. Vor allen Dingen nicht auf Russisch. Noch dazu so freundlich, nachdem er die Truppe so unhöflich angestarrt hatte.

„Wir sind gestern erst in Moskau angekommen und kennen uns hier nicht aus. Könnten Sie uns helfen, bitte?“, fuhr der Mann fort.

Waleri nickte, immer noch gehörig irritiert. „Wobei denn?“

„Mein Name ist Ruppert“, erzählte der Fremde, schnappte sein Getränk, stand auf und kam einfach ungefragt mit an den Tisch von Waleri und Mischka herüber. Der Kerl mit den Dreads rollte verständnislos mit den Augen, setzte sich dann aber ebenfalls kommentarlos mit an Waleris Tisch um. „Wir sind aus England. Wir sind geschäftlich hier“, meinte Ruppert. Sein simples Russisch klang dabei arg, als hätte er es aus einem Lehrbuch auswendig gelernt, aber das kreidete Waleri ihm nicht an. Im Gegenteil war er recht begeistert davon, dass sich jemand extra die Mühe machte, ein wenig die Landessprache zu lernen, bevor er das betreffende Land bereiste. „Wir werden Wochen oder Monate hierbleiben. Kennen Sie ein Hotel, wo wir lange bleiben können? Unser Hotel hat nur 2 Wochen Platz.“

„Das findet sich“, glaubte Waleri und lächelte endlich. Langsam hatte er seine Irritation überwunden und gewöhnte sich an das Gespräch mit den Fremden. „Wir helfen euch gern, euch in Moskau zurecht zu finden.“ Er musterte den bunt gemischten Haufen nochmal aus der Nähe. „Seid ihr Genii?“

„Ich bin ein Magier. Die zwei sind Genii“, erklärte Ruppert offenherzig und deutete auf seine beiden Begleiter. „Das sind Edd und Urnue.“

„Ist der Junge bei euch in der Lehre?“, wollte Waleri interessiert wissen und nickte dabei vielsagend in Urnues Richtung, der immer noch am Nachbartisch saß und keine Anstalten machte, mit herüber zu kommen.

Ruppert schüttelte den Kopf. „Die gehören beide mir.“

„Wie ... Du hast zwei Genii Intimi?“

„Nein, ich bin kein Genius Intimus“, gab Edd gelassen zurück. „Ich bin ein Angestellter, ein Personenschutz. Ich habe einen kündbaren Arbeitsvertrag und werde dafür bezahlt, seinen 'Babysitter' zu spielen.“ Sein Russisch war deutlich besser als das von Ruppert. „Ich habe den Platz seines echten Genius Intimus warmgehalten, solange der noch nicht da war, und unterstütze die beiden jetzt immer noch.“

„Ich kann mich ja schlecht auf einen 14-Jährigen verlassen“, erzählte Ruppert mit etwas abfälligem Seitenblick auf Urnue.

Der Junge funkelte ihn nur mit versteinertem Gesicht an, sagte aber nichts dazu.

Waleri entgingen nicht die unglaublich mystischen, hellen Augen unter dem wilden Pony des Jungen. Für einen Südländer waren diese hellen Augen untypisch. Ein klares Indiz dafür, dass er kein Mensch war, sondern tatsächlich ein Genius. „Der Kleine ist dein Genius Intimus?“, rückversicherte er sich erstaunt. Da Edd altersmäßig wesentlich besser zu Ruppert gepasst hätte, wäre er auf diese Idee nie im Leben gekommen. „Das ist interessant. Bei uns ist es genau andersrum.“ Waleri zeigte auf sich und Mischka. „Wir liegen vom Alter her auch arg auseinander, aber bei uns bin ich als Schutzgeist der Ältere.“

„Oh, ihr seid auch Magi und Genius Intimus?“, fragte Ruppert überrascht nach und nutzte heimlich sein hellseherisches Talent, um mehr über die beiden herauszufinden. Er wusste, dass es nicht gerade die feine Art war, das heimlich zu tun, aber er war einfach zu neugierig. Man begegnete so selten anderen Magiern. „Hm ... der Junge ist für sein Alter nicht besonders stark“, konnte er sich nicht verkneifen. Dann erschrak er über sich selber. Hatte er das jetzt wirklich gesagt? Er hatte es eigentlich anders formulieren wollen. Aber die Anwesenheit von Edd erlaubte es ihm mal wieder nicht, zu lügen.

„Ja, meine Eltern verbieten mir, mein magisches Talent zu nutzen. Ich habe es nie trainiert oder zu kontrollieren gelernt“, stimmte Mischka zu. Er nahm den Kommentar recht gelassen. Dafür war er viel zu euphorisch, endlich mal einem anderen Magier zu begegnen. Das hier war der erste, der ihm je über den Weg lief. Er hatte noch nie mit jemandem gesprochen, der so war wie er.

Ruppert nickte verstehend. „Du bist ein Bann-Magier, was?“ Das hatte seine hellseherische Fähigkeit ihm verraten. „Ich schlage etwas vor. Wir bleiben lange in Moskau. Ihr helft uns, hier alles zu regeln. Und Edd wird dir solange alles über Bann-Magie beibringen.“

„Au ja! Super!“, jubelte Mischka.

Edd verkniff es sich, ein wütendes Gesicht zu ziehen. Ruppert konnte ihn doch nicht einfach verkaufen! Noch dazu, ohne ihn vorher zu fragen! Aber was sollte er jetzt noch sagen? Es war ja offensichtlich schon beschlossene Sache.

„Was tut ihr denn hier in Moskau?“, wollte Waleri neugierig wissen.

Ruppert erzählte ihm von den fünf Bruchstücken, die er zusammentragen sollte. Es war eine langwierige, mühsame Aufgabe, die sich jetzt schon über sieben Jahre hinzog. Für neue Hinweise hatte er Korrespondenzen mit Museen, Archiven, Geschichts-Gelehrten und Betreibern von Privatsammlungen rund um den Globus geführt, die meist lange auf eine Antwort warten ließen und auch oft genug in eine Sackgasse führten. Das Ganze konnte gut und gern zu einer Lebensaufgabe werden, wenn das so weiterging. Er hatte inzwischen drei der Bruchstücke gefunden. Das vierte musste laut seinen Recherchen irgendwo in Russland sein. Er hatte das Gebiet zumindest auf Moskau eingrenzen können. Darum war er jetzt hier, um vor Ort weiter danach zu suchen, was auch der Grund war, warum er sich vorher ein wenig Russisch angeeignet hatte.

Freund

[Moskau, Russland]
 

„Waleri!“, grüßte der Berg von einem Mann fröhlich.

„Yarupolk, wie geht´s? Alles fit?“, gab Waleri gespielt cool zurück.

Sie trafen sich heute allesamt auf dem obersten Deck eines Parkhauses mitten in der Stadt, um Mischkas Eltern nicht zu ärgern. Schon schlimm genug, dass sie Waleri in ihrer Wohnung dulden mussten. Yarupolk wollten sie ihnen nicht auch noch zumuten.

Yarupolk trug seine blonden Haare heute offen. Sie waren vermutlich mit Haarspray nach hinten toupiert, um den beidseitigen Undercut offen sichtbar zu lassen. Er steckte in einer schweren Lederjacke, die ihn reichlich plump aussehen ließ. Er schaute auf die große Decke, die auf dem Boden ausgebreitet worden war, und auf die vier Brotbüchsen. „Machen wir hier ein Picknick?“

„Wir hielten das für eine lustige Idee“, warf Mischka ein. Er schob sich schon das erste Stück Schnitzelstreifen in den Mund.

„Danke, dass du auf Mischka aufpasst, solange ich weg bin. Ganz alleine lassen kann ich ihn leider nicht“, meinte Waleri.

„Kein Problem. Es kommt immer mal vor, dass Schutzgeister ihre Schützlinge kurz in der Obhut anderer Genii lassen, weil sie selber einfach mal verhindert sind. Da ist ja nichts dabei. Da bist du nicht der erste und nicht der einzige.“

Waleri legte Yarupolk eine Hand ins Genick und zog ihn mit Kraft in eine männliche Umarmung. „Rede mit ihm nicht über unsere Machenschaften, sonst war es vielleicht das letzte Mal, dass wir Geschäfte machen konnten. Er weiß bis heute nichts davon“, raunte er dem Bergtroll so leise ins Ohr, dass Mischka es nicht hörte. Dann ließ er Yarupolk wieder los und legt lauter nach: „Pass gut auf Mischka auf. Ich vertraue dir. Bis später.“

„Wann bist du wieder da?“

„In ein, zwei Stunden vielleicht.“

Yarupolk nickte einverstanden.

Mischka, der bereits auf der Picknick-Decke saß, winkte seinem Schutzgeist hinterher, als der davonspazierte. Dann sank er rücklings in die Waagerechte, machte sich auf dem Rücken lang, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schaute in die Wolken hinauf. Er wirkte zufrieden, auch wenn er die größer werdende Entfernung zu seinem Schutzgeist unangenehm spürte und ihn förmlich sofort zu vermissen begann.

Yarupolk setzte sich im Schneidersitz zu ihm und angelte sich ebenfalls etwas zu Essen aus einer der Brotdosen. „Wo geht Waleri denn überhaupt hin?“, wollte er wissen.

„Wahrscheinlich geht er das ‚Opal‘ unsicher machen“, lächelte Mischka.

Yarupolk runzelte ungläubig die Stirn. Er wusste sehr wohl, dass es sich dabei um einen Puff handelte, auch wenn er selbst es noch nie nötig gehabt hatte, in einem solchen zu verkehren. Er bekam seine Frauen wo anders her. „DAFÜR lässt er dich alleine? Ich hoffe doch, das bleibt ein Einzelfall.“

„Bestimmt nicht. Es kann in Zukunft immer mal vorkommen, dass Waleri mich irgendwo abläd, um alleine draußen rumzuziehen.“

„Findest du das in Ordnung?“

„Ach, klar!“, meinte der Junge unbekümmert. „Ich hab´s ihm ja selber vorgeschlagen. Das ist mir hundertmal lieber als wenn er einer Unfreiwilligen zu Leibe rückt. Waleri braucht mal einen Moment Abstand von mir und Jelena.“

„Hab ich gemerkt“, murmelte Yarupolk in sich hinein. Er fasste es einfach mal positiv auf, dass Waleri ihm so wichtig zu sein schien, dass er ihm solche großzügigen Freiheiten einräumte. „Also!“, wechselte er dann euphorisch das Thema, griff wieder in eine Brotbüchse und stopfte sich eine Handvoll Weintrauben ins Gesicht. „Was wollen wir anstellen, solange wir alleine sind? Wollen wir eine Runde boxen, ja?“

Mischka drehte ihm das Gesicht zu. „Ich bin ja nicht irre. Ich sehe doch im Box-Club, wie du Waleri immer verdrischst. Und der ist ein Elasmotherium. So viel wie der halte ich nicht aus. Du sollst mich beschützen, solange Waleri weg ist, und mich nicht gleich selber umbringen, wenn es niemand anderes tut!“
 

Waleri musste schmunzeln, als er zwei Stunden später zurückkam und die beiden wie erhofft dort vorfand, wo er sie zurückgelassen hatte. Mischka schlug gerade mit voller Kraft in Yarupolks Gesicht. Yarupolk schüttelte den Kopf, zeigte auf einen Punkt an seinem Kiefer, indem er sich dagegen tippte, und hielt Mischka seinen breiten Unterkiefer erneut einladend hin. Mischka holte aus und rammte seine blanke Faust auf die bezeichnete Stelle. Dann schüttelte er die Hand fluchend aus, weil er sich selbst mehr wehgetan hatte als ihm. Yarupolk lachte, von dem Treffer absolut unbeeindruckt.

Mischka schaute herum und grinste breit, als er Waleri bemerkte. „Hey, wieder da?“

Waleri nickte leicht, wie er da die letzten Meter mit den Händen in den Hosentaschen ohne Eile über das Parkdeck geschlendert kam. Er war die Ruhe selbst. Mischka spürte über die mentale Verbindung eine innere Ausgeglichenheit, die er an seinem Genius Intimus seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Der Ausflug allein hatte ihm echt gutgetan, wie ein Kurzurlaub. Diese Entspanntheit und Gelöstheit seines Schutzgeistes, allein schon seine plötzlich viel weicheren Augen und seine entkrampften Gesichtszüge, steckten Mischka regelrecht an.

„Du hattest Spaß“, bemerkte der Junge vergnügt.

„Allerdings. ... Und ihr? Ihr trainiert, wie ich sehe?“

„Yarupolk wollte mir gerade eine neue Technik beibringen. Aber ich stelle mich dafür zu blöd an.“

„Nein, tust du nicht. Bei jedem anderen Gegner würde der Schlag schon wirken. Der Kerl hat einfach bloß einen Schädel aus Eisen.“

„Ja.“ Mischka schaute auf seine leicht aufgeplatzten Knöchel. „Eigentlich wollte ich ja gar nicht mit Yarupolk trainieren.“

„Vladimir hätte das sicher auch nicht lustig gefunden, so ganz ohne Schutzausrüstung. Ihr tragt ja keine Boxhandschuhe und gar nichts. Komm, wir sollten langsam los. Wir sind verabredet.“

„Ist gut.“ Mischka kniete sich auf die Decke und raffte die Brotdosen zusammen. Er und Waleri mussten sich nicht darüber austauschen, ob beim jeweils anderen irgendwas passiert war. Als Magi und Genius Intimus wussten sie das auch so. „Yarupolk, willst du die restliche Rote Beete haben?“, bot Mischka an und hielt dem Bergtroll auffordernd eine der Büchsen hin.
 

Waleri und Mischka kamen in die schmierige, verrauchte Kneipe, in der sie Ruppert zum ersten Mal begegnet waren. Inzwischen war es zur festen Gewohnheit geworden, sich jeden Montag und Donnerstag hier zu treffen. Natürlich hatte Mischka seinen Eltern nichts von seinen neuen Bekannten erzählt, oder davon, dass er von einem davon in der Magie unterrichtet wurde. Der Engländer saß bereits an einem Tisch im hinteren Teil der Kneipe, als sie ankamen. Edd war bei ihm, aber von Urnue fehlte mal wieder jede Spur. Um genau zu sein, hatten Mischka und Waleri den italienischen Jungen seit ihrem ersten Treffen nie wieder zu Gesicht bekommen.

„Hey“, grüßte Waleri, als er sich auf einen Stuhl fallen ließ. „Wo ist dein Genius Intimus? Bist du schon wieder nur mit Edd als Schutz unterwegs?“

„Urnue ist da, keine Bange“, lächelte Ruppert sorglos. Das sagte er immer, wenn man ihn fragte, ging aber nie näher darauf ein.

„Kann er sich unsichtbar machen?“, wollte Mischka von der Seite wissen.

„Er ist hier“, betonte Ruppert nochmals und machte mit seinem Tonfall klar, dass er keine Erklärung dazu abgeben würde. Urnue konnte auf die Astralebene wechseln, wo Menschen und die allermeisten anderen Genii ihn nicht wahrnehmen konnten. Ruppert hatte inzwischen beschlossen, dass sich Urnue grundsätzlich auf der Astralebene aufzuhalten hatte, wenn sie außer Haus gingen. Jeder würde Edd für Rupperts Schutzgeist halten und sich im Zweifelsfall mit ihm beschäftigen, falls es zu einem Angriff kam. Damit, dass noch ein zweiter Genius versteckt um Ruppert herumschwirrte, rechnete sicher niemand. Und es hatte den angenehmen Nebeneffekt, dass sich Ruppert nicht mit dem „kleinen Kind“ beschäftigen musste. Urnue war für ihn quasi nicht existent, solange er auf der Astralebene war. „Ich bin mit meinem vierten Bruchstück einen Schritt weitergekommen. If I´m right, befindet sich das verflixte Teil irgendwo im Kreml“, erzählte er munter drauf los. Sein Russisch hatte sich in den wenigen Wochen bereits extrem verbessert, nun wo er quasi 24 Stunden am Tag Russisch reden musste. Zur Not warf er englische Wörter mit ein, wo ihm die Vokabeln fehlten, und hoffte auf das Verständnis der beiden Russen. „Aber es scheint gut durch Zauber geschützt zu sein, damit man es nicht so just like that findet. Könnt ihr mich da reinbringen? Man kommt doch als Besucher in den Kreml rein, oder?“

„Lässt sich sicher einrichten“, überlegte Waleri ohne übertriebene Emotionen. Er hatte weder Angst, die Regierungsanlage zu betreten, noch freute er sich übermäßig darauf. Es war ihm ziemlich egal. Allerdings war der Kreml gewaltig und umfasste dutzende großer Gebäude. Da drin standen Kirchen, Museen, Archive, Verwaltungen, Schatzkammern, Kongressgebäude und sogar Wohnhäuser. Und in viele davon durfte man nicht rein. Andere, insbesondere die unterirdischen Tunnel, waren sogar schon teilweise eingestürzt oder zugeschüttet und wegen der Einsturzgefahr nicht mehr begehbar. Es gab nur einen begrenzten, öffentlich zugänglichen Teil. Und man wurde auf Schritt und Tritt von Wachpersonal begleitet. Die Suche würde problematisch werden, wenn Ruppert sein Ziel nicht ein bisschen genauer kannte. „Was hat es denn mit diesem ‚Bruchstück‘ so richtig auf sich, das du suchst? Muss ja ein mächtig wichtiges Ding sein, wenn es wirklich im Kreml aufbewahrt und so gut geschützt wird.“

Edd nickte. „Es ist ein starkes, magisches Artefakt“, begann er zu erzählen. Er hatte sich über die Jahre mit dem Schmuckstück mehr als vertraut gemacht um keine bösen Überraschungen damit zu erleben. „Es hat einer chinesischen Magierin gehört. Zur Zeit der Streitenden Reiche, als China noch nicht geeint war und sich noch unzählige Fürsten um die Herrschaft über das chinesische Gebiet geprügelt haben, hatte so ziemlich jeder Fürstenhof einen oder mehrere Hof-Magier, die in Schlachten helfen mussten, böse Zauber abgewehrt haben und ihre Fürsten schützen sollten. Einer dieser chinesischen Höfe hatte eine ganz besonders mächtige Magierin, die der Legende nach alle anderen übertrumpfte und ihre Gegner nur so hinwegfegte. Es heißt, ihre gewaltige Macht hätte auf dieser Halskette basiert, nach der wir gerade suchen. Sie bestand aus fünf Teilen, die aneinander gefädelt eng wie ein Halsband um den Kehlkopf lagen. Jedes dieser fünf Teile barg die Macht eines der fünf Elemente in sich.“

„Aber es gibt doch nur vier Elemente! Feuer, Wasser, Erde und Luft!“, warf Mischka neunmalklug von der Seite ein.

Edd lächelte. „In China gibt es fünf. Statt der Luft haben sie Holz und Metall als Elemente. Nachdem die Magierin endlich von fünf anderen Fürsten mit vereinter Kraft besiegt worden war, haben diese fünf Fürsten die fünf Bruchstücke der Halskette unter sich aufgeteilt. Seither ist die Kette verloren. Man findet tatsächlich noch Erzählungen von kleinen Klans, die in ihrer Magie jeweils ein bestimmtes Element ganz besonders gut beherrscht haben. Das ist wohl dem Einfluss des jeweiligen Bruchstücks geschuldet, das sie in ihrem Besitz hatten. Aber mehr als das ist nicht mehr über den Verbleib der Kette bekannt. Sicher wurden die Teile über die Jahrhunderte gestohlen, verschenkt oder als Handelsware verkauft. Die Klans gibt es heute alle nicht mehr. Jedenfalls heißt es, wenn man alle fünf Bruchstücke dieses Halsbandes wieder zusammenfügt, wird man unbesiegbar.“

Ruppert gab von der Seite einen fragenden Laut von sich, weil er dem russischen Gespräch scheinbar nicht mehr folgen konnte. Edd fasste kurz auf Englisch nochmal zusammen, was er gerade erzählt hatte. „Tut mir leid, Rupperts Russisch ist noch nicht so gut wie meins. Als Greif lerne ich viel schneller“, erklärte er dann. „Ich denke jedenfalls, dass die Legende Quatsch ist“, nahm er die ursprüngliche Unterhaltung mit Waleri wieder auf. „Schon, weil das Schmuckstück so alt ist, dass jegliche Magie darin inzwischen verflogen sein dürfte. Und Legenden übertreiben sowieso immer maßlos.“

„Oh, für die damalige Zeit war das sicher ganz großes Kino, was dieses Halsband alles bewirken konnte“, warf Waleri scherzend ein.

„Es ist uralte Magie, die heute gar nicht mehr praktiziert wird“, meinte Ruppert. „Magie entwickelt sich über die Jahrhunderte weiter, genauso wie wir Menschen. Alles in allem sollte der Klunker nowadays also ziemlich ungefährlich sein.“

„Und warum sucht ihr dann so hartnäckig danach?“, wollte Waleri wissen.

„Wegen eines Auftrags. Ein Kunde von mir will die Bruchstücke haben. Er ist Professor für Geschichte an einer Universität, also gehe ich mal davon aus, dass seine ... äh ...“ Er suchte eine Weile vergeblich nach Worten, dann wandte er sich wieder mit ein paar Sätzen auf Englisch an Edd.

„Ruppert geht davon aus, dass die Motive dieses Kunden rein archäologischer Natur sind. Ruppert selber hat kein Interesse daran“, übersetzte der Genius für ihn. „Er wird nur gut dafür bezahlt, sie zu suchen.“

Ruppert grinste wehleidig. „Allerdings hatte ich nicht gedacht, dass es so mühselig werden würde. Meine Hellseherei ist mir keine so große Hilfe wie ich angenommen habe. Ich muss so nah wie möglich an die Quelle.“

„Wahrscheinlich werden wir in den nächsten Tagen häufiger in den Kreml müssen“, kündigte Edd an.

„Wahrscheinlich werden euch dann die Wachleute aus dem Verkehr ziehen“, entgegnete Waleri trocken.

„Wieso?“

„Wegen unerhörter Neugier“, mischte sich Mischka von der Seite ein. Das konnte sogar er den beiden Fremden erklären. „Ihr kennt Russland schlecht, wie mir scheint. Der Kreml ist eine Regierungs-Festung. Da drin werden die Personalien aller Besucher aufgenommen. Wie wollt ihr denen erklären, dass eure Namen jeden Tag auf den Listen auftauchen? Die glauben euch nie, dass ihr bloß Touristen seid. Und ich schätze, ihr seid auch nichts anderes, was die interessieren würde. Man wird euch für Spione halten.“

Edd atmete schockiert durch und lehnte sich zurück, als wolle er Abstand gewinnen. „In Russland will ich lieber nicht für einen Spion gehalten werden.“

„Kluge Entscheidung“, grinste Mischka frech. „Sonst würde man wohl nie wieder von dir hören.“

Edd nickte verstehend und winkte den Jungen dann zu sich herüber. „Komm, wir setzen uns an einen anderen Tisch. Lass die beiden über die Geschäfte reden. Ich bring dir inzwischen noch ein bisschen Bann-Magie bei.“

Fragensteller

[Moskau, Russland]
 

„Also. Wie kommen wir in den Kreml rein?“, wollte Ruppert wissen, während Edd und Mischka ihren Krempel zusammensuchten, um den Tisch zu wechseln.

„Wie meinst du das? An der Besucher-Schranke anstellen und warten, bis wir dran sind, schätze ich mal“, entgegnete Waleri.

„Ich dachte an einen etwas weniger auffälligen Weg. Mein Genius Intimus und ich, wir können beide auf die Astralebene wechseln.“

Waleri runzelte die Stirn. „Und weiter?“, hakte er gespannt nach.

„Frag doch nicht so naiv! Du weißt genau, was ich meine. Über die Astralebene sollte doch wohl ein Reinkommen sein. Ohne lästige Einlasskontrollen mit Namenslisten. Und ohne Aufpasser an der Backe zu haben, oder?“

„Und du meinst, die Regierungs-Elite des Landes hätte diesen Fall nicht bedacht und keine Vorkehrungen dagegen getroffen?“

„Doch, natürlich haben sie das! Wenn ich das nicht meinen würde, hätte ich dich doch nicht gefragt, wie wir da reinkommen!“, raunzte Ruppert ihn ungeduldig an.

„Also Mischka und ich können jedenfalls nicht auf die Astralebene wechseln. Bei diesem Einbruch-Versuch sind wir euch keine Hilfe“, klärte Waleri den Engländer auf.

„Wir brechen doch nicht ein. Wir sehen uns nur um.“

„Dann seid ihr Spione. Und Mischka hat euch ja gerade gesagt, was wir hier mit Spionen machen. In diesem Fall würde ich euch übrigens bitten, zu vergessen, dass ihr uns jemals begegnet seid. Da will ich nicht mit reingezogen werden.“

„Elender Feigling. Ich dachte, du wirst uns helfen! Kannst du nicht mal dein Gehirn ein bisschen anstrengen und eine Lösung für mich finden? Ihr müsst ja nicht mit reinkommen. Ich will bloß die nötigen Infos.“
 

Mischka ließ sich zwei Tische weiter auf einem beliebigen Stuhl nieder. „Ich hab nachgedacht“, begann er.

Der Greif mit den langen Dreadlocks kicherte. „Das ist ja grundsätzlich schon mal gut.“

„Stimmt es, dass man totale Kontrolle über jemanden erlangen kann, wenn man seinen wahren Namen kennt?“

„Ja.“

„Kannst du mir das beibringen?“

„Was!? Wozu?“, wollte Edd erschüttert wissen. Seine Belustigung war sofort verpufft.

„Nur so. Das klingt nach einer nützlichen Fähigkeit. Gerade, wenn ich später mal als Polizist arbeiten will.“

Edd sah ihn weiter skeptisch an. In der Gegenwart eines Greifen konnte man nicht lügen. Er ging also nicht davon aus, dass Mischka komplett gelogen hatte. Aber die ganze Wahrheit war das sicher auch nicht gewesen. „Die meisten Halunken machen dir die größten Probleme, BEVOR du ihre kompletten, wahren Namen kennst. Und mal davon abgesehen, ist das auch ziemlich hohe Schule. So weit bist du noch nicht.“

„Ist Edd dein richtiger Name?“, wollte Mischka dreist wissen.

Edd schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. ‚Edd‘ ist nur ein Code-Name. Die Kurzform von ‚Edelig‘, meinem Arbeitgeber. Mit meinem richtigen Namen hat die Abkürzung ‚Edd‘ nicht das geringste gemein.“

„Ist Ruppert Edelig sein richtiger Name?“

„Bedauerlicherweise ja“, seufzte der Greif unglücklich. „Ruppert hält nicht viel davon, seinen Namen vor anderen Magiern geheim zu halten. Er fühlt sich leider völlig sicher und unantastbar. Das macht uns Schutzgeistern die Arbeit nicht gerade einfacher. Ist ‚Waleri‘ etwa der echte Name deines Genius?“, hakte Edd nach.

„Ja, ist er.“

„Schlecht. Dann solltest du deinem Genius gelegentlich einen Code-Namen geben und ihn Fremden gegenüber nur noch mit diesem Code-Namen vorstellen. Bei Magiern sind Code-Namen nicht ganz so wichtig, aber bei ihren Schutzgeistern unbedingt. Es ist besser, wenn möglichst wenige Leute den wahren Namen deines Schutzgeistes kennen. Sonst kann man ihn ziemlich schnell außer Gefecht setzen und dich dann ungehindert angreifen, oder noch schlimmer, deinen Schutzgeist gegen dich lenken. Der Vorname alleine ist zwar noch nicht ganz so schlimm wie den vollständigen Namen zu kennen, aber es kann trotzdem unangenehm werden. ... Das ist eigentlich das erste, was man lernt, wenn sich herausstellt, dass man magisch begabt ist, und einen Genius Intimus bekommt“, fügte der Greif ein wenig besorgt an.

„Tja. Mir wurde aber leider verboten, irgendwas zu lernen, was mit Magie zu tun hat. Es gibt sehr viel, was ich noch nicht weiß“, kommentierte Mischka.

„Ich dachte, wenigstens Waleri hätte dir ein bisschen was beigebracht. Du bringst ihn doch unnötig in Gefahr, wenn du so ahnungslos durch die Welt gehst.“

Der Junge schüttelte mit gesenktem Blick den Kopf. „Von Bann-Magie, oder davon, einen Schützling zu haben, hat er keine Ahnung.“

„Hat Waleri denn keine Ausbildung? Ich meine, irgendwas, was ihn auf seine Aufgabe als Genius Intimus vorbereitet hätte?“

„Nein. Er war schon über 30, als er zu mir gekommen ist. Er hat ja gar nicht damit gerechnet, jemals einen Schützling zu bekommen, deshalb hat er sich mit dem Thema nie beschäftigt. Und meine Eltern haben es ihm auch nicht gerade leichtgemacht, seiner Aufgabe gerecht zu werden.“ Mischka zog eine Schnute. „Und er beherrscht ja selber keine Magie, abgesehen von seinem Zeitpuffer-Talent.“

Edd musterte aufmerksam die Mimik des Jungen. „Bist du enttäuscht oder frustriert von deinem Schutzgeist?“, fragte er ruhig weiter.

Mischka sackte erschüttert gegen seine Stuhllehne. „Gott, nein! Waleri ist mir furchtbar wichtig!“, stellte er vehement klar.

„Ist Waleri frustriert von dir?“

„Ich denke nicht. ... Naja, zeitweise war er´s mal. Aber wir haben gemeinsam eine Lösung gefunden. Wieso fragst du mich das?“

„Ich versuche nur zu analysieren, was in euch beiden vorgeht“, meinte der Greifen-Genius ehrlich. „Damit ich euch besser helfen kann.“

„Waleri ist ein guter Kerl. Wirklich. Er tut was er kann. Und dadurch, dass er so viel älter ist als ich, hat er mir viel Lebenserfahrung voraus, mit der er mir so gut wie möglich zu helfen versucht. Aber was Magie angeht, ist er halt genauso überfordert wie ich. Wir versuchen einfach nur zu überleben, bis ich volljährig bin. Danach können meine Eltern mir ja nicht mehr verbieten, die Magie vernünftig zu erlernen.“

Edd blies die Wangen zu Ballons auf und ließ die Luft dann langsam wieder entweichen. Er war tatsächlich etwas ratlos. „Ihr seid ein komisches Gespann.“

Der Junge feixte frech. „Noch komischer als ihr?“

„Ruppert und Urnue sind ein ... schwieriges Thema“, gab Edd nickend zu.

„Ich schätze, Ruppert ist ein schwieriges Thema.“ Er warf einen etwas miesepetrigen Blick zum Nachbartisch hinüber. Rupperts Körpersprache hatte sich subtil verändert, seit er mit Waleri allein da drüben saß. „Ich mag es nicht, wie er mit Waleri redet. Vielleicht liegt es auch an seinen unausgefeilten Russisch-Kenntnissen, aber er klingt gegenüber Waleri irgendwie immer ein bisschen abfällig. Mit mir redet er allerdings nicht so.“

Der Greif nickte wieder, sagte aber nichts dazu.

„Ich habe mit Waleri darüber gesprochen. Er will diese Treffen mit euch trotzdem fortsetzen und euch weiter helfen, damit ich weiter von dir Bann-Magie lernen kann. Er sagt, er hält das aus. Aber ganz glücklich bin ich damit nicht. Vielleicht könntest du mal mit Ruppert darüber reden.“

„Glaub mir, darüber rede ich schon seit 10 Jahren mit ihm“, seufzte Edd.

„Dann ist er also nicht nur zu Waleri so?“ Als Mischka wieder keine Antwort bekam, gingen ihm hundert Lichter auf. „Mit dir und Urnue geht er genauso um, oder?“

Der Greifen-Genius rutschte auf seinem Stuhl demonstrativ in eine andere Position. „Was soll ich dir heute beibringen?“, wollte er betont offenherzig wissen.
 

Widerwillig ließ Mischka sich auf den Themenwechsel ein und sammelte seine Gedanken. Er hatte tatsächlich eine Frage für seinen Mentor vorbereitet. „Na schön. Kann man mit Bann-Magie Wunden heilen?“

Edd überlegte. „Hmmmm~ nein“, entschied er. „Bann-Magie ist keine Heil-Magie. Du kannst vielleicht die Haut oberflächlich versiegeln, wie mit einem Druckverband. Aber die darunterliegenden Verletzungen und die inneren Blutungen behebst du damit nicht. Jedenfalls wüsste ich aus der Kalten nicht, wie man das anfangen sollte. Und falls es doch ginge, dann würde es wohl richtig schwierig und aufwändig sein.“ Er grübelte noch einen Moment über dem Thema. „Das ist eine ziemlich ungewöhnliche Idee, die du da hattest. Gibt es einen Grund, warum du das wissen willst?“

Der Nachwuchs-Magier wich Edds Blick aus. „Schon. Aber ich kann dir das nicht erklären. Wahrscheinlich ist es lächerlich.“

„Erzähl doch mal. Ich versuche, nicht zu lachen.“

Mischka griff nach seinem Glas Wasser, das er zwischenzeitlich vom Wirt dieser Spielunke hingestellt bekommen hatte, und nahm erstmal einen tiefen Zug daraus. „Also ... ich hatte letzte Nacht einen ziemlich beunruhigenden Traum. Ich getraue mich gar nicht, ihn bis ins Detail wiederzugeben.“

„Ist darin jemand verletzt worden?“

„Waleri“, bestätigte Mischka gedrückt. „Ich habe geträumt, dass wir beide überfallen worden sind. Mich hatten sie zuerst. Sie haben mir ein Messer an den Hals gehalten. Waleri hat sich widerstandslos gefangen nehmen lassen, weil er annehmen musste, dass sie mir was antun, wenn er sich wehrt. Aber sie haben ihm einfach ... obwohl er sich überhaupt nicht gewehrt hat ...“ Der Junge stockte schaudernd, als er sich erinnerte. „Sie haben ihm einfach einen Dolch durch den Körper getrieben. So richtig langsam und genüsslich. Zentimeter für Zentimeter, diagonal durch den Oberkörper. Vorn am Bauch rein ... und hinten zwischen den Schulterblättern kam er wieder raus. ... Einfach so, ohne Grund. Dann sind sie weitergegangen und haben uns dort zurückgelassen, als wäre nichts passiert.“ Mischka nagte auf seiner Unterlippe. „Das Schlimmste war: Ich konnte Waleri nicht helfen. Weder mit meiner Magie, noch sonst irgendwie. Er ist mir unter den Händen weggestorben.“

„Das ist bitter“, kommentierte Edd beklemmt. Wo nahm so ein junges Gehirn bloß solche grausamen Fantasien her? „Aber es war ja zum Glück nur ein Traum.“

„Mh. Das hat Waleri auch gesagt.“

„Hast du ihm denn davon erzählt?“

„Ja. ... Aber er ...“ Mischka schluckte, die Augen noch immer auf die Tischplatte geheftet, um Edds Blick auszuweichen. „Naja, er hat sich nicht direkt darüber lustig gemacht. Aber ernst genommen hat er es auch nicht.“

„Ich denke, es ist erstmal ein gutes Zeichen, wenn sich dein Unterbewusstsein so um deinen Schutzgeist sorgt und du Angst um ihn hast und ihn nicht verlieren willst. Das zeigt, wie nahe ihr euch steht, schätze ich. Aber mehr als das solltest du in diesen Traum vielleicht wirklich nicht hineininterpretieren.“

Mischka schüttelte unmerklich den Kopf. „Ich muss stärker werden“, entschied er. „Ich muss Waleri helfen können, wenn irgendwas ist.“

Edd lächelte mild. „Du bist ein guter Junge“, kam er nicht umhin anzumerken. „Ich mach dir einen Vorschlag. Ich kann dir zwar nicht beibringen, Wunden zu heilen. Aber ich kann dir beibringen, Waleri mit magischen Schutzschilden zu decken, damit er gar nicht erst verletzt wird, okay?“

Träumer

[Moskau, Russland]
 

Er wusste nicht, wer sie waren. Nur, dass sie seinem Schutzgeist gerade mit quälender Langsamkeit ein langes Messer in den Torso schoben. Vorn durch die Bauchmuskeln und dann aufwärts Richtung Herz. Zentimeter für Zentimeter. Wahrscheinlich durch die Magenwände, durch das Zwerchfell, durch die Lunge. Zentimeter für Zentimeter. Langsam. Seitlich am Herzen vorbei, weshalb er nicht sofort tot war. Als die Klinge mit einem Knacken hinten durch die Rippen brach, brach der Genius in sich zusammen und landete lautlos auf dem Rücken. Sie zogen das Metall wieder aus seinem Körper und warfen es achtlos weg. Lachten. Liefen ungerührt weiter, als hätten sie nur eine Kastanie vom Boden aufgehoben, bevor sie ihren Weg fortsetzten.

Die Machtlosigkeit riss ihn mit Gewalt zu Boden. Ruppert brach neben dem Genius in die Knie und blieb sitzen. Sein Genius lag vor ihm auf der Straße. Die Arme waren zu den Seiten ausgebreitet hingeworfen. Schon völlig kraftlos. Die Augen waren geschlossen. Der Atem ging flach und schwächer werdend. Sehr undramatisch. Ruppert hob wie in Trance den Dolch auf, der daneben lag und verglich die Klingenbreite mit der Stichwunde auf dem Bauch. Die Verletzung sah auf perverse Art harmlos aus. Unspektakulär. Und doch so tödlich. Unter dem Genius breitete sich eine gemächlich größer werdende Blutlache aus, die davon zeugte, dass auf seinem Rücken eine ähnlich ungefährlich aussehende Austrittswunde existierte, dort wo der in den Leib getriebene Dolch wieder herausgekommen war ... Ihm fiel die völlige Stille und Wortlosigkeit dieser Ereignisse auf. Nicht mal der Schutzgeist selber hatte einen Laut von sich gegeben, als er gepfählt worden war. Also schrie Ruppert für ihn.

Ruppert fuhr brüllend aus dem Schlaf hoch. Er schnappte mehrmals nach Luft wie ein Erstickender. Dann übergab er sich auf den Boden. Ein paar Sekunden verharrte er in dieser Haltung. Keuchte. Wartete, ob er sich nochmal erbrechen musste. Wenigstens bekam er wieder Luft, trotz des Ekels. Schließlich wischte er sich mit dem Schlafanzugärmel über den Mund und sank zitternd in sein Kopfkissen zurück. „Gott, so schlimm war es ja schon ewig nicht mehr“, stöhnte er leise.

Urnue und Edd saßen kerzengerade in den Nachbarbetten, von Rupperts Aufschrei gleichsam aus dem Schlaf gerissen. Selbst durch die Dunkelheit hindurch spürte Ruppert ihre erschrockenen Blicke auf sich und fand das ausgesprochen lästig.

„Ist alles okay bei dir?“, fragte Urnue.

„Nein, verdammt! Mache ich diesen Eindruck etwa!?“

Urnue verkniff sich eine böse Antwort. Er meinte es doch nur gut! „Was ist los?“, erkundigte er sich eine ganze Ecke nüchterner weiter. Wenn Ruppert schon wieder derart biestig sein konnte, konnte es ihm ja nicht so schlecht gehen.

„Nur ein blöder Traum“, knurrte der Hellseher. Er haderte mich sich, ob er wirklich davon erzählen sollte. Aber die Bilder waren zu intensiv gewesen. Nicht grundlos hatte er gerade neben sein Bett gespeit. Entgegen seiner Natur musste er sich das irgendwie von der Seele reden. „Ein Genius wurde abgestochen“, begann er zögerlich, als müsse er sich erst ans Erzählen gewöhnen. „Er lag vor mir auf der Straße. Es war MEIN Genius Intimus. Also, nicht du, Urnue. Aber in diesem Traum war das dort mein Genius Intimus. ... Ich ... ich habe ihm wie unter Schock eine Hand auf den Bauch gelegt. Mitten auf die Stichwunde. Ich wollte etwas tun, aber mir fiel einfach nichts ein. Keine Magie, die ich beherrsche, konnte diesem Genius jetzt noch helfen. Ich hab ihn verloren!“ Ruppert machte eine kurze Pause. „Als ich einen Arm unter seinen Kopf geschoben habe, um ihn an mich zu drücken, da habe ich schon die Leichenblässe bemerkt. Sein schwacher Atem ist mit einem letzten Hauch endgültig erstorben ... Und da ... da hab ich ... ich war so machtlos! So hilflos! Ich habe geheult und geschrien. ... Gott, mir schwirrt immer noch der Kopf“, stöhnte er und drückte sich den Handballen gegen die Schläfe.

„Wer war es?“, wollte Edd alarmiert wissen. „Ruppert, sag es mir! Wer ist der Genius gewesen!?“

Rupperts Wehmut schlug sofort wieder in Hass um. „Du weißt selber, wer es war!“, zischte der Hellseher ihn kratzbürstig an.

„Waleri.“

„Ja.“

Schweigen sank über den Raum wie eine schwere, alles erstickende Decke. Ruppert kämpfte wortlos mit seiner Übelkeit und seinen Kopfschmerzen, während Edd einfach bloß versuchte, irgendeine Erklärung für das alles zu finden. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, wie Ruppert an diese Bilder gekommen war.

„Das war Mischkas Traum“, formulierte Edd seinen Gedanken doch irgendwann aus. Das war das einzige, was er mit Sicherheit sagen konnte. Dass es Mischkas Traum gewesen war. Der Junge hatte ihm die unschönen Details ja heute in der Kneipe selbst erzählt.

„Weiß ich.“

„Aber wie ...!?“

„Ein Nebeneffekt meines hellseherischen Talents“, knurrte der Magier. „Ich sauge die größten Ängste und finstersten Gedanken der Genii um mich herum auf wie ein Blutegel. Ich werde jede Nacht von ihnen heimgesucht. Diese fremden Alpträume, die mir nicht mal selber gehören, plagen mich schon seit meiner Kindheit, wann immer ich die Augen schließe.“

„Mein Gott, das muss furchtbar sein“, gestand Edd. Plötzlich hatte er ein nie gekanntes Mitleid mit Ruppert. Erstaunlich, dass er nie etwas davon mitbekommen hatte. Okay, in London, im Anwesen der Edeligs schliefen sie alle in getrennten Zimmern. Aber zumindest auf ihren Reisen während der Suche nach den Bruchstücken hatte sich Ruppert durchaus schon Hotelzimmer mit seinen Genii geteilt. Da waren seine Alpträume wohl nie so schlimm gewesen, dass er die anderen damit geweckt hätte.

„Jetzt weißt du, warum ich Genii so hasse“, grummelte Ruppert matt, kämpfte sich aus der Bettdecke frei, schaltete das Nachtlicht an und suchte nach irgendwas, womit er den Boden aufwischen konnte. Seine erste Wahl fiel auf eine Rolle Klopapier aus dem angrenzenden Badezimmer.

„Aber ... Mischka ist doch gar kein Genius“, merkte Edd irritiert an.

„Nein. Dass ich mir die seelische Dunkelheit eines anderen Menschen einfange, ist auch verdammt selten. Für Genii bin ich wesentlich empfänglicher. Aber bei Menschen, die besessen genug von ihren eigenen Ängsten sind, kommt auch das mal vor.“

Ruhe folgte. Im Schlaf die Ängste anderer Personen, ob Mensch oder Genius, zu durchleben, war schon ziemlich mies. Viel grauenvoller fand Ruppert allerdings die Träume, in denen er ihre dunklen Wünsche auslebte. Meist waren es perfide Rache-Gedanken, durchsetzt von Schmerzen, Mord- und Folter-Fantasien, oder andere niedere Triebe. In diesen Träumen war er nicht das Opfer, sondern wurde in die Rolle des Täters gezwungen. Er war immer wieder fassungslos, zu welchen hässlichen Sachen Genii in ihren Wunschgedanken fähig waren. Und er kopierte dabei beileibe nicht nur ihre nächtlichen Träume, auf die sie keinen Einfluss hatten, sondern auch die gewollten, aktiv ausgemalten Tagträume. Diese Abgründe, selbst wenn sie rein gedanklicher Natur waren, waren der Grund, warum Ruppert Genii eigentlich hasste.

„Los, sag schon was“, verlangte Ruppert schlecht gelaunt, während er mit einer Handvoll Toilettenpapier das Laminat schrubbte.

„Was denn zum Beispiel?“

„Zum Beispiel, dass ich bestimmt gelernt hätte, diese Träume aus meinem Kopf auszusperren, wenn ich was Vernünftiges studiert hätte. Was Magisches, wie Hellseherei, und nicht sowas Blödes wie Bankwesen.“

„Das ist doch deine freie Entscheidung, Ruppert.“

„Ich weiß, wie sehr du es liebst, Recht zu behalten. Du hast ständig gesagt, ich soll auf einen Magister Magicae studieren.“

Edd fuhr sich müde mit dem Handrücken durch das Gesicht. „Findest du nicht, dass das eine unpassende Situation ist, um sich darüber zu streiten?“

„Das ist eine echt bescheuerte Angst, die Mischka da hat. Der Traum war total unrealistisch. Ein vernünftig im Training stehender Schutzgeist sollte ihn problemlos aus so einer Situation befreien können“, maulte Ruppert weiter. Einfach nur um zu reden und kein erneutes Schweigen aufkommen zu lassen, welches er als noch viel bedrohlicher empfand. Ihm steckte immer noch diese von Mischka projizierte, krankhafte Verzweiflung in den Knochen. Aber selbst der Versuch, sich selber einzureden, dass dieser Traum von vorn bis hinten haltloser, unbegründeter Quatsch war, half nicht. Und das machte ihn wahnsinnig. „Wenn er seinem Schutzgeist wirklich so wenig zutraut ...“

„Darum ging es nicht. Mischka hat keine Angst um sich selber. Er hat Angst um Waleri. Er will nicht, dass seinem Schutzgeist etwas zustößt. ... Eine Angst, die DU vermutlich nicht nachvollziehen kannst“, konnte Edd sich nicht verkneifen.

Ruppert warf einen abwertenden Blick zu seinem eigenen Schutzgeist Urnue hinüber, der kaum halb so alt war wie er selber. „Oh, glaub mir, diese Sorge kenne ich nur zu gut. Ich sehe sie bloß aus einem anderen Blickwinkel.“

„Klar. Der Spruch musste jetzt kommen“, kommentierte Urnue. Er warf sich wieder in sein Kopfkissen und drehte Ruppert den Rücken zu. Beleidigt zog er sich die Bettdecke über die Ohren.

„Ruppert, musste das jetzt sein?“, stöhnte Edd augenrollend dazwischen.

Furie

[Moskau, Russland]
 

„Waleri?“

Müde schaute der Genius aus seinem Kreml-Prospekt hoch, dem er die Öffnungszeiten für die Besucher und genauere Lagepläne zu entnehmen hoffte. Vor ihm stand Mischka im Schlafanzug. Verwundert warf Waleri einen Blick auf die Armbanduhr. War es wirklich schon so spät? „He, du bist ja schon umgezogen. Deine Eltern wären begeistert, wenn sie das wüssten.“

„Tja, wer weiß, wann sie mit Inessa aus dem Theater zurückkommen“, entgegnete der Junge nur trocken. Er hatte mal wieder nicht mitgedurft. Aber da war er diesmal nicht böse drüber. Das Theater und allgemein die höhere Kultur interessierten ihn nicht halb so sehr wie beispielsweise der Box-Club. „Ich hab den ganzen Abend Bann-Magie trainiert. Ich bin echt fix und fertig. Ich denke, ich geh jetzt schlafen. Bringst du mich ins Bett?“

„Na klar, Großer. Lass uns gehen.“ Waleri stand schwungvoll vom Sofa auf und packte den Jungen um die Taille.

Mischka quietschte lachend, als Waleri ihn sich wie ein Bündel über die Schulter warf, um ihn die paar Schritte zum Bett hinüber zu tragen. Ganz schön starke Nummer, immerhin war Mischka kein kleines Kind mehr. „Kommst du mit ins Bett?“, kicherte er.

Waleri hielt auf halbem Weg verdutzt inne. „Wie, mit ins Bett!? Du willst, dass ich mich mit zu dir ins Bett lege?“

„Ja!“

„Hast du Entzug, weil deine Jelena nicht in Reichweite ist?“

„Du bist doof.“

„ICH bin doof!? Das hast du nicht umsonst gesagt, du Bengel!“ Waleri drehte sich schnell einige Male um seine Achse, womit er den Jungen auf seiner Schulter mörderisch durchschüttelte.

Die Fliehkraft war übel. Mischka stöhnte theatralisch. Dann lachte er abermals, als Waleri endlich wieder stillstand.

„Soll ich immer noch mit ins Bett kommen?“

„Warum nicht?“

„Tja ... warum eigentlich nicht ...“, murmelte Waleri mit einem belustigten Schmunzeln und vollendete die letzten paar Meter bis zu Mischkas Bett.

„Komm schon!“ Mischka trommelte mit den Fäusten übermütig auf den breiten Rücken, über dem er kopfüber hing. „Ich hab dich doch gern. Und du bist mein Schutzgeist. Warum soll ich dich nachts nicht festhalten dürfen?“, beharrte er.

„Ach, von mir aus. Bis du eingeschlafen bist, kann ich ja noch mit dableiben“, ließ der Genius sich breitschlagen, hievte seinen Schützling von seiner Schulter herunter und ließ ihn mit Schwung ins Bett plumpsen. Das Bettgestell ächzte unter dem Ansturm.

Es war gar nicht so leicht, sich zu zweit in einem Bett zu arrangieren, das eigentlich nur für eine Person ausgelegt war. Zumal Waleri mit seiner mächtigen Bodybuilder-Statur auch nicht gerade wenig Platz für sich alleine brauchte. Mischka kuschelte sich von der Seite eng an und parkte seinen Kopf auf Waleris Schulter. Auf der Suche nach einer bequemen Liegeposition fuhr seine Hand über Waleris Oberkörper. Über den muskelbepackten Brustkasten und die hochtrainierte, hügelige Bauchmuskulatur. Über die blanke Haut, da Waleri kein Oberteil trug und auch die Bettdecke ihnen beiden gerade bloß bis zum Hosenbund reichte. Mischka fragte sich, ob er es auch irgendwann mal schaffen würde, so auszusehen, wenn er nur fleißig genug trainierte. Vermutlich nicht. Waleri war ja kein Mensch. Als Elasmotherium hatte er eine ganz andere Veranlagung zum Aufbau so einer Statur. Er war schon von Natur aus ein Panzer, ohne überdurchschnittlich viel dafür tun zu müssen. Mischka atmete einmal tief durch. Waleri hatte keine bewusst wahrnehmbaren Gerüche an sich, wie er dabei feststellte. Er roch weder nach irgendeinem Deo oder Parfüm, noch nach dem Waschmittel seiner Kleidung, noch nach irgendwelchen körpereigenen Nuancen. Nicht unhygienisch, aber auch nicht direkt pingelig gepflegt. Darauf hatte Waleri noch nie gesteigerten Wert gelegt.

„Darf ich fragen, was los ist?“, hakte Waleri irgendwann nach, nachdem eine angemessene Zeit des Schweigens verstrichen war, sie wieder zur Ruhe kamen und er die Nähe gar nicht mehr so unangenehm fand wie anfangs befürchtet.

„Inwiefern?“

„Nur so. Du hast noch nie gewollt, dass ich mit zu dir ins Bett komme. Nicht mal, als du noch kleiner warst.“

„Das ist nur meine Stimmung im Moment. Edd bringt mir viel über Magie bei. Und je mehr ich darüber lerne, desto bewusster wird mir, wie wichtig du mir tatsächlich bist. Vorher habe ich dich bloß für einen besseren Spielgefährten gehalten. Ich wusste es einfach nicht besser, wozu du da bist. Aber inzwischen habe ich ein klareres Bild davon, was du tatsächlich alles leistest, was die Verbindung zwischen uns tatsächlich bedeutet und welche Erwartungen an deine Stellung als Genius Intimus gestellt werden. Du bist mir dieser Tage einfach wieder total wichtig geworden.“

Waleri nickte leicht vor sich hin. Das verstand er, freute sich auch ein bisschen, wusste aber keine geistreiche Antwort darauf. Also hielt er den Mund. Und als auch Mischka nichts mehr sagte, schloss er zufrieden die Augen. Er war so müde. Er musste aufpassen, nicht versehentlich weg zu dämmern, damit er nachher wieder aus dem Bett verschwinden konnte, wenn Mischka eingeschlafen war.
 

Der spitze Aufschrei einer Frau ließ Waleri hochfahren. Sein erster Gedanke war der Schreck darüber, dass er offensichtlich doch eingeschlafen war. Im Zimmer war es taghell. Jemand hatte die Deckenlampe eingeschalten, zusätzlich zu der kleinen Leselampe am Sofa, die Waleri vorhin hatte brennen lassen. Bevor Waleri sich orientieren und die Lage recht einordnen konnte, folgte dem Schrei eine Handtasche, die dumpf auf ihn herunter donnerte. Waleri gab einen eher protestierenden als schmerzhaften Laut von sich und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. „Oksana, spinnst du?“, brachte er gerade noch heraus, als er in dem gleißenden Licht endlich Mischkas Mutter erkennen konnte, dann traf ihn die Handtasche erneut.

„Geh sofort von meinem Sohn weg!“, zeterte sie.

„Was ist denn los, verdammt nochmal?“, maulte Waleri verständnislos und immer noch nicht ganz wach. Er setzte sich schwerfällig auf und ging dann erstmal vor der Handtasche in Deckung, die schon wieder auf ihn herunter hagelte. Die Tasche hatte nämlich metallene Schnallen, die bei einem guten Treffer durchaus wehtun konnten.

„Schere dich aus dem Bett raus! Auf der Stelle!“

„Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“

„Du perverses Schwein! Mein Sohn ist erst 15!“

„Stopp!“ Waleri hob unterbrechend eine Hand, kniff kurz die Augen zu und rechnete eins und eins zusammen. „Du unterstellst mir doch jetzt nicht ernsthaft, ich hätte mich an Mischka vergriffen, nur weil du uns gerade zusammen im Bett erwischt hast, oder!?“

„Geht´s denn noch eindeutiger!?“, keifte Oksana Bogatyrjow. „Du sollst da verschwinden, habe ich gesagt!“

„Bist du eigentlich noch ganz sauber!?“

„Mam‘!“, ging Mischka selber dazwischen, der ebenfalls endlich wach genug war, um zu verstehen, was sich hier abspielte. „Ich habe eine Freundin, ja!? Ich bin doch nicht schwul! Was willst du von uns?“

„Ich will, dass dieser Kerl seine dreckigen Finger von dir ...“

„Waleri hat gar nichts gemacht!“, schrie Mischka seine Mutter fast an.

Boris Bogatyrjow, der bisher wie erstarrt in der Gegend herumgestanden hatte, fasste sich wieder, kam hinzu und nahm seiner Frau die Handtasche weg, bevor sie noch ein viertes Mal damit auf irgendwen eindrosch. „Oksana, krieg dich wieder ein. Was glaubst du denn, was die zwei hier getrieben haben sollen? Reagier nicht über! ... Und du, Waleri, komm schon aus dem Bett raus und lass Mischka schlafen. Los jetzt.“

Mit einem fassungslosen Kopfschütteln und einem gebrummten „Oh Mann ...“ schlug der Genius die Bettdecke zur Seite und kletterte heraus.

„Inessa, mach dich auch bettfertig!“, verteilte der Vater weiter Anweisungen. „Waleri, zieh dir verdammt nochmal was an!“

„Ich BIN angezogen!“

„Du bist oben ohne!“

„Ja und? Ist das bei Männern neuerdings was Anstößiges?“, gab der Hüne trotzig zurück und warf sich mit verschränkten Armen der Länge nach auf´s Sofa. Schmollend sah er zur Zimmerdecke hinauf. Er trug eine lange, säuberlich mit Gürtel verschnallte Armeehose. Es war also nicht so, als ob man an ihm irgendwas vermutet hätte, was nicht jugendfrei war.

„Ich will nicht, dass du vor den Kindern so rumläufst!“

„Du bist ja bloß neidisch auf meine Muskeln, weil du nicht ...“ Waleris Satz wurde abgewürgt, als Boris ihm einen Pullover mitten ins Gesicht warf.

„Anziehen! Ich diskutiere da nicht mit dir rum“, stellte Mischkas Vater bedrohlich ruhig klar. Er hatte eine beherrschtere Art an sich als Oksana, war damit aber nicht weniger eindrucksvoll. Er brachte Waleri fast immer dazu, das zu tun was man ihm sagte. „In deinem blöden Box-Club kannst du mit deiner Mister-Sexy-Statur angeben. Hier nicht. Du hast ja gerade selber gesehen, wozu das führt. Du erregst öffentliches Ärgernis.“

Der Genius verzichtete auf die Frage, seit wann die Wohnung der Bogatyrjows denn öffentlich sei, und setzte sich auf, um sich den Pullover genervt aber tatsächlich protestfrei überzustreifen.

„Papa, hat Waleri wirklich nichts gemacht?“, warf Inessa aus dem Hintergrund ein.

„Sieht es etwa so aus?“, blaffte Mischka sie vom Bett aus an.

„Ja, tut es! Warum ist Mama denn sonst so sauer?“

„Weil sie nicht ganz dicht ist!“, kommentierte Waleri vom Sofa her.

Oksana schnappte nach Luft. „Du gottverdammter, elender ...!!!“

Fertig angekleidet legte Waleri sich auf dem Sofa wieder lang und verschränkte die Arme abermals. „Immerhin: dich scheint mein Körperbau ja zu reizen, wenn du bei meinem Anblick gleich an versaute Sachen denkst, Oksana.“

„Noch ein Wort und ich prügel dich mit dem Nudelholz, du Hund!“

Waleri warf Oksana einen Luftkuss zu, worüber sie sich nur noch mehr aufblies und fast mit ausgefahrenen Fingernägeln auf ihn loszugehen drohte.

„Mam‘, lass ihn in Ruhe!“, schrie Mischka wieder aufgekratzt dazwischen. „Du bist doch diejenige, die Waleri Missbrauch unterstellt!“

„Ruhe! Alle miteinander!“, befahl Mischkas Vater mit militärischer Strenge. Jetzt war es aber wirklich genug. Er verspürte keine Lust, eine hysterische Furie und einen erfahrenen Boxer in einem Handgemenge voneinander zu trennen. „Ihr seid ja nicht zum aushalten.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ach ja, ich vergaß zu sagen: Nicht wundern, wenn die Charaktere im Laufe der Zeit immer mal eine Idee älter werden. Diese Story hier spielt nicht gerade binnen 3 Wochen. Komplett anzeigen

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