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Die Hoffnung von Aranii - Zerstörung -

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Prolog

Prolog
 

„Wenn ich gewusst hätte, was aus dir wird, hätte ich dich niemals geboren! Ein undankbarer Schnorrer. Das bist du.“

Anna zuckte zusammen. „Aber… aber ich brauche die Bücher. Mama, wie soll ich denn sonst lernen…?“

„Du bist 18, kauf de denen Krempel gefälligst selbst! Wenn de was brauchs sieh zu das de arbeiten gehst.“ Brie Hoffmann zog an ihrer Zigarette und starrte auf den flackernden Fernseher. Das fahle Licht des Bildschirms ließ ihr stumpfes blondes Haar gräulich erscheinen.

„Wenn de unbedingt Abi machen willst, dann besorg dir deinen Scheiß selbst!“ Anna wandte den Blick zu ihrem Vater. Georg Hoffmann lehnte sich mit dem Arm über die Lehne des Sofas, einen Zigarettenstummel im Mundwinkel. Er aschte beim Sprechen auf den Teppichboden. Sein kalter Blick forderte sie auf ihm zu widersprechen. Und obwohl Anna wusste, dass sie sich auf sehr dünnes Eis begab versuchte sie es ein weiteres Mal.

„Was ist…was ist mit dem Kindergeld?“, sie schluckte als ihre Mutter sich mit aufgerissenen Augen zu ihr umwandte und beide Eltern sie mit Entrüstung ansahen. „Ich meine, das Geld ist doch eigentlich für sowas da…“, mit jedem Wort war Annas Stimme leiser geworden.

„Wie bitte was?!“, Brie kreischte fast. Ungläubig warf sie Anna an den Kopf: „Das ist deine Miete an uns.“

Georg schob die blonden Augenbrauen zusammen, die sich über zwei eisblauen Augen befanden und ergänzte: „Und das reicht nich mal dafür. Nebenkosten, Lebensmittel. Dafür bezahlen wir schließlich. Wie kann man nur so raffgierig sein?“ Brie nickte bestätigend.

Anna kamen Zweifel. War sie wirklich undankbar? Es stimmte ja, dass das Kindergeld die Kosten nicht deckte. Aber waren ihre Eltern nicht für sie verantwortlich?

„Aber ihr seid für mich verantwortlich.“, Tränen traten in Annas Augen. Ihre Beine wurden weich und sie verlagerte ihre Stellung. Mit aufeinandergepressten Kiefern erwartete sie die Antwort auf ihre unerhörte Feststellung.

Sowohl Brie als auch Georg saßen mit offenen Mündern da und starrten Anna für einen Moment an. Die Luft war so schneidend, dass es Anna eine Gänsehaut bereitete.

Annas Mutter ergriff das Wort: „Was glaubst de eigentlich wer de bis Johanna? De Prinzessin der alles auf‘m Silbertablett serviert wird? De bis volljährig un damit kannste für dich selbst sorgen. Wenn de das nich passt dann schwing denen Arsch hier raus! Du undankbares Gör.“

Der Kiefer begann Anna zu schmerzen und sie verlagerte die Spannung auf ihre Lippen, auf denen sie jetzt zu kauen begann. Mit zitternden Händen strich Anna sich das braune Haar hinter die Ohren, drehte sich um und flüsterte so leise, dass Anna selbst es kaum verstand: „Bin oben.“

Sie hatte sich gerade zur Zimmertür umgedreht, als hinter ihr der Orkan losbrach.

„WAS HAST DE…!?“, atemlos kreischte Brie diese Worte. „WIE KANNSTE ES WAGEN MICH BLÖD ZU NENNEN?!“ Sie sprang vom Sofa auf und ihr Mann folgte ihrem Beispiel.

Irritiert und zitternd drehte Anna sich um. „Nein, ich habe nicht…“ Mit Schreckgeweiteten Augen starrte sie auf ihre Eltern. Brie wirkte trotz ihres schmalen Körpers bedrohlich. Wie ein Bollwerk, stand ihr Vater daneben, schnaubend, wie ein Teekessel kurz vorm Siedepunkt. „Entschuldige dich bei deiner Mutter!“, forderte er und hob drohend die Hand.

„Nein! Ich meine, ich habe nicht…EHRLICH“. Anna ging einige Schritte rückwärts. Sie hatte schon öfter gedacht, dass ihre Eltern widerliche, großkotzige, dumme und unangenehme Menschen waren. Aber niemals hätte sie es gewagt das laut auszusprechen. Sie stieß mit dem Rücken an die Kante der Zimmertür, die noch halb offenstand. Sie zuckte zusammen, sah sich hektisch um und noch bevor sie sich bewusst dazu entschlossen hatte, rannte sie hinaus.

Doch genau das, was ihre Flucht ausgelöst hatte verfolgte sie nun. Georg und Brie waren hinter ihr her. Sie trampelten und polterten als sie die Verfolgung aufnahmen. Anna hörte, wie sie donnernd hinter ihr schrien: „BLEIB HIER!“ und „DAS WIRSTE BEREUEN!“

Anna dachte nicht weiter darüber nach. Sie rannte weiter. Durch den Flur zur Treppe des Hauses. Eilig nahm sie die Stufen. Sie rutschte ab, ihre Verfolger immer noch hinter sich hörend. Sie waren nah. Anna rappelte sich eilig wieder auf und rannte weiter. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Ihre Eltern waren noch auf der Treppe. Aber sie schrien weiter, zeterten und drohten.

Anna machte den letzten Schritt in ihr Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und griff nach dem Schlüssel. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus. Der Schlüssel! Er war weg! Wo war der Schlüssel?

„Nein. Nein! NEIN! Neinneinneinneinnein!“, stammelnd presste sie sich mit ihrem gesamten Körper an die Tür. Aber sie wusste, dass ihr schmaler Körper, dem ihres Vaters nichts entgegensetzen konnte. Sie sah sich nach etwas um, mit dem sie die Tür verriegeln konnte, doch weder der Drehstuhl vor ihrem Schreibtisch noch die Bücher über Mechanik, die ihr am nächsten auf dem Boden lagen, würden ihr helfen können. Und um das Bett zu verschieben hatte sie nicht genügend Zeit. Anna hörte wie die Schritte ihrer Eltern näher grollten. Das würde die schlimmste Abreibung werden, die sie je bekommen hatte.

Sie war ihnen schutzlos ausgeliefert. Ihre Mutter hatte dafür gesorgt. Sie hatte den Schlüssel genommen. Da war Anna sich sicher. Den Schlüssel, der sie vor Schmerz bewahren konnte. Er war nicht da, um die Riegelplatte zu bedienen und damit den Riegel in Bewegung zu setzen. Dieser einfache Vorgang. Riegelplatte bedienen und damit den Riegel betätigen. Es war nur eine dämliche Platte, die sie nicht erreichen konnte. Einfach nur die Platte bedienen und der Riegel würde sich in die Türzarge schieben.

Zwei Dinge passierten nahezu gleichzeitig. Es klickte, was aber niemand hörte, denn im selben Augenblick ertönte ein RUMS und die Tür mitsamt Anna zum Erzittern brachte. Anna fiel auf den Boden. Sie presste die Augen zusammen, umschloss ihren Kopf mit den Armen und zog die Beine an. Mit zusammengepressten Zähnen wartete sie auf die ersten Schläge. Jeder Muskel war zum Zerreißen gespannt und wartete auf seinen Einsatz. Doch es kam nichts.

Der tosende Lärm war immer noch da. Ihre Eltern keiften und drohten immer noch. Doch sie waren auf der anderen Seite der Tür. Irgendjemand ruckelte an dem Griff und versuchte die Tür zu öffnen. Anna hörte, wie der Türgriff energisch, aber erfolglos runtergerissen wurde. Es hämmerte an der Tür. Schläge mit der Faust, Tritte gegen den unteren Teil der Tür. Aber sie kamen nicht herein.

Durch einen schmalen Spalt lugte Anna zwischen ihren Armen hindurch zu ihrer Zimmertür, die tapfer der Gewalt standhielt. Anna hielt die Luft an und wartete. Sie wartete darauf, dass ihr Retter aus Holz nachgab. Doch sie hielt stand.

„KOMM MIR UNTER DIE AUGEN FRÄULEIN!“, schrillte es von ihrer Mutter her. Und auch Annas Vater meldete sich donnernd zu Wort: „MACH AUF! WIR KRIEGEN DICH EH!“

Sie würden Anna bestrafen. Doch wenn Anna lange genug wartete, würden sie sie anders bestrafen. Vielleicht würden sie ihr verbieten sich Essen zu nehmen oder sie würden Anna ihre Bücher wegnehmen, sie vielleicht vor ihren Augen zerstören, aber sie würden sie nicht mehr schlagen.

Brie und Georg tobten immer noch. Doch der Orkan war abgeflaut. „Wie konnte sie die Tür abschließen? Ich hab‘ doch den Schlüssel.“, flüsterte Georg seiner Frau zu. Halbherzig klopften sie noch an die Tür und letztlich hörte Anna einen letzten Tritt gegen das standhafte Holz.

Anna machte einen tiefen Atemzug als sie hörte, wie die beiden polternd und fluchend die Treppe hinabstiegen. Tränen liefen Anna über die Wangen und tropften auf den harten Boden. Ihr Körper schüttelte sich. Anna zitterte so stark, dass sie nicht aufstehen konnte.

Sie verbrachte einige Minuten auf dem Fußboden, bevor sie sich mit verquollenen Augen und Schluckauf hinsetzen konnte. Mit tränenverschleiertem Blick schaute sie auf die Tür. Nicht dass sie der Tür nicht dankbar für ihren Einsatz war, aber wieso war die Tür nicht einfach aufgesprungen?

Mühsam stand Anna auf und mit wackeligen Beinen schlich sie zur Tür. Sie legte ein Ohr daran. Doch sie hörte nichts. Sie griff nach dem Drücker und bewegte ihn langsam nach unten. Als der Anschlag erreicht war zog Anna, doch die Tür widersetze sich. Hatte sich die Tür beim Zuschmeißen verzogen und ging deshalb nicht auf? Oder war der Riegel durch den Knall zugefallen? Beides erschien Anna unmöglich. Sie beugte sich vor und lugte durch den schmalen Spalt zwischen Zarge und Tür. Als sie die Höhe des Schlosses erreichte stutzte Anna. Tatsächlich war es der Riegel, der die Tür geschlossen hielt. Aber wie war das möglich? Nicht das Anna sich große Sorgen darum machte in ihrem Zimmer eingesperrt zu sein, irgendwie würde sie schon wieder rauskommen. Aber wie hatte der Riegel einrasten können?

Anna ging zu ihrem Schreibtischstuhl. Das Türschloss ließ sie dabei nicht aus den Augen. Fahrig griff sie nach der Lehne des Stuhls und drehte ihn so, dass sie sich mit der Sicht auf die Tür hinsetzen konnte.

Wie war das möglich?

Kapitel 1
 

Anna reichte Wolf eine Kanne mit Kaffee.

„Danke. Womit habe ich so eine tolle Freundin nur verdient?“ Wolf steckte die Kanne in seinen Rucksack und beugte sich zu Anna rüber und gab ihr einen Kuss.

„Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht.“, hauchte sie in den Kuss hinein, stellte sich auf die Zehenspitzen und schlang ihre Arme um seinen Hals. Wolf zog seinen Rucksack, der nun zwischen ihnen klemmte, heraus und legte seinen freien Arm um Anna. Sie spürte, wie seine kräftigen Hände sie an seine Brust drückten und ihr Herz begann zu rasen. Drei Jahre und sie sprang immer noch genauso auf ihn an, wie am ersten Tag. Der blonde Drei-Tage-Bart, der ihn noch unwiderstehlicher machte, kratzte Anna am Kinn.

Mühsam zwang sie sich die Umarmung zu lösen und keuchte: „Wenn du nicht zu spät kommen willst, musst du jetzt los.“

Wolf strich sich mit dem Daumen über die Unterlippe. Gespielt beleidigt sagte er: „Tja, wenn du nicht möchtest…“

Lachend griff Anna nach den Schlüsseln auf der Arbeitsfläche und drückte sie ihrem Freund grinsend in die Hand. „Was ich nicht möchte ist, dass du wegen mir zu spät zur Arbeit kommst.“ Sie lachte. „Hopp hopp!“

Wolf grinste ebenfalls und beugte sich nochmal zu ihr hinüber. „Dann sehen wir uns am Donnerstag.“ Er gab Anna noch einen Kuss. Auf dem Weg zur Tür nahm er seine Jacke und warf Anna, die ihn von der Küchentür aus beobachtete noch einen verschmitzten Blick zu, den Anna kokett erwiderte. Dann zog er die Tür hinter sich zu.

Anna verdrehte gespielt die Augen und ging zurück in die Küche. Sie hatte noch ein paar Minuten Zeit bevor sie zur Uni musste. Anna schaute über die chaotische Arbeitsfläche. Töpfe, Teller und diverse Pflanzen teilten sich den Platz. Dazwischen eine Kaffeemaschine die sich Tropfen für Tropfen füllte.

Anna wandte der Arbeitsfläche den Rücken zu und hockte sich neben einen der vielen Umzugskartons, die in einer Ecke der Küche standen. In ein paar Tagen würde hier ein kleiner Esstisch für zwei stehen. Sie öffnete einen der Kartons, machte ihn aber nach einem prüfenden Blick wieder zu und öffnete den nächsten.

„Ah, hier bist du!“ Triumphierend hielt sie ihre Thermoskanne hoch. Sie spülte sie aus und stellte sie dann neben die Kaffeemaschine. Ein Blick auf den Wassertank sagte ihr, dass es noch einen Moment dauern würde.

Anna beschloss in der Zwischenzeit ein paar Sachen auszupacken. Sie ging ins Wohnzimmer und schaute aus dem Fenster, welches zur Straße zeigte. Sie suchte den dunkelblauen Mercedes den Wolf fuhr. Er war nirgends zu sehen.

Ein paar Kartons standen neben der Couch, die sie am Vortag mühsam in den zweiten Stock geschleppt hatten. Sie warf einen Blick in den ersten und sah sich dann im Raum um. Hier waren die meisten Möbel bereits aufgebaut. Auf der Kommode lagen Hammer und Stahlnägel.

„Okay…“, flüsterte Anna nachdenklich und zog konzentriert die Stirn in Falten. Ohne das Bild in der obersten Kiste zu berühren bewegte es sich durch die Luft, an die Wand und wanderte dort erst nach oben, dann ein Stück nach links, dann wieder nach rechts. Zufrieden nickte Anna. Das Bild nahm ein wenig Abstand von der mintfarbenen Tapete und einer der Stahlnägel flog wie durch Zauberhand durch den Raum und auf die Höhe, in der das Bild schwebte. Er drückte sich in die Wand, gefolgt von dem Bild.

Genau dasselbe passierte mit fünf weiteren Bildern. Als Anna die Uhr aufhängen wollte schreckte sie zusammen. Wolf kam nicht zu spät, aber wenn sie sich jetzt nicht beeilte würde sie zu spät zur ersten Lesung kommen. Anna schnappte sich ihre Umhängetasche und stopfte Smartphone und Schlüssel hinein. Nicht dass sie letztere brauchte, aber niemand kannte ihr Geheimnis und Anna wollte, dass es so blieb.

Während sie in ihrer Tasche wühlte und die Bücher auf Vollständigkeit prüfte, kippte die Kaffeekanne selbstständig ihren Inhalt in die Thermoskanne, die sich, ebenfalls von selbst, verschloss und in Annas Reichweite flog.

Anna warf noch einen Blick in den Spiegel über dem Schuhschrank und blaue, leuchtende Augen blickten ihr daraus entgegen.

Der erste Tag des neuen Semesters. Sie konnte es kaum erwarten. Und endlich war der Weg nicht mehr so weit. Statt den Zug zu nehmen, wie im letzten Jahr, schloss Anna unten am Haus ihr Fahrrad auf und schwang sich darauf.

Warme Luft schlug ihr entgegen und blies ihr das Haar ins Gesicht. Anna trat kräftig in die Pedale und bog an der nächsten Kreuzung ab. Sie genoss den Wind, der an ihrer Kleidung zerrte. Ein Blick in den Himmel zeigte Anna ein strahlendes Blau, ohne auch nur den kleinsten Flecken weiß. Bis eine Möwe in ihr Blickfeld flog und höhnische Laute von sich gab. Anna schmunzelte, als sie die Möwe dabei beobachtete, wie sie mit stierendem Blick die Passanten beobachtet. Insbesondere jene mit einem Frühstücksbrötchen in der Hand.

Anna brauchte nur 10 Minuten mit dem Rad zur Universität. Ihr Smartphone verriet ihr, dass sie es gerade noch rechtzeitig schaffen würde. Vor einer Rasenfläche befanden sich die Fahrradständer. Anna stellte ihr Rad ab und kniete sich hin, um das Schloss um Reifen und Ständer zu machen. Sie wollte gerade wieder aufstehen, als sie einen Regenwurm sah, der eindeutig in die falsche Richtung kroch. Sein Weg würde ihn immer weiter auf die gepflasterte Fläche führen. Vorsichtig nahm Anna den Irrenden zwischen die Finger und legte ihn ein gutes Stück hinter der Kante des Rasens wieder ab. Sie stand auf, rückte die Tasche zurecht und stiefelte zur ersten Vorlesung des Tages.

Alle anderen hatten bereits ihre Plätze eingenommen und auch der Dozent stand bereits vorne und ordnete seine Unterlagen. Anna setzte sich auf den erstbesten Platz und wühlte in ihrer Tasche nach dem richtigen Buch. Zwischen „Mathematik für Ingenieure“ und „Physik Formelsammlung“ fand sie, was sie suchte: „Lehrbuch der technischen Mechanik“

„Psst. Hey Anna!“

Anna wandte sich nach links. „Oh. Hi Sarah.“, gab Anna zurück. „Wie geht’s dir? Hast du die Semesterferien gut verbracht?“

Sarah nickte eifrig. „Hab ich.“

Anna überlegte kurz. Sie hatte sich vor den Ferien kurz mit Sarah in der Mensa unterhalten, während beide in der Schlange standen, um ihr Mittagessen zu bezahlen.

„Du wolltest doch einen Ferienjob annehmen, oder?“. Bruchstückhaft kehrte die Erinnerung an das, eher einseitige, Gespräch zurück.

„Richtig! Das hat auch geklappt. Ich habe die ganzen Ferien über gearbeitet und kann mir im Winter nun endlich den Urlaub in Tirol leisten. Stefanie, Natalie und Andrea haben ebenfalls ihr Geld zusammen. Möchtest du nicht doch mitkommen? Dann können wir uns alle näher kennenlernen. Ich denke das ist eine gute Idee. Nicht, dass ich das negativ meine, aber du bist schon ziemlich oft allein. Wir sehen dich kaum mit anderen reden und in den Pausen bist du auch immer allein. Weißt du, wir dachten uns, dass du vielleicht zu schüchtern bist und daher wollten wir die Initiative ergreifen. Weißt du, das geht auf jeden Fall klar. Ich habe mit den anderen darüber geredet. Sie würden sich ebenfalls freuen, wenn du mitkämst.“

Bitte was?! Anna blieb fast der Mund offenstehen. Ja, sie hatte hier keine Freunde. Und überhaupt hatte sie nur Wolf und ihren Opa. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie ein gesellschaftlicher Sozialfall war. Sie hatte ihre Gründe. Anna biss sich auf die Zunge. So viel Anmaßung war schwer zu verkraften, ohne gepfeffert darauf zu antworten.

„Das ist,“, Anna holte tief Luft, „sehr nett, aber ich denke ich werde Weihnachten lieber mit meinem Freund verbringen.“

Sarah hatte eindeutig eine andere Antwort erwartet. Ihr Lächeln war wie weggewischt und eine Spur kälter sagte sie: „Es ist ja deine Entscheidung. Niemand möchte dich dazu zwingen. Wir hätten uns lediglich gefreut.“

„Ja, ähm.“ Anna rieb sich das Ohrläppchen. „Vielleicht nächstes Mal. Weihnachten ist so ein Ding zwischen meinem Freund und mir.“

Sarah ließ sich nicht zu einer Antwort herab und dankenswerterweise eröffnete Professor Goltz den Unterricht.
 

Dvoraks ‚Poco lento e grazioso‘ erklang. Anna blieb nur wenige Schritte vor ihrem Rad stehen und begann eilig in ihrer Tasche nach dem Telefon zu kramen. Nach einer kurzen Sucherei in den gefühlt unendlichen Weiten ihrer Tasche fand sie es und nahm den Anruf an.

„Hallo Opa!“, strahlte sie ins Telefon.

„¡Hola, señorita! ¿Cómo estás?“ kam es ebenso überschwänglich zurück.

„Ähm…gut?“

Ben Schmitz lachte: „Ist dein Spanisch noch nicht so gut?“

„Es liegt eher an deiner grauenhaften Aussprache.“, feixte Anna und fragte: „Wie ist das Wetter auf Palma?“

„Bestens!“ Anna hörte die Sonne bis zu sich strahlen. „Wir haben letzte Woche einen Ausflug auf die andere Seite der Insel gemacht und das Castell de sa Punta de n’Amer besichtigt. Es war grandios mien Deern!“

Anna schmunzelte. Ihr Großvater musste dieses Schloss, und vermutlich alle anderen auf der Insel, bereits ein Dutzend Mal besucht haben. „Dann bist du mit deinem Senioren-Club gefahren?“

Ein herzliches Lachen erklang und Ben antwortete: „Natürlich! Dafür ist unser Club schließlich da.“ Mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: „Übrigens haben wir zwei neue Mitglieder. Eine davon ist nicht von schlechten Eltern. Das kannst du mir glauben.“

„Opa, bitte!“, Anna schüttelte sich lachend. „Mehr möchte ich gar nicht wissen!“

„Schon gut, ich werde dich nicht mit meinen Liebschaften behelligen.“ Annas Großvater räusperte sich und fragte: „Ich habe eigentlich nur angerufen, um zu fragen, wie es dir und Wolf geht. Seid ihr gut angekommen?“

Anna nickte: „Ja, die ersten Kartons habe ich schon angefangen auszupacken. Aber es wird wohl noch einige Tage dauern bis alles seinen Platz gefunden hat.“

„Ja, das glaube ich. Ich bin froh, dass ich nur noch einmal in meinem Leben umziehen muss und der Weg führt direkt über einen Kombi mit getönten Scheiben zu meiner Marie.“

„Findest du das nicht etwas morbide Opa?“, rügte Anna mit verzogenem Mund.

„Ach mien Deern. Wenn du erstmal so alt bist wie ich wirst du bestenfalls ebenso zynisch wie ich, was dieses Thema betrifft.“ Er sagte es ohne herablassend zu klingen.

Anna schüttelte den Kopf: „Lass uns das Thema wechseln.“ Sie schob den Gedanken an ihren Großvater auf dem Sterbebett beiseite.

„Gut. Was macht die Uni?“, zuversichtlich das dieses Thema weniger Unbehagen auslösen würde wartete er auf die Antwort.

„Wunderbar! Wir haben uns heute unter anderem mit Verfahrenstechnik beschäftigt. Und ich freue mich auch schon darauf, wenn wir die Werkstoffe drannehmen. Es ist immer wieder unglaublich, wie alles funktioniert. Ich habe gestern erst in einem Buch über die physikalischen Grundlagen der Akustik gelesen. Das war faszinierend! Wenn man bedenkt, dass es einfach nur Moleküle sind, die bewegt werden und die wir verarbeiten. Naja, und die Einflüsse von Wasser oder auch Räume muss man natürlich auch berücksichtigen.“ Anna begann über sich selbst zu lachen. „Aber das Thema ist viel zu umfangreich, um es hier zu erläutern. Zumal es dich bestimmt nicht interessiert. Auf jeden Fall muss ich zu dem Thema noch mehr lesen.“

„Ich bestehe darauf, dass du mir bei unserem nächsten Telefonat davon erzählst.“, forderte ihr Großvater. „Dolores erwartet mich nämlich am Pool.“

Anna antwortete in strengem Ton: „Musst du den armen Frauen denn immer den Kopf verdrehen?“ Doch noch bevor sie den Satz halb ausgesprochen hatte, umspielte ein Lächeln ihren Mund. Ihr Großvater war einfach unverbesserlich.

„Aber natürlich mien Deern. Das Leben ist zu kurz, um sich über alles einen Kopf zu machen. Wir telefonieren nächste Woche.“, verabschiedete sich Ben von seiner Enkelin.

„Machen wir.“ Anna klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter und bückte sich, um das Fahrradschloss zu öffnen. „Und dann erzählst du mir alles von den Schlössern und Burgen.“

„Nur, wenn du nach all den Jahren meines Dozierens nicht müde bist.“

„Auf keinen Fall Opa! Ich höre dir gerne zu, selbst wenn du wieder von John de Courcy anfängst.“

Beide lachten und Anna spürte einen leichten Stich in der Brust.

„Bis nächste Woche mien Deern.“

„Bis nächste Woche Opa.“, erwiderte Anna sanft.

Anna holte Kopfhörer aus ihrer Tasche und stöpselte sie in ihr Smartphone. Nach kurzem Suchen fand sie ihre Lieblingsplaylist und die ersten Klänge von Yirumas ‚Because I love you‘ erklangen. Mit dieser Musik in den Ohren nahm Anna ihr Rad und beschloss kurzerhand die Stadt zu erkunden. Seit sie hier studierte hatte sie kaum mehr gesehen als den Weg von der Bahn zur Uni und zurück. Und Wolf würde sie heute auch nicht erwarten.

Das Wetter war unverändert und die Sonne blendete Anna ein wenig, als sie die Straße, auf der sie gekommen war, einfach weiter entlangfuhr. Sie schaute sich zu allen Seiten um, spähte in jede Straße, an der sie vorbeikam. Die Gebäude waren sehr unterschiedlich. Teils waren sie alt, aus der Jahrhundertwende. Andere waren neueren Datums und störten oftmals das Bild einer Straße.

Ohne Ziel fuhr Anna quer durch die Stadt. Auf dem Deich machte sie eine Pause und in einem kleinen Café nahm Anna Platz und bestellte Kaffee und ein Stück Kuchen. Begeistert beobachtete Anna alles, was sich in ihrem Blickfeld befand. Die Wellen hatten etwas Beruhigendes, wie sie seicht an die Hafenmauer stießen. Den Kontrast dazu boten die Möwen und anderen Seevögel, die sich um die Fische zankten. Einige von ihnen belagerten ein kleines Fischerboot. Eine Möwe versuchte ihr Glück bei Anna. Sie landete nur wenige Meter entfernt von ihr und fokussierte erst den Rest vom Kuchen und dann Anna. Sie spürte, wie er sie regelrecht analysierte und in seinem kleinen Kopf einen Plan ausheckte, wie er am besten an seine Beute kam.

„Du bekommst nichts! Vergiss es!“ schmunzelte Anna und nahm demonstrativ eine Gabel voll in den Mund. Nach ein paar Minuten verstand die Möwe, dass hier nichts zu erbeuten war und gab ihren Lauerposten auf. Anna nahm den letzten Schluck aus der Tasse und setzte ihre Erkundungstour fort.

Sie fuhr entlang des Deiches, weiter durch einige Nebenstraßen, an der Fähre vorbei und fand sich mit einem Mal vor weiten offenen Flächen Grüns. Sie hielt an und schaute sich um. Links von sich sah sie die Gebäude der Stadt, hinter sich ebenfalls. Vor ihr, weit in der Ferne konnte sie einige Schornsteine ausmachen. Anna vermutete, dass sie zu einem Industriegebiet gehören musste. Das lag dann aber mehrere Kilometer entfernt. Rechts von sich sah Anna nur Grün und Himmel.

„Das Industriegebiet am Ende sieht nicht sehr verlockend aus.“, murmelte Anna. In dem Augenblick wechselte das Lied und John Williams ‚Jurassic Park Theme‘ setzte ein. „Wie passend.“, schmunzelte Anna und fuhr mit klopfendem Herzen entlang der Felder und Bäume, die diese säumten.

Das Spiel mit Licht und Schatten unter den Bäumen zeichnete sich auf Annas Händen und Beinen ab. Es war wunderschön, auch wie die Farben der Blätter sich veränderten. Wie sie einerseits so kontrastreich sein konnten, andererseits dort, wo das Licht sich direkt durchbrach, aufgeweicht waren und verschwammen. Es war, als gehörte Anna hierher und gleichzeitig…Anna brauchte nicht nach den richtigen Worten zu suchen. Es war kein neues Empfinden. Sie fühlte sich wie in einem Maßanzug. Er lag perfekt auf der Haut und doch war es ein Fremdkörper.

Anna seufzte und ermahnte sich selbst: „Hör auf damit. Wenn du so denkst hast du wirklich selbst schuld, dass du dich so fühlst.“ Anna seufzte erneut: „Und Selbstgespräche sind der erste Schritt auf dem Weg zum Wahnsinn.“

Je weiter Anna fuhr, umso schneller schlug ihr Puls. Sie bog um eine Kurve, die dichtbewachsen war mit Büschen und Bäumen. Als sie die Kurve hinter sich ließ sah Anna ein altes Haus. Es sah aus wie eine alte Gaststätte. Bestimmt mehrere hundert Jahre alt. Zwar ein großer, aber doch gedrungener Bau mit einer Scheune als direkten Anbau. Das Holz war grünlichgrau verwittert und das Dach war mit Reet eingedeckt, welches auch schon bessere Tage gesehen hatte. Fensterläden, ebenfalls aus Holz, hingen zwar gerade in den Angeln, aber die Farbe blätterte ab. Rechts vom Gebäude führte eine Treppe hoch zu einer Brücke, die über einen kleinen Bach führte und damit zu noch mehr Feldern.

Zuerst dachte Anna das Gebäude sei unbewohnt. Doch die Vorhänge in den Fenstern und die gepflegten Blumentöpfe neben der Eingangstür wiesen auf einen Bewohner hin.

Annas Puls raste und sie wischte sich unbewusst ihre feuchten Hände an ihrer Jeans ab. Mit aufgerissenen Augen betrachtete sie dieses Gebäude. Mit jedem Schlag ihres Herzens zog es sie näher dorthin. Ohne es zu bemerken ging Anna auf das Haus zu.

Sie bemerkte nicht die Taube, die auf einem der Fensterläden saß und sie argwöhnisch beäugte. Anna setzte immer wieder einen Schritt vor den nächsten. Sie suchte die Front des Gebäudes nach dem ab, was sie anzog. Doch so wie Anna wusste, dass hier irgendetwas war, wusste sie auch, dass es nicht das Haus an sich war.

Anna setzte einen weiteren Fuß nach vorne und zuckte zusammen. Die Taube stieß einen Schrei aus, der einer Taube nicht zustand. Anna suchte nach dem Verursacher dieses markerschütternden Tons. Zugleich öffnete sich die Haustür und Anna konnte nur noch ihre Hände ausstrecken, um sich abzufangen, als ihr die Beine unter den Füßen weggezogen wurden. Anna lag seitlich auf dem Boden. Der Sturz hatte Staub aufgewühlt. Mit zusammengekniffenen Augen wollte sie sich aufsetzen, da spürte sie, wie ihr etwas gegen die Brust gedrückt wurde.

„Wer bist du?“, hörte Anna eine Frauenstimme sagen. Ein Schauder lief ihr über den Rücken und sie gab den Versuch aufzustehen umgehend auf. „Ich fragte, wer du bist. Antworte!“. Die Fremde unterstrich ihre Worte, indem sie den Druck auf Annas Brust verstärkte.

Hektisch antwortete sie: „Anna! Mein Name ist Anna!“

Die Frau stand bedrohlich über Anna. Doch was immer Anna am Boden hielt, es war nicht zu sehen. Eine große Brille umrahmte stechende Augen. Sie blinzelte nicht und schien mit Annas Antwort nicht zufrieden zu sein.

„Weshalb bist du hier?“, fragte sie in einem erstaunlich kühlen Alt.

Anna versuchte sich sowohl auf das Gesagte als auch auf die Ursache des Drucks auf ihrer Brust zu konzentrieren. „Was? Ähm…Ich war nur…“ Anna überlegte kurz. Konnte es sein das eine unsichtbare sie Kraft niederdrückte? „Ich war mit dem Rad unterwegs. Mehr nicht.“ Wenn es eine Kraft wie ihre war, dann konnte sie vielleicht gegenhalten. Die Frau stellte Anna noch eine weitere Frage, doch Anna fokussierte sich auf das was sich auf ihre Brust presste. Sie fühlte, dass es kein Gegenstand war, den sie nicht sah. Sie ertastete die Moleküle in der Luft. Das bedeutete –

Anna japste.

„Ich fragte,“ hörte sie die Frau grollend sagen, „was du von mir willst!“

„Nichts!“, presste Anna hervor. Die Frau hatte den Druck auf sie erhöht. Anna sammelte sich erneut und blendete alles aus, außer der Luftmoleküle, die sich geballt auf ihren Körper drückten. Diese Frau hatte sie komprimiert. Auf genau dieser einen Stelle erhöhte sie die Luftdichte. So stark, dass es Anna unmöglich war aufzustehen.

Das wollen wir mal sehen! Anna stellte ihre ganze Kraft gegen die Komprimierung. Sie wollte die Moleküle wieder zu ihrer eigentlichen Dichte versprengen. Oder wenigstens soweit lockern, dass sie aufstehen konnte. Sie tastete jedes Teilchen mit ihrer Kraft ab. Durchdrang die Komprimierung und schlüpfte durch die Nischen zum nächsten. Es verlief alles sehr schnell. Anna rann der Schweiß von der Stirn als sie sich zusammennahm und alle Kraft gegen die Luftmoleküle stieß.

Anna hatte erwartet, dass die Teilchen auseinanderstoben würden. Doch nichts geschah. Sie versuchte es erneut, sammelte sich noch einmal und setzte zum zweiten Schlag an. Doch bevor sie ihre Aktion umsetzen konnte, löste sich der Druck auf ihrer Brust buchstäblich in Luft auf.

Keuchend lag Anna am Boden. Ihre Augen weit aufgerissen auf die Frau gerichtet. Diese zupfte am Ärmel ihres Pullovers während sie ihre Position über Anna aufgab und sich vor sie stellte. Trotzdem ließ sie Anna nicht einen Moment aus den Augen. Der eiskalte Blick war zwar gewichen, doch dafür beherrschte nun Argwohn ihre Augen. Und das war nicht weniger angsteinflößend.

„Du bist,“ setzte sie an überlegte kurz und fuhr dann fort, „ein Splitter.“ Sie schüttelte das aschblonde Haar und fügte hinzu: „Aber das ist unmöglich.“

Anna wagte es aufzustehen. Sie wusste, dass diese Frau ihr ähnlich war. Daher blieb sie, wo sie war, beobachtete aber jede Bewegung der Fremden. Dann tat sie etwas, mit dem Anna nicht gerechnet hatte. Die Frau drehte Anna den Rücken zu, ging zur Eingangstür ihres Hauses und befahl: „Komm mit!“

Jetzt war es an Anna argwöhnisch zu sein. Diese Frau war wie sie, zumindest vermutete Anna das, und dass machte sie neugierig. Aber andererseits hatte diese Frau nicht nur bewiesen, dass sie aggressiv reagieren konnte, sondern auch weitaus stärker war als Anna. Sie starrte der Frau hinterher, die jetzt im Eingang stand und offensichtlich auf Anna wartete.

Abhauen, oder bleiben? Abhauen oder bleiben? Anna war sich nicht sicher, was die richtige Entscheidung war. Doch nachdem Anna wieder stand und den Blick über das Gebäude schweifen ließ, dessen Inneres sie immer noch zu sich rief, folgte Anna der ominösen Frau.

Anna betrat das Haus und fand sich zunächst in einer holzgetäfelten Diele wieder. Hier waren eindeutig verschiedene Epochen verewigt, betrachtete man den Baustil des Hauses, die Art der Vertäfelung und die Möbel. Jedes Element, das Anna erblickte schien einer anderen Zeit anzugehören. Eine Lampe aus den 70ern, eindeutig Kunststoff in grellem rot, stand auf einem kleinen Beistelltischchen mit Intarsien und Schnitzereien der Renaissance. Anna hatte genug Schlösser und Burgen mit ihrem Großvater besucht und sich angehört, wie er über die diversen Stile der Epochen referierte, um zu erkennen, dass die Möbel authentisch waren.

In diesem Raum war jedoch nicht Schluss. Anna folgte der Frau durch eine Tür, links der Diele und betrat damit die Küche des Hauses. Sie war geräumig und auch hier war der Mix aller möglichen und unmöglichen Stile und Zeiten zu erkennen. Eine Küchenhexe aus dem 19. Jahrhundert stand zwischen einer verspielten Anrichte aus der Romantik und einem mit Gold und Ranken verzierten Hochschrank aus dem Barock. Wobei die Essecke aus Eiche eindeutig aus dem 21. Jahrhundert stammte.

Die Einrichtung wirkte skurril und doch passte alles auf unharmonische Weise zusammen. Falls so etwas funktionieren sollte.

Anna war so fasziniert von diesem Anblick, dass sie fast vergaß, weswegen sie hier war. Die Frau zog die Aufmerksamkeit wieder auf sich, indem sie ein vernehmliches Räuspern von sich gab. Sie wies Anna einen der Stühle der modernen Essecke. Sie selbst lehnte sich an die Anrichte, spielte mit den Kugeln ihrer Halskette und starrte Anna an.

„Entschuldigen Sie,“, begann Anna, doch sie klappte den Mund wieder zu. Ihr Gegenüber sah sie erwartungsvoll an. Doch mehr war zu diesem Zeitpunkt nicht von Anna zu erwarten. Von all den Fragen, die ihr gerade im Kopf herumschwirrten, ließ sich keine lange genug greifen, um sie in verbaler Form umzusetzen.

Als die Frau erkannte, dass Anna nicht den Anfang machen würde ergriff sie die Initiative.

„Mein Name ist Moruka. Moruka Cestei. Hexenmeisterin 13. Grades und Wächterin des 3. Portals.“ Sie sagte es, als wäre es eine Beiläufigkeit und fügte, ebenso beiläufig hinzu: „Und wie komme ich zu dem Vergnügen einen Hexensplitter vor meiner Haustür zu finden?“

Anna entnahm diesen wenigen Sätzen einige Informationen und es bildeten sich neue Fragen, doch ebenso wie die anderen huschten sie in einen Winkel ihres Gehirns, der eine Weiterverarbeitung unmöglich machte. Also konzentrierte Anna sich auf die ihr gestellte Frage.

„Ich war mit dem Rad unterwegs und als ich dieses Haus sah, da hat es mich irgendwie…naja, angezogen.“ Anna kratzte sich im Nacken und versuchte dem forschenden Blick von Moruka standzuhalten.

Diese kniff die Augen zusammen und fragte dann weiter: „Anna. Richtig?“ Anna nickte bejahend. „Wie heißt du weiter und wie alt bist du?“

Den Grund der ersten Frage erfasste Anna. Es war schlichte Höflichkeit sich vorzustellen. Doch weshalb sie auch ihr Alter wissen wollte, konnte Anna sich nicht vorstellen.

„Anna. Naja. Eigentlich Johanna Hoffmann. Ich bin 22.“ Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her.

„22? Wirklich?“, hakte Moruka nach.

Wieder nickte Anna. Konnte diese Frau nicht einmal den Blick von ihr nehmen?

„Wer weiß noch von deiner Kraft?“

„Niemand. Nur ich.“ Moruka musste glauben, Anna wäre etwas dümmlich. Sie ärgerte sich selbst über ihre einsilbigen Antworten. Aber es war schwer einen Gedanken zu fassen. All die Zeit dachte sie, sie wäre allein. All die Jahre in denen sie niemanden von ihren Kräften erzählt hatte. All die Fragen woher die Kraft kam und warum sie sie hatte. Diese Frau konnte sie beantworten. Und ihr noch viel mehr Antworten geben, als sie vor wenigen Minuten noch Fragen hatte. War es wirklich erst ein paar Minuten her, dass Moruka Anna angegriffen und sie erkannte hatte das Moruka wie sie war?

Moruka riss Anna aus ihren Gedanken. „Weißt du was du bist?“

Eine sehr gute Frage, dessen Antwort Anna sich auf Grund einiger Informationen Morukas zusammenreimen konnte. „Seit eben, so in etwa.“, sagte sie daher zögerlich und schaute Moruka hoffnungsvoll an.

Jetzt war es an Moruka zu nicken. „Ich denke wir werden ein bisschen länger reden. Etwas Tee kann nicht schaden.“ Damit griff sie nicht etwa zu einem Wasserkessel, den Anna vergebens in dieser Küche suchte, sondern sie setzte sich unverzüglich zu Anna an den Tisch wo zeitgleich zwei Becher mit dampfendem Wasser und dem Geruch von würzigem Tee erschienen. Ebenso tauchte eine längliche Schatulle aus Stein und Glas mit Einlagen aus Metall auf. Sie war wunderschön und Anna betrachtete sie fasziniert.

Moruka nahm einen Schluck von ihrem Tee und Anna tat es ihr gleich. Auch wenn er eben noch gedampft hatte, so war die Temperatur jetzt perfekt zum Trinken.

„Ich hoffe du magst ihn etwas stärker, ich mag keine dünne Plürre.“, merkte Moruka an.

„Er ist gut so danke.“

„Ich muss gestehen, für mich ist das hier auch eine neue Situation.“ Moruka drehte ihren Stuhl, sodass sie jetzt Anna gegenübersaß und beugte sich ein Stück vor. „Es gibt, neben dem Planeten, auf dem wir jetzt sind, noch viele weitere. Es sind ebenfalls bewohnte Planeten, von denen einige durch Portale miteinander verbunden sind.“

Annas Augen weiteten sich und sie wagte es nicht Moruka zu unterbrechen.

„Eines dieser Portale bewache ich hier. Es führt zu einem Planeten, der ganz anders ist als die Welt, die du bisher kennst. Und doch stammen wir alle von denselben Vorfahren ab. Als die Menschen sich zwischen dem Homo Erectus und dem Homo Sapiens befanden, gab es eine Gruppe, die in der Lage war, besondere Dinge zu bewerkstelligen. Zuerst war es nur einer, doch je mehr Abkömmlinge dieses einen Menschen auf die Welt kamen, desto häufiger waren sie anders. Sie waren noch nicht wie wir es heute sind. Doch diese Gruppe von Menschen, gelangte bei ihrer Wanderschaft durch eines der Portale. Ob und wann genau sie sich entschlossen, dies als ihre neue Heimat anzusehen kann heute niemand mehr sagen. Doch diese Menschen blieben vollzählig auf diesem neuen Planeten. Er ist der Erde nicht unähnlich und doch ganz anders.“ Moruka nippte gedankenverloren an ihrem Tee.

Anna ließ ihren Tee unbeachtet. Sie wollte mehr erfahren, so unglaublich das Alles auch klang.

„Aus diesen Menschen entwickelten sich Hexen und Hexer. Es ist meine Welt. Und in gewisser Weise auch deine. Auch, wenn du bis eben nicht davon wusstest. Es gab eine Zeit, da wanderten Hexen und Hexer zwischen den Portalen hin und her, wie es ihnen beliebte. Doch es kam immer wieder zu Verbindungen zwischen beiden Welten und deren Nachkommen fanden nicht immer ihren Weg zu uns. Vor einigen hundert Jahren verabschiedete die Regierung ein Gesetz, nachdem das Betreten der Portale allen untersagt wurde. Alle Kinder aus Verbindungen zwischen Hexen und Erdenmenschen wurden eingesammelt. Seitdem das Gesetz in Kraft getreten ist, dürfen nur noch Portalwächter auf der Erde verweilen, bis sie abgelöst werden. Sie verlassen ihren Posten nie.“ Wieder nahm Moruka einen Schluck. Dann hob sie den Blick und sah Anna fest in die Augen. Unbewusst rückte Anna bis an die Kante ihres Stuhls. „Obwohl es unmöglich erscheint, bist du ein Nachkomme einer Hexe oder eines Hexers.“

Anna wollte bereits einwerfen, dass das bei ihren Eltern wohl kaum möglich sei, da hob Moruka die Hand. „Es ist wahrscheinlicher, dass deine Kräfte einige Generationen übersprungen haben. Manchmal bemerken Kinder aus solch einer Verbindung selbst nichts von ihren Fähigkeiten und geben sie unbemerkt weiter. Es kann also sein, dass du nur noch zu einem geringen Teil eine Hexe oder einen Hexer in dir hast. Dennoch macht dich das zu einem Hexensplitter. So werden Nachkommen wie du genannt.“

„Ich bin ein…ein Hexensplitter.“, flüsterte Anna ehrfürchtig. Sie hätte nie gedacht das die Bezeichnung dessen, was sie war, so viel Bedeutung haben konnte. Doch nur allein zu wissen, welchen Namen das hatte, was sie war, machte Anna ein Stück leichter.

„Anna,“ richtete Moruka wieder das Wort an Anna, „Ich würde gerne einen Test mit dir machen.“

Anna versteifte sich. „Was für eine Art Test?“

Moruka lachte herzlich. Es war das erste Mal, dass Freundlichkeit ihr Gesicht erhellte und Anna war überwältigt von der Intensität. „Keine Sorge, du musst nichts weiter machen, als einige dieser Kugeln in die Hand zu nehmen.“ Mit diesen Worten schob sie den wunderschönen Kasten zu Anna hinüber und öffnete ihn.

Nun war Anna noch faszinierter. Sie hatte es durch die gefärbten Glaseinlagen nicht sehen können. Aber im Inneren der Schatulle befanden sich 20 Kugeln, fein säuberlich nebeneinandergereiht. Jede so groß wie eine Murmel und jede in einer anderen Farbe oder Musterung. Keine war wie die andere.

Moruka griff in die Schatulle und nahm die dreizehnte Glaskugel heraus. Sie war blutrot und weiß marmoriert. Moruka hielt sie zwischen den Daumen und Zeigefinger, sodass Anna sie gut sehen konnte. Zunächst geschah nichts, doch dann fing die Kugel an zu leuchten. „Diese Sphären sind eine Art Skala. Mit ihnen kann die Kraft einer jeden Hexe und jedes Hexers gemessen werden.“ Sie legte die Kugel zurück auf ihr Bett aus Samt. „Alle Sphären links der dreizehnten kann ich aktivieren. Doch alle darüber erfordern eine Kraft, die ich derzeit nicht besitze.“ Moruka wies auf die Kugeln. „Probier du es jetzt.“

Anna zögerte kurz, streckte dann aber die Hand aus, um die erste Kugel von links zu nehmen. Sie war glasklar mit einer bläulichen Tönung.

„Nimm gleich die zweite oder dritte. So, wie du mir Paroli geboten hast, bist du über den ersten Grad hinaus.“, warf Moruka ein und setzte die Tasse wieder an. Als sie bemerkte, dass diese leer war füllte sie sich wie von selbst mit frischem, dampfendem Tee.

„Okay.“ Annas Finger zitterten, als sie die zweite Sphäre berührte. Sie legte sie flach auf die Hand.

„Du musst deine Energie in die Kugel leiten.“, ergänzte Moruka. Sie ließ die milchige, blassrosa Murmel nicht aus den Augen.

Kaum befolgte Anna die Anweisung erstrahlte die kleine Kugel so plötzlich, als hätte Anna einen Lichtschalter betätigt. Bevor Moruka etwas sagen konnte tauschte Anna die Kugeln aus. Grellgrün kullerte sie auf Annas Handfläche und gewann an Intensität, als Anna sie zum Leuchten brachte. Wieder wechselte Anna die Kugel aus. Dieses Mal gegen eine Kugel, die den 4. Grad anzeigte. Es war eine cremefarbene mit kupferroten Äderchen. Anna hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger und führte ihr Kraft zu. Doch trotz aller Anstrengungen brachte sie nicht das kleinste Glimmen zustande.

„3. Grad. Beachtlich ohne jede Unterweisung.“ Moruka nickte anerkennend.

Anna legte die Kugel zurück in die Schatulle und betrachtete sie. „Moruka, was wird jetzt geschehen?“ Sie dachte an die Gesetze, von denen Moruka ihr kurz zuvor erzählt hatte und sie schluckte.

Moruka presste die Lippen aufeinander und sah aus einem Fenster, dass den Bach zeigte. „Genau kann ich es nicht sagen. Ich werde dem Qireratum Meldung machen müssen. Dieser Rat wird letztlich entscheiden, was mit dir geschieht.“ Moruka wandte sich Anna zu. „Es kann sein, dass du auf Aranii leben wirst. Es kann aber ebenfalls sein, dass du hier auf der Erde bleibst.“ Sie holte tief Luft und sprach weiter: „Dann aber ohne deine Kräfte.“

Anna erstarrte. „Nein!“, brach sie aus und schüttelte heftig den Kopf. „Das bin ich! Auch wenn ich es geheim halte, gehört diese Kraft zu mir!“ Sie sprang auf und rannte hinaus. Sie würde ihre Kräfte nicht aufgeben. Sie musste nur die Tür erreichen und weit genug vom Haus entfernt sein, dann konnte diese Frau sie nicht mehr einholen. Nicht, wenn sie sich an die vorgegebenen Regeln hielt.

„Anna warte!“ Hörte sie hinter sich rufen. Anna nahm in der Hektik die Tür links von sich. Sie hatte erwartet draußen zu stehen. Doch stattdessen stand sie in einem neuen Raum. Anna machte auf dem Absatz kehrt und setzte einen Schritt aus dem Zimmer heraus. Dann blieb sie wie versteinert stehen.

BABUM. BABUM. BABUM.

Zuerst dachte Anna an eine Panikattacke, so heftig schlug ihr Herz. Dann drehte sie sich um und warf einen skeptischen Blick ins Zimmer. Dieser Raum war eigenartig. Die Wände waren steinern, ebenso die Decke. Nur der Boden bestand aus Holzdielen. Einige Lampen in der Decke erleuchteten den Raum. Es gab keine Fenster und auch ansonsten war nichts in diesem Raum. Nicht ein Möbelstück.

Moruka stand hinter Anna. Doch sie bemerkte es nicht. Anna scannte den Raum. Irgendetwas musste hier sein. Sie spürte, wie es sie anzog. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, schritt sie das Zimmer ab. Es war etwas in der Mitte des Raumes.

„Was…?“, entfuhr es Anna und erstarrte in ihrem Gang.

Im Zentrum des Raumes flirrte die Luft. Es sah aus, wie an heißen Tagen über dem Asphalt. Doch waren es Abmaße wie bei einem Kleiderschrank. Das war es, was sie die ganze Zeit über angezogen hatte.

„Was ist das?“, flüsterte Anna in den Raum hinein und erwartete keine Antwort. Daher erschrak sie, als Moruka zu sprechen begann.

„Das ist das Portal.“ Moruka kam einen Schritt näher. „Du kannst es spüren?“

„Ja.“, raunte Anna und ließ das Portal nicht aus den Augen. „Dahinter liegt es?“

„Aranii, ja.“, bestätigte Moruka.

In Anna stieg ein Gefühl auf, dass sie nicht benennen konnte. „Moruka, kann ich es mir überlegen?“ Sie drehte sich um. Mit standhaftem Blick unterstrich sie ihre Bitte.

Die Arme verschränkt nestelte die Frau an ihrer Kette. Dann nickte sie. „Ich werde nichts sagen.“

Lautlos formten Annas Lippen ein ‚Danke‘ und sie ging an Moruka vorbei, hinaus aus dem Haus. Und mit jedem Zentimeter, den sie sich vom Portal wegbewegte, pochte ihr Herz einen Schlag weniger.
 

„Moin Opa!“, sprach Anna in ihr Smartphone.

„Was gibt’s mien Deern? Ist irgendwas passiert? Wir haben doch erst heute telefoniert.“, hörte Anna die vertraute, aber besorgte Stimme ihres Großvaters.

„Nichts Besonderes. Alles gut. Ich brauche nur deinen Rat.“, beschwichtigte sie ihn und sprach schnell weiter. „Was meine, ähm, berufliche Zukunft angeht.“ Anna wägte ihre Worte gut ab. Egal wie sie sich entschied, sie würde ihrem Großvater keine Lügen auftischen. „Angenommen du hast die Möglichkeit etwas zu tun, dass du unbedingt machen möchtest, aber du kannst die Konsequenzen nicht genau einschätzen. Würdest du es trotzdem tun?“ Anna war sich nicht sicher, ob diese Wortwahl ihn nicht eher noch mehr beunruhigte.

Doch wie so oft erstaunte Ben sie. Nach kurzer Überlegung sagte er bemüht sorgenfrei: „Mien Deern. Du kennst doch die Geschichte von Oma und mir.“

Natürlich kannte Anna die Geschichte ihrer Flucht aus Nordirland. Opa, protestantischer Geschichtsprofessor und Oma Marie, Tochter aus katholischem Hause.

„Als wir in den 60ern aus Nordirland flohen.“, fuhr Annas Großvater fort, „Da wussten wir auch nicht, was uns erwartete. Wir mussten es tun, denn es war das Richtige für uns. Trotzdem waren die Konsequenzen hart. Marie hat ihren Vater nie wiedergesehen. Nur deine Urgroßmutter kam einmal im Jahr zu uns, nachdem sich das Schlimmste gelegt hatte. Es war das einzige, was deine Großmutter jemals Schmerz gebracht hat.“ Anna hörte Wehmut in seiner Stimme. Und in diesem Moment vermisste sie ihre Großmutter zusammen mit ihm.

„Aber sie hat es nie bereut.“, stellte Anna fest.

Ein schwaches Lächeln auf den Lippen sagte Ben: „Nein, niemals.“

Mit ruhiger Hand strich Anna sich eine Strähne hinter das Ohr. „Danke Opa.“

„Konnte ich dir helfen?“

„Da bin ich mir noch nicht sicher.“. Anna schnippte einige Kekskrümel vom Vorabend von der Couch.

„Hm.“, brummte Ben. „Liegt dir sonst noch etwas auf der Seele?“

Kurz dachte Anna daran, ihrem Großvater alles zu erzählen. Sie hatte schon oft daran gedacht ihn einzuweihen. Doch sie wollte nicht, dass ihr geliebter Opa sie mit anderen Augen sah. „Nein, das war alles. Danke Opa. Ich melde mich bei dir.“, versprach Anna.

„Bis dann mien Deern.“, vernahm sie noch. Dann war das Gespräch beendet und Anna saß allein in der neuen, noch chaotischen Wohnung. Draußen begann es zu dämmern.

Was, wenn sie diesen Schritt ging? Es würde sich viel verändern. Sie würde viel zurücklassen. Anna legte die Kopfhörer in ihre Ohren und suchte nach der richtigen Playlist. Lang Langs Interpretation von ‚Merry Christmas Mr Lawrence‘ setze an. Als das Lied endete schaltete sie auf Wiederholung. Etwas regte sich in Anna. Es war eine Empfindung die neu für sie war. Als zöge es an ihr. Als griff es in ihr Innerstes und forderte sie auf.

Als das Lied zum dritten Mal lief erkannte sie, welches Gefühl es war, das sie seit dem Erblicken des Portals mit sich trug. Fernweh. Nie zuvor hatte sie sich nach einem fremden Ort gesehnt. Nicht einmal an einen bekannten. Sie verspürte nie Heimweh und auch Fernweh war ihr bis heute nur dem Namen nach bekannt gewesen. Kein Platz auf dieser Welt hatte sie derart gelockt. Dabei wusste sie nichts, rein gar nichts von dieser anderen Welt. Diesem Planeten namens Aranii. „Das ist hirnrissig!“, tadelte Anna sich.

Doch Großvater hatte recht. Manchmal waren es die Dinge wert, alles zu riskieren.

Anna riss sie die Kopfhörer ab und rannte ins Schlafzimmer. Das Bett war bereits aufgebaut und auch der Schrank stand bereit gefüllt zu werden. Doch Annas Ziel waren die Kartons unter dem Fenster. Wie von Geisterhand hoben und stellten sie sich so auf, dass Anna in jeden bequem reinschauen konnte. Sie überflog den Inhalt einiger Kisten, bis sie einen fand, dessen Inhalt zu dem passte, was sie suchte.

Stifte und Papier. Sie rannte wieder ins Wohnzimmer und setzte sich an den Couchtisch, den Block auf dem Schoß und einen Stift in der Hand. Unsicher setzte sie an: Liebster Wolf… Es war zwar ein Anfang, aber was sollte sie nun schreiben? Wie sollte sie erklären, was sie bewogen hatte zu gehen? Wie verhindern, dass man sie suchte? Es dauerte lange, bis Anna die richtigen Worte fand und letztlich verfasste sie zwei Briefe. Einen adressierte sie an Wolf, den anderen an ihren Großvater. Sie legte sie gefaltet auf den Tisch. Dann hielt sie inne. Wenn jemand verschwindet, was nimmt er mit?

Hastig packte sie einige Kleidungsstücke zusammen. Das Ladekabel für das Smartphone, auch wenn sie es vermutlich nicht brauchte, packte sie ebenfalls ein. Dazu Portemonnaie, Schlüssel und Hygieneartikel.

„Geld!“, stieß Anna hervor. Wer verschwand brauchte Geld. Sie würde auf dem Weg zu Moruka alles Geld von ihrem Konto abheben. Was nicht viel war, da der Großteil ihres Lebens von Wolfs Einkommen als Fernfahrer bestritten wurde. Aber es machte die Geschichte ihres Verschwindens authentischer.

Anna drehte sich noch einmal um. Diese Wohnung hatte ihr neues zu Hause werden sollen. Hier hatten sie gemeinsam leben wollen. So wie es aussah, würde das wohl nicht geschehen.

Anna knipste das Licht aus und schloss die Tür hinter sich.

Kapitel 3
 

Anna ging festen Schrittes auf das Haus zu. Wieder hörte sie eine Taube, als dem Haus zu nahekam. Dieses Mal jedoch, war es ein Gurren, wie man es einer Taube auch zutraute. Da Anna keine Klingel fand, klopfte sie und die Tür schwang auf. Hinter der Tür war niemand, der sie hätte öffnen können. Also ging sie davon aus, dass Moruka irgendwo im Haus auf sie wartete.

Anna ging nach links Richtung Küche. Die Tür war einen Spalt auf und sie hörte bereits am Anfang der Diele, wie Moruka sich mit einer weiteren Person unterhielt.

„Du hast wirklich einen Dusel, dass du mich hier hast.“, kam es scherzhaft aus der Küche.

„Da hast du recht meine Liebe. Und ich bin dir unendlich dankbar, dass du mir mein Laster nachsiehst.“ Der tiefen Stimme nach, vermutete Anna als Gesellschaft einen älteren Mann. Sie stockte kurz.

„Worauf wartest du Anna? Komm rein!“, zwitscherte es durch den Spalt.

Anna öffnete die Tür und trat ein. „Entschuldigung Moruka, ich wollte nicht stören.“ Etwas unsicher stand sie auf der Schwelle. Moruka saß am Esstisch. Ihr gegenüber hatte ein Mann platzgenommen. Tiefe Falten lagen in seinem Gesicht, aus denen blassgraue Augen Anna von Kopf bis Fuß studierten. Als er aufstand raschelte seine schwarze Robe und eine große Anzahl an Abzeichen klimperten und klackten an einer hellblauen Schärpe.

Er trat näher und legte seine rechte Hand auf die Brust. „Guten Tag.“ Dann bedachte er Moruka mit einem auffordernden Blick.

„Ach entschuldige Dafon.“, sie sprang von ihrem Stuhl auf und stellte sich neben Anna und den Mann. „Dafon, das ist Anna Hoffmann, ein Hexensplitter. Anna, das ist Dafon Granbes, Großmeister 19. Grades und Leiter der wissenschaftlichen Akademie.“

Anna senkte den Blick und ein leichter Schauer fuhr ihr über den Rücken, als sie den Ausdruck bemerkte, mit dem Großmeister Granbes sie bedachte.

„Soso. Moruka,“ richtete er das Wort an seine Freundin, „sag bloß dir ist einfach so ein Hexensplitter zugeflogen.“

„Nah dran, mein Lieber. Nah dran.“, verkündete sie und wies mit der Hand auf den Tisch, wo bereits drei Becher bereitstanden. Anna registrierte, dass es sich dieses Mal jedoch nicht um Tee handelte. Was genau es war konnte Anna nicht definieren. Sie schnupperte an der Flüssigkeit, aber das einzige, was sie mit Gewissheit sagen konnte war, dass es sich um etwas alkoholisches handelte. Hochprozentig, so wie es in der Nase biss.

„Um genau zu sein Dafon, stand Anna heute Nachmittag unerwartet vor meiner Tür. Sie war in der Nähe unterwegs und spürte das Portal.“

Großmeister Granbes zog die Augenbraue hoch. „Du hast gar nichts davon erwähnt.“ Anna sah das Schmunzeln, welches er hinter seinem Becher zu verstecken suchte.

Moruka straffte kaum merklich den Rücken und erwiderte: „Nun, jetzt weißt du es.“

Anna wagte es nicht die Stille zwischen den beiden zu unterbrechen und wartete gespannt ab.

„Na dann Anna. Erzähl mir etwas über dich!“, forderte Großmeister Granbes überraschend.

Anna schaute zwischen Moruka und Großmeister Granbes hin und her. „Ich weiß nicht genau, was Sie von mir erwarten.“

„Erzähl einfach drauf los. Dir fallen bestimmt ein paar Dinge über dich ein, die ich wissen sollte.“, half er Anna.

Anna kramte in ihrem Gedächtnis und wählte ein paar Informationen aus. Auf ihren Becher starrend begann sie: „Vor 4 Jahren verschloss ich eine Tür, ohne einen Schlüssel zu haben. Ich fand dann nach und nach heraus, wie meine Kräfte funktionierten. Ich erzählte nie jemandem davon. Weder meinem Großvater noch meinem Freund. Ich habe sehr viel geübt und mein Studium vermittelt mir noch mehr nützliches Wissen.“ Sie drehte den Becher in ihrer Hand.

„Und deine Eltern?“, hakte Großmeister Granbes nach.

Anna verkniff den Mund als sie antwortete: „Sie sind für mich nicht existent.“ Anna war froh, dass er nicht weiter nachfragte.

Stattdessen wollte Großmeister Granbes wissen: „Kennst du deinen Grad?“

Anna nickte. „Der Dritte. Wir haben ihn heute Nachmittag ermittelt.“

Er warf Moruka einen fragenden Blick zu und sie zeigte ein kaum merkliches Nicken. Dann seufzte Großmeister Granbes und strich sich über seine Robe. „Wir müssen uns überlegen, wie wir vorgehen. Hier wird das Qireratum entscheiden müssen. Das du bereits Vorkenntnisse in der Nutzung von Magie hast wird sicherlich von Vorteil sein. Dennoch wird nicht jeder deiner Aufnahme zustimmen.“

„Darf ich fragen warum nicht?“ Anna umklammerte den Becher fester.

Moruka tippte energisch auf die Tischplatte. „Es ist ein Quintett aus bequemen alten Wortklaubern!“

„Vielen Dank, liebste Freundin. Ich werde das jetzt nicht persönlich nehmen.“, kommentierte Großmeister Granbes trocken.

„Ach du weißt doch, dass Anwesende ausgenommen sind.“, giggelte sie und füllte ihren Becher großzügig voll.

Er zog die Braue hoch und richtete sich wieder an Anna: „Moruka hat nicht ganz unrecht mit ihrer Beschreibung. Nachdem jeglicher Kontakt mit den Erdenmenschen untersagt wurde, ging man nach einigen hundert Jahren nicht mehr davon aus noch Hexensplitter zu finden. Daher wurden Regeln und Gesetze, die Hexensplitter betrafen, gestrichen. Das bedeutet, dass es theoretisch keine Regelungen gibt, mit denen dein Fall abgedeckt ist.“

Moruka meldete sich wieder zu Wort: „Und da das Qireratum es gerne möglichst kuschelig hat, werden sie dich vermutlich abweisen.“

Großmeister Granbes wartete, ob Moruka noch etwas zu ergänzen hatte, doch es kam nichts mehr: „Sie werden sich vermutlich auf Gesetze berufen, die eigentlich bei Lebensformen anderer Planeten Anwendung finden.“ Er seufzte und sah Anna ernst an. „Diese sind jedoch ausschließlich im Kriegsrecht zu finden.“

Anna schluckte.

Alle griffen nach ihren Bechern. Annas Getränk war in der Zwischenzeit lauwarm geworden. Doch mit ein wenig Magie konnte sie den Inhalt, was auch immer es sein mochte, erhitzen. Großmeister Granbes beobachtete Anna. Sie verzog das Gesicht, als sie den ersten Schluck nahm. Jetzt verstand sie, weshalb Moruka bereits nach einem Becher giggelte und sie stellte den Becher wieder ab.

Großmeister Granbes räusperte sich und sah in die Runde und entschied das Wort an Moruka zu richten. „Ich denke es wird das beste sein, wenn ich ‚sie‘ um Unterstützung bitte.“

Moruka machte große Augen. „Bist du sicher? Das ist ein großer Gefallen, den du da forderst.“

„Dessen bin ich mir bewusst. Aber mir fällt sonst kein Weg ein. Ich denk es wäre ein großer Verlust und eine große Ungerechtigkeit, wenn Anna nicht die Chance bekäme in Aranii zu leben.“ Der Großmeister wandte sich nun an Anna, die rätselte wer ‚sie‘ wohl sein mochte: „Das ist es doch, was du möchtest?“

„Ja!“, schoss es aus Anna. Sie war sich sicher. Sie wollte sich diese Möglichkeit nicht entgehen lassen.

„Dann schlage ich vor, dass du heute hier übernachtest. Ich hole dich morgen früh ab.“ Dafon Granbes erhob sich. Moruka ließ ein Tütchen in ihrer Hand erscheinen und reichte es ihm. Anna spähte zwischen Großmeister Granbes Arm hindurch und sah, dass es sich um eine große Packung Karamell handelte.

Der Meister lachte: „Die hätte ich jetzt beinahe vergessen.“

Moruka legte die Stirn in Falten. „Das wäre das erste Mal gewesen.“ Sie legte die Hand auf die Brust und sagte: „Richte deiner Frau beste Grüße aus. Und wenn sie wieder ein paar Zeitschriften braucht, soll sie mir eine Nachricht schicken.“

„Das Angebot wird sie sicherlich gerne annehmen.“, Großmeister Granbes steckte das Karamell in seine Robe. „Ich werde dich dann morgen früh abholen.“ Sagte er zu Anna und legte seine Hand auf die Brust.

Auch Anna verabschiedete sich auf diese Weise.

Unschlüssig standen Moruka und Anna in der Küche. „Moruka, wäre es möglich…hast du vielleicht ein paar Bücher, die ich mir anschauen dürfte?“

„Komm mit!“, forderte Moruka sie auf und sie gingen durch die Diele ins Obergeschoss. Die Treppe mündete in einem Raum, der eine Mischung aus großzügigem Flur und Bibliothek war. Links und rechts des Raumes gingen Türen ab. Von Wand zu Wand stand ein Bücherregal neben dem anderen. Jedes Regal, jede Vitrine und jeder Sessel, der bequemen Leseecke, war aus einer anderen Epoche.

Moruka wies auf den gesamten Raum. „Hier findest du Bücher jeder Art von Aranii.“ Annas Augen begannen bereits zu leuchten. „Was du sicherlich nicht kennst,“ Moruka ließ einen kleinen Quader aus Glas erscheinen, „sind Skriptgläser.“ Moruka legte den Würfel in Annas Hand.

Anna hielt das Skriptglas auf Augenhöhe. Im Inneren flogen Buchstaben und Worte umher.

„Übertrage dem Skriptglas ein wenig Energie und es öffnet sich. Ich habe nur wenige Skriptgläser. Ich halte sie für Firlefanz. Ich mag traditionelle Bücher lieber.“

Annas Augen funkelte, als sie das Skriptglas öffnete. Buchstaben erschienen in der Luft und bildeten Sätze. Diese setzten sich zu Seiten zusammen. Sie waren kaum größer als reguläre Buchseiten.

„Hier.“ Moruka tippte mit dem Finger auf die Seite des Würfels. „Du kannst die Größe hier ändern.“ Die Schrift wurde größer und dann wieder kleiner. Moruka positionierte den Finger auf einer anderen Stelle des Würfels und der Winkel der Buchstaben veränderte sich, bis sie, wie ein Buch auf dem Tisch liegend, zu lesen waren. „Und hier“, fügte Moruka hinzu. „kannst du die Größe ändern.“ Anna beobachtete wie sich die Größe von winzig klein zu handtellergroß änderte und damit den Raum einnahm.

„Ziemlich praktisch.“, kommentierte sie und merkte, wie ihre Fingerspitzen kribbelten.

„Stimmt. In den Akademien und Hochakademien werden sie gerne von den Professoren genutzt.“ Moruka zeigte auf die Tür hinter Anna. „Dort drüben kannst du schlafen.“
 

Anna benötigte das Zimmer nicht. Die ganze Nacht saß sie auf einem der bequemen Sessel und öffnete ein Skriptglas nach dem anderen. Araniis Geschichte, die demokratisch zusammengesetzten Räte, über Funktion und Befugnisse der Patronin, über Feste und Märkte, Musik und Kultur. Anna las alles quer, was ihr in die Hände fiel. Einige Eigenarten, über die sie las, erschlossen sich ihr noch nicht ganz, aber Anna war zuversichtlich. Sollte sie ihre Chance bekommen, würde sie auch diese verstehen.

„Guten Morgen!“, gähnte Anna und folgte Moruka, die gerade aus ihrem Schlafzimmer gekommen war, in die Küche.

„Morgen.“, blinzelte sie und schlurfte an den Esstisch. Brot und Käse, sowie Tee erwarteten sie bereits.

Anna entdeckte auch ein Glas, das Honig enthalten konnte, aber sicher war sie sich nicht. Die Färbung passte nicht ganz. Trotzdem wollte sie sich etwas davon auf ihr Brot streichen, aber sie fand kein Messer. Überhaupt befand sich keinerlei Besteck auf dem Tisch. Anna warf einen Blick zu Moruka, die eine Scheibe Brot mit Aufstrich in der Hand hielt.

Logisch, dachte Anna. Warum mit einem Messer oder einem Löffel in das Glas gehen, wenn man es auch mit Magie rausholen konnte.

Anne bestrich eine Ecke ihres Brotes mit dem unbekannten Aufstrich und probierte. Es schmeckte wie Honig, allerdings säuerlicher. Sie war sich nicht sicher, ob sie den Geschmack wirklich mochte, daher entschied sie, sich etwas von dem Käse auf das Brot zu legen. Der schmeckte auch anders als Anna es gewohnt war, aber nicht schlecht.

„Deckst du sonst auch den Tisch?“, fragte Anna zwischen zwei Bissen.

Moruka sah nach etwas Brot und Tee bereits viel frischer aus und so klang sie auch. Fröhlich zwitscherte sie: „Normalerweise nicht.“ Sie deutete hinter sich auf die Anrichte, „Ich habe dir da hinten Kleidung hingelegt.“

Anna war überrascht. „Kann ich nicht in meinen Sachen gehen?“

„Besser du fällst nicht zu sehr auf.“

Anna griff nach den Kleidungsstücken. Es war ein schwarzes, langärmeliges Kleid mit einer Knopfleiste von Brust zu Bauchnabel. Anna strich über den weichen Stoff. „Über solche Dinge habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht.“, sie ließ die Schultern hängen. „Wie soll ich alles, was ich brauche finanzieren?“

Moruka winkte ab: „Ach was. Mach dir über solche Kinkerlitzchen keinen Kopf. Wir warten den heutigen Tag erstmal ab. Danach können wir besser planen.“

Auch wenn Anna wusste, dass Moruka recht hatte, wie sollte sie für eventuelle Kosten aufkommen? Wohnraum, Essen, Bücher, Kleidung. Anna schob diese Gedanken mühsam beiseite. Großmeister Granbes würde jeden Moment kommen und Anna war noch nicht angezogen.

„Ich bin gleich wieder da!“ Anna schnappte sich das Kleid und war bereits in der Diele als Moruka ihr nachrief: „Vergiss die Schuhe nicht!“

„Schuhe?“, flüsterte Anna. Sie hatte keine bemerkt. Doch schon kam ein paar schwarzer Stiefel aus der Küche geflogen. Beide Kleidungsstücke an sich gepresst lief sie hinauf in das Zimmer, welches Moruka ihr am Vorabend gewiesen hatte.

Es waren nur wenige Möbelstücke vorhanden. Anna platzierte das Kleid auf dem Bett und die Schuhe davor. Eilig zog sie ihre Kleidung aus, stieg in den Dress und knöpfte es von der Brust bis zur Hüfte zu. „So müssen sich Leute fühlen, die auf eine Convention gehen.“, sagte Anna zu sich selbst und setzte sich auf einen Stuhl in der Ecke, um die Schuhe anzuziehen. Es waren Schnürschuhe mit einem wadenhohen Schaft. Anna wob die Schnürsenkel um jeden Haken bis ihr einfiel, dass es viel leichter ging. Sie zog den zweiten Schuh an und konzentrierte sich. Beide Stiefel banden sich blitzschnell von selbst zu.

Anna ging auf den Schminktisch zu und besah sich im Spiegel. Ihre Wangen waren fleckig, ihre Augen strahlten. Sie strich sich mit zitternden Fingern ihren Bob hinter die Ohren. Anna sog langsam die Luft zwischen den Zähnen ein und pustete sie ebenso langsam wieder aus. Es war real, oder? Es war real. Und gleich würde Großmeister Granbes kommen und sie zum Qireratum bringen, wo Fremde über ihre Zukunft entschieden. Und was würde mit Wolf und ihrem Großvater werden? Was sie tat war egoistisch. Anna schluckte und spürte einen großen Kloß in ihrem Hals. Aber was wäre, wenn? Anna straffte den Rücken. Am Ende meines Lebens soll nicht ‚was wäre, wenn‘ stehen.

Klopfklopf.

Anna drehte sich erschrocken um. „Großmeister Granbes ist da.“, informierte Moruka sie. Anna ging langsam auf sie zu und Moruka legte ihr eine Hand auf den Arm. „Das wird schon Anna. Hab‘ Vertrauen!“

„Okay.“, kam es heiser zurück und Anna räusperte sich.

Unten in der Diele wartete Dafon Granbes bereits auf Anna. „Guten Morgen Anna.“ Am Vortag war ihr seine Ausstrahlung nicht aufgefallen. Doch jetzt bemerkte sie sie umso mehr. Stark und unnachgiebig stand er da. Durch ein Fenster stahlen sich Sonnenstrahlen und schimmerten in seinem Haar und ließen es golden scheinen.

„Guten Morgen Großmeister Granbes.“, begrüßte Anna ihn ehrfürchtig.

„Wir wollen keine Zeit verlieren. Wir bleiben bei dem gestern besprochenen Vorgehen.“, informierte er Anna und Moruka. „Ich habe bereits einen Brief abgesetzt. Wenn sie uns unterstützt, wird sie beim Treffen des Qireratums in der Nähe und bei Bedarf Fürsprache halten.“

„Fürsprache?“, Moruka zog die Brauen hoch. „Das wäre nicht das Wort meiner Wahl gewesen.“

Dafon Granbes schmunzelte: „Diplomatie war noch nie deine Stärke.“

Moruka verdrehte die Augen. Und so wie Moruka funkelte hätte sie ihm am liebsten die Zunge rausgestreckt, da war sich Anna sicher.

„Nun, uns läuft die Zeit davon.“

„Was ist mit meinen Sachen?“, wollte Anna wissen. Sie dachte an einige Fotos von ihren Großeltern und Wolf. Sie würde sie nur ungern zurücklassen.

Moruka beruhigte sie: „Wir warten ab wie entschieden wird. Und wo auch immer du am Ende des Tages sein wirst, deine Sachen werden da sein.“

Alle drei betraten den Raum, in dem sich das Portal befand. „Wie fühlt es sich an?“, fragte Anna mit einem Blick auf das Portal und sie spürte wieder wie ihr Herz schneller wurde.

„Du meinst, durch das Portal zu treten?“. Dafon Granbes stand neben Anna und sah sie fest an. „Wie durch eine Tür zu gehen.“

Anna nickte langsam.

„Fühlst du das Portal?“

Anna sah zu ihm auf. „Ja.“, gab sie leise zurück.

„Es ist voller Energie. Und es gibt Hexen und Hexer die Portale aufspüren können.“, erklärte Großmeister Granbes.

Anna war neugierig. „Gibt es viele, die das können?“

„Etwa eine Handvoll.“

„Hört auf Zeit zu verplempern und verzupft euch endlich! Je eher das geklärt ist, desto eher können wir über unsere Besorgnis lachen.“ Moruka schob sie beide zum Portal und obwohl Moruka unbeschwert hatte klingen wollen, war die angesprochene Besorgnis zu hören.

Anna und Großmeister Granbes standen nur noch Zentimeter vom Portal entfernt. Es flackerte und flimmerte. Anna schluckte und biss sich leicht auf die Unterlippe. Dann trat Dafon Granbes vor und Anna setzte sich ebenfalls in Bewegung.

Es war, als würde man aus einem Flugzeug steigen. Gestartet im nasskalten Wetter Londons und gelandet im warmen, sonnigen Sidney.

Anna fand sich in einem kleinen, gläsernen Gebäude wieder. Sie folgte Dafon Granbes, welcher zielsicher zum Ausgang ging. Als Anna ihm folgte versuchte sie nicht auf die glimmenden Strahlen im Boden zu treten, die abwechselnd mit festem Stein vom Portal ausgingen und offenbar eine Sonne imitierten. Anna schloss zu Großmeister Granbes auf. Sie bewunderte das zierreich in kupferfarbenem Metall eingefasste, bunte Glas und stutzte. Ein kleiner Schatten huschte über das Glas. Anna fixierte eine Scheibe, die in einem kräftigen Rot vom Boden bis zur Decke ging und bewegte ihren Kopf hin und her. Doch egal aus welchem Winkel sie das Glas betrachtete, dort war niemand.

„Wir müssen uns beeilen.“, erinnerte Dafon Granbes Anna und hielt ihr die Tür auf.

Anna riss sich von der Glaswand los. Vermutlich hatte sie sich das nur eingebildet, oder es war ein Vogel gewesen. Sie ging durch die Tür und fand sich mitten im Nirgendwo wieder. Wo auch immer dieses Portal stand, eine Stadt war nicht in Sicht. Anna drehte sich um und sah an dem Gebäude vorbei, doch auch hinter sich sah sie nur Natur.

Annas Begleiter ging an ihr vorbei und Anna beeilte sich schrittzuhalten. Es fiel Anna nicht leicht, denn selbst die Natur hatte einiges zu bieten. Grüne Bäume und Gras, die denen auf der Erde ähnelten. Dazwischen Pflanzen die cremeweiß waren, wo man Grün erwarten würde und kleine Insekten flogen von einer kräftig gefärbten Blüte zur Nächsten. Vögel, bunt gefiedert und seltsam singend flogen über sie hinweg. Der Himmel war eine Spur blauer, als sie es gewohnt war und zu ihrem Erstaunen sah Anna zwei Sonnen. Die eine blassgelb und groß, die andere mit einer rötlichen Tönung, die viel kleiner war und nicht viel zur Helligkeit beitrug.

Sie gingen nur wenige Minuten und Anna stand unerwartet vor einem Bahnsteig.

„Wir fahren Zug?“, fragte Anna ungläubig.

„Allerdings.“ War Dafon Granbes‘ knapp gehaltene Antwort.

Anna begutachtete den Bahnsteig. Keine Oberleitungen. „Fährt der Zug mit induktiver Ladung?“ Sie fragte sich ernsthaft, ob man Strom benutzte. Oder wurde der Zug vom Lokführer mithilfe seiner Magie betrieben?

„Nein, wir nutzen Dampf.“ Großmeister Granbes sagte es ganz beiläufig und Anna wusste, dass er nicht der scherzhafte Typ war. Dennoch konnte sie sich ein: „Wie bitte, Dampf?“ nicht verkneifen.

„Ja, Dampf.“, kam die Bestätigung und Dafon Granbes zeigte auf den Horizont, an dem ein kleiner Punkt auftauchte.

Er kam näher. Sehr schnell näher. Der Zug kam unglaublich schnell näher. Anna wollte fragen, wie schnell der Zug fuhr, doch da fuhr der Zug bereits an den Bahnsteig.

Er war leiser als gedacht, trotzdem war an Sprechen nicht zu denken. Also wartete Anna mit ihrer Frage, bis der Zug stillstand.

„Umgerechnet etwa 1100 Kilometer in der Stunde.“, kam die Antwort. Die Türen öffneten sich und er gebot Anna einzusteigen.

„Das ist doch…1100? Wie ist das möglich? Das ist doch viel zu schnell!“ Doch was Anna eben gesehen hatte, bestätigte Großmeister Granbes Angabe.

Sie gingen suchend durch das Abteil, das sie betreten hatten. Doch zwischen all den Hexen und Hexern, die in Loungesesseln zu zweit oder dritt beieinandersaßen, war kein Platz frei. Daher wechselten sie in den nächsten Waggon, wo sie zwei freie Sessel fanden. Sie setzten sich einander gegenüber und Anna schaute sich interessiert im Abteil um. Hinter sich hörte sie einige Frauen reden. Auf der anderen Seite des Ganges waren Vierergruppen angeordnet, die ebenfalls besetzt waren. Im Gegensatz zu Dafon Granbes und ihr, trugen diese Menschen helle, freundliche und bunte Kleidung. Keiner von ihnen trug etwas Schwarzes.

„Wir haben andere Rohstoffe und Möglichkeiten, als man sie auf der Erde hat.“

„Ich habe davon gelesen, dass es Antriebssteine gibt, deren gespeicherte Energie nach Belieben abgerufen werden kann. Ist das die Antriebsquelle?“ Das war nur eine von vielen Fragen, die Anna einfielen.

Großmeister Granbes bestätigte Annas Frage und erzählte von stärkeren Metallen und der passgenaueren Verarbeitung, die vor allem durch die Energie und Erfahrung der Hersteller bestimmt wurde. Der Herstellungsprozess verlief unter ganz anderen Bedingungen. So brauchte man keine Gussformen für die Herstellung der Einzelteile, selbst die Bottiche zum Schmelzen von Metall fehlten und die Nieten konnten an jeder Stelle angebracht werden. Und sei sie noch so schwer erreichbar.

Anna hörte mit Begeisterung zu während der Großmeister erzählte und weitere Fragen lagen ihr auf den Lippen. „Gibt es noch mehr Züge? Und was ist die Maximalgeschwindigkeit?“

Dafon Granbes schmunzelte ob des Wissensdurstes von Anna. „Wir haben mehrere Züge, sie alle fahren aber auf dem gleichen Schienennetz, welches den ganzen Planeten umspannt. Es ist die bequemste Art zu reisen, wenn man weitere Strecken überwinden muss.“ Großmeister Granbes unterbracht sich und schlug seine Beine übereinander, dann fuhr er fort: „Die Züge erreichen eine Geschwindigkeit von bis zu 1600 Kilometern. Allerdings wird diese Geschwindigkeit nicht gefahren.“

„Weshalb nicht?“, wollte Anna wissen.

„Die Haltestellen liegen für ein solches Tempo zu nah beieinander und die Anwohner einiger Städte haben sich über den Lärm beschwert.“

Anna überlegte kurz. „Wegen des Knalls beim Durchbrechen der Schallmauer?“

„Richtig.“, seufzte der Hexenmeister. „Manche Städte werden mehrfach am Tag angefahren.“

Anna konnte sich vorstellen, wie nervig das sein musste.

„Und was ist mit -.“ Begann Anna, doch eine der Frauen, die hinter ihr saß, unterbrach das Gespräch.

„Himmel nochmal! Wo ist das Kind denn aufgewachsen? Wie kann man das alles nicht wissen?“, giftete sie und drehte sich auf ihrem Loungesessel zu ihnen um. Eine faltige, mürrisch dreinblickende alte Frau betrachtete sie beide argwöhnisch. „Was schleppt ein hoher Staatsdiener so ein dummes Ding durch das Land?“ Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, denn ihr ging ein Licht auf. „Ach du liebe Güte! Vereah!“, stieß sie aus und wandte sich an ihre Begleiterin. Mit lauter Stimme verkündete sie: „Vereah! Kannst du das glauben? Das ist ein Splitter!“

„Ach Quatsch!“, kam es von Vereah zurück. „Gibt doch keine mehr. Und was sollte ein Mitglied des Qireratums,“ sie wies mit einem fetten, fleischigen Finger auf die Schärpe von Dafon Granbes, „sich mit so einem Abschaum beschäftigen? Die haben sicher anderes zu tun.“

Anna war sprachlos. Wenn die Araniier alle so sympathisch waren wie diese Modellbeispiele, dann wollte Anna schnellsten wieder zurück. Das ganze Abteil verfolgte den Disput. Mit hochrotem Kopf sah sie Großmeister Granbes an. Sie hatte ihm keine Schwierigkeiten bereiten wollen und nun waren sie durch ihre Neugier im Mittelpunkt gelandet.

Dafon Granbes schien dagegen gelassen zu sein. „Meine werten Damen,“ setzte er an und Anna bemerkte, dass seine Gelassenheit sich nicht auf seine Stimme übertrug. Sie war schneidend. „Ich denke, dass es ihnen nicht zusteht Personen unserer Gesellschaft derart zu diffamieren. Und wenn ihnen die Aufgaben und Befugnisse des Qireratums nicht zusagen, steht es ihnen frei entsprechende Anträge zu stellen.“ Er unterstrich seine Worte mit einem Blick, der Anna frösteln ließ und sie war froh, dass er auf ihrer Seite war.

Entgeistert starrten sich die beiden Frauen an.

Großmeister Granbes stand auf und wies Anna an ihm zu folgen. Eine freundliche Stimme, von der Anna nicht sagen konnte, woher sie kam, meldete den nächsten Halt: „Leuchtende Stadt – Zentrum.“

Hinter sich hörten sie die Hexen wettern: „So etwas unhöfliches! Das werde ich bei der nächsten Wahl des Rates berücksichtigen!“

„Bringt nichts Vereah. Die jetzigen Mitglieder kriegst du da nicht mehr weg. Die haben ihre befristeten Wahlperioden längst hinter sich!“

„Unverschämtheit! Und sowas muss man sich hier bieten lassen!“

Anna und Großmeister Granbes ignorierten das Gezeter und betraten eine geschäftige Straße, die zu beiden Seiten von Häusern aus weißem Stein gesäumt waren. „Großmeister Granbes, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.“, stieß Anna hervor. Sie gingen eilig an aus Sandstein erbauten Gebäuden vorbei.

„Weshalb denkst du, dass du dich entschuldigen müsstest?“ Mit großen Schritten überquerten sie die Straße. Anna hatte Mühe mitzuhalten.

„Weil wir durch mein Verhalten aufgefallen sind.“

Dafon Granbes blieb stehen. „Anna. Dummes und infantiles Denken war schuld an dieser Situation. Nicht du. Lass dir von niemandem Schuldgefühle einreden für das was du bist.“ Sie setzten ihren Weg fort und Anna sah, dass sie auf ein Schloss zuhielten. Sie war so beschäftigt gewesen, dass es ihr nicht aufgefallen war. Hoch ragte es über die anderen Gebäude. Es hatte eine ungewöhnliche Form, es war nicht rund, hatte aber so viele Ecken, dass es rund wirkte. Überall waren Fenster eingelassen und als sie näher kamen sah Anna durch den Zaun die beachtlichen Bögen im Erdgeschoss, die das ganze Gebäude luftiger machten.

Wider Erwarten liefen sie aber an dem Zaun entlang, weg vom Haupteingang. Sie erreichten ein kleineres Tor südwestlich des Haupteinganges. Es war aus einem kupferfarbenen Metall geschmiedet und harmonierte gut mit dem weißen Marmor, aus dem das Schloss hauptsächlich bestand.

Links und rechts auf den Torpfosten saß jeweils eine Figur in Form eines Vogels mit besonders langen Schwanzfedern und in einer der Pfosten war eine kleine Nische eingelassen. Dafon Granbes zog etwas aus seinem Umhang und hielt es in die Ausbuchtung. Das Tor sprang auf und sie ließen es zügig hinter sich. Ihr Weg führte sie zu einem der Bögen hinter dem der Innenhof sichtbar wurde. Anna sah einen riesigen Park mit Blumen, Bäumen und Sträuchern. Als sie unter dem anvisierten Bogen waren gingen sie durch eine Tür, die sie direkt in den ersten Stock führte und dann noch eine Treppe hinauf und noch eine. Anna zählte den 5. Stock, als sie endlich in einen weiten Flur gelangten. Fenster säumten ihn und Anna klappte der Mund auf.

Sie sah zwei Dinge. Zum einen, dass der Park etwa drei Fußballfelder fassen musste und wunderschön und abwechslungsreich angelegt war, zum anderen den riesigen Komplex aus Glas, der sich in der Mitte des Gebäudes zwischen dem fünften und achten Stock befand. Er hing in der Luft und war mit verschiedenen Brücken und gläsernen Korridoren mit den Stockwerken verbunden. Diese Konstruktion ließ viel Licht in den Innenhof fallen. Das Glas schimmerte und funkelte und die kupferfarbenen Fassungen, in denen die Scheiben hingen, gaben ihnen einen warmen Ton.

„Ein wirklich schöner Anblick.“, holte Dafon Ganbes sie aus dem Staunen zurück. „Aber wir müssen weiter. Man erwartet uns.“

Anna kam der Aufforderung zwar nach, hielt den Ausblick aber solange fest, wie sie konnte. Sie hoffte, dass das Treffen dort drinnen stattfinden würde, in dem gläsernen Komplex. Doch Anna wurde enttäuscht. Vor der nächsten Tür machten sie halt. Die Größe der Tür ließ Anna dahinter einen einigermaßen wichtigen Raum vermuten.

Großmeister Granbes nahm Anna bei den Schultern und gab Anna letzte Anweisungen: „Rede nur, wenn du gefragt wirst und halte dich kurz. Bleibe bei der Wahrheit. Ansonsten werde ich reden.“

Anna hatte kaum Zeit darauf zu reagieren, als die Tür von innen geöffnet wurde, natürlich nicht von Hand. Sie hatte richtig vermutet. Der Raum fasste Platz für mindestens 500 Personen. Erwartet wurden sie allerdings von nur vier Menschen, alle in schwarze Roben mit unterschiedlich gefärbten Schärpen. Die beiden Männer und Frauen saßen an der äußeren Seite eines halbrunden Tisches, der in der Mitte des Raumes platziert war. Ein Stuhl an ihrer Seite war noch frei, ein weiterer stand einsam, gut zwei Meter entfernt vor ihnen.

Großmeister Granbes setzte sich, wie von Anna erwartet, auf den freien Platz zwischen den Wartenden. Der übrige verwaiste Stuhl, war für sie bestimmt.

„Gut, da nun alle eingetroffen sind,“ räusperte sich der Mann in der Mitte ohne Anna anzusehen, „beginnen wir.“ Ein geöffnetes Skriptglas lag vor ihm und er tat als würde er einige Zeilen lesen. „Dein Name ist Johanna Hoffmann, 22 Jahre alt und auf der Erde geboren. Deine Eltern sind weder Hexe noch Hexer…“, leierte er die wesentlichen Informationen herunter. Anna wartete bis er fertig war. Zum ersten Mal schaute er sie an. Sein Blick zwang Anna umgehend den eigenen zu senken. Eiskalt fuhr es ihr über den Rücken.

Den Mundwinkel hochgezogen fasste der Mann zusammen: „Du möchtest also bei uns aufgenommen werden. Mit uns leben und lernen eine von uns zu sein.“

„Ja, das möchte ich.“, bestätigte Anna und wagte es vorsichtig wieder aufzusehen. Sie atmete tief ein und fasste den Mann ins Auge. Seine blasse Haut und sein stumpfblondes Haar unterstrichen die stechende Kühle seines Gesichtsausdrucks.

„Wir würden diesem Ansinnen gerne Nachkommen,“ Anna hörte das ‚Aber‘ bereits heraus und die Süffisanz seiner Stimme zeigte, dass er das ‚Aber‘ sehr genoss, „aber leider sind die Gesetze nicht auf unserer Seite. Es ist sogar so, dass die Gesetzgebung uns vorschreibt dich zurück auf deinen Planeten zu verbannen. Natürlich ohne deine Kräfte.“, fügte er hinzu.

„Großmeister Inosaê, ich denke wir sollten uns bei der Beurteilung dieses Falls ausreichend Zeit nehmen und alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.“, warf Dafon Granbes ein.

Langsam wandte sich Großmeister Inosaê an Dafon Granbes. Gönnerhaft sagte er: „Ihr habt natürlich recht. Es wäre schändlich über die Zukunft dieses Mädchens zu entscheiden, ohne alle Seiten gehört zu haben.“ Ohne Großmeister Granbes aus den Augen zu lassen fragte er: „Wie sehen Sie das, werte Kollegen?“

Monoton begann die Frau neben Dafon Granbes ihre Ansicht darzulegen: „Ich denke, wir haben unsere Gesetze hier vorliegen. Sie mögen für diesen Fall nicht vorgesehen sein, aber sie decken dennoch alle wesentlichen Punkte. Johanna ist von der Erde und damit hat sie widerrechtlich Aranii betreten. Die Handlungsweise ist hierbei klar definiert.“

Moruka und Großmeister Granbes hatten recht, dachte Anna bedrückt. Sie waren gegen sie.

„Exeah, nur weil etwas anwendbar ist, muss es noch lange nicht angewandt werden.“, warf ein grobschlächtiger Mann am Rand des Tisches ein.

„Das mag angehen, aber wir müssen eine Entscheidung treffen und die vorliegenden Gesetze geben uns nur einen geringen Spielraum.“, vertrat die Frau namens Exeah ihren Standpunkt.

Der Mann vom Rand des Tisches setzte zu einer Antwort an, als die einzige Person, die bisher noch nicht gesagt hatte, sich zu Wort meldete: „Ich bin der Ansicht, dass die hier vorliegenden Gesetze nicht geeignet sind diesen Fall zu entscheiden. Aber auch ich denke, dass es keine andere Lösung gibt. Es gehört nicht zu unseren Aufgaben Gesetzeslücken zu schließen.“

Damit stand es drei gegen zwei. Anna biss sich auf die Unterlippe. Es sah nicht gut aus, selbst wenn einer seine Meinung noch änderte, wusste Anna nicht, ob eine einfache Mehrheit ausreichte.

Anna folgte der Diskussion um die Anwendbarkeit der Gesetze und nicht existenter Alternativen, doch das Gespräch drehte sich im Kreis. Dafon Granbes sagte selbst kein Wort, er verfolgte das Gespräch, ebenso wie Großmeister Inosaê.

Als das Gespräch immer mehr in Wiederholungen bereits Gesagtem endete, unterbrach Großmeister Inosaê betont freundlich die Redenden und brachte es kurzum auf den Punkt: „Wir werden hier zu keinem Ergebnis kommen, dass allen zusagt. Eine einfache Mehrheit wird uns genügen müssen.“ Er bedachte Dafon Granbes mit einem spöttischen Lächeln und übertrug es auf Anna, als er zur Abstimmung aufrief.

Was auch immer Großmeister Granbes und Moruka geplant hatten, sie hatten es nicht geschafft. Anna würde, ohne ihrer Kräfte, auf die Erde zurückgeschickt werden. Man würde ihr einen Teil ihrer selbst nehmen. Anna schmeckte die Galle in ihrem Mund.

„Gut.“, begann Großmeister Inosaê die Abstimmung, „Wer dafür ist den Hexensplitter in Aranii aufzunehmen hebe die Hand.“ Anna sah die Genugtuung von dem Mann, als nur zwei Hände sich in die Luft erhoben. Was habe ich diesem Mann getan? fragte sich Anna. Doch als Großmeister Inosaê Dafon Granbes ansah, war Anna sich sicher, dass nicht sie der Auslöser für seine Abneigung gegen sie war. Wenn Blicke töten könnten, dachte Anna.

„Wir machen formhalber noch die Gegenprobe.“, kam es gönnerhaft von Großmeister Inosaê. „Wer ist dagegen?“ Seine eigene Hand fuhr langsam, aber zielsicher hoch. Ebenso die Hände der beiden übrigen Mitglieder des Qireratums.

„Guten Tag, werte Großmeister.“, unterbrach eine freundliche, aber sichere Stimme. Die Blicke des Quintetts wandte sich der Frau zu, die zu ihrer linken den Raum betrat. Großmeister Dafon Granbes war der einzige, der den Blick von der Frau nahm und stattdessen zu Anna sah. Ein kurzes Zucken um seine Mundwinkel verrieten ihn. Er hatte diese Frau erwartet.

Alle Mitglieder standen auf und Anna folgte ihrem Beispiel. „Licht von Aranii! Was verschafft uns das Vergnügen?“, zuckersüß kam diese Frage von Großmeister Inosaê.

„Ich wurde über ein erstaunliches Vorkommnis informiert und wollte mich selbst davon überzeugen.“ Ihr Kleid raschelte, als die großgewachsene Frau auf Anna zukam. Ein gütiges Gesicht lächelte Anna entgegen und die golden schimmernden Ranken auf ihrer Haut betonten die Freundlichkeit. „Du bist also der Hexensplitter von dem mir berichtet wurde.“, stellte das Licht von Aranii mit unverhohlener Neugier fest.

„Mein Name ist Anna Hoffmann.“ Anna war sich nicht sicher, ob sie knicksen sollte und wie sie die Frau vor sich anzureden hatte.

„Mir wurde berichtet, dass du bereits den 3. Grad erreicht hast.“ Die Wärme in der Stimme gab Anna die Zuversicht, dass sie zumindest keinen unverzeihlichen Fehler begangen hatte. Und sie antwortete: „Das ist richtig.“

„Und ohne Unterweisung, nehme ich an?“

„Bis gestern wusste ich nicht, dass es andere wie mich gibt.“, bestätigte Anna.

Überraschend drehte sich das Licht von Aranii, Patronin dieses Planeten, wie Anna gelesen hatte, um. Sie strahlte das Qireratum an: „Ist es nicht wunderbar, dass Anna ihren Weg zu uns gefunden hat?“ Sie wartete keine Antwort ab und fuhr fort: „Das Schicksal nimmt manchmal Wege, die im ersten Augenblick wie Irrwege scheinen. Ich denke Anna wird sich an der Akademie wohlfühlen, wobei es sicherlich schmerzlich für Anna wäre, ihre Heimat von heut auf morgen zu verlassen.“ Es klang beiläufig, doch Anna war klar, dass es sich hier nicht um eine Bitte handelte. „Aber Sie alle, als Qireratum, finden für jedes Problem eine adäquate Lösung.“

Alle Mitglieder des Rates neigten leicht den Kopf.

„Ich denke, Sie werden noch einiges an Arbeit heute haben.“, verabschiedete sich das Licht und verschwand durch dieselbe Tür, durch die sie gekommen war.

Stille.

Dann prustete der grobschlächtige Mann los: „Ich denke, damit hat man uns die Entscheidung abgenommen.“ Er kam auf Anna zu und legte seine rechte Hand auf die Brust. „Mein Name ist Tartestuves Lores. Willkommen auf Aranii.“

Überrumpelt sagte Anna nur: „Danke sehr.“

Tartestuves Lores grinste sie breit an und klopfte Anna freundlich, aber kräftig auf den Rücken. Dieser Mann wusste eindeutig nicht, wie stark er war, denn er klopfte Anna beinahe aus ihren Schuhen.

„Tartestuves?“, rief Exeah.

„Was gibt’s?“, mittlerweile lachte er darüber, dass Anna so leicht umzuhauen war. Anna, der ein riesiger Stein vom Herzen gefallen war, lachte mit ihm.

„Wir treffen uns in zwei Stunden wieder hier, um alles Weitere zu besprechen.“

Tartestuves signalisierte ihr, dass er verstanden hatte und wandte sich wieder Anna zu. „Wenn wir uns beim nächsten Mal sehen erwarte ich mehr Standfestigkeit.“, zwinkerte er.

Dieser Mann war ansteckend. „Ich werde es versuchen.“, lachte sie und sah ihm nach, als er sich zu der Gruppe gesellte.

Es dauerte noch zwei Minuten, bis Großmeister Granbes sich löste und sie sich verabschiedeten. Nicht, ohne einen mordlüsternen Blick von Großmeister Inosaê.

„Das lief sehr gut.“, flüsterte Dafon Granbes während sie den Weg, den sie gekommen waren, zurückgingen.

„Wer war der Mann in der Mitte?“, Anna war neugierig.

„Großmeister Zester Inosaê. Er ist Schatzmeister und kein Menschenfreund. Nimm dich vor ihm in Acht!“, warnte Großmeister Granbes.

„Er ist nicht sehr von Ihnen angetan, oder?“

„Nein, ist er nicht.“

Anna dachte dies wäre alles, was Großmeister Granbes sagen würde, doch nach einer kurzen Pause ergänzte er: „Wir hatten vor einigen Jahren eine Meinungsverschiedenheit. Seitdem ist er nicht sehr gut auf mich zu sprechen.“ Sein Blick war finster.

Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts, schoss es Anna durch den Kopf. „Und wer war der Mann, der mich begrüßt hat?“

Freundlicher erzählte Dafon Granbes: „Tartestuves Lores. Ebenfalls ein Großmeister, wie alle Mitglieder der Qireratums. Ihm unterliegen die Streitkräfte Araniis.“

„Das erklärt seine Kraft.“, lachte Anna und dachte an die warme Stelle am Rücken. „Und die anderen?“

„Die Frau mit dem dunklen Teint ist Matheraa Iriês und sie ist wissenschaftliche Beraterin. Ihr Fachgebiet ist die Erforschung anderer Planeten. Außerdem unterhält sie die diplomatischen Beziehungen zu anderen Wesen.“

„Andere Planeten? Noch andere als die Erde?“, wollte Anna wissen.

„Wir haben Kontakt zu diversen Planeten. Jedoch nicht zur Erde.“ Damit griff er Annas nächster Frage vor, schaffte aber zugleich eine neue.

„Weshalb nicht?“

„Es liegt in der Vergangenheit. Viele Aranier möchten nicht daran erinnert werden, dass sie von der Erde stammen.“

Anna brachte nur ein stummes ‚Oh‘ heraus.

„Die letzte Person war Exeah Doral Pysek. Sie ist Geologin und verwaltet die Gewinnung von Bodenschätzen auf ganz Aranii.“, fasste Dafon Granbes die letzte Person zusammen.

Sie kamen zur Treppe und am Absatz sahen sie jemanden auf den Stufen. Es war das Licht von Aranii. Die Treppe war breit genug, um sie alle nebeneinander bequem zu fassen. Anna erwartete, dass sie ein Wort wechseln würden. Doch sie gingen stumm aneinander vorbei. Die einzige Kommunikation die Anna sah, war ein verschmitztes Lächeln von der Patronin und ein leichtes Nicken seitens Dafon Granbes.
 

Jetzt, auf dem Rückweg, hatte Anna endlich ein Auge für alles. Für diese neue Welt, die sich ihr mit einem Schlag eröffnete.

Entgegen des ersten Eindrucks, dass alle Aranier schwarz trugen, waren es nur wenige, wenn man die Hexen und Hexer auf der Straße mitzählte. Hier war der Farbcode ein anderer. Alles war bunt. Roben und Kleider, aber auch Kopfbedeckungen, Schuhe, Hosen, einfach alles strahlte in den schönsten Farben. Hier und da war jemand in schwarz zu sehen, aber das waren Sprenkel in einer farbenfrohen Vielfalt.

Auf Nachfrage erklärte Großmeister Granbes, dass es Schülern und Mitarbeitern der Regierung vorbehalten war, schwarz zu tragen. Die bunten Schärpen gaben bei dieser Kleiderordnung an, welcher Berufsgruppe jemand angehörte.

„Blau steht für den lehrenden und wissenschaftlichen Bereich. Und der Farbton gibt den Rang an. Je heller der Farbton, umso höher ist man in der Rangordnung. Als Leiter der Akademie ist meine Schärpe hellblau, ebenso bei Großmeisterin Pysek und Iriês. Sie leiten ihren entsprechenden Fachbereich.“, nahm Dafon Granbes sich die Zeit zu erklären.

„Und die Anhänger und Abzeichen?“, Anna deutete auf seine Ehrenzeichen, die in Silber, Kupfer, Gold und Bisquitporzellan an seiner Schärpe hingen.

„Sie stehen für verschiedene Verdienste und geben Auskunft über Positionen. Diese hier,“ Großmeister Granbes zeigte auf einen mehrstrahligen Anhänger aus Keramik, „steht für das Qireratum.“

„Interessant.“, kommentierte Anna und versuchte alle Informationen zu erfassen. Sie versuchte alles, was sie sah zu erfassen. Doch die Masse an Neuem war unglaublich. Großmeister Granbes drängte weiter: „Du wirst in nächster Zeit noch viele Gelegenheiten haben, dir alles anzusehen.“

Ein paar Minuten später saßen sie wieder im Zug und die grüne Landschaft zog an ihnen vorbei.

„Morgen wirst du in die Akademie kommen und wir werden dein Wissen und deine Fähigkeiten testen. Danach wirst du in die entsprechende Klassenstufe eingeteilt.“

„Ich muss also nicht pauschal in die erste Klasse?“, seufzte Anna erleichtert.

Großmeister Granbes lächelte: „Nein. Deine bisherige Ausbildung deckt weitestgehend das benötigte Wissen ab. Daher wirst du der passenden Klasse zugeteilt und deine Defizite wirst du bis zum Ende deiner Grundausbildung im Selbststudium aufarbeiten.“

Das klang nach einer vernünftigen Lösung.

Anna schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Sie würde auf der Erde leben können. Zumindest für die nächste Zeit. Sie würde Wolf und ihren Großvater wiedersehen. Ein wohliges Kribbeln machte sich in ihrem Bauch breit und ein zufriedenes Lächeln stahl sich unbemerkt auf ihr Gesicht. Es würde sicher noch ein paar Probleme geben, aber die würde sie lösen.

Anna und Dafon Granbes verabschiedeten sich vor dem kleinen Gebäude aus Metall und Glas, in dem sich das Portal befand.

„Jemand wird dich morgen an der Bahnstation ‚Akademie der Hexenkunst‘ in Empfang nehmen und zur Akademie führen. Denke bitte daran, nichts von der Erde mitzunehmen.“, ermahnte er Anna und verabschiedete sie mit der Hand auf der Brust.

Anna tat es ihm gleich, und ging durch die gläserne Tür. Wie vor wenigen Stunden, als sie diese Räume das erste Mal betreten hatte, glaubte sie, einen Schatten in einem der bodentiefen Fenster zu sehen. Und doch war dieser Schatten so schnell wieder verschwunden, dass Anna sich erneut nicht sicher war, ob es ihn wirklich gegeben hatte.

„ANNA!“, rief Moruka aus, als sie in die Diele rannte, um zu sehen, wer durch das Portal kam. „Was machst du denn hier? Sag bitte nicht diese Haderlumpe haben dich auf die Erde verbannt?“ Mit großen Augen besah sie Anna von oben bis unten, als könne sie damit erkennen, was geschehen war.

Anna winkte ab: „Nein, ich darf an der Akademie studieren.“ Moruka hakte sich unter ihren Arm und zog sie in die Küche. „Ich darf sogar hier auf der Erde bleiben.“, verkündete sie und Morukas Augen, bereits vor Erstaunen aufgerissen, vielen ihr jetzt beinahe heraus.

„Wie habt ihr das geschafft?!“, mit ungläubigem Ausdruck setzte Moruka sich auf einen der Stühle und schob Anna einen Becher mit Tee hin. Anna würde hier Kaffee einführen müssen.

„Ich weiß es nicht. Die Mehrheit war gegen eine Aufnahme, wie Großmeister Granbes es prophezeit hatte und als es an die Abstimmung ging, kam das Licht herein und ordnete auf subtile Weise an, mich zu unterrichten und vorerst auf der Erde leben zu lassen.“

„Elara Esmea Tarzys… was weiß die Patronin, dass wir nicht wissen?“, fragte Moruka sich selbst. Dann wandte sie sich wieder an Anna. „Und was hast du jetzt vor?“

Verwundert sah Anna sie an: „Was meinst du?“

„Du bist doch auf der Universität und was ist mit deinem Freund?“

Anna überlegte. Das eingetroffene Szenario war ein ganz anderes als das erwartete. „Ich denke ich werde die Uni verlassen und Wolf erzählen, dass ich sie weiterhin besuche. Alles bleibt wie bisher, nur dass ich zur Schule nach Aranii gehe.“ Das würde auch weitestgehend das Problem mit dem Geld lösen.

„Ich muss los!“, verabschiedete sich Anna und trank den eilig heruntergekühlten Tee aus.

Ihr waren die Briefe wieder eingefallen. Es war zwar unwahrscheinlich, dass Wolf überraschend wieder da wäre, aber sie wollte lieber nichts riskieren.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]



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