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Wintersonne

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Wintersonne

- Hatsuhinode -
 

Mühsam öffnete ich die Augen und blinzelte orientierungslos.

Wo war ich?

Um mich herum war es dunkel, nur ein gelblicher Lichtschein drang durch das schmale Fenster und zeichnete schwache Schatten an die Zimmerdecke. Nur sehr langsam kehrte Leben in mein übernächtigtes Hirn ein. Immer wieder musste ich kurz die Augen schließen, um das Jucken der Lider in den Griff zu bekommen.

Mir war warm. Unsagbar warm. Ich versuchte die schwere Decke von mir zu strampeln. Doch alles, was es brachte, war, dass es zwar um meine Beine herum leichter wurde, aber das Gewicht und die Hitze auf meinem Oberkörper blieb.

Was -?

Mit spitzen Fingern tastete ich danach. Das war… das war definitiv keine Decke, die mir gerade die Luft abschnürte. Ein unwilliger Laut entkam mir, als ich mich an dem Arm entlang zu dem Übeltäter vortastete, der mich in Bedrängnis brachte. Inzwischen war ich halbwegs wach und etwas klarer im Kopf. Jedenfalls soweit ich das beurteilen konnte, denn jener dröhnte ziemlich laut. Ich drehte mich vorsichtig zu dem Heizofen neben mir um. Wobei – ich hätte es lassen sollen, doch im Nachhinein ist man immer schlauer. Selbst Kaorus altes Sofa, auf dem ich lag, gab ein lautes Knarren von sich, als wollte es mich warnen.

Was zur -

Egal, wie oft ich blinzelte und hoffte, dass mir das dämmrige Licht einen Streich spielte, es änderte sich nichts. Mist. Ich ignorierte mein ins Stolpern geratene Herz, stieß stattdessen langsam die Luft, die ich vor Schreck angehalten hatte, durch die Nase aus und fragte mich, wie zur Hölle ich in einer derart prekären Situation hatte landen können. Gut, prekär war vielleicht übertrieben, aber trotzdem.

Wieso lag ausgerechnet Toshiya gerade mal eine Nasenlänge von mir entfernt, sodass ich schielen musste, um ihn deutlich zu sehen? Und ich seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren konnte? Ich unterdrückte das automatische Zurückzucken, das sowieso zu nichts geführt hätte, da sich im Moment die harte Sofalehne in meinen Rücken presste und unheilvolle Geräusche von sich gab. Ich war gefangen und fragte mich zum wiederholten Male, wieso. Hatte ich irgendetwas Dummes angestellt? Wundern würde es mich nicht und so wie mein Kopf sich beschwerte, bestätigte er nur allzu gern meinen Verdacht, dass die letzten zwei Bier heute Nacht wohl zu viel gewesen waren. Aber man durfte sie ja nicht verkommen lassen.
 

Da lag ich nun – bewegungslos und noch nicht wach genug, um die Situation wirklich zu begreifen. Nach und nach kamen Erinnerungsfetzen an die letzten Stunden zurück und soweit ich das beurteilen konnte, hatte ich mich mal nicht zum Volltrottel gemacht.

Gut, der Alkohol war reichlich geflossen – schließlich hatten wir zusammen ins neue Jahr gefeiert – weshalb ich mir der Heimweg wohl auch als unbezwingbar erschienen war und ich kurzerhand Kaorus Sofa bezogen hatte. War ich so schnell eingeschlafen, dass ich nicht mehr gemerkt hatte, wie Toshiya sich zu mir gesellt hatte?
 

Statt Anstalten zu machen, unseren Bassisten etwas auf Abstand zu schieben – denn so schmal war das Sofa wirklich nicht – starrte ich ihn lieber treudoof an. Ich konnte zwar keine Details erkennen, aber ich kannte ihn schließlich, da reichte auch das Dämmerlicht aus. Und gerade diese Schatten, die sein Gesicht zeichneten, übten augenblicklich eine ungeheure Anziehung auf mich aus, was mein Herz etwas aus dem Tritt brachte. Ich konnte nichts dagegen tun, so sehr ich diese Reaktion meines Körpers auch verfluchte. Ich schloss für einige Sekunden die Augen, atmete bewusst tief ein und aus, ehe ich wieder aufsah.

Das Ganze überforderte mich gerade maßlos. In meinem Kopf dröhnte und rauschte es, was wohl am Restalkohol lag. So konnte ich gar nicht anders, als meinen Bandkollegen still und heimlich, aber ungeniert anzustarren. Der Mund war leicht geöffnet, einige der kurzen Strähnen hingen ihm wirr ins Gesicht. Ich war versucht, sie zur Seite zu streichen, ließ es aber, obwohl es mir in den Fingerspitzen kribbelte.

Ich durfte nicht. Basta! Anstarren war okay, sich für einen Moment Tagträumen hingeben auch, aber mehr nicht.
 

Wie hatte es so weit kommen können?

Die Frage war eher pro forma, denn ich hatte sie mir schon unzählige Male gestellt und war immer wieder zum gleichen Endergebnis gekommen. Ändern konnte ich es dennoch nicht.

Wieso hatte Toshiya mich auch an jenem verhängnisvollen Tag im August unbedingt zu seinem Komplizen machen müssen, als er es in einem geistig umnachteten Moment für eine super Idee gehalten hatte, in eine Grundschule einzubrechen, nur um dort schwimmen zu gehen? Gut, er hatte mich nicht dazu angestiftet – ich war ihm in Sorge einfach gefolgt. Nicht, dass er noch ertrank. Doch anscheinend hatte mein Körper diesen adrenalinreichen Ausflug als denkwürdig genug empfunden, um seither sämtliche Hormone Amok laufen zu lassen. Mit Ende Zwanzig war ich doch eigentlich aus dem Alter für solchen Gefühlskram raus, oder nicht? Blöderweise nein. Egal, was ich dagegen tat, meine veränderte Sicht auf Toshiya blieb erhalten – inklusive ungesund schwankendem Blutdruck und gelegentlicher Denkaussetzer.

Um es zusammenzufassen: Es war scheiße. Ich wollte das Ganze nicht, hatte es nie gewollt und trotzdem war es da. Einfach so.

Seither hatte ich die meiste Zeit damit verbracht, das Chaos in mir irgendwie zu ignorieren und mich so normal wie möglich zu benehmen. Heißt, ich stand fast ständig unter Strom und versuchte Toshiya mit etwas Abstand zu begegnen, immer in der Hoffnung, dass sich diese Gefühle von alleine in Luft auflösten und alles zu seiner alten Ordnung zurückkehrte. Dass ich mir etwas vormachte, wusste ich selbst…
 

Wie paralysiert starrte ich ihn an.

Wann war ich ihm das letzte Mal so nah gewesen?

Langsam atmete ich ein, roch ihn, spürte seine Präsenz mit einem Mal noch stärker.

Das war doch alles Mist.

Dennoch schlich sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen, während ich ihn, hier auf Kaorus unbequemem Sofa liegend, beobachtete, über die leisen Laute, die er beim Schlafen machte, grinste und mein Hirn auf Urlaub schickte. Es war sogar recht entspannend, ihn anzustarren. Selbst das Dröhnen hinter meinen Schläfen nahm langsam ab.

Wie spät es wohl war?

Da der Himmel draußen höchstens als hellgrau bezeichnet werden konnte, wie mir ein flüchtiger Blick an Toshiya vorbei verriet, vermutlich noch sehr früh. Also hatte ich wohl höchstens vier Stunden geschlafen. So fühlte ich mich auch. Irgendwo in der Wohnung tickte leise eine Uhr, doch ich konnte mich beim besten Willen nicht dazu überreden aufzustehen. Ich wollte hier einfach liegen und Toshiya ansehen.
 

Erst ein lautes, grunzendes Schnarchen riss mich aus meinem Dämmerzustand und ließ mich erschrocken zusammenzucken. Ich hatte schon immer gewusst, dass Kaoru nicht der leiseste Schläfer war, aber musste es so ein plötzlicher Ausbruch sein? Doch anscheinend war ich der Einzige, dem die Attacke einen halben Herzinfarkt beschert hatte, denn Toshiya hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt und schlief seelenruhig weiter.

Frechheit. Wobei, nein, doch nicht. Nicht, dass er mich noch beim Starren erwischte.

Im Nachbarraum war wieder Ruhe eingekehrt, vom leisen, gleichmäßigen Schnarchen unseres Leaders mal abgesehen. Nur war ich jetzt vollends wach.

Irritiert blickte ich erneut zum Fenster, hinter dem der Himmel mittlerweile bedeutend heller geworden war und schon eine dezent rötliche Färbung angenommen hatte.

Wie viel Zeit hatte ich denn mit sinnlosem Rumliegen verbracht?
 

Vorsichtig, um meinen Sofagenossen nicht zu wecken, setzte ich mich auf. Ein kurzer Stich hinter meiner Stirn ließ mich gequält die Augen zusammenkneifen. Das Bier war bestimmt schlecht gewesen! Ich hatte sonst selten Probleme mit alkoholischen Nachwehen. Solange ich mich nicht bewegte, war alles gut. Ich holte tief Luft, ehe ich die Augen ein weiteres Mal öffnete.

Das Erste, das mir auffiel, war das Chaos auf dem Tisch und der schmalen Küchenzeile, die unmittelbar ans Wohnzimmer grenzte. Überall standen Schüsseln und leere Bierflaschen herum, dazwischen lagen allerlei Verpackungen quer über den Boden verteilt. Oh Mann, Kaoru würde uns nachher sowas von zum Aufräumen verdonnern. Wo waren eigentlich Shinya und Kyo und – wie hieß er noch? Ach ja, Komi.

Das Gute an Kaorus Junggesellenbude war, dass sie überschaubar war. Es gab keine weiteren, angrenzenden Zimmer außer dem Bad und Kaorus Höhle, die theoretisch ein Schlaf- Schrägstrich Arbeitszimmer darstellte. Wenn man dem Leader glaubte. Es gab keine Möglichkeiten, die anderen irgendwo zu verstecken, also war außer Toshiya und mir und den lieblichen Schnarchgesängen aus besagter Höhle niemand hier. Ich konnte mich nicht erinnern, wann sie gegangen waren.

Die Nacht war definitiv zu kurz gewesen. So wie es sich gehörte für die erste Nacht des Jahres. Da wir letztes Jahr nicht zusammen gefeiert hatten, hatten wir uns dieses Mal zusammengerauft, gemeinsam mit einigen Crewmitgliedern und Freunden. Angefangen hatten wir in einer der kleineren Szenebars. Wie viel Liter dort schon geflossen waren, konnte ich nicht sagen, aber lustig war's allemal gewesen. Je weiter es auf Mitternacht zuging, desto weniger wurden wir, bis nur noch der harte Kern, sprich die Band und eben Kaorus Kumpel Komi, übrigblieb. Was aber auch ganz gut war, denn mit fast zwanzig Mann bei einem der Schreine aufzutauchen, um das neue Jahr zu begrüßen, wäre vermutlich nicht ganz so prickelnd gewesen.
 

Apropos prickelnd.

Was machte der Arm um meine Mitte? Ehe ich mich versah, wurde ich zurück in die Waagerechte gezogen und an den warmen Körper neben mich gedrückt.

Mein Herz geriet ins Stocken – das konnte auf Dauer nicht gesund sein – während mein Hirn, trotz heftigen Pochens, auf Durchzug schaltete. Widerstandslos ließ ich es geschehen, auch als sich Toshiya im Schlaf nun wirklich an mich kuschelte. Sein langer Arm lag über meinem Oberkörper, der Kopf an meiner Schulter. Eine Gänsehaut ließ mich erschauern. Stocksteif lag ich da und blickte nichts sehend an die Decke.

Wie lange ich so dalag, das Gefühl an meiner Seite genoss und vor mich hinstarrte, wusste ich nicht. Irgendwann schaltete mein Körper einfach auf Leerlauf und wurde ruhiger, sodass die Lage, in der ich mich befand, sogar richtig angenehm wurde. Warum sollte ich mich auch wehren?

Als ich schließlich wieder zu mir fand, war es merklich heller im Raum geworden. Ein Blick zum Fenster verriet, dass der Sonnenaufgang nicht mehr allzu fern war. Mit klopfendem Herzen starrte ich auf den Himmel, als mir bewusst wurde, was das hieß: der erste Sonnenaufgang des Jahres.

Mit einem Mal wurde ich aufgeregt. Das hatte ich eigentlich schon seit Jahren erleben wollen. Nur leider hatte meist entweder das Wetter oder meine ausgeprägte Tiefschlafphase dem Ganzen einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Aber heute… heute war ich wach und die Chancen standen perfekt. Das musste etwas bedeuten.
 

Behutsam – und mit einem kleinen Anflug von Bedauern – machte ich mich von Toshiya los. Kurz überlegte ich, ob ich ihn wecken sollte, damit wir zusammen den Sonnenaufgang betrachten konnten, entschied mich dann vorerst dagegen. Noch war die Sonne nicht da und ich brauchte nach diesem Erwachen ein paar Minuten für mich. Später konnte ich ihn allemal noch wecken.

Ich kletterte etwas ungelenk über die Lehne, während ich stoisch meinen Kopf zu ignorieren versuchte, der über die überraschend sportlichen Aktivitäten alles andere als glücklich war. Ich musste Kaoru nachher nach Tabletten fragen, wobei ich wiederum auf dessen überlegenes Grinsen nach dem Motto ›Ich hab's dir doch gesagt‹ nicht sonderlich scharf war. Ja, ich weiß, dass zu viel Alkohol schädlich ist, aber hey, wozu feiern wir sonst ins neue Jahr?

Es dauerte eine Weile, bis ich in dem Chaos hinter dem Sofa meinen dicken Pullover, Socken und Hose gefunden hatte. Auf Zehenspitzen schlich ich langsam Richtung Balkontür, immer darauf bedacht nicht irgendwo hineinzutreten.

Ähnlich wie das Sofa war auch der Balkon nicht mehr auf dem neuesten Stand. Eigentlich verdiente er die Bezeichnung Balkon nicht einmal. Es war mehr ein erweitertes Fensterbrett mit Geländer, auf das gerade mal eine Person passte. Vielleicht noch eine zweite, wenn man etwas zusammenrückte, aber ob dann die Schiebetür noch zuging, war fraglich. Ich hoffte, die anderen Beiden waren weiterhin mit einem gesunden Schlaf gesegnet und überhörten gnädiger Weise das vorwurfsvolle Quietschen, mit dem diese einrastete.

Tief durchatmend lehnte ich mich gegen die Wand und schloss für einen Moment die Augen, ehe ich nach den immer bereitstehenden Schlappen Ausschau hielt. Ein kühler Wind wehte mir um die Nase, automatisch zog ich die Schultern höher. So unangenehm das Lüftchen auch war, es weckte meine Lebensgeister. Ein breites Lächeln stahl sich mein Gesicht, während ich mich auf meinen Allerwertesten setzte und die Beine gegen die schmalen Streben des Holzgeländers lehnte. Es protestierte hörbar. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieser Bretterhaufen in sich zusammenkrachte, aber am besten nicht heute und noch besser, wenn Kaoru endlich eine neue Wohnung gefunden hatte. Schließlich wollten wir unseren Leader-Sama noch eine Weile froh und munter erleben – oder wie man seine Launen sonst für gewöhnlich bezeichnete.

Mein Grinsen vertiefte sich, als ich mir eine seiner Zigaretten aus der Packung neben der Tür stibitze. Würde schon keinem auffallen.

Zufrieden den Rauch inhalierend sah ich mich um. Das einzig Gute an Kaorus Bude war die Lage. Weit weg von dem Lärm der Großstadt war es momentan verdächtig still. Ganz anders als in meiner Wohnung. Die Leute, die hier in der Gegend wohnten, waren allesamt älteren Semesters. Ich konnte mich noch an die pikierten Blicke der Nachbarn erinnern, als wir hier das erste Mal zu fünft aufgekreuzt waren. Inzwischen hatten sich alle an uns gewöhnt.
 

Ich beugte mich ein Stückchen weiter vor, um besser durch die Streben blicken zu können. Die schmale Anliegerstraße wirkte ausgestorben. Einige hundert Meter entfernt konnte ich das steinerne Torii des Schreins erkennen, den wir vor wenigen Stunden besucht hatten, ehe wir hier eingefallen waren. Der Andrang war überschaubar gewesen, es war fast so etwas wie familiäre Idylle aufgekommen.

Suchend sah ich mich nach dem Aschenbecher um, bevor ich mir eine weitere Zigarette anzündete.

Ich hatte das neue Jahr schon lang nicht mehr direkt in einem Schrein begrüßt, meist erst am nächsten Tag. Diesmal hatte uns Toshiya dazu gedrängt, sonst wäre es wieder nichts geworden. Und wer konnte den bettelnden Augen unseres Bassisten schon widerstehen? Da wurde selbst ein grummelnder Kyo weich, der mit Neujahrstraditionen sonst so gar nichts am Hut hatte.

Grinsend erinnerte ich mich, wie Toshiya unseren Sänger in eine übermütige Umarmung gezogen hatte, als wir durch das Schreintor getreten waren. Dessen tödlicher Blick wurde gekonnt ignoriert, er war sowieso nicht von langer Dauer gewesen. Wie gesagt, wer konnte sich unserem Bassisten schon entziehen, wenn der einen so anstrahlte und mit seinem Übermut ansteckte?

Ausgelassen hatten wir auf das Läuten um Mitternacht gewartet, hatten über die Pläne für das kommende Jahr diskutiert und den ein oder anderen nicht ganz ernstgemeinten Neujahrsvorsatz geäußert. Später konnte man immer noch behaupten, sich an nichts mehr zu erinnern. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt mein ab und zu auftauchendes Gefühlschaos bezüglich unseres Bassisten recht gut beiseite geschoben, doch ich hätte ahnen müssen, dass das nicht lange halten konnte. Statt weiter über irgendwelche Träume und Vorsätze zu reden, fragte er irgendwann nach Vergangenem in die Runde – ob wir noch etwas loswerden wollten, um ohne Ballast ins neue Jahr zu starten. Dass er mich in diesem Augenblick besonders intensiv angeschaut hatte, war sicher Einbildung gewesen.

Ich fuhr mir unwirsch durch meine roten Strähnen und versuchte die Aufgekratztheit zurückzudrängen, die mich erneut ergriff, als ich an diesen Moment dachte. Mir war kurz das Herz stehen geblieben. Klar, es war eine einfache Frage, die zu diesem Tag dazugehörte. Doch da war dieses Gefühl, dass er sie nur mir gestellt hatte. Ahnte er was?

Was die anderen geantwortet hatten, bekam ich nicht mit. Mein Hirn hatte mal wieder auf Durchzug geschaltet, während ich Toshiya hoffentlich nicht derart verschreckt angestarrt hatte, wie ich mich fühlte.

Schlussendlich hatte ich vermutlich irgendeine nichtssagende Antwort von mir gegeben. Keiner war darauf eingegangen. Und so wie die Fragerunde an mir vorbeigezogen war, hatte ich auch von der eigentlichen Begrüßung des neuen Jahres und dem Gebet nicht viel mitbekommen. In meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander, weil ich mich nicht recht entscheiden konnte, ob die Gefühle, die ich über die letzten Monate für meinen Kollegen entwickelt hatte, wirklich ein Ballast waren oder nicht.

Ich hatte das Ganze über die letzten Monate immer wieder erfolgreich verdrängt. Warum hatte mich Toshiya dann ausgerechnet gestern wieder darauf stoßen müssen? Das war unfair. Aber hätte ich was sagen sollen? Wohl kaum und sicher nicht vor den Anderen, denn deren Blicke konnte ich mir genau vorstellen. Nein, bloß nicht. Solange ich nicht selbst wusste, was ich wollte und was es für mich bedeutete, würde ich nichts sagen. Ich hoffte nur, dass mein Schweigen nicht einer Lüge gleichgesetzt wurde. Das wäre sicher kein gutes Omen.
 

Seufzend drückte ich den Zigarettenstummel aus und langte nach der nächsten. Wenn ich so weitermachte, musste ich Kaoru eine neue Packung kaufen, denn allmählich fiel es doch auf. Ich war aber gerade einfach zu faul, hineinzugehen und meine eigenen zu holen. Er würde es mir hoffentlich verzeihen.

Geistesabwesend beobachtete ich durch das Geländer ein älteres Paar, das langsam unter dem Balkon vorbei Richtung Schrein schlurfte. Die kleine Frau verschwand fast völlig in ihrem dick gefütterten Mantel, nur die weißen Haare wippten bei jedem Schritt vor sich hin. Langsam ging sie neben ihrem Begleiter die einsame Straße entlang, fest unter seinem Arm eingehakt.

Hatten Toshiya und ich auch so ausgesehen, als wir den Schrein verließen? Da war mit einem Mal Toshiyas Arm um meinen gewesen. Ehe ich überhaupt hatte reagieren können, hatte er mich dicht an sich gezogen, während die anderen schon vorausgegangen waren. Auf meinen ziemlich irritierten Blick hatte er nur gegrinst und „Es ist kalt.“ in seinen Schal gemurmelt.

Bei so viel Aufregung innerhalb kurzer Zeit konnte es mir da wohl keiner verübeln, dass ich aktuell dezent neben mir stand.

Leise ächzend erhob ich mich von dem unbequemen Untergrund. Allmählich wurde es doch etwas kalt. Immerhin war Januar und mein Pullover definitiv nicht für lange Sitzeinlagen im Freien gedacht. Kaoru würde mich köpfen, wenn ich deshalb krank werden würde.

Die Sonne stand mittlerweile hoch genug, um ihre ersten, goldenen Sonnenstrahlen in den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser spiegeln zu lassen. Nicht mehr lange. Vielleicht sollte ich doch mal nach den anderen sehen. Nicht, dass sie mir böse waren, wenn ich sie schlafen ließ. Keine Ahnung, wie Kaoru zu dieser Neujahrstradition stand, aber Toshiya wäre sicher enttäuscht, so wie ich ihn einschätzte. Schließlich hatte er uns auch zum traditionellen Soba-Essen gedrängt, abgesehen vom späteren Schreinbesuch. Er mochte sowas.
 

Noch bevor ich zur Tat schreiten konnte, quietschte es laut hinter mir und die Schiebetüre wurde geöffnet. Bei meinem erschrockenen Schritt zur Seite stieß ich mir schmerzhaft die Hüfte, noch bevor ich mich zu dem neuen Balkongast umdrehen konnte.

Toshiya. Wer sonst.

Fest in eine Decke eingemummelt, stand er im Türrahmen und blinzelte zerzaust und aus kleinen Augen in die morgendliche Helligkeit. Der Anblick war so überraschend und auf seine Art und Weise niedlich, dass ich vermutlich ziemlich grenzdebil grinste, während in meinem Magen ein kleiner Schwarm Schmetterlinge zum Leben erwachte.

Das leise „Guten Morgen“, das meine Lippen verließ, klang etwas heiserer als beabsichtigt, aber wen interessierte das schon? Toshiya schenkte mir ein müdes Lächeln, dann zwängte er sich zu mir auf den Balkon, der, wie ich es mir schon gedacht hatte, eindeutig zu eng für zwei erwachsene Männer und eine dicke Decke war. Das sah Toshiya wohl anders, denn anstatt etwas zu sagen oder wieder hineinzugehen, drängte er sich dichter an mich und schob die Tür hinter uns zu.

„Guten Morgen, Die.“ Er musterte mich mit einem Schmunzeln auf den Lippen, was mich in innere Unruhe versetzte. Nur mit Mühe schaffte ich es, nicht wegzusehen.

„Sag mal, wolltest du dir den Sonnenaufgang alleine anschauen?“ Sein Mund verzog sich zu einem leichten Schmollen, während er mich keine Sekunde aus den Augen ließ.

„Nein, nein, ich wollte dich eben wecken gehen.“

„Na okay, ich glaube dir.“

Und da war es wieder, dieses Schmunzeln.

„Wie lange stehst du schon hier?“

„Weiß nicht. Wie spät ist es?“

„Kurz nach sieben. Eigentlich müsste gleich die Sonne zu sehen sein.“

Endlich entließen mich die dunklen Augen, als er in die Ferne sah und ich konnte versuchen, mich zu beruhigen und ihn nicht wie ein Kaninchen die Schlange anzustarren. Unauffällig räusperte ich mich, ehe ich seinem Blick folgte und tatsächlich – die ersten Strahlen lugten direkt hinter den Dächern hervor.

Das Lächeln erschien ganz von alleine auf meinen Lippen. Beinahe hätte ich sogar den Atem angehalten. Blinzelnd betrachtete ich das Geschehen. Die Gedanken, die mich vorher noch in Aufregung versetzt hatten, schwiegen, während wir dabei zusahen, wie sich die Sonne Stück für Stück empor schob. Es war atemberaubend schön.

Nicht, dass ich nie einen schöneren Sonnenaufgang gesehen hatte. Es war vielmehr die Bedeutung dahinter. Der erste Sonnenaufgang des Jahres. Alles begann von vorne, alles schien möglich sein. Natürlich war das übertrieben, aber gegen dieses Gefühl des Neubeginns konnte ich mich nicht wehren. Nur am Rande spürte ich, wie Toshiya einen Arm um meine Mitte schlang und mich mit seiner Decke in einen wohltuend kribbelnden Kokon aus Wärme hüllte.

„Es ist kalt.“

Die Worte so dicht an meinem Ohr ließen mich erschauern, während ich mich bewusst weiter auf die Sonne und meine Atmung konzentrierte. Hatte er das gestern Abend nicht ebenso behauptet? Jetzt, da ich von diesem warmen Kokon umgeben war, spürte ich erst, wie kalt mir tatsächlich gewesen war. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl von innen heraus zu glühen.

„Ich bin froh, dass wir uns das zusammen anschauen können.“

In diesem Moment entschied ich mich, das Chaos in mir endgültig ruhen zu lassen und endlich anzufangen, den Moment zu genießen. Hier standen wir, dicht an dicht, auf Kaorus baufälligem Balkon, beobachteten, wie die Sonne das neue Jahr gebührend begrüßte. Da war kein Platz, alles zu zerdenken und sich selbst aus der Bahn zu werfen. Lächelnd legte ich einen Arm um Toshiyas Schulter. Was er murmelte, verstand ich nicht, aber es war auch egal, denn ich war gerade einfach nur glücklich.
 

Eine ganze Weile standen wir so da, in traute Stille gehüllt und hingen jeder seinen Gedanken nach. Es war Toshiya, der sich schließlich von mir löste. Etwas umständlich sah er sich um.

„Was suchst du?“

„Waren hier nicht mal Zigaretten? Könnte gerade eine vertragen.“

Grinsend hielt ich ihm Kaorus halbleere Packung hin, ehe ich mir selbst noch eine daraus stibitzte. Ich würde ihm jetzt wirklich eine neue kaufen, aber das war es wert. Solch eine entspannte Zweisamkeit würde ich mit Toshiya vermutlich nicht mehr so schnell erleben – dafür mussten eben ein paar Zigaretten geopfert werden. Und ich würde ohne Zögern gleich mehrere Packungen dafür opfern.

„Übrigens dachte ich, du wärst gegangen“, nuschelte ich in den ersten Atemzug. Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Fragend sah mich Toshiya an, so ergänzte ich: „Heute Morgen. Ich dachte, du wolltest auch nach Hause gehen. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie du ...ähm… mit aufs Sofa gekommen bist.“

Ein verschmitztes Grinsen erschien auf Toshiyas Gesicht.

„Ach so. Ja, das wollte ich auch, aber du hast mich nicht gelassen.“

Nun war ich es, der fragend aus der Wäsche schaute, wobei mir schon Übles schwante. Wurde das Grinsen etwa noch breiter?

„Sagen wir so: Du warst dezent betrunken und hast dich, bevor du ganz eingeschlafen bist, an meinen Arm geklammert und gemeint, du willst nicht alleine schlafen. Wie hätte ich da nein sagen sollen, wenn ich so lieb gefragt werde?“

Er lachte leise, während ich spürte, wie meine Wangen warm wurden.

„Ich musste dich sogar aus deinen Klamotten befreien, weil du nichts mehr mitbekommen hast.“

Beschämt starrte ich auf das glühende Ende meiner Zigarette.

„Sorry, ich war -“ Ich brach ab, wusste nicht, was ich sagen sollte.

„Ach, alles gut. Jeder von uns war doch schon einmal nicht mehr allzu nüchtern, oder nicht?“ Er zwinkerte vielsagend und ich konnte nur stumm nicken. Es stimmte, nur war meist Toshiya derjenige mit dem höheren Pegel. „Außerdem fand ich die Nacht ganz schön... so auf Kaorus hundert Jahre altem Sofa. Mit dir.“

Wollte er das mein Kopf zu einer Tomate mutierte? Verunsichert sah ich ihn an. Ich wagte es nicht, in die Worte irgendwelche Hoffnungen zu setzen. Am Ende zog er mich bloß auf, weil ich mehr getrunken hatte als er und es diesmal anscheinend nicht so gut weggesteckt hatte.

Doch Toshiya sah mich nur lächelnd an, der Blick so sanft, dass ich schlucken musste.

„Die, denk nicht immer so viel. Ich meine es so, wie ich es sage.“

Aus Mangel an einer sinnvollen Entgegnung nickte ich stumm und zog an der Zigarette. In meinem Hirn herrschte Leere und obwohl ich mich fühlte wie der letzte Trottel, war keine Spur von Unwohlsein aufgrund von der ungewohnten Nähe in mir. Ich wusste einfach nur nichts mit mir und der Situation anzufangen.

„Hast du heute noch was vor?“

Die Worte waren so leise, dass ich nicht sicher war, ob ich sie mir eingebildet hatte. So sah ich fragend auf, doch Toshiya blickte an mir vorbei in die Ferne. Schwache Rauchschwaden verließen seinen Mund. Als ich nicht antwortete, suchte sein Blick meinen.

„Die?“

„Entschuldige. War mir nicht sicher, ob ich mich verhört hatte.“

Grinsend schüttelte er den Kopf und steckte mich unwillkürlich damit an.

„Nein. Also?“

„Du meinst, nachdem uns Kaoru zum Aufräumen verdonnert hat? Vermutlich nach Hause gehen und noch eine Runde schlafen. Die Nacht war definitiv zu kurz“, ergänzte ich wahrheitsgemäß.

„Mhmm…“ Mehr sagte er nicht. Stattdessen biss er sich auf die Unterlippe und blickte schweigend auf das glimmende Ende seiner Zigarette, weshalb ich mich dazu hinreißen ließ, nachzuhaken.

„Und du? Wieso fragst du?“

Erst hatte ich die Befürchtung, dass die Zigarette weiterhin interessanter blieb als ich, doch dann sah er auf.

„Nur so. Eigentlich…“ Er seufzte kurz. „Eigentlich will ich noch nicht nach Hause.“

Wieder lachte er, nur wirkte es diesmal auf eine seltsame Weise unsicher. Mit den Fingern strich er sich ein paar verirrte Haarsträhnen aus der Stirn.

„Es fühlt sich so falsch an, wenn ich daran denke, nachher in meine Wohnung zu gehen, nachdem wir gestern so einen tollen Abend hatten und auch jetzt... ich finde das gerade echt schön. Zu Hause wartet niemand auf mich, dort ist es so still.“

Vielleicht war es das Herzklopfen, das seine Worte auslösten, vielleicht auch die allgemeine Unzurechnungsfähigkeit aufgrund seiner Nähe und dem Restalkohol – jedenfalls war mein Mund schneller als mein Kopf.

„Möchtest du mit zu mir?“

Bevor ich überhaupt dazukam, über mein zu schnelles Mundwerk zu fluchen, strahlte Toshiya mich an.

„Oh, darf ich?“

„Ähm…“

Eine Antwort wurde mir erspart. Stattdessen fand ich mich in einer Umarmung wieder, die mir kurzzeitig die Luft abschnürte und mein Herz endgültig ins Stolpern brachte.

„Ich gestehe, ich hatte insgeheim darauf gehofft.“ Die weiche, leise Stimme an meinem Ohr schickte mir einen Schauer über den Rücken, während ich vorsichtig die Umarmung erwiderte. „Weißt du, Die. So wie du, wollte ich heute Nacht auch nicht alleine sein. Deshalb war ich sehr froh, dass du mich aufgehalten hast.“

Er löste sich ein kleines Stück, die dunklen Augen zogen mich abermals in ihren Bann.

„Ich möchte einfach den ersten Tag des Jahres mit Menschen verbringen, die mir wichtig sind und mir etwas bedeuten. Dem Menschen...“

Ich spürte Toshiyas Stimme mehr auf meiner Haut, als dass ich sie wirklich hörte.

„Mit dir...“

Zum ersten Mal fragte ich mich nicht, ob ich wirklich hoffen durfte.
 


 

Ende?

2

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  -Pharao-Atemu-
2023-12-23T12:28:31+00:00 23.12.2023 13:28
Hach, schmacht....
Dai ist so süß unsicher. XD
Antwort von:  QueenLuna
25.12.2023 11:12
Hach er war ja auch noch sehr jung, so in seinen 20ern und musste sich selbst erstmal finden und verstehen ^^
Von:  yamo-chan
2022-12-10T10:42:47+00:00 10.12.2022 11:42
Hi Luna,
schön, wieder was von dir zu lesen ^^

Oh mein Gott die beiden sind so heiß! 🔥

Ich wüsste ja zu gern, wie Kaoru reagiert! 😂
Vielleicht erfahren wir das nächstes Jahr? 😉
Zwischen meinen Kapitrln vergehen mittlerweile auch Jahre... 🙈

Schönes Wochenende
Antwort von:  QueenLuna
22.12.2022 09:14
Hey ^^ ich freu mich dass es dir gefallen hat xD smut ist ja so ne Sache.

Joar aktuell komm ich auch nicht so richtig zum schreiben, bzw hab mich dafür in ein anderes Genre verirrt. Shame on me ^^; na mal sehen was das wird. Aktuell hab ich noch ne Die Toshiya FF im den Startlöchern nachdem mich Toshiya mit seinem einen InstaPost aus den Socken gehauen hat


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