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Finsterste Nacht

von

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Prolog: Ist das … die Finstre Nacht?


 

Der Schild zersplitterte vor meinen Augen. Zamazenta stieß ein leidvolles Heulen aus, ehe er mitten auf dem Kampffeld zu Boden stürzte. Endynalos' Körper wand sich, um endlich diesen Ort verlassen zu können. Die an den Himmel projizierten Gegenden Galars verzerrten sich mit jeder Bewegung, die er tat, um sich ihm anzupassen. Seine Energie war so übermächtig, dass ich mich anstrengen musste, nicht einfach in die Knie zu gehen. Ich wollte wegrennen, mich verstecken, am besten bei meiner Mutter – doch diese Möglichkeit blieb mir nicht. Wir mussten kämpfen, selbst wenn Zamazenta bereits besiegt war.

Das Schwert in Zacians Maul wuchs mit einem blauen Glühen zu einer größeren Klinge, dann sprang er auf Endynalos zu. Doch dieser zeigte sich davon unbeeindruckt. Sein Schweif zuckte, traf Zacian wie einen Peitschenhieb und schleuderte ihn davon. Als Zacian heulend auf dem Boden aufkam, zerbrach das Schwert.

Hop und ich stießen gleichzeitig einen erschrockenen Ruf aus. Die einzige, die letzte Hoffnung von Galar, war gerade spielend einfach zerstört worden. All unsere Mühe und die von Delion war umsonst gewesen.

Endynalos schrie nun selbst, ein erschütterndes Geräusch wie splitterndes Glas und Fingernägel auf einer Tafel, das einem durch Mark und Bein ging. Ich legte die Hände auf meine Ohren, was nur minimal half. Es schmerzte so sehr, dass ich irgendwann überzeugt war, im Einklang mit Endynalos zu schreien, ohne zu wissen, ob ich es wirklich tat, weil ich nichts anderes als ihn hörte. So konnte ich aber auch kein anderes Pokémon verwenden, ich konnte ja nicht mal klar denken.

Mein Blick wanderte zu Delion, der noch immer auf dem Boden lag und bewusstlos zu sein schien. Nicht mal er hatte es geschafft, Endynalos zu besiegen – wie sollte es da bei uns anders laufen, wenn wir gar keine Champs waren? Verzweiflung wuchs in meinem Inneren.

»Rae!«

Hops Warnruf erreichte mich zu spät. Ich sah nur noch, wie Endynalos auf uns zustürmte. Rote Blitze zuckten um seinen Körper, dann durchfuhr mich ein elektrischer Schock – und dann wurde alles um mich herum schwarz.

 

Als ich im Krankenhaus wieder zu mir kam, war es draußen immer noch dunkel. Ich rieb mir die Augen, worauf jemand im Raum aufstand und an mein Bett trat. Nach einem kurzen Blinzeln stellte ich fest, dass es sich dabei um Hop handelte. Er lächelte bedrückt.

»Gut, dass du wieder wach bist«, sagte er.

»Hast du die ganze Zeit gewartet?«

Er schüttelte mit dem Kopf. »Ich war auch bewusstlos bis vor ein paar Stunden. Ich bin also noch gar nicht lange hier.«

Ich blinzelte. Das letzte, woran ich mich deutlich erinnerte, waren Zamazentas und Zacians Niederlagen gewesen, dann war der Schrei gekommen. »Was ist passiert?«

Er nickte in Richtung des Fensters. »Endynalos hat uns umgehauen und ist dann verschwunden.«

Vorsichtig setzte ich mich aufrecht hin, um einen besseren Blick nach draußen zu werfen. Es war nicht einfach nur dunkel, am Himmel prangte auch ein rotes Dynamaxfeld, von dem immer wieder Blitze ausgingen. »Ist das … die Finstre Nacht?«

Hop nickte grimmig, so wie ich ihn noch nie gesehen hatte. »Zacian und Zamazenta konnten ohne Schwert und Schild nicht mehr viel ausrichten.«

»Wo sind sie jetzt?«

Darauf konnte er nur mit den Schultern zucken. Aber warum waren sie gescheitert? Hatte Rose Endynalos mit zu viel Energie versorgt? Oder waren die Objekte zu alt und rostig gewesen? Oder war beides verantwortlich?

Ich verwarf den Gedanken. War es nicht ohnehin unsinnig, darüber nachzudenken? Schließlich war es bereits geschehen, die Ursache war unwichtig geworden.

»Die Arenaleiter kümmern sich um wilde dynamaximierte Pokémon«, erklärte Hop mir. »Außerdem halten sie Ausschau nach Endynalos. Aber bislang hat ihn niemand gefunden. Und vermutlich könnte ihn auch niemand besiegen.«

Mir fiel auch nur einer ein, der dazu in der Lage wäre, obwohl er schon einmal versagt hatte: »Wann wird Delion es noch mal versuchen?«

Hop senkte den Blick, so dass ich sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. Sein Schweigen zog sich eine Weile hin, was mir absolut nicht gefallen wollte.

»Was ist denn?«, fragte ich. »Delion wird es doch bestimmt noch einmal versuchen! Er ist immerhin unser Champ.«

Hop seufzte schwer. Ein ungutes Gefühl breitete sich in mir aus – und er bestätigte es sofort: »Delion ist fort.«
 

Kapitel 1: Wo ist Delion?


 

Das dynamaximierte Raffel schien in einem grellen Licht zu explodieren, dann schrumpfte es auf seine ursprüngliche Größe zurück. Verwirrt blickte es sich um. »Raf~?«

Ich beugte mich zu ihm herunter. »Na, Kleiner, schon besser, oder?«

Es hob den Blick, um mich anzusehen, dann strahlte es und gab ein zustimmendes »Raf!« von sich. Ich widerstand der Versuchung, es zu tätscheln und lachte stattdessen nur leise. »Genau. Wenn man seine normale Größe beibehält, ist das viel schöner.«

Plötzlich kamen mehrere Raffels und auch ein Schlaraffel angerannt, um ihren Kumpan wieder bei sich willkommen zu heißen. Die zufriedenen Geräusche, die sie alle von sich gaben, verrieten mir, dass ich gute Arbeit geleistet hatte.

»Dann geht jetzt nach Hause«, sagte ich. »Und seid vorsichtig, wenn das nächste Mal ein Blitz einschlägt. Zu viel Neugier bringt nur noch einmal dasselbe Ergebnis. Und ich kann nicht immer da sein, um zu helfen.«

Die Raffels nickten mir zu und trabten dann auf allen Vieren davon. Nur Schlaraffel blieb zurück, um mir eine Beere entgegenzuhalten. Anfangs hatte ich derartige Geschenke noch abgelehnt, aber inzwischen war mir bewusst, dass es vielen Pokémon wichtig war, sich erkenntlich zu zeigen, besonders in diesen harten Zeiten. Also gab es keinen Widerspruch von meiner Seite. »Awww, kommt die aus deinem Vorrat? Danke, Schlaraffel.«

Nachdem ich ihm die Beere abgenommen hatte, folgte Schlaraffel glücklich seinen Freunden – oder vielleicht Familie – und verschwand damit bald aus meinem Blickfeld.

Ich wandte mich Liberlo zu, der inzwischen auch wieder seine alte Größe innehatte, und tauschte einen High Five mit ihm. »Gut gemacht, Junge! Damit haben wir heute wieder einige Pokémon gerettet.«

Liberlo strahlte glücklich über dieses Lob, und aß Schlaraffels Beere, die ich ihm reichte.

Ich holte mein Handy heraus, um zu sehen, wie spät es war. Durch die Neue Finstre Nacht war der Himmel inzwischen immer mit schwarzen und roten Wolken bedeckt, die keinerlei Sonnenlicht durchließen. So blieb einem nur eine Uhr, wenn man einen gewissen Rhythmus beibehalten wollte. Es war schon nach acht abends, im Moment gab es keine weiteren Dynamax-Pokémon in der Nähe, also dürfte nichts gegen Feierabend sprechen.

»Dann haben wir uns jetzt auch eine Pause verdient, oder?«

Liberlo nickte vergnügt.

Zum Glück waren wir an einem guten Ort für ein Lager. Es war reiner Zufall, dass ich an diesem Tag am Sitz des Giganten war, aber hier waren wir nicht nur durch eine Bergkette vor Ostwind oder Angriffen aus dem Hinterhalt geschützt, es gab auch genug Wasser, mit dem ich kochen, Geschirr spülen und später das Feuer löschen konnte.

Nachdem ich das Lager errichtet hatte, ließ ich meine aktuellen Pokémon aus ihren Pokébällen frei. Feelinara setzte sich direkt zu mir, um darauf zu achten, dass Dedenne keine Beeren stahl. Dedenne selbst saß ein wenig abseits, um mich zu beobachten. Silembrim stand neben dem Zelt, um sich auf Schwingungen zu konzentrieren; sie konnte genau spüren, wenn in der Nähe ein roter Blitz aus der Dyna-Wolke einschlug oder wenn Endynalos nicht weit entfernt war; bislang hatten wir aber noch nicht wieder gegen ihn gekämpft. Wolly hüpfte durch das Lager und hielt immer wieder inne, um am Boden zu schnuppern. Was genau da interessant genug für sie war, um anzuhalten, wusste ich aber nicht, obwohl ich schon mehrmals entsprechende Stellen in Augenschein genommen hatte. Liberlo und Gorgasonn patrouillierten um das Camp, damit sie jede Gefahr sofort melden könnten. Neben dynamaximierten Pokémon gehörten heutzutage leider auch andere Trainer dazu, denen die Vorräte ausgingen. Aus Ermangelung der zentralen Städte, in denen man sich wieder eindecken konnte, sahen manche keine andere Möglichkeit, als lagernde Trainer zu überfallen. Mir war das glücklicherweise erst zweimal geschehen, andere schienen schon im Vorfeld zu wissen, dass ich kein leichter Gegner war. Ich verstand die Verzweiflung, aber es war dennoch nicht in Ordnung, andere Trainer zu überfallen.

Während ich die Beeren vorbereitete, warf ich immer wieder einen Blick auf mein Handy. Mit jeder verstreichenden Minute wuchs meine Nervosität. Was, wenn einem der anderen etwas geschehen war? Inzwischen waren wir ohnehin nicht mehr sehr viele, die versuchten, dem Chaos Einhalt zu gebieten, wenn noch mehr Trainer ausfielen … nein, ich wollte nicht einmal daran denken.

Nachdem ich das Feuer angefacht hatte, rührte ich im Curry und währenddessen kamen endlich die ersten Nachrichten auf mein Handy. Ich sah sie immer nur, während sie als neu auf dem Display angezeigt wurden, aber auf den ersten Blick bekam ich den Eindruck, dass es allen gut ging, so dass ich aufatmen konnte.

Erst als all meine Pokémon versorgt waren, nahm ich mein Handy, noch bevor ich selbst aß. Ich musste mich erst vergewissern, dass alle in Sicherheit waren. Die ehemaligen Arenaleiter hatten mit den letzten Challengern eine Chatgruppe eröffnet, um sich gegenseitig auf dem Laufenden zu halten. Roy hatte wie üblich ein aktuelles Selfie gepostet, die anderen schrieben in kurzen Sätzen, dass der Tag für alle mehr oder weniger erfolgreich gewesen war. Niemand hatte sich aus einem Kampf zurückziehen müssen, also war zumindest heute alles in Ordnung.

Ich bin echt erschöpft, klagte Kate in einer Nachricht. Hat heute jemand Endynalos gesehen?

Alle verneinten dies, ich auch. Darauf folgte ein genervter Smiley von ihr. So wird das nie enden.

Roy versicherte ihr, dass sie das schon regeln würden, aber sie glaubte ihm wohl nicht so recht. Wir anderen auch nicht.

Ohne den Champ wird das schwer, gab Yarro zu bedenken.

Hör doch auf, erwiderte Roy. Delion ist weg, wir können uns nicht mehr auf ihn verlassen.

Ich verzog mein Gesicht. Am liebsten hätte ich mich in die Diskussion eingemischt, aber Mary übernahm das schon für mich: Denkt daran, dass Hop und Raelene hier mitlesen.

Ich konnte Kabus Stimme regelrecht hören, als er etwas darauf erwiderte: Nach sechs Jahren sollten selbst die beiden verstanden haben, dass Delion endgültig fort ist.

Diese Diskussion führten wir nicht zum ersten Mal. Normalerweise verteidigten Hop und ich den Champ dann leidenschaftlich – aber inzwischen musste ich einsehen, dass die anderen möglicherweise recht hatten. Er war in sechs Jahren nicht zurückgekommen, um uns zu helfen, niemand hatte ihn gesehen, niemand etwas von ihm gehört. Falls er noch lebte, interessierte er sich offenbar nicht für unsere Situation.

Der Gedanke frustrierte mich zwar, da ich ihn stets bewundert und als unfehlbar gesehen hatte, aber Kabu hatte nun einmal recht: Irgendwann musste man es verstehen und loslassen.

Ohne jede Hoffnung auf einen Champ war es zwar schwer, jeden Tag aufzustehen und erneut zu kämpfen, aber ich liebte Galar und würde es unter keinen Umständen im Stich lassen. Egal, wie lange es dauerte.

Hop schwieg ebenfalls zu der Diskussion, was verriet, dass es ihm ähnlich ging. Als Delions Bruder musste ihn das noch viel mehr treffen. Aber es gab nichts, was ich tun konnte, um zu helfen.

Ich legte das Handy beiseite, da ich nun wusste, dass es allen gut ging, und kümmerte mich nicht weiter um die restliche Unterhaltung, die sich ohnehin nur im Kreis drehen würde, wie so oft. Stattdessen konzentrierte ich mich auf mein Essen, das inzwischen kalt geworden war. Es kümmerte mich nicht, solange es mich sättigte und das tat es auch.

Im Anschluss erledigte ich den Abwasch im nahegelegenen See, um alles wieder in meinem Gepäck zu verstauen, damit ich sofort aufbrechen könnte, falls etwas geschah. Das Feuer ließ ich noch brennen, damit mir nicht kalt wurde, während ich meiner Mutter eine Nachricht schrieb. Sie war mit den meisten anderen Zivilisten in die Kronen-Schneelande geflohen, wo die Dyna-Wolke nicht hinreichte. Seitdem schrieb ich ihr jeden Abend, damit sie auch wusste, dass es mir gut ging und sie sich zumindest für den Moment keine Sorgen machen müsste. Würde die Wolke irgendwann auch dorthin gelangen, wenn wir hier aufgaben? Allein schon deswegen musste ich weiterkämpfen.

Ich legte das Handy beiseite, zog die Knie an meinen Körper und schlang die Arme darum. Wolly hüpfte zu mir herüber und kuschelte sich mit einem leisen Laut an mich. Das letzte Stückchen Heimat in dieser Welt, die sich damals so schlagartig verändert hatte. Und das nur wegen Präsident Rose …

Ich schnaubte leise. Das Lagerfeuer flackerte ein wenig.

Wenn wir seine Absichten nur früher durchschaut hätten, wäre das alles nicht passiert. Und wenn wir Delion nicht egal wären, hätte er uns bestimmt längst gerettet.

»Es war einfach eine dumme Idee, uns nur an diesen Champ zu klammern«, flüsterte ich. »So sind wir unselbständig geworden.«

Selbst nach sechs Jahren hatte sich das nicht verbessert.

Ich legte den Kopf in den Nacken. Die finsteren Wolken verdeckten natürlich den Himmel.

»Mir fehlen die Sterne«, sagte ich seufzend.

Niemand antwortete mir, also sah ich wieder ins Feuer.

Plötzlich hielten meine Pokémon alle inne. Sogar Dedennes Schnurrhaare zuckten, während sie sich umsah. Nach einem kurzen Moment der Verwirrung wandten sich alle gleichzeitig in Richtung der Berge und sahen nach oben.

»Was ist los?«, fragte ich leise.

Mit meinen Pokémon fühlte ich mich sicher, also war ich nicht alarmiert. Ich stand auf und folgte ihren Blicken. Fliegende Pokémon waren nicht selten, vielleicht war wieder einmal eines vom Feuer oder dem Geruch des Currys angelockt worden. Meistens gaben sie sich dann damit zufrieden, etwas vom übriggebliebenen Curry zu bekommen, manchmal mussten wir kämpfen. Aber noch nie waren alle Pokémon so fokussiert darauf gewesen.

In der Dunkelheit erschien eine kleine Flamme, die sich uns näherte. Zuerst glaubte ich an ein Geister-Pokémon, aber dafür erschien es mir dann doch zu regelmäßig. Als das fremde Pokémon in den Schein des Lagerfeuers kam, erkannte ich, dass es sich um ein Glurak handelte. Das war schon eher ungewöhnlich, diese flogen nicht wirklich in der Wildnis herum. Und den einzigen Trainer, den ich kannte, der ein Glurak besaß, war ...

In mir breitete sich eine Mischung aus Vorfreude und Ärger aus. Endlich bekäme ich die Gelegenheit, Delion zu sagen, was ich davon hielt, dass er einfach abgehauen war. Ich war bereit, ihm all den Schmerz entgegenzuschleudern, den er uns – vor allem Hop – damit zugefügt hatte.

Aber als Glurak landete, erkannte ich, dass er allein war. Niemand saß auf seinem Rücken, nicht mal ein gut gelaunter Delion, der einfach sechs Jahre übersprungen hatte und nichts von unseren Problemen wusste. Dabei hätte ich ihm das sogar zugetraut; Delion, der sich immer verirrte, sogar in der Zeit.

Meine Pokémon begrüßten Glurak freundlich, während er ein Schnauben ausstieß und dabei nur mich ansah. Ich musterte ihn nachdenklich. Vielleicht war es doch nicht Delions Partner. Die Möglichkeit bestand doch, auch wenn sie verschwindend gering war, oder? Irgendwo musste er sein Glumanda ja auch einmal herbekommen haben, also warum sollte es kein wildes Glurak geben?

Aber während ich mich noch mit diesen Gedanken plagte, entdeckte ich etwas in seiner Klaue. Es war eine schwarze Kappe, auf der Unterseite des Schirms war eine goldene Krone angedeutet. Damit war eindeutig klar, was ich schon vermutet hatte.

»Du bist Delions Glurak, nicht wahr?«, fragte ich.

Er nickte stumm.

Wieder war da diese Wut, die sich endlich Bahn brechen wollte, all die Frustration, die Enttäuschung, alles wollte einfach raus. Aber es sollte nicht das Pokémon treffen, sondern Delion. Immerhin hatte er uns im Stich gelassen, nicht Glurak.

»Wo ist Delion?«

Glurak hob den Kopf und blickte in Richtung der Berge. Ich konnte da oben nichts entdecken, aber es bestand durchaus die Möglichkeit eines Verstecks. Irgendwo musste er ja die ganze Zeit gewesen sein. Aber warum verriet er mir das?

»Was willst du von mir?«, fragte ich.

Glurak sah mich wieder an, dann beugte er sich in Richtung Boden und senkte auch einen Flügel. Es sah ganz danach aus als wollte er, dass ich aufsitze. Ich fragte ihn deswegen, er nickte.

Mein Blick ging wieder den Berg hinauf. Die Strecke wäre nicht weit, aber mir behagte dennoch nicht, sie fliegen zu müssen. Warum kam er nicht einfach runter?

»Hat Delion Probleme?«

Glurak nickte noch einmal.

Wenn er Hilfe benötigte, konnte ich nicht einfach die Hände in den Schoß legen. Also bat ich Glurak kurz zu warten. Ich baute mein Zelt wieder ab, löschte das Feuer und ließ all meine Pokémon in ihre Bälle zurückkehren. Erst als meine gesamte Ausrüstung verstaut war, kletterte ich ungeschickt auf den Rücken des wartenden Glurak. Ich war sicher, dass ich ihn mehr als einmal unabsichtlich verletzte, aber er schien sich nicht darum zu kümmern.

Als ich endlich oben saß, beugte ich mich vor, klammerte mich an seinen Hals und schloss die Augen. »Okay, wir können los. Aber vorsichtig, ja?«

Ich hoffte, ich würde diesen Flug überleben, aber falls nicht, gäbe es vielleicht wenigstens ein angemessenes Begräbnis – oder mein Geist würde selbst ein Pokémon werden.

Glurak stieg in die Luft. Vielleicht achtete er wirklich auf meine Worte, denn mir schien, dass er nicht so schnell flog, wie er könnte. Möglicherweise tat er das aber auch nur deswegen, weil wir ohnehin innerhalb weniger Minuten da waren.

Ich wartete, bis Glurak ganz sicher wieder auf festem Boden stand, bevor ich meine Augen öffnete. Genauso unelegant wie beim Aufstieg zuvor, kletterte ich wieder hinunter und beschloss, den Rückweg zu Fuß zurückzulegen. Selbst als ich entdeckte, wie glatt und steil die Bergwände waren, änderte ich meine Meinung erst einmal nicht. Fliegen war einfach nicht mein Ding.

Jedenfalls bemerkte ich so auch, dass wir auf einem Felsvorsprung standen, direkt neben einem Höhleneingang; gedämpftes Licht aus dem Inneren verriet mir, dass weiter hinten ein Feuer brennen musste, noch war aber niemand zu sehen oder zu hören. Glurak nickte in Richtung dieser Höhle.

War das eine Falle? Nein, was sollte das bringen? Oder fraßen Gluraks Menschen und er war schon derart verzweifelt?

Ich schüttelte den Gedanken rasch ab. Dafür war einfach keine Zeit.

Ich betrat die Höhle und folgte der Biegung, bis ich zum Lagerfeuer kam. In einer Ecke waren Vorräte (hauptsächlich Essen und Wasser) und Hilfsmittel aufgestapelt, direkt daneben lagen Decken und Kleidung, unter anderem auch das Champ-Cape, das nach sechs Jahren zerschlissen wirkte. Obwohl ich wütend sein wollte, wurde mein Herz schwer.

Zuletzt fiel mein Blick auf eine improvisierte Schlafstätte – und darauf lag eindeutig ein schlafender Delion. Als ich ihn sah, überkam mich eine Woge verschiedenster Emotionen: Bewunderung, Wut, Frustration, Erleichterung – und vor allem Verwirrung.

Glurak blieb neben mir stehen und brummte. Er nickte in Richtung Delion, was für mich eine Einladung darstellte, mich neben die Schlafstätte zu knien. Erst aus der Nähe sah ich, wie sehr Delion schwitzte. Ich legte eine Hand auf seine Stirn. Sie glühte etwa so heiß wie das Feuer eines Gluraks. Kein Wunder, dass sein Partner sich Sorgen gemacht hatte, selbst in mir erwuchs dieses Gefühl nun. Immerhin konnte ich mir nun aber vorstellen, was in etwa geschehen war: Delion war krank geworden, Glurak hatte sich um ihn gekümmert, so gut es ging – aber seine Möglichkeiten waren eben eingeschränkt gewesen. Dann hatte er mein Lager in der Nähe gesehen und seine Chance ergriffen, zusätzliche Hilfe für seinen Partner zu holen. Nun musste ich etwas unternehmen – und ich wusste auch schon, was.

Ich nahm mir einen Eimer, der bei den Vorräten stand, und reichte ihn Glurak. »Bitte hol mir etwas Wasser aus dem See.«

Damit würde ich kein Trinkwasser verschwenden, das die beiden bestimmt dringend brauchten.

Glurak verstand sofort. Er ließ die Kappe zu Boden gleiten und griff sich stattdessen den Eimer, dann verließ er die Höhle wieder.

Da ich zwischen der Kleidung keinerlei Stofffetzen fand, die sich dafür eigneten, Delion mit dem Wasser zu kühlen, holte ich einen Waschlappen aus meinem eigenen Gepäck heraus. Glurak kehrte in dieser Zeit auch zurück. Ich bedankte mich bei ihm, als er den Eimer neben Delion abstellte. Dann zog er sich wieder zurück, um mich in Ruhe arbeiten zu lassen.

Ich begann damit, sein Gesicht von dem Schweiß zu befreien, in der Hoffnung, dass das Wasser ihn auch direkt abkühlte. Kaum berührte ich ihn atmete er plötzlich schwerer. Seine Augenlider flatterten ein wenig, aber er schaffte es nicht aufzuwachen.

Dabei hatte ich so viele Fragen. Wieso war er verschwunden? Wo war er die ganze Zeit gewesen? Warum hatte er uns nicht geholfen? Und weswegen war er nun krank?

Als ich mit dem Waschlappen über seinen Hals fuhr, bemerkte ich kleine blaue Adern, die sich in Richtung seines Gesichts erstreckten. Ich runzelte meine Stirn. Ein Blick über die Schulter verriet mir, dass Glurak mich genau beobachtete; er nickte noch einmal, also vertraute er mir weiterhin.

Ich zog die Decke bis zu seinem Schlüsselbein herunter. Die Verästelungen roter und blauer Adern erzeugten ein lila-farbenes Muster, das seine Haut zu bedecken schien. Es war gruselig und fühlte sich unangenehm unter meinen Fingerspitzen an. So etwas hatte ich noch nie gesehen oder gefühlt – was war das?

Glurak brummte, als wollte er mich anweisen, weiterzumachen.

Mein Herz schlug inzwischen bis zum Hals. Keine Spur mehr von Wut, weil ich nun sah, wie schlecht es ihm ging, und ich konnte nur erahnen, wie das in den letzten sechs Jahren gewesen sein musste. In den Jahren, in denen er, abgesehen von seinen Pokémon, allein gewesen war.

Ich schluckte, dann zog ich die Decke von seiner Brust. Erschrocken atmete ich tief ein.

Auch hier war seine Haut so sehr von Adern durchzogen, dass sie lila aussah und damit nicht mehr menschlich. Gleichzeitig fand ich auch das, was ich als Quelle dieser Änderung und damit der Krankheit ansah: Auf seiner Brust prangten mehrere Reihen von blauen und roten Kristallen, die im Rhythmus seines Herzschlags pulsierten.
 

Kapitel 2: Was ist passiert?


 

Irgendwann, nachdem ich Delion versorgt hatte, musste ich eingeschlafen sein, denn ich erinnerte mich nicht, mich an Glurak angelehnt zu haben. Aber genau so saß ich da, als ich schließlich blinzelnd aufwachte. Im allerersten Moment glaubte ich noch, nur geträumt zu haben, aber die schuppige Haut und der rauchige Geruch bewiesen mir das Gegenteil.

Glurak hob den Kopf ein wenig, als ich mich aufrecht hinsetzte. Wir waren immer noch in dieser Höhle, das Feuer brannte weiterhin – und auf der anderen Seite davon saß Delion, der mich misstrauisch musterte. Die Adern hatten sich von seinem Hals zurückgezogen, auch seine Schultern waren wieder frei davon, zumindest schien der Effekt dieser Juwelen also nicht dauerhaft zu sein, das beruhigte mich schon mal. Schweiß perlte von seiner Stirn, weswegen ich ihn ermahnen wollte, sich wieder hinzulegen, aber ich glaubte nicht, dass er auf mich hören würde, schon gar nicht bei diesem Blick.

»Wer bist du?«, fragte er tonlos.

Erst wollte ich ihn fragen, warum er sich nicht an mich erinnerte, doch dann fiel mir auch wieder ein, dass ich mich in sechs Jahren ganz schön verändert haben musste. Und er war mit ganz anderen Problemen beschäftigt gewesen, da hatte er sicher nicht dauernd an mich denken können.

»Ich bin Raelene. Weißt du noch? Hops Rivalin?«

Hinter seiner gerunzelten Stirn arbeitete es regelrecht, seine Augen ließen mich keinen Moment los. Früher waren sie immer voller Wärme und guter Laune gewesen, aber nun waren sie kalt und verhärtet. Es war traurig.

Zumindest glättete sich seine Stirn wieder. »Ja, ich erinnere mich. Du warst im Finale des Champ-Cup. Tut mir leid, dass wir es nie nachholen konnten.«

Das war in dieser Situation das einzige, wofür er sich entschuldigen wollte?

Ich schüttelte mit dem Kopf. »Das ist doch vollkommen egal. Wir haben andere Probleme.«

Glurak stimmte mir da zu, worauf Delion leise schnaubte.

»Wo warst du die letzten sechs Jahre?«, fragte ich. »Wir haben uns alle Sorgen um dich gemacht.«

Jedenfalls galt das für mich und Hop, bei den anderen wusste ich es nicht. Im Moment zählte für mich aber auch nur Hop, sein kleiner Bruder.

Er antwortete nicht darauf. Genau genommen war ich mir nicht mal sicher, ob er die Frage auch gehört hatte, denn sein Oberkörper schwankte bereits bedrohlich. Glurak brummte.

Ich wiederholte die Frage besser nicht. Dafür interessierte mich etwas anderes auch wesentlich mehr. Ich deutete auf die Edelsteine, die – wie ich schnell herausgefunden hatte – in seine Haut eingelassen waren. Sie pulsierten selbst jetzt noch, aber wesentlich langsamer als gestern.

»Was ist das?«, fragte ich. »Was ist passiert?«

Er blickte darauf hinab und strich mit einer Hand darüber. Im ersten Moment befürchtete ich, dass irgendetwas geschehen würde, aber dem war nicht so. Sie pulsierten weiter im Rhythmus seines Herzschlags, der Anblick verriet mir, wie lange es dauerte, bis Delion schließlich antwortete: »Das ist nichts.«

Er hob den Kopf wieder, seine goldenen Augen funkelten wütend. »Jedenfalls nichts, was dich etwas angeht.«

Die Ablehnung schmerzte doppelt, da Delion früher einmal so offen und nett gewesen war. Schon damals hatte er Dinge vor uns verheimlicht, aber dennoch seine fröhliche Miene nie vernachlässigt. Sollte ich ihn daran erinnern, was geschehen war, weil er uns nichts von Roses Plänen erzählt hatte?

Bevor ich mich entscheiden konnte, brummte Glurak deutlich verärgert. Delion reagierte darauf wieder mit einem Schnauben. Hatte ihre Kommunikation in den letzten Jahren nur daraus bestanden?

»Geht es mich wenigstens etwas an, was du in den letzten sechs Jahren gemacht hast?«, fragte ich.

Er fokussierte sich wieder auf mich, immer noch misstrauisch, abweisend, aber zumindest bereit, mir zu antworten: »Ich habe dynamaximierten Pokémon geholfen.«

Tatsächlich gab es täglich mehr von ihnen als wir in unserer Gruppe bekämpfen konnten. Bislang waren wir aber davon ausgegangen, dass es noch einige unabhängige Trainer gab, die sich darum kümmerten. Iva, Victor und Saverio etwa waren nicht an einem Verbund interessiert gewesen und hatten darauf bestanden unabhängig von der Liga zu operieren. Und dann gab es sicher noch andere Trainer, die ich einfach nur nicht kannte, sich aber dennoch für Galar stark machten. Dass Delion dazugehörte, war einerseits logisch, andererseits warf es aber auch neue Fragen auf: »Warum hast du dich bei keinem von uns gemeldet?«

»Das würdest du nicht verstehen.«

»Hat es etwas mit diesen Juwelen zu tun?«

Unbändige Wut funkelte in seinen Augen, schien sie regelrecht leuchten zu lassen. »Hör endlich auf, davon zu reden!«

Ich zuckte unwillkürlich zurück. Seine Stimme erfüllte die gesamte Höhle, echote von den Wänden wider, als würde er mich von allen Seiten gleichzeitig anschreien.

Plötzlich bewegte Glurak sich hinter mir. Blitzschnell begab er sich vor mich und breitete schützend einen Flügel vor mir aus, der mir die Sicht auf Delion nahm. Gleichzeitig stieß Glurak ein warnendes Knurren aus mit dem er Delions Echo verscheuchte.

Was in aller Welt waren diese Juwelen?!

Ich wagte es nicht, die entstandene Stille zu durchbrechen, um das noch einmal zu fragen. Lediglich das Knistern des Feuers war zu hören, während Gluraks angespannter Körper mich weiterhin vor Delions Zorn schützte. Würde er seinen eigenen Partner sogar angreifen? Was geschah hier?

Langsam beruhigte sich mein Herz wieder, und Delion ging es wohl ebenso, denn plötzlich seufzte er leise. Erst nach diesem Geräusch ließ Glurak den Flügel sinken. Delion atmete tief durch. Dabei fiel mir auf, dass die lila Adern sich bis zu seinem Kinn hochgearbeitet hatten, sich nun aber langsam zurückzogen. Glurak beobachtete ihn immer noch aufmerksam und wich nicht von meiner Seite.

»Tut mir leid«, murmelte Delion kaum hörbar.

Ich nickte nur. Noch einmal würde ich diese Frage aber nicht stellen. Diese Reaktion wollte ich nicht ein weiteres Mal erleben – und ich wollte auch nicht, dass Delion es mitmachen musste.

»Langsam sollte ich weitermachen«, sagte er plötzlich. »Mit jedem Tag, der vergeht, wird das Chaos für Galar nur schlimmer.«

Er versuchte aufzustehen, brach jedoch direkt wieder zusammen. Statt das als Zeichen zu nehmen, versuchte er allerdings direkt noch einmal aufzustehen. Im nächsten Moment stand Glurak neben ihm, um ihn dazu zu bringen, sich wieder hinzulegen. Er brummte und knurrte, diesmal aber leise. Delion erwiderte seinen Blick. Für einen Moment lieferten sie sich auf diesem Weg einen Kampf ihrer Willenskräfte – und zu meiner Erleichterung gewann Glurak. Seufzend ließ Delion sich wieder auf dem Lager nieder. »Fein, wenn du darauf bestehst. Aber wer soll dann das Buch besorgen?«

Glurak sah vielsagend in meine Richtung. Delion folgte seinem Blick und runzelte wieder die Stirn. »Oh ja … wenn du schon da bist, kannst du mir eigentlich auch helfen.«

Die anderen zählten auf mich, gleichzeitig wollte ich Delion aber auch unbedingt unterstützen. Nicht nur, weil ich hoffte, dass er alles beenden könnte. Nein, ich erinnerte mich auch wieder daran, wie gern ich ihm damals auch schon geholfen hätte. Wenn ich in alles eingeweiht gewesen wäre, hätte ich Rose dann aufhalten können? Obwohl ich erst zehn war? Wahrscheinlich war der Gedanke lächerlich, aber inzwischen war ich sechzehn, da sollte es doch möglich sein, wirklich hilfreich zu sein. Außerdem wollte ich keinen weiteren Wutanfall erleben.

»Was ist das für ein Buch?«, fragte ich. »Und wo finde ich es?«

Glurak nickte zufrieden, während Delion sich an die Stirn griff. »Es ist im Pokémon-Labor in Brassbury. Jedenfalls denke ich, dass es dort ist.«

Das war nicht zu weit, also machbar. Besonders wenn Glurak mich fliegen wollte, so wie es gerade aussah, als er sich wieder neben mich stellte. Ich wusste nur immer noch nicht, was das für ein Buch war. Doch ein lautes Knurren hielt mich davon ab, noch einmal zu fragen. Diesmal war es aber nicht von Glurak gekommen.

Delion wandte den Blick wieder ein wenig ab und legt eine Hand auf seinen Bauch.

»Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?«, fragte ich.

Er schien nachzudenken, was schon Antwort genug war. Ich holte den Kessel aus meiner Ausrüstung und reichte ihn Glurak. »Holst du bitte noch einmal Wasser? Dann koche ich für uns.«

Offenbar lag ihm auch viel daran, denn ohne zu diskutieren nahm er mir den Kessel ab und zog sofort los. Delion sah ihm hinterher, bis wir das Flügelschlagen hören konnten.

»Warum hat Glurak ausgerechnet dich geholt?«, fragte Delion, während es in der Ferne verklang.

»Zufall.« Ich ging bereits meinen Beerenvorrat durch, um die richtigen herauszusuchen; das erlaubte mir, mich davon abzulenken, dass ich nun allein mit einem unberechenbaren Delion war und meine Worte mit Bedacht wählen sollte. »Ich habe letzte Nacht in der Nähe campiert, da muss er mein Lagerfeuer gesehen haben.«

»Mhm.« Delion beobachtete mich aufmerksam. »Du weißt, dass du dich nicht um mich kümmern musst, oder? Ich komme auch allein klar.«

Fein säuberlich legte ich die ausgesuchten Beeren vor mir ab. »Das denke ich mir, sonst hättest du die letzten sechs Jahre nicht überlebt. Aber ich will dir helfen. Du hast es schon schwer genug.«

Das sagte mir allein dieser Wutanfall und Gluraks Reaktion darauf. Offenbar war es nicht zum ersten Mal vorgekommen, und Delion litt darunter. Jedenfalls glaubte ich das, wenn ich sein jetziges Verhalten mit dem des unschlagbaren Champs von damals verglich. Aber jener war noch irgendwo in ihm, da war ich mir sicher, und er käme bestimmt wieder hervor, wenn es ihm besser ging.

»Ich brauche kein Mitleid«, entgegnete Delion murrend.

»Es ist kein Mitleid.« Ich erwiderte seinen Blick. »Ich denke nur, dass du der einzige bist, der uns alle retten kann, du bist unser Champ, unsere Hoffnung. Deswegen will ich dir helfen.«

Offenbar ließ er sich diese Worte wirklich durch den Kopf gehen. Ich setzte noch mit einer Frage nach: »Ist das okay für dich?«

Etwas flackerte in seinen Augen, dann wurde seine Miene etwas weicher. »Danke, Raelene.«

Ich lächelte ihm zu. »Keine Ursache. Es wäre nur schön, wenn du dafür ein wenig auf dich achten würdest. Also vor allem, dass du dich erst einmal erholst.«

»Da kann ich wohl nicht Nein sagen.« Er zuckte mit den Schultern, aber seine Mundwinkel waren zumindest ein wenig angehoben.

Ich zeigte es nicht, aber ich war erleichtert, dass ich ihn damit erreicht hatte, statt ihn zu verärgern.

Glurak kehrte von seiner Besorgung zurück. Dankend nahm ich ihm den Kessel ab und befestigte ihn an einer Vorrichtung über dem Feuer. Glurak sah zwischen uns hin und her, dann schien er zufrieden darüber, dass keinerlei Spannung existierte und legte sich wieder auf den Platz, auf dem er geschlafen hatte.

Selbst beim Kochen beobachtete Delion mich, als fürchtete er, ich könnte ihn vergiften.

»Hast du irgendwem eigentlich schon gesagt, dass ich hier bin?«, fragte er plötzlich.

Ich schüttelte mit dem Kopf, während ich im Curry rührte. »Ich wollte erst von dir wissen, was eigentlich los ist. Und jetzt nehme ich an, dass du nicht willst, dass ich es jemandem sage.«

Sonst hätte er sich ja schon vor längerer Zeit zu erkennen gegeben. Außerdem war ich mir nicht sicher, wie die anderen auf diesen Delion reagieren würden.

Er bedankte sich leise, vermutlich hatte er damit nicht gerechnet und sich schon darauf vorbereitet, mir eine Standpauke zu halten. Was immer ihn derart wütend machte, gerade ließ es ihn in Ruhe.

Schließlich reichte ich ihm einen Teller mit Curry. »Lass es dir schmecken.«

Immer noch etwas misstrauisch nahm er ihn mir ab und betrachtete das Ergebnis. Ich kümmerte mich nicht darum, dass er erst etwas darin herumstocherte und gab Glurak dafür seine Portion. Zum Schluss nahm ich mir selbst einen Teller und setzte mich wieder, um zu essen.

Erst als er das sah, stürzte Delion sich regelrecht auf sein Curry und verschlang es, als hätte er wirklich seit einer Ewigkeit nichts mehr gegessen. Ich hoffte nur, dass er sich nicht verschlucken würde. Deswegen fragte ich ihn auch nicht, ob seine anderen Pokémon vielleicht auch etwas essen wollten. Wenn er nur Glurak bei sich hatte, würde das schon einen Grund haben.

»Nimm dir ruhig noch mehr, wenn du nicht satt wirst«, sagte ich ihm zwischendurch.

Er nickte nur knapp.

Ich ließ ihn essen. Erst nach der dritten Portion wurde er etwas langsamer. Das erschien mir wie eine gute Gelegenheit, ihn endlich noch einmal wegen des Buchs zu fragen.

»Ach ja.« Ihm schien es auch endlich wieder einzufallen. »Also, Professor Magnolica hatte ein Buch, das sich mit der Theorie der Inbesitznahme diverser Organismen beschäftigt.«

Ich verstand den Titel nicht so recht. Drückten Professoren sich so kompliziert aus oder umschrieb er es extra in schweren Wörtern, damit ich es nicht verstand?

»Wenn du das doch weißt, warum hast du es noch nicht geholt?«

Er rieb sich über den Nacken und verzog das Gesicht, als er wohl selbst bemerkte, dass die Adern nach oben gewandert waren. »Na ja, ehrlich gesagt war das bis vor kurzem noch nicht weiter wichtig. Und dann kam dieses Fieber.«

Er zuckte mit den Schultern.

Ich fragte mich, was er in den letzten sechs Jahren alles erlebt hatte, aber warum sollte er mir das erzählen? Vermutlich misstraute er mir noch ein wenig, was ich gut verstehen konnte, besonders nach seinem Wutanfall.

Ich müsste mich ihm erst beweisen – und da würde ich nicht zögern.

»In Ordnung«, sagte ich. »Ich besorge dir dieses Buch – aber glaub nicht, dass du mich danach wieder loswirst. Ich werde weiter an deiner Seite bleiben.«

Mein Herz schlug bis zum Hals, aber ich bemühte mich, das nicht nach außen zu zeigen und Delion so fest wie möglich anzusehen. Glurak war glücklicherweise auf meiner Seite, er nickte brummend.

Delion erwiderte meinen Blick mit seinen viel zu finsteren Augen, denen ein roter Schein anzuheften schien. Doch dann lächelte er plötzlich, wenn auch nur ein bisschen, und seufzte. »Da kann ich wohl wieder nicht Nein sagen, was? In Ordnung. Ab sofort sind wir ein Team.«
 

Kapitel 3: Du kommst hier nicht heraus


 

Obwohl ich Glurak zu überzeugen versuchte, dass ich nicht nur allein den Berg hinunterklettern (eine unmögliche Angelegenheit, aber besser als fliegen, wie mein Kopf mir zu erzählen versuchte), sondern auch meinen Weg nach Brassbury finden könnte, landete er kurz nach dem Essen vor dem Labor. Davon ging ich jedenfalls aus, denn ich klammerte mich an seinen Hals und hielt meine Augen geschlossen, auch noch, als er sich nicht mehr bewegte. Mein Magen spielte noch immer verrückt und gaukelte mir vor, in der Luft zu sein. Erst auf ein leises Geräusch von Glurak hin, öffnete ich zaghaft ein Auge, dann das andere. Nachdem ich festgestellt hatte, dass ich sicher war, kletterte ich vorsichtig von seinem Rücken herab. Meine Beine zitterten, deswegen hielt ich mich an ihm fest, selbst als ich endlich auf dem Boden stand.

Zu meiner Erleichterung war das Pokémon-Labor nicht beschädigt worden. Allgemein wirkte Brassbury vollkommen sicher und intakt, einzig die Tatsache, dass es verlassen war, zeugte von der Katastrophe, die unsere Region verwüstete. Sania hätte mir bestimmt erklären können, wie es kam, dass hier keine wilden Pokémon tobten, aber ich dachte lieber nicht darüber nach. Ich wollte stattdessen schnell das Buch besorgen und zu Delion zurückkehren – obwohl das bedeutete, ich müsste noch einmal fliegen. Vielleicht sollte ich mir doch etwas mehr Zeit lassen.

»Also«, sagte ich zu Glurak, »ich suche da drinnen nach dem Buch. Du wartest hier. Aber gib mir ein Zeichen, falls du etwas Gefährliches siehst.«

Was er als gefährlich betrachtete, überließ ich ihm.

Er nickte mir ernst zu.

Ich öffnete die Tür und trat ins verlassene Labor. Das letzte Mal war ich mit Sania hier gewesen, gemeinsam mit Voldi, alles war mit Licht geflutet; nun war es dunkel, dreckig und ein stechender Geruch von Fäule hing in der Luft. In einem verglasten Bereich waren Pflanzen gewachsen, nun war das Glas zersplittert, alles dahinter vertrocknet und tot. Die einst so sorgsam aufgereihten Bücher in den Regalen lagen teilweise im Raum verstreut, aufgeschlagen, ohne jede Rücksicht auf den Einband, aus manchen waren Seiten herausgerissen worden. Hoffentlich war dabei nicht das Buch, das ich suchte, zerstört worden.

»Die Theorie der … Inbesitznahme diverser Organismen«, murmelte ich. »Wer soll sich so etwas denn merken?«

Und was bedeutete das überhaupt? Vielleicht könnte ich das herausfinden, sobald ich es erst einmal gefunden hatte. Deswegen machte ich mich direkt daran, die Regale durchzugehen und jeden einzelnen Titel zu lesen. Im Halbdunkel des Innenraums war das nicht einfach, aber mit meinem Rotomhandy konnte ich mir genug Licht machen, um etwas besser sehen zu können.

Das Dynamax-Phänomen, Galars Verbindung zu Wunschsternen und Der Zusammenhang zwischen Dynamax-Energie und der Stromgewinnung, das waren Bücher, die ich im früheren Labor von Professor Magnolica erwartet hatte und auch fand. Aber darüber hinaus entdeckte ich noch Reguläre und irreguläre Evolutionen, Grundlagen Technischer Platten und Eine erste Untersuchung regionaler Pokémon-Formen (letzteres bestand hauptsächlich aus bebilderten Auflistungen, mit deren Hilfe die Unterschiede zwischen den Formen erklärt wurden).

Je weiter ich vorankam, desto komplizierter wurden die Titel, so dass ich hoffte, bald fertig zu sein. Nachdem ich die Bücher auf dem Boden überflogen hatte – glücklicherweise ohne das gesuchte unter den zerstörten zu finden –, nahm ich die Treppe auf die obere Galerie. Von hier oben entdeckte ich zwischen den Deckenbalken ein Nest. Mein Licht spiegelte sich in den roten Augen eines Meikro, das mich argwöhnisch beobachtete. Ich wusste nicht, wie es hier hereingekommen war, aber es war schön, zumindest etwas Leben zu sehen.

Um es nicht zu sehr zu verstören, wandte ich mich von ihm ab und widmete mich wieder den Büchern. Hier oben waren die Regale noch vollständig, anderen war es wohl zu mühsam gewesen, hier oben auch Chaos anzurichten. Das erleichterte mir meine Arbeit, aber die komplexen Titel ließen bald alles in meinem Kopf umherschwirren. Immer wieder musste ich innehalten, blinzeln, durchatmen und mich daran erinnern, dass ich diese langweilige Aufgabe aus einem bestimmten Grund heraus tat. Auch wenn ich nicht wusste, warum Delion dieses Buch brauchte. Aber vielleicht erklärte er es mir, sobald ich es ihm gebracht hatte – schließlich hätte ich es mir dann verdient.

Ich fing gerade mit dem dritten Regal an, als hinter mir etwas flatterte. Ich drehte mich um und konnte gerade noch sehen, wie das Meikro aufgeregt in eine Ecke flog und dort durch ein kaum sichtbares Loch schlüpfte. Dann erklang von draußen ein lautes Knurren, das von Glurak stammen musste. Doch bevor ich darauf reagieren konnte, öffnete etwas oder jemand die Eingangstür.

Ich löschte das Licht meines Rotomhandys und ging in die Knie. Das Geländer der Galerie würde mich nicht verstecken können, aber es war dunkel genug, dass man mich vielleicht übersah.

Drei Männer traten ein und schlossen die Tür wieder. Sie blickten sich aufmerksam um.

»Und was wollen wir jetzt hier?«, fragte einer von ihnen mit kratziger Stimme. »Das is' 'n dämliches Labor, hier gibt’s bestimmt keine Vorräte.«

Ich schluckte. Prima, ausgerechnet jetzt mussten hier drei Plünderer auftauchen. Vermutlich hatte Glurak sie zu spät bemerkt oder sie erst nicht als Gefahr eingeschätzt. Irgendetwas musste ihn dann aber vom Gegenteil überzeugt haben – nur eben zu spät für mich.

Einer der Männer hob beruhigend die Hand. »Reg dich nicht so auf, Frank.« Seine Stimme war nicht kratzig, nur eigenartig still und kühl. »Hier ist ganz sicher was, sonst hätte das Glurak nicht so vor dem Gebäude herumgelungert.«

Ich horchte auf, gleichzeitig beschleunigte sich mein Herzschlag. Hatten sie ihm etwas getan? Nein, das war unsinnig. Glurak konnte gut auf sich aufpassen, der ließ sich nicht von irgendwelchen Banditen schnappen. Und ich sollte das auch nicht tun.

Der Mann, der Frank genannt worden war, kratzte sich am Hinterkopf. »Vielleicht macht es nur gern Feuer. Hier gibt’s genug Papier dafür.«

Einer der anderen kicherte, während der mit der kühlen Stimme seufzend mit dem Kopf schüttelte. »Das ist ein Glurak, die gibt es hier normalerweise nicht. Also hat irgendwer es als Wächter abgestellt. Und was haben Leute normalerweise?«

»Was zum Essen!«, stellte Frank erstaunt fest. »Mann, Ike, du bist echt 'n Genie!«

Unwillkürlich sah ich über meine Schulter. Ich hatte tatsächlich ein wenig was zu essen dabei, aber sonderlich viel war es nicht mehr, seit ich für Delion gekocht hatte; vielleicht noch eine Mahlzeit, die für uns beide reichen würde. Auf jeden Fall war es nicht genug für drei erwachsene Männer und ich wollte mir ihren Zorn nicht zuziehen. Aber wie sollte ich ihnen ungesehen entkommen?

Ike entschied schließlich, Anweisungen zu geben: »Tom, du suchst da beim Waschbecken; Frank, du siehst mal im hinteren Bereich nach. Ich geh nach oben.«

Ich wich zurück, um nicht doch noch gesehen zu werden. Die Schritte der drei Männer verrieten mir, dass sie tatsächlich dem Plan folgten – und ich mich beeilen musste.

Die Treppe nach unten fiel aus. Von der Galerie runterzuklettern würde mich aber auch verraten. Mir blieb nur eine Wahl, um zumindest eine kleine Chance zu haben.

Möglichst leise schlich ich zu der Stelle, die einst auch hier oben verglast gewesen war. Auf meinem ersten Weg hatte ich nicht darauf geachtet, aber nun stellte ich zu meiner Erleichterung fest, dass auch hier alles zersplittert war. Ich sah über die Schulter. Frank war im hinteren Bereich des Labors angekommen, wo früher die Computer gestanden hatten, Ike war am Fuß der Treppe. Ich setzte mich an den Rand und ließ mich vorsichtig hinunter, um keinen Lärm zu veranstalten. Scherben knirschten unter meinen Schuhen, ich hielt die Luft an – aber nichts geschah.

Einer der drei fluchte leise und trat etwas beiseite, Frank ging die Treppe hinauf.

Ich atmete lautlos aus. Inzwischen hörte ich meinen Herzschlag in meinen Ohren, meine Muskeln ächzten innerlich unter der Anspannung. Im Moment wäre ich lieber in einem Kampf gegen ein dynamaximiertes Pokémon gewesen, statt zwischen verfaulten Überresten einst liebevoll gepflegter Pflanzen zu sitzen, in der Hoffnung, nicht von Banditen erwischt zu werden.

Ich streckte den Kopf hervor, um herauszufinden, ob ich zum Ausgang gelangen könnte. Tom war nicht zu sehen, aber neben der Tür existierte schließlich eine Einbuchtung in einen kleinen Küchenbereich, der aus diesem Winkel für mich nicht sichtbar war. Mein Blick wanderte zu Frank, der zwischen den nutzlosen Computern und unter Tischen suchte. Über mir hörte ich Ikes langsame Schritte, die bedächtig der Galerie folgten; wenn er nicht ganz blind war, dürfte er inzwischen bemerkt haben, dass ich nicht dort oben war – und das bestätigte er mir auch sofort mit einem unheimlichen Singsang: »Komm raus, komm raus, wo immer du bist~.«

Ich zog mich sofort wieder tiefer in das tote Gestrüpp zurück und griff gleichzeitig nach Liberlos Pokéball. Doch ich hielt inne, bevor ich ihn wirklich umfasste. Natürlich würde Liberlo mich verteidigen, aber gleichzeitig würde er auch das ganze Gebäude niederbrennen und diese Banditen schwer verletzen oder sogar töten, das konnte ich nicht zulassen. Deswegen wanderte meine Hand weiter zu Dedennes Pokéball. Seine Elektroschocks waren schmerzhaft, aber nicht tödlich.

Ich hatte nur eine Chance, aber wann sollte ich sie nutzen, um sie nicht zu verschwenden?

Die Anspannung ging sogar auf meine Knochen über, mein ganzer Körper wollte nur noch hier raus.

Plötzlich war da eine Bewegung hinter mir, dann eine Stimme: »Gefunden~!«

Mit einem Schrei stürzte ich aus meinem Versteck, gleichzeitig warf ich aus Reflex den Pokéball. Dedenne sah sich einen Moment verwirrt um, reagierte aber schnell, als ich an ihm vorbeirannte. Elektrizität ließ die Atmosphäre erzittern, Frank stieß einen heiseren Schrei aus.

Ich sah hinter mich, während ich Dedenne in den Ball zurückholte. Frank und Ike kamen mir nur langsam hinterher, ich glaubte mich schon fast sicher – als ich plötzlich von jemandem gepackt und herumgedreht wurde.

»Was haben wir denn hier?«, fragte eine ölige Stimme, die vorhin nichts gesagt hatte – Tom.

Schmerzhaft verdrehte er meine Arme auf meinen Rücken und hielt mich an den Handgelenken fest, so dass ich nicht einmal mehr einen Pokéball werfen konnte. Ich tat ihm allerdings nicht den Gefallen, auch nur ein leises Ächzen oder Keuchen auszustoßen, sondern biss die Zähne zusammen.

Ein strenger Geruch von altem Schweiß und undefinierbarem Dreck, der zwischen ihrer zerlumpten Kleidung feststecken musste, kam mir mit den anderen beiden entgegen; ich verzog unwillig mein Gesicht, zeigte ansonsten aber nicht, dass mir die Situation zusetzte, obwohl ich mich eigentlich am liebsten zusammengerollt hätte.

Ike betrachtete mich eine Weile im Halbdunkeln, dann schmunzelte er. »Der Fang ist sogar noch besser als wir gedacht hätten – wir haben hier ein kleines Dusselgurr.«

Frank neigte missmutig den Kopf. »Ein echtes wäre mir lieber, das könnte man essen.«

»Idiot«, murmelte Tom.

Derweil zwirbelte Ike eine meiner Haarsträhnen zwischen seinen Fingern. »Wenn uns mit dir langweilig wird, finden wir schon jemanden, der dich gegen Essen eintauscht.«

Ich bezweifelte, dass sie mit mir nur Karten spielen wollten, das ließ meine Panik direkt um das Hundertfache anschnellen. Innerlich versuchte ich Möglichkeiten durchzugehen, mich aus dem festen Griff von Tom zu befreien und den aufmerksamen Blicken von Ike und Frank zu entgehen, aber jede scheiterte daran, dass mir die Kraft fehlte, überhaupt eine Hand freizubekommen.

Ike schien dennoch zu wissen, was ich dachte: »Du kannst den Gedanken gleich aufgeben, kleines Dusselgurr, du kommst hier nicht heraus. Spätestens vor der Tür hätte Bill dich erwischt.«

Toll, da lauerte also noch einer von denen. Es sah ganz danach aus, dass es wirklich keinen Ausweg für mich gab.

»Also sag schon«, forderte Ike, »war das dein Glurak, das vorhin vor dem Labor saß?«

»Was habt ihr mit ihm gemacht?!«

Er schmunzelte ein wenig. »Na, sieh mal einer an, du kannst ja wirklich reden. Aber keine Sorge, wir haben gar nichts getan. Es hat von alleine die Flatter gemacht.«

»Wie ein aufgescheuchtes Meikro«, stimmte Frank zu.

Glurak hatte sie also nicht abwehren können oder wollen. Vielleicht ging es gegen seine Erziehung, Menschen zu verletzen, das konnte ich verstehen. Solange es ihm aber gut ging, musste ich mir wenigstens keine Sorgen um ihn machen.

»Sollen wir sie gleich durchsuchen?«, fragte Tom leblos.

»Nein, warten wir, bis wir in unserem Versteck sind. Hier drin ist es eh zu dunkel, also-«

Er brach abrupt ab, als ein dumpfes Keuchen von draußen erklang, gefolgt von einem Geräusch als wäre etwas Schweres zu Boden gefallen. Im nächsten Moment zerbarst die Tür mit einem lauten Krachen, etwas stieß gegen Tom, der mich sofort losließ. Ich nutzte die Gelegenheit, dass auch die anderen beiden abgelenkt waren und stürmte geduckt wieder tiefer ins Gebäude. Erst als ich sicher war, dass sie mich nicht mehr schnappen würden, fuhr ich herum – und hielt inne.

Ein wütendes Zwollock stand dort, wo vorhin noch Tom gestanden hatte, und schnaubte. Tom selbst wand sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden. Die anderen beiden sahen perplex auf ihn hinab. Ich dagegen musterte sofort wieder das Zwollock und bemerkte schnell das Halsband, das es trug. Damit konnte es nur einer Person gehören.

Hop tauchte plötzlich hinter dem Zwollock auf und winkte mich mit einer ausschweifenden Armbewegung zu sich. »Los, komm!«

Ich zögerte nicht länger, tauchte unter Ikes ausgestreckten, nach mir greifenden Händen hindurch, vorbei an Frank und Tom und auch Zwollock, das für mich extra einen Schritt zur Seite trat und mir dann folgte.

Als ich im Freien tief Luft holte, wurde mir erst so richtig bewusst, wie übel der Gestank im Inneren des Gebäudes gewesen war. Ein scheinbar bewusstloser Mann lag neben dem Labor, ausgehend von der zerlumpten Kleidung ging ich davon aus, dass er dieser Bill war, den Ike erwähnt hatte. Außerdem entdeckte ich auch Sania, die mir einfach nur zunickte, ehe sie etwas in Richtung des Eingangs warf. Dieses Etwas verursachte eine dunkle Gaswolke, die mir die Sicht nahm und mich husten ließ.

Jemand griff nach meinem Handgelenk und zog mich mit sich, fort von dem Labor, in dem ich beinahe entführt worden wäre – und auch weg von der Erfüllung meines Auftrags, um Delion zu helfen. Aber in diesem Moment war ich einfach nur froh, von hier fortzukommen, egal wohin.

Mein Blick wanderte in den Himmel, wo ich nach Glurak suchte. Ich hoffte, er würde mich wiederfinden, um mich zurückzubringen, sobald wir erst einmal in Sicherheit waren. Aber eigentlich hegte ich daran keinen Zweifel – immerhin war er der Partner des Champs. Glurak würde mich überall finden und erst mit dieser Erkenntnis fühlte ich mich endgültig sicher. Selbst dann noch, als Ike mir etwas hinterherrief: »Flieg davon, kleines Dusselgurr! Irgendwann werden wir dich schon wiederfinden und dann wird dir niemand zur Hilfe kommen!«
 

Kapitel 4: Worum geht es dann?


 

Sania und Hop führten mich direkt ans Ende von Route 2, zu Professor Magnolicas Haus. Von außen war bereits sichtbar, dass die Fenster mit Brettern verbarrikadiert worden waren, und innen bestätigte sich mein Verdacht, dass jemand hier in der letzten Zeit gewohnt haben musste: der Wintergarten im Erdgeschoss war zu einem kleinen Ersatzfeld umgearbeitet worden, wo verschiedene Beeren in Töpfen wuchsen; in Sanias Zimmer lagen ausgerollte Schlafsäcke auf ihrem ansonsten kahlen Bett und dem Boden; der einstmals helle und freundliche Raum war inzwischen düster, roch modrig und Teile der Tapete lösten sich von der Wand. Und genau dort ließen wir uns auf dem alten Teppich nieder. Hop entzündete eine kleine Laterne zwischen uns, ehe Sania die Taschenlampe, mit der sie mich durchs Haus geführt hatten, ausschaltete. Das Licht warf dunkle Schatten, die alles noch trauriger wirken ließen.

Alles hier fühlte sich einfach … falsch an und führte mir nur noch einmal mehr vor Augen, wie sehr sich unsere Welt in den letzten Jahren geändert hatte. Und dass Delion meine Hilfe brauchte. Aber im Moment konnte ich nicht darüber reden, nicht einmal mit seinem Bruder.

Sania vollführte eine ausladende Handbewegung. »Ich würde dir gern etwas zu trinken anbieten, aber wie du selbst siehst, mangelt es uns leider an einigen Dingen.«

Tatsächlich entdeckte ich in einer Ecke des Raumes einige Flaschen in denen sie vermutlich abgekochtes Wasser aufbewahrten. Aber selbst mir kam dieser Vorrat von vielleicht sechs Litern eher wenig vor, da würde ich ihnen sicher nichts von nehmen wollen.

»Ist das aus dem See neben dem Haus?«

Sania folgte meinem Blick. »Zum Teil, ja. Manchmal kommen wir auch in die Naturzone und holen von dort Wasser. Aber meistens holen wir es einfach von nebenan.«

Auf dem Weg hierher hatte ich nicht darauf geachtet, aber ausgehend davon, dass es seit Endynalos' Erwachen selten regnete, ging ich nicht davon aus, dass es um den Pegelstand gut bestellt war. Hop schien meine Gedanken zu erahnen, denn er lächelte mir beruhigend zu.

»Der See wird von Schmelzwasser aus den Kronen-Schneelanden gespeist«, erklärte er, »also wird uns das Wasser hier nicht so schnell ausgehen.«

»Wohnt ihr schon lange hier?«

Sania nickte. »Das Haus liegt abgelegen von allen Routen und der Naturzone, also kommt hier nicht so oft jemand vorbei. Also ist es das ideale Versteck, wenn man sich etwas Ruhe gönnen möchte.«

Bei genauerem Hinsehen erkannte ich auch die dunklen Ringe unter ihren Augen und die eingefallenen Wangen, beide mussten unter starkem Stress stehen.

Sah ich auch so aus? Eigentlich fühlte ich mich relativ gut, wenn man die Umstände bedachte, aber vielleicht täuschte mich mein Empfinden auch?

Egal, es gab Wichtigeres.

»Und alle, die versucht haben, sich mit uns anzulegen«, fuhr Sania fort, »bekamen es mit unseren Pokémon zu tun – genau wie die Schurken gerade eben.«

Ich nutzte die Überleitung sofort, um mich zu bedanken. »Ich weiß nicht, was ohne euch aus mir geworden wäre.«

»Dann kanntest du diese Gauner also wirklich nicht?«, fragte Hop, als hätte das jemals zur Debatte gestanden. »Was wollten sie von dir?«

Ich zuckte mit den Schultern und murmelte etwas davon, dass ich mir da auch nicht sicher war; im Moment wollte ich das nicht noch einmal erleben, auch nicht gedanklich. Dafür blieb irgendwann noch genug Zeit, wenn ich nicht gerade mit diesen beiden hier saß.

Sania betrachtete mich eingehend, mit einem Blick, der mir eine Gänsehaut bescherte. »Weißt du, es ist schon seltsam, dass wir ein Glurak in der Nähe des Labors gesehen haben – und dann dich und diese Banditen dort fanden.«

Hop verzog sein Gesicht und wandte den Blick ab. Es sah aus, als hätten sie darüber schon diskutiert, bevor sie zum Labor gekommen waren. Ob Glurak sie extra zur Hilfe geholt hatte? Oder war es nur ein Versehen gewesen, als er geflohen war?

»Sehr seltsam«, sagte ich, möglichst neutral. »Es gibt eigentlich keine Gluraks in Galar, nicht?«

Ein Glitzern in Sanias Augen sagte mir, dass ich mich irgendwie verraten hatte. »Wirklich zu überraschen scheint dich das nicht.«

Ich fluchte innerlich – und dankte dort auch Hop, dass er mir zur Hilfe eilte: »Jetzt lass sie doch erst mal in Ruhe, Sania. Du siehst doch, wie erschöpft sie ist.«

Tatsächlich half das, um Sania zu einem tiefen Durchatmen zu verleiten, worauf sie nicht mehr weiter auf eine Antwort bestand. Diese Gelegenheit kam wie gerufen, um das Thema zu wechseln: »Seit wann seid ihr eigentlich zusammen unterwegs? Es sieht aus, als wärt ihr öfter zusammen hier?«

Hop nickte. »Wir treffen uns regelmäßig, um Informationen auszutauschen.«

»Ich bin die meiste Zeit hier«, ergänzte Sania. »Schließlich sind meine Challenger-Zeiten schon so lange her, da bin ich nicht mehr sonderlich fit im Kämpfen. Stattdessen suche ich nach einem Weg, Endynalos ausfindig zu machen, aber bislang vergeblich.«

Alles wäre viel einfacher, wenn Endynalos sich uns einfach zeigen würde. Wir könnten ihn gemeinsam bekämpfen und dann vielleicht endlich einsperren. Aber Endynalos kümmerte unser Schmerz natürlich nicht.

»Ich bekämpfe dynamaximierte Pokémon in der Nähe«, sagte Hop, »und halte nach seltsamen Dingen Ausschau, die Sania vielleicht interessieren könnten.«

Ob die Juwelen auf Delions Brust in dieses Interessensgebiet fielen? Meine Neugier wollte unbedingt danach fragen, gleichzeitig wollte ich aber auch sein Vertrauen nicht missbrauchen – und sobald die beiden erfuhren, dass ich wusste, wo Delion war, wollten sie bestimmt zu ihm. Das ging aber absolut nicht, vor allem nicht in seinem derzeitigen Zustand.

»Und wenn Hop dann hier ist, sollte er sich auch ausruhen können.«

Die beiden hatten sich also gut organisiert. Das zu wissen erleichterte mich, besonders da ich mir nun denken konnte, dass die anderen es genauso taten. Ich war offensichtlich die einzige, die noch ohne großen Plan durch die Naturzone wanderte und einfach tat, worauf sie Lust hatte.

Damit niemand auf die Idee kam, mich zu fragen, was ich machte, erkundigte ich mich bei Hop, was es gerade Interessantes gab. Er neigte nachdenklich den Kopf. »Im Allgemeinen wohl, dass die Dynamax-Wolke am Schlummerwald endet.«

Ausgerechnet an dem Ort, an dem Zacian und Zamazenta schliefen – oder geschlafen hatte. Ob das etwas zu bedeuten hatte? Oder war es Zufall, weil er so weit von Claw City entfernt war?

»Aber im Besonderen«, fuhr Sania fort, »dass wir heute ein Glurak gesehen haben. Das erste seit sechs Jahren.«

Ich ging gar nicht erst wieder darauf ein, sondern hob die Schultern ein wenig. Zum Glück wollte Hop es auch nicht erneut aufrollen: »Was hast du eigentlich im Labor gemacht, Rae?«

»Etwas gesucht; ein Buch, um genau zu sein.«

Sania tippte sich gegen die Wange. Sie warf einen vielsagenden Blick umher, als wolle sie mich an die aktuellen Umstände erinnern. Als wäre es falsch, gerade jetzt mit der Forschung anzufangen.

»Ein bestimmtes Buch?«, hakte sie nach. »Vielleicht weiß ich ja, wo es ist. Oder ob es überhaupt noch existiert. Die Zeit war nicht sehr gnädig mit manchen davon, wie du gesehen hast.«

Könnte ich ihnen einfach den Titel verraten? Ich verstand ihn ja nicht mal. Aber was hatte ich schon zu verlieren? Garantiert könnte niemand einfach davon ableiten, dass ich wusste, wo Delion war. Nach einem kurzen Abwägen entschied ich mich dafür, Sanias Wissen über die Bücher ihrer Mutter zu nutzen: »Ich suche ein Werk über die Theorie der Inbesitznahme diverser Organismen.«

Stolz darauf, dass ich den Titel korrekt wiedergegeben hatte, klopfte ich mir gedanklich auf die Schulter. »Weißt du vielleicht, wo es sein könnte?«

Sania und Hop tauschten einen Blick miteinander. Dann wandte er sich wieder mir zu. »Das klingt ein wenig kompliziert für dich. Warum suchst du das?«

Ziemlich ärgerlich, dass Hop so genau darüber Bescheid wusste, dass ich nicht hochgebildet war. Ich brauchte einen Moment, um mir eine Ausrede einfallen zu lassen: »Ach, ich dachte einfach, dass es vielleicht helfen kann, wenn ich dieses Buch lese. Man weiß ja nie.«

Mein darauf folgendes verlegenes Lachen half wohl auch nicht, dass die beiden ihre Skepsis vergaßen. Aber offenbar war es ihnen nicht wichtig genug, um mit mir weiter zu diskutieren.

»Du hast Glück«, sagte Sania. »Das Buch ist nicht im Labor, sondern hier. Ich kann es dir holen.«

Sie wartete nicht einmal auf meine Antwort, sondern nahm die Taschenlampe und verließ dann das Zimmer. Kaum war sie draußen, beugte er sich ein wenig vor, um mich flüsternd anzusprechen: »Das Glurak war mit dir unterwegs, oder? Das ist Delions Glurak, stimmts?«

In seiner Stimme lag so viel Hoffnung, dass es mir regelrecht unangenehm war, ihm nicht auf der Stelle einfach alles zu erzählen und ihn dann zu Delion zu bringen. Aber ich hatte es versprochen, niemandem etwas zu sagen, und ich wollte mich daran halten.

»Wie kommst du darauf?«, erwiderte ich nur.

Er runzelte die Stirn, wirkte aber nicht wütend, sondern eher traurig, dass ich nicht wirklich antwortete. »Du musst es uns nicht erzählen. Aber falls du Delion wiedersiehst, sag ihm bitte, dass ich immer noch an ihn glaube, ja?«

Nach diesen Worten lächelte er wieder.

Ich gab weiterhin nicht zu verstehen, dass ich Delion – hoffentlich – später wiedersehen würde. Aber wahrscheinlich konnte er die Wahrheit darin lesen, dass ich den Blick ein wenig abwandte und mir eine Haarsträhne hinter mein Ohr strich. »Falls ich ihn mal sehe, sage ich ihm das.«

Ob er es durchschaute, weiß ich nicht, aber er nickte dankbar.

Plötzlich wurde die Tür wieder geöffnet. Sania kam zurück, reichte Hop die Taschenlampe und mir das Buch. »Hier ist es.«

Ich nahm es dankend entgegen. Es war nicht so schwer wie erwartet, doch schon während ich es kurz durchblätterte, entdeckte ich immer viel zu lange Sätze, Fachwörter, die mir nichts sagten, und auch Abbildungen, deren Bedeutungen mir absolut unerklärlich waren.

»Aber ich weiß wirklich nicht, warum du denkst, es könnte helfen.« Sania legte nachdenklich eine Hand an ihre Wange. »Es ist einige Jahre her, dass ich es gelesen habe, aber die Theorie darin hat nichts mit Endynalos oder dem Dynamax-Phänomen zu tun.«

Das war meine Chance, endlich mehr darüber zu erfahren!

»Worum geht es dann?«

Sie wussten schon, dass das Thema für mich zu hoch war, vermuteten vielleicht deswegen sogar auch, dass ich es für jemand anderen besorgte, also dürfte es nicht schaden zu fragen.

Tatsächlich antwortete Sania mir ohne noch einmal nachzuhaken: »Na ja, die Theorie besagt, dass es manchen Pokémon möglich ist, das Bewusstsein von anderen Lebewesen zu übernehmen.«

Ein ungutes Gefühl breitete sich in meinem Inneren aus, mein Mund wurde plötzlich trocken. »Für welche Lebewesen gilt das?«

Sania neigte nachdenklich den Kopf. »Für so ziemlich alle. Obwohl meine Mutter meinte, dass es ziemlich unwahrscheinlich ist, dass ein Pokémon einen Menschen übernehmen könnte.«

»Wie unwahrscheinlich?«, fragte ich tonlos.

Ich spürte Hops besorgten Blick auf mir, fragte mich, was ihm gerade durch den Kopf ging, während ich gleichzeitig angespannt auf Sanias Antwort wartete. Ihre Stirn war gerunzelt, sie spielte ein wenig mit dem Haar ihres Pferdeschwanzes, als wäre sie gerade dabei, die einzelnen Teile zusammenzusetzen und somit zu erraten, warum und für wen ich das tat.

Zu meiner Erleichterung teilte sie ihren Schluss aber nicht mit uns, als sie meine Frage endlich beantwortete: »Na ja, um einen Menschen zu übernehmen, müsste es sich schon mindestens um ein legendäres Pokémon handeln.«

 

Nicht lange danach war ich wieder draußen unterwegs. Sanias Neugier (oder vielleicht ihr Misstrauen) war derart stark gewesen, dass die Atmosphäre unangenehm geworden war. Ich hatte es nicht mehr ausgehalten und war mit der Ausrede, dass ich müde war und mit meinen Pokémon campen wollte, wieder aufgebrochen. Eigentlich war es eher eine Flucht gewesen. Hop war sichtlich enttäuscht gewesen, Sania auch, aber bei ihr war es sicher ein anderer Grund.

Zumindest hatten sie mich gehen lassen. Aber kaum war ich aus dem Haus, hatte mein Handy bereits eine Nachricht bekommen. Ohne sie mir anzusehen, war ich mir sicher, dass sie von Sania war, die von mir noch mehr über mein Forschungsgebiet wissen wollte.

Ich beschloss, mir diese Nachricht später anzusehen, zuerst wollte ich zu Delion zurück. Er wartete auf mich und das Buch, und das dauerte schon viel zu lange.

Natürlich wusste ich nicht, wohin Glurak verschwunden war und er würde sich wohl kaum hier bei Professor Magnolicas Haus blicken lassen, deswegen folgte ich der Route 2 wieder nach Brassbury zurück. Dort, wo früher Meikros und Voldis durch das hohe Gras gerannt waren, herrschte nun eine traurige Leere. Immerhin wütete aber gerade kein dynamaximiertes Pokémon herum.

Das Labor schien nun wieder verlassen, die Banditen mussten schon vor einer Weile verschwunden sein. Ich entdeckte auch keine Spuren mehr von ihnen. Hoffentlich sähe ich sie nie wieder.

Ich kam nach Furlongham – und dort stand Glurak vor dem Haus von Delions Familie und betrachtete dieses nachdenklich.

Erleichterung machte sich in mir breit. »Da bist du ja~.«

Glurak wandte sich mir zu. Vielleicht bildete ich es mir ja auch nur ein, aber es sah aus, als würde er mich anlächeln. Deswegen erwiderte ich dieses Lächeln einfach mal. »Danke, dass du hier auf mich gewartet hast. Ich habe das Buch.«

Er neigte den Kopf ein wenig und wollte sich vorbeugen, damit ich aufsteige, aber ich gab ihm zu verstehen, dass er noch warten sollte. »Ich habe vorher noch eine Frage.«

Darauf sah er mich neugierig an. Ich atmete noch einmal durch. Wenn er mir die Antwort gab, die ich erwartete, müsste ich mir erst einmal darüber klar werden, wie ich weiter vorgehen wollte. Könnte ich Delion dann immer noch beistehen? Wäre ich stark genug dafür?

Ich blickte Glurak möglichst fest in die Augen. »Ist Delion von Endynalos besessen?«

Es würde Sinn ergeben, denn es könnte sowohl das Verschwinden der beiden erklären, als auch sein derzeitiges aggressives und misstrauisches Verhalten. Außerdem hatten die Juwelen auf seiner Brust dasselbe Farbschema wie Endynalos, wenn ich mich richtig zurückerinnerte.

Und dennoch hoffte ich, dass dem nicht so war, dass unser Champ nicht plötzlich gleichzeitig auch unser größter Feind war. Denn wie sollte ich damit umgehen? Wie sollte ich ihm so helfen?

Glurak zögerte, als bemerkte er meinen Unwillen. Doch schließlich antwortete er dennoch – und zog mir damit augenblicklich den Boden unter den Füßen weg.

Denn Glurak nickte.
 

Kapitel 5: Das war nur ein blöder Albtraum


 

Nach dem dritten Flug in zwei Tagen (einem weiteren, auf den ich hätte verzichten können) waren wir wieder zurück in Delions Versteck. Es wurde bereits dunkel, deswegen war ich froh, zurück zu sein. Für einen kurzen Augenblick befürchtete ich, dass Delion gar nicht mehr da wäre, dass wir in eine leere Höhle kämen, weil er beschlossen hatte, selbst etwas zu unternehmen. Aber als wir hereinkamen, setzte er sich sofort aufrecht hin und sah uns mit einer Mischung aus Misstrauen und Erleichterung an. »Ihr seid endlich zurück!«

Besorgt stellte ich fest, dass die lila Verfärbung direkt unter seinem Kinn saß. Er musste sich den Kopf darüber zerbrochen haben, ob wir je zurückkämen – und vermutlich hatte Endynalos die Gelegenheit genutzt, ihm einzureden, dass er nun ganz allein wäre.

Wie war es dazu gekommen, dass Endynalos Besitz von Delion ergriffen hatte? Und wie sollten wir das ungeschehen machen? Gab es dafür überhaupt einen Weg oder war es vielleicht schon zu spät?

Ich entschuldigte mich dafür, dass es so lange gedauert hatte. »Es sind einige Dinge passiert unterwegs. Aber ich habe das Buch.«

Unter Delions wachsamen Blick holte ich es aus meiner Tasche und reichte es ihm. Als er seine Hände ausstreckte, fiel mir auf, dass die Verfärbung seine Arme zu verschonen schien. Vor meinem Aufbruch hatte ich nicht darauf geachtet, aber ich nahm mir vor, zukünftig erst einmal einen Blick darauf zu haben, nur um sicherzugehen.

»Danke, Raelene.« Er betrachtete das Buch einen Moment lang wie einen fremdartigen Gegenstand, dann sah er wieder mich an. »Was ist denn passiert?«

Von den Banditen wollte ich ihm nichts sagen, deswegen erzählte ich nur von meiner Begegnung mit Hop und Sania. »Das Buch war im Haus der Professorin; Sania hat es für mich rausgesucht.«

Delion sah wieder nach unten, er seufzte. »Wie geht es Hop?«

»Den Umständen entsprechend, würde ich sagen. Ich soll dir von ihm ausrichten, dass er immer noch an dich glaubt.«

Plötzlich spannte Delion sich an. »Du hast ihm nicht erzählt, dass du weißt, wo ich bin, oder?«

»Natürlich nicht. Aber sie haben Glurak gesehen, das war ziemlich … eindeutig.«

Darauf stieß er ein leises, fast schon verlegenes Lachen aus; das erinnerte mich ein bisschen an früher, als er noch der altbekannte Champ gewesen war.

»Das hätte ich mir eigentlich denken können«, sagte er.

Seine Finger strichen über den Einband des Buches, das er immer noch nicht aufgeschlagen hatte. Dafür hob er plötzlich den Kopf. »Du musst müde sein. Ruh dich doch aus. Ich werde jetzt ohnehin eine Weile brauchen, um die Informationen zu finden, die ich brauche.«

Glurak legte sich gegenüber von Delion neben das Feuer und bedeutete mir mit seinem Kopf, mich zu ihm zu legen, so wie ich letzte Nacht auch geschlafen hatte. Es sprach nichts dagegen, also setzte ich mich neben Glurak. Erst dann öffnete Delion das Buch und begann zu lesen. Wobei ich eher den Eindruck bekam, dass seine Augen den Text scannten und gar nicht wirklich wahrnahmen. Zumindest blätterte er immer so schnell weiter, so schnell wäre ich gar nicht durch den ersten Satz irgendeiner Seite gekommen. Immerhin wirkte er so aber ruhig genug, dass Endynalos ihn wohl in Ruhe ließ. Die lila Adern zogen sich langsam zurück, bis sie an seinen Schultern angekommen waren. Im Moment war also alles gut, ich musste mir erst einmal keine Sorgen machen. Und vielleicht würde er ja wirklich eine Antwort in diesem komplizierten Buch finden.

Mir blieb nur, auf das Beste zu hoffen, während meine Erschöpfung übermächtig wurde und ich schließlich einschlief.

Aber es war kein ruhiger Schlaf, denn es dauerte nicht lange, bis ich mich in meinem Traum in einem dunklen Raum wiederfand. Der Geruch von nassem Papier hüllte mich ein, doch da war außerdem noch der Gestank von altem Schweiß, der in meiner Nase brannte. Jemand, den ich in der Dunkelheit nicht ausmachen konnte, hielt meine Handgelenke, die sich fühlten, als wären sie in Schraubstöcken eingezwängt. Ich kämpfte dagegen an, doch egal wie sehr ich mich auch wand und zerrte, meine Hände kamen nicht frei. Dann erklang in der Finsternis plötzlich eine kühle Stimme: »Wehr dich nicht, kleines Dusselgurr. Niemand kommt dir zur Hilfe, also gib einfach auf.«

Mein Herz schlug augenblicklich schneller, hämmerte gegen meinen Brustkorb. Ike!

Ich sah ihn nicht, aber allein zu wissen, dass er auch hier war, dass er mich sehen konnte und vermutlich auch noch genoss, wie ich mich hier umsonst abmühte, genügte, um mein Innerstes rebellieren zu lassen. Alles in mir sträubte sich dagegen, ihn noch einmal wiederzutreffen, so dass meine Bemühungen noch einmal intensiver wurden. Ich zog an meinen Händen, lehnte meinen ganzen Oberkörper nach vorne, bis ich glaubte, meine Haut müsste reißen. Meine Füße rutschten unter mir weg, ließen mich stürzen – aber selbst so kam ich nicht frei.

Ike lachte leise in der Dunkelheit, ehe er in einen Singsang verfiel: »Dusselgurr, Dusselgurr, flieg nun davon~. Deine Haut ist am brennen, wie der Rest der Region~.«

Es klang wie ein Kinderreim, den ich nicht kannte, gesungen von Ike und umgeben von Dunkelheit war er noch dazu gruselig genug, dass ich eine Gänsehaut bekam. Eine … schmerzhafte Gänsehaut.

Ich sah auf meine Arme hinab und stellte mit Entsetzen fest, dass sie in Flammen standen – genau wie Ike es gesagt hatte.

»N-nein! Nein!«

Noch einmal zog und zerrte ich an meinen Armen, ich wollte sie löschen, bevor sie mich verschlingen würden. Doch noch immer hielt die Finsternis meine Hände fest, ohne die Aussicht, mich jemals loslassen zu wollen. Ich warf den Kopf in den Nacken und stieß einen Schrei aus. Etwas berührte mich an der Stirn, ich riss die Augen auf, setzte mich schlagartig aufrecht hin – und fand mich, zu meiner Erleichterung, in der Höhle wieder. Meine Arme ließen sich frei bewegen, brannten nicht und sahen alles in allem noch so aus wie zuvor. Ich atmete auf.

»Alles okay?«

Irritiert sah ich zur Seite, dort, wo vorhin noch Glurak gelegen hatte. Nun war er fort, dafür kniete Delion neben mir. Aber zwei Dinge irritierten mich an ihm: nicht nur, dass er wirklich besorgt aussah, er trug sogar ein weißes T-Shirt, so dass ich die Juwelen auf seiner Brust nicht mehr sehen konnte, genauso wenig wie die Adern. Offenbar ging es ihm gerade gut. Wie oft war das normalerweise der Fall?

Delion wiederholte seine Frage, worauf ich sie endlich registrierte und beantworten konnte: »Ja, alles okay. Das war nur ein blöder Albtraum.«

Er lächelte. »Oh, gut, ich hatte schon Angst, du hättest auch Fieber bekommen.«

Unwillkürlich griff ich an meine Stirn. War das im Traum dann seine Berührung gewesen?

Statt noch etwas dazu zu sagen, setzte er sich richtig neben mich. Von seinem Misstrauen und der Aggressivität war im Moment absolut nichts zu spüren.

Ich wollte mich auch anders hinsetzen, bemerkte dabei aber etwas auf meinem Schoß. Ich sah nach unten und entdeckte etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: »Ist das dein Champ-Cape?«

Vorsichtig strich ich über den roten Stoff, auf dem allerlei Flicken von Sponsoren befestigt waren. Vor gerade einmal sechs Jahren war es mein Traum gewesen, dieses Cape einmal selbst zu besitzen. Nun lag es auf meinem Schoß und ich fühlte mich einfach nur … traurig.

Scheinbar verlegen kratzte Delion sich am Hinterkopf. »Ich brauchte irgendwas, um dich zuzudecken, aber meine eigene Decke ist nass geschwitzt, und in deinen Sachen wollte ich nicht herumwühlen.«

Warum wirkte er gerade so normal, so nahbar? Schlief Endynalos vielleicht gerade? Musste er überhaupt schlafen? Ich hätte das so gern gefragt, aber ich befürchtete, dass Delion dann wieder wütend werden könnte. Und von Glurak war auch im Rest der Höhle nichts zu sehen.

Als ich ihn danach fragte, blickte Delion in Richtung des Ausgangs. »Ich habe Glurak losgeschickt, um die Gegend auszukundschaften, in der ich als nächstes suchen werde.«

Ich runzelte die Stirn und stieß Delion leicht gegen die Schulter. »Hey! Hast du schon vergessen, dass wir Partner sind? Da solltest du mir auch sagen, was du suchen willst.«

Er entschuldigte sich lachend. »Stimmt ja, das ist noch so ungewohnt für mich. Also, während du geschlafen hast, habe ich alles Wichtige gelesen und weiß jetzt, was ich brauche, um hoffentlich ...«

Er verstummte abrupt, die Augen erschrocken geweitet. Offensichtlich wollte er mir immer noch nichts von Endynalos erzählen, was ich aber gut verstehen konnte. Schließlich konnte er nicht wissen, wie ich darauf reagieren würde – ich an seiner Stelle hätte es auch niemandem erzählt.

»Du musst mir nicht sagen, wofür du es brauchst«, beruhigte ich ihn. »Sag mir einfach nur, was es ist und wo wir es finden können.«

Er lächelte wieder, aber die Sorge war noch deutlich in seinen Augen zu sehen.

»Jedenfalls«, fuhr er fort, »brauche ich wohl eine bestimmte Form von Blauregen.«

Blauer Regen? Wie kam man denn an so etwas? Es hatte schon lange nicht mehr geregnet in Galar, aber blau war er auch früher sicher nie gewesen.

Offenbar war meine Verwirrung deutlich zu sehen, denn Delion grinste plötzlich. »Blauregen ist eine Pflanze, man nennt sie auch Wisteria. Und da geht es nun um eine bestimmte, die ich brauche. Die werden wir suchen gehen, wenn Glurak grünes Licht gibt.«

Dass er von wir sprach, erfüllte mich mit einem warmen Gefühl, das diese Bedrohung aus meinem Albtraum zuvor wieder verdrängte. Ich fühlte mich fast wieder wie ein Kind, wie bei der Arena Challenge, auf dem Weg zum Kampf gegen Delion, den Unschlagbaren. Aber diesmal vertraute Delion mir zumindest genug, dass ich ihm helfen durfte. Und ich wollte ihn nicht enttäuschen.

Ich gab einen entschlossenen Ton von mir. »Ich bin schon gespannt.«

Delions Lächeln wurde wieder eine Spur sanfter, er senkte den Blick. »Ehrlich gesagt, als ich gestern aufgewacht bin und gesehen habe, dass Glurak dich hergebracht hat, war ich ziemlich sauer.«

Hatte ich so lange geschlafen? Andererseits musste es ja so sein, immerhin hatte Delion inzwischen gelesen, was er wissen wollte und Glurak losgeschickt. Der Traum war mir viel kürzer vorgekommen.

Er sah mich wieder an. »Aber es ist echt angenehm, wieder mit einem Menschen zu reden.«

»Es muss sehr einsam gewesen sein«, sagte ich mitfühlend.

Ich war zumindest mit den anderen Trainern und meiner Mutter in Kontakt gewesen. Aber Delion hatte wirklich niemanden außer seine Pokémon gehabt. Bis vor kurzem jedenfalls.

Delion legte eine Hand auf seine Brust. Es sah aus, als strich er über die Juwelen unter dem Shirt. Dann schüttelte er mit dem Kopf. Ein schelmisches, aber auch irgendwie verlegenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Als du gestern dann zurückgekommen bist, habe ich mich wirklich darüber gefreut. Ich hatte Angst, du würdest nicht mehr wiederkommen – ich hätte es natürlich verstanden. Aber dass du hier bist, hilft mir wirklich sehr. Deswegen … danke, Raelene.«

So wie er mich in diesem Moment ansah, fühlte ich mich wieder wie ein junger Challenger, kurz vor dem Finale des Champ-Cups. In meiner Brust breitete sich ein warmes Gefühl aus, das ich so definitiv schon lange nicht mehr gespürt hatte. Um das nicht zu zeigen hob ich das Cape und vergrub mein viel zu warmes Gesicht darin.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Delion den Kopf neigte. »Geht es dir wirklich gut?«

»Sollte ich das nicht eigentlich dich fragen?«, lenkte ich ab, nachdem ich das Cape wieder gesenkt hatte. »Du warst doch krank.«

»Oh, ich fühle mich absolut fit.« Er klopfte sich gegen die Brust. »Dann können wir zusammen losgehen, sobald Glurak alles herausgefunden hat.«

Ob Endynalos das wirklich zuließ? Würde er unterwegs wieder durchdrehen? Ich wollte es nicht hoffen, denn ich befürchtete, dass Endynalos da draußen vielleicht doch versuchen würde, wegzulaufen oder sonst etwas zu tun. Aber Glurak würde sich hoffentlich darum kümmern. Und vielleicht … nur vielleicht, würde auch meine Anwesenheit helfen. Jetzt, da Delion froh war, dass ich hier war, übte ich möglicherweise einen guten Einfluss auf ihn aus. Ich hoffte, dass es anhielt.

Plötzlich erklangen von draußen Flügelschläge. Wir sahen in Richtung des Eingangs, wo kurz danach Glurak erschien. Er musterte uns kurz, dann schien er zufrieden darüber, dass zwischen uns alles friedlich war. Delion stand auf und ging zu seinem Partner hinüber. »Und? Ist dort alles klar?«

Glurak nickte brummend, scheinbar mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht. Delion pumpte triumphierend mit dem Arm. »Sehr gut! Dann dürfte uns ja nichts mehr davon abhalten, morgen nach Cerinkton zu gehen.«

Ich horchte sofort auf. »Cerinkton?«

Delion und Glurak nickten mir zu. »Rund um Cerinkton wächst besonders viel Wisteria.«

»Aber ist es nicht unmöglich, dorthin zu kommen? Die Psycho-Kräfte sollen doch so stark sein, dass kein Flug-Pokémon es erreichen kann.«

Das hatte mir jedenfalls Iva gesagt. Kurz nach Beginn der neuen Finstren Nacht war sie mit Saverio wieder in dessen Heimatstadt gezogen, um diese vor dynamaximierten Pokémon zu schützen.

Delion zuckte mit den Schultern. »Deswegen habe ich Glurak ja hingeschickt, um herauszufinden, ob es noch immer so unmöglich ist.«

Bedeutete das, der Schleier um Cerinkton war beschädigt worden? War irgendetwas geschehen oder hatte es sich im Laufe der Zeit so ergeben?

Ich legte die Hände zusammen. »Können wir dann auch Iva besuchen?«

Delion blinzelte irritiert. »Iva?«

»Das ist eine Freundin von mir. Du musst dir wahrscheinlich nicht mal Sorgen machen, dass sie dich erkennen könnte – Iva ist immer sehr … in ihrer eigenen Welt.«

Ich war mir immer noch sicher, dass sie nicht einmal wirklich gewusst hatte, wozu die Arena-Challenge am Ende führen sollte. Wie sonst wäre es ihr möglich gewesen, noch vor Beginn der Reise einfach zu verschwinden, um irgendeinem unbekannten Trainer auf eine Insel zu folgen? Wer verzichtete denn freiwillig darauf, Champ Delion im Kampf gegenüberzustehen?

Vielleicht wäre es also eine Gelegenheit für Delion mal wieder unter Menschen zu kommen. Schaden könnte das bestimmt nicht. Möglicherweise half das auch, um ihm seine alte Selbstsicherheit zurückzubringen.

»Wir können dich etwas verkleiden! Und ich werde auch die ganze Zeit bei dir sein~.«

Delion runzelte die Stirn und sah Glurak an, während er sich nachdenklich über den Hinterkopf fuhr. Wieder einmal sah es aus als unterhielten sie sich schweigend. Schließlich neigte Glurak den Kopf und Delion seufzte. »Okay, ja. Wir können ja mal schauen, ob sie Zeit für uns hat.«

Ich drückte das Cape glücklich an mich. »Super! Danke, ihr beiden!«

»Dafür kochst du heute aber noch einmal für uns~.«

»Absolut!«

Voller Motivation sprang ich auf. »Ich erledige das schon~. Aber ich brauche dafür noch einmal etwas Wasser.«

Mit diesen Worten reichte ich Glurak den Kessel und sah ihn dabei bittend an. »Mmmmh~?!«

Ich war mir sicher, dass er das erste Mal in seinem Leben ein seufzendes Geräusch von sich gab. Doch er nahm mir den Kessel ab und verschwand dann ohne weitere Beschwerden wieder in der Dunkelheit, um uns Wasser zu besorgen.

»Hey«, sagte Delion, »während wir warten, dass Glurak zurückkommt, kann ich dir ja auch ein paar alte Geschichten über meine Arena-Challenge erzählen. Also, nur damit wir uns nicht so anschweigen. Wenn du willst natürlich.«

Ich strahlte regelrecht nach diesem Vorschlag. »Klar, erzähl mir, was immer du willst~.«

So könnten wir beide für diesen Abend vergessen, wie es um diese Welt stand und wie viel Verantwortung auf Delion lastete. Damit wäre alles an diesem Tag genau wie früher – also einfach nur fantastisch und eines Champs würdig.

 
 

Kapitel 6: Das ist Leon


 

Mit zusammengekniffenen Augen klammerte ich mich an Gluraks Hals. Die bisherigen Flüge waren kurz und deswegen nur halb so schlimm gewesen, aber Cerinkton war zu meinem Leidwesen etwas weiter weg.

»Ich dachte, du hättest dich schon daran gewöhnt«, bemerkte Delion, während er hinter mir saß.

»Anscheinend nicht«, erwiderte ich, was mir durch den Flugwind erschwert wurde.

Delion lachte seltsam befreit. »Ich halte dich auch fest, dann fällst du schon nicht.«

Um das zu demonstrieren schlang er mir einen Arm um die Hüfte. Ich fühlte mich sofort ein wenig sicherer, ließ Gluraks Hals aber immer noch nicht los.

»Du verpasst wirklich was, wenn du dich nicht einfach frei fühlst.«

»Ich verzichte darauf, danke.«

Darauf sagte Delion nichts mehr, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ihn das weiter amüsierte.

Den Rest des Weges verbrachten wir schweigend, aber er hielt mich nach wie vor fest.

Erst als Glurak schließlich landete, öffnete ich die Augen wieder. Diesmal half Delion mir nach unten – er hatte natürlich keine Probleme damit, einfach runterzuspringen – und hielt mich noch eine Weile fest, während meine Beine versuchten, sich wieder daran zu gewöhnen, auf festem Boden zu stehen.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du Höhenangst hast?«, fragte Delion besorgt.

Ich atmete mehrmals tief durch. »Damit du mich zurücklassen kannst?«

»Was? Und auf all diese Unterhaltung verzichten?« Er zwinkerte mir zu. »Ich wäre nur mehr auf dich eingegangen, wenn ich es vorher gewusst hätte.«

Bevor ich fragen konnte, woraus dieses Eingehen bestünde, hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Ich sah zur Seite – und wurde im nächsten Moment schon in eine stürmische Umarmung verwickelt.

»Oh, Rae!«, rief die Person, die mich im Klammergriff hielt, enthusiastisch. »Ich bin so froh, dass wir uns mal wiedersehen! Es ist sooo lange her!«

»Ich bin auch froh, Iva«, brachte ich angestrengt hervor. »Aber ich brauche meine Knochen noch.«

Lachend löste sie die Umarmung und trat einen Schritt zurück. Ivas rot-braune Augen glitzerten immer noch so aufgeregt wie früher, als wären die letzten Jahre spurlos an ihrer Seele vorübergegangen. Ich beneidete sie.

»Du siehst wirklich gut aus«, kommentierte ich.

»Danke~. Aber ich habe auch Glück. Hier in Cerinkton ist es ziemlich ruhig. Wenn ich mir da immer ansehe, was ihr so erzählt …« Sie schüttelte mit dem Kopf. »Da wird mir ganz anders.«

»Woher wusstest du, dass wir hier landen?«

Wortlos trat Iva beiseite und gab so den Blick auf zwei weitere Personen frei, die mir bisher nicht aufgefallen waren. Den einen erkannte ich nicht zuletzt aufgrund seines Zylinders, um den sechs Pokébälle schwebten, als Saverio, aber das kleine blonde Mädchen neben ihm, das ebenfalls einen Zylinder trug, kannte ich nicht. Zum Glück stellte Iva sie direkt vor: »Saverios Schwester Drea hat gesehen, dass ihr hier landen würdet. Also haben wir hier auf euch gewartet.«

»Kann sie etwa in die Zukunft sehen?«, fragte Delion.

Ich wollte schon abwehren, dass das eine viel zu schräge Idee war, doch da nickten Iva und Drea bereits.

»Wirklich?«, fragte ich fassungslos.

Unwillkürlich musste ich an Hop und Sania denken, die mir vermutlich beide zugestimmt hätten, dass das absolut unmöglich war. Aber andererseits … so viele Dinge im Leben sollten unmöglich sein und waren allein in den letzten Jahren doch geschehen. Ganz zu schweigen von den telekinetischen Kräften, die Saverio so offensichtlich kontrollieren konnte. Also warum sollte seine Schwester nicht auch in die Zukunft sehen können?

Wobei ich das mit Saverio früher auch für unmöglich hielt. Iva hatte mir zwar während der Arena-Challenge, nachdem sie sich von uns anderen aus Furlongham getrennt hatte, von ihm und seinen Fähigkeiten erzählt, aber Iva besaß auch jede Menge Fantasie, also war es nur logisch gewesen, das zu hinterfragen. Nach Beginn der Neuen Finstren Nacht waren wir uns dann mal begegnet, deswegen war ich das bei ihm bereits gewohnt – genau wie seine überhebliche Unhöflichkeit, die er wieder einmal zeigte, indem er mich ignorierte. Dafür ließ er einen Pokéball um seinen Finger kreisen, während er Delion musterte. »Drea hat nur vergessen, uns zu sagen, wer dein Begleiter sein wird, Raelene.«

Zumindest schien er ihn noch nicht erkannt zu haben, das war gut; Delion hatte mir immerhin nicht glauben wollen, dass es reichte, seine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenzufassen und ihm schwarz-weiße Kleidung anzuziehen, die nicht im Mindesten an sein Champ-Outfit erinnerte.

»Leon«, sagte ich bestimmt. »Das ist Leon.«

Das war Delions Vorschlag gewesen, wie auch immer er darauf gekommen war. Zumindest Iva glaubte ihn sofort, sie nickte verständig und sah dann zu Glurak hinüber.

»Das ist das erste Glurak, das ich je in echt gesehen habe«, stellte sie fest. »Hatte der Champ nicht auch ein Glurak?«

Seit wann erinnerte Iva sich an solche Details? Ein wenig erschrocken sah ich zu Delion hinüber, der die Stirn gerunzelt hatte. Zu meiner eigenen Verwunderung war es aber Saverio, der das Wort ergriff: »Er ist aber nicht der einzige mit einem Glurak. Und warum sollte der Champ ausgerechnet hier wieder auftauchen, nachdem er so lange weg war?«

»Du hast recht.« Iva nickte verständig, dann war das Thema scheinbar für sie erledigt, denn sie sah zu Delion. »Hast du keine Angst, dass Glurak dynamaximiert, während ihr auf ihm fliegt?«

Er schüttelte mit dem Kopf. »Das wird schon nicht passieren.«

Das schienen beide zu glauben, denn keiner von ihnen hakte weiter nach. Stattdessen wandte Iva sich wieder mir zu: »Habt ihr Zeit, euch mit uns die Stadt anzusehen? Du warst noch nie in Cerinkton, Rae, oder?«

»Gibt es da noch viel zu sehen? Bei den anderen Städten sieht es nicht mehr so gut aus.«

Furlongham und Brassbury waren hauptsächlich verlassen, weil sie so abseits lagen, aber selbst dort hatte ich diese Banditen getroffen. Ging man tiefer nach Galar hinein, sah es schon schlimmer aus, nicht nur wegen dynamaximierten Pokémon, die ganze Gebäude zerstört hatten, sondern auch wegen Leuten, die das Chaos genutzt hatten, um zu plündern.

»Cerinkton ist gut geschützt«, erwiderte Saverio mir. »Selbst wenn das Bannfeld im Wald nicht mehr funktioniert, kann uns hier nichts so leicht angreifen.«

»Ihr solltet das sehen, wenn ihr es nicht glaubt«, zwitscherte Drea dazwischen. »Schaut es euch doch kurz an.«

Ich tauschte einen kurzen Blick mit Delion, der nur mit den Schultern zuckte. Im Grunde sprach nichts dagegen, ich hoffte nur, dass niemand anderes ihn erkennen würde.

Nachdem er Glurak wieder in den Pokéball zurückgeschickt und diesen irritiert eine Weile nur angesehen hatte, folgten wir Iva, Saverio und Drea zur Stadt hinüber. Genau wie sie gesagt hatten, standen alle Häuser noch und es waren sogar Menschen auf den Straßen unterwegs.

Aber wirklich erstaunt war ich von dem schillernden Schleier, der über allem zu liegen schien. Saverio erklärte mir, dass er im Sonnenlicht noch viel schöner aussah, was ich ihm erst einmal glauben musste, da durch die Dyna-Wolke keine Sonne drang. Es war richtig schade, dass ich früher nie hier gewesen war.

»Und früher waren hier auch ganz viele Psycho-Pokémon«, erklärte Drea.

Saverio nickte und holte mit dem Arm aus. »Besonders Flegmons fühlten sich hier wohl. Stellt euch nur vor, wie viele elegante Flegmons an einem Ort diesen verschönern.«

Was begeisterte ihn so sehr an Flegmons? Sie waren süß … irgendwie, aber was fand Saverio so großartig an ihnen? Ich hätte Iva gern gefragt, aber da er direkt neben ihr herlief, war das wohl eine schlechte Idee.

»Seit dem Beginn der Neuen Finstren Nacht«, fuhr Drea fort, »haben wir entschieden, dass sie alle in den Häusern bleiben sollen. Das reduziert die Gefahr, dass sie aus Versehen dynamaximieren.«

»Kannst du das nicht einfach vorhersehen und verhindern?«, fragte Delion.

»Ich sehe nicht ständig in die Zukunft.« Etwas geknickt ließ Drea den Kopf hängen. »Also wäre die Gefahr zu groß, dass ich es das ein oder andere Mal nicht verhindern kann.«

Aufmunternd klopfte Iva ihr auf die Schulter. Saverio bedachte Delion noch einmal mit einem Blick, der mir gar nicht gefiel. Hatte Drea vielleicht sogar vorhergesehen, dass ich mit einem verkleideten Delion hierherkäme und das Saverio verraten? Wusste er alles schon?

Die Leute, denen wir auf den Straßen begegneten, schienen Delion jedenfalls nicht zu erkennen, aber sie beachteten uns auch kaum. Sie sprachen in flüsternden Stimmen miteinander, als fürchteten sie, Endynalos selbst erschiene jeden Moment vor ihnen, um … um … bestrafte Endynalos Leute?

Diese Frage brachte mich zum Nachdenken. War die Finstre Nacht eine Strafe von Endynalos, weil er so lang eingesperrt gewesen war? Oder verbarg sich etwas anderes dahinter? Ob Delion darauf antworten könnte, da er von ihm besessen war?

Ich musste so tief in meinen Gedanken versunken gewesen sein, dass ich den Rest der Städte-Tour nicht mitbekam. Plötzlich standen wir vor einem Stadion, das zur Unterliga gehören musste und ich deswegen nicht kannte. Saverio wandte sich Delion und mir zu. »Das hier ist die Psycho-Arena. Meine Familie führt sie dank unserer Psycho-Kräfte schon seit Generationen. Wenn die Liga irgendwann wieder aktiv ist, wird man hoffentlich zu schätzen wissen, wie gut erhalten sie ist.«

Iva bekräftigte das mit einem Nicken.

Da wir nichts dazu sagten, winkte Saverio uns weiter mit sich und setzte seinen Weg fort, nicht in die Arena hinein, wie ich gedacht hatte, sondern weiter die Straße entlang. Ich wollte ihnen gerade folgen, als mir auffiel, dass Delion den Kopf in den Nacken gelegt hatte und das Stadion anstarrte. Ich folgte seinem Blick, sah aber nichts, was ihn so sehr interessieren könnte.

»Was ist los?«, hakte ich nach.

Delion sah mich an, seine Augen schienen ein wenig zu flackern. »Ich hab das Gefühl, dass es eine eigenartige Energiequelle in dieser Arena gibt.«

»Hat das nicht jede? Also, für die Dynamaximierung, meine ich.«

Er schüttelte mit dem Kopf. »Aber ich meine etwas anderes. Ich glaube, was auch immer diesen Schleier verursacht, ist in dieser Arena. Deswegen ist diese Stadt so geschützt.«

Ich sah wieder zum Stadion, aber für mich sah sie weiter wie jedes andere aus. Abgesehen von dem Psycho-Symbol über dem Haupteingang gab es nichts, was dieses Gebäude von den anderen unterschied. Aber er trug Endynalos in sich, vielleicht konnte er das spüren.

»Was auch immer es ist«, sagte ich, statt zu erwähnen, dass ich von Endynalos wusste, »ich bin froh, dass zumindest hier noch Leute wohnen. Es wäre schade, wenn ganz Galar verlassen wäre.«

Delion nickte, etwas in seinem Blick verdüsterte sich. Doch bevor ich ihn danach fragen konnte, rief Iva meinen Namen. »Kommt ihr?!«

Da Saverio schon ungeduldig mit dem Fuß auf dem Boden tippte, winkte ich Delion mit mir und folgte ihnen.

»Ihr sucht nach Wisteria, oder?«, fragte Iva, als wir bei ihnen ankamen. »Die Bäume sind nicht weit entfernt.«

»Gut, dann müssen wir auch schon wieder los«, sagte Delion. »Wir haben es eilig.«

»Wofür braucht ihr das denn?«, hakte Iva nach.

Da ich das ohnehin nicht wusste, ließ ich Delion antworten: »Vielleicht habe ich einen Weg gefunden, Endynalos aufzuhalten. Aber dafür brauche ich Wisteria.«

Für einen ganz kurzen Moment blickte Iva ihn bewundernd an, aber plötzlich runzelte sie ihre Stirn. Ich hoffte, sie hätte in den letzten Jahren nicht gelernt, misstrauisch zu sein, wurde aber enttäuscht, als sie sich plötzlich an mich wandte: »Wie habt ihr euch eigentlich kennen gelernt?«

Mein Inneres zog sich schmerzhaft zusammen. Wenn ich hier jetzt zugab, dass Leon eigentlich Delion war und ich ihn deswegen schon kannte und vertraute, und es lediglich ein Zufall gewesen war, dass gerade wir uns wiedergetroffen hatten, hätte diese Nachricht bestimmt bald die Runde gemacht – und ich wollte nicht wissen, was die anderen mir dazu sagen würden. Ganz zu schweigen von all den Fragen, die sich an Delion richten würden.

All das ging mir durch den Kopf und ließ mich nicht antworten – und deswegen übernahm Delion das: »Sie hat mir geholfen, als ich krank war. Ohne sie hätte das schlecht ausgehen können.«

Iva sah ihn während dieser Antwort kurz an, dann wandte sie sich kopfschüttelnd wieder an mich. »Ich dachte, Hop hat dir gesagt, dass du bei Fremden vorsichtig sein sollst.«

»J-ja, aber ...«

Er war doch gar kein Fremder. Aber das konnte ich nach wie vor nicht sagen.

Mein hilfesuchender Blick zu Delion wurde unterbrochen, als Iva einen Arm um meine Schulter legte und mich von ihm wegzog. Sie deutete zu Saverio und Drea hinüber, die uns interessiert beobachteten. »Geh doch schon mal zu ihnen. Sie zeigen dir, wo der Baum ist. Ich bring Rae gleich nach.«

Ich nickte Delion zu, worauf er nachgab und wirklich mit den beiden mitging. Iva zog mich derweil ein wenig weiter von ihnen weg, selbst während sie sich von uns entfernten. Als ich über die Schulter blickte, sah ich, wie Delion mir auch nachsah. Ich hoffte, Saverio und Drea würden ihn nicht zu sehr nerven – und dass Iva mich nicht durchschaut hatte.

Sie wartete, bis die anderen weit genug entfernt waren, bis sie mich wieder etwas fragte: »Ist wirklich alles okay, Rae?«

Ihr forschender Blick brannte regelrecht auf meiner Seele, da ich immerhin dabei war, sie anzulügen. Ich nickte angestrengt. »Ja, alles ist super.«

»Aber ihr seid hergeflogen. Ich dachte, du hast Höhenangst?«

»Das war die schnellste Methode, um herzukommen.«

»Dann hat er dich nicht gezwungen?«

Ich blinzelte irritiert. Eigentlich hatte ich erwartet, dass Iva mich darauf ansprechen würde, dass Leon eigentlich Delion war, aber stattdessen glaubte sie, er zwang mich zu Dingen? Ich war mir nicht sicher, ob ich ergriffen oder verwirrt sein sollte. Schließlich entschied ich mich für letzteres: »Warum denkst du denn, dass er mich gezwungen hat?«

Belehrend hob Iva den Zeigefinger. »Zum einen wegen deiner Höhenangst natürlich. Und dann wirkst du in seiner Gegenwart so angespannt. Und er ist ein bisschen … unheimlich.«

Meine Anspannung musste von der Angst herrühren, dass jemand ihn erkannte. Aber um das nicht erklären zu müssen, hakte ich nach, warum sie ihn unheimlich fand.

Sie sah wieder in die Richtung, in die die anderen verschwunden waren. »Na ja … es ist schwer zu erklären, aber in seiner Gegenwart fühle ich mich seltsam unwohl. Und meine Pokémon zittern in ihren Pokébällen, seit ich ihn gesehen habe.«

War Iva möglicherweise sensibel genug, um Endynalos zu spüren? Bei ihren Pokémon war ich mir da fast sicher, die meisten waren immerhin Hunde-Pokémon und daher entsprechend scharfsinnig.

»Mach dir keine Gedanken«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Ich begleite ihn wirklich freiwillig. Denn ich habe die Hoffnung, dass er die Finstre Nacht beenden kann.«

»Obwohl er so unheimlich ist?«

»Ich finde ihn nicht unheimlich. Also geht das in Ordnung?«

Verwirrt neigte Iva den Kopf. »Ich weiß nicht, was du in ihm siehst-«

»Das weiß ich bei dir und Saverio auch nicht«, unterbrach ich sie.

Sie begann sofort zu strahlen, als hätte ich ein schöneres Thema angesprochen. »Wenn du ihn so kennen würdest wie ich, fändest du ihn bestimmt auch großartig.«

»Das kann ich dir bei Leon nur zurückgeben.«

Darauf lächelte sie entschuldigend. »Dann nehme ich dich beim Wort.«

Und damit schien das Thema für sie erledigt. Vertraute sie mir so sehr, dass ein einziger Widerspruch reichte, um sie zu beruhigen?

»Aber falls irgendetwas sein sollte,«, fuhr sie fort, »melde dich einfach bei mir, okay? Ich kann nicht viel, aber ich versuche, dir zu helfen.«

Ich bedankte mich lächelnd bei ihr, da ihre Worte mich tatsächlich mit Zuversicht erfüllten. Ich war in dieser Sache nicht allein, meine Freunde standen mir bei und ich war ihnen dankbar dafür.

Gleichzeitig machte es mich ein wenig traurig, dass Iva offenbar so wenig von sich selbst hielt. Am liebsten hätte ich die Hand ausgestreckt, um ihren Kopf zu tätscheln und sie ein wenig zu trösten, weil ich überzeugt war, dass sie eine Menge konnte. Aber bevor ich dazu kam, ergriff sie bereits einen meiner Arme, um mich mit in die andere Richtung zu ziehen. »Lass uns ihnen jetzt folgen, bevor Leon dich hier zurücklässt.«

Innerhalb weniger Sekunden hatten wir zu den anderen aufgeschlossen. Sie standen in einem kleinen Park in der Stadt, in dem Bäume wuchsen, die ich so noch nie gesehen hatte. Lila-farbene Blütentrauben hingen von den Ästen herab, so schwer, dass sich die Zweige dem Gewicht beugten. Delion betrachtete die Bäume gerade, um sich einen besonders guten auszusuchen. Dabei sah es so aus, als verschmelze sein Haar mit den Blüten.

»Ich dachte, Blauregen wäre ein wenig … blauer«, bemerkte ich, fast ein wenig enttäuscht.

Saverio sah mich schmunzelnd an. »Manchmal werden unsere Erwartungen enttäuscht. Damit musst du rechnen.«

Ich rollte mit den Augen. »Meine Erwartungen wurden schon oft genug enttäuscht, da brauche ich von dir keine Lektion.«

Gerade er hatte mich immerhin enttäuscht, nachdem Iva ihn so sehr in den Himmel gelobt hatte. Unsere erste Begegnung war deswegen entsprechend frostig ausgefallen, von beiden Seiten.

»Streitet euch nicht«, schaltete Drea sich ein. »Gerade in der jetzigen Zeit sollten wir doch lieber alle zusammenhalten.«

»Ich versuche es ja«, seufzte Saverio schwer.

Ich sagte darauf nichts mehr, auch weil Delion sich endlich einen Ast ausgesucht hatte und die Erlaubnis von den beiden einholte, diesen abzubrechen. Mir war immer noch schleierhaft, wie dieser Ast ihm helfen sollte, Endynalos von sich zu lösen. Hoffentlich hatte er noch vor, mir das irgendwann zu erklären.

Kaum hatte er den Ast endlich und ihn auch einigermaßen in Stoff verpackt, wandte er sich mir wieder zu. »Okay, wir sollten dann mal weiter. Wir haben noch viel vor.«

Und ich glaubte, er befürchtete immer noch, erkannt zu werden, wenn er zu lange an einem Ort war. Möglicherweise wusste Drea schon längst, wer er war, aber sie war zu höflich, um es einfach jedem zu erzählen. Jedenfalls wirkte es so, als hätte sie wesentlich mehr Manieren als Saverio.

»Kommt ihr mal wieder vorbei?«, fragte Iva. »Ihr könnt dann bei uns essen.«

»Lade doch nicht einfach Leute zum Essen ein«, erwiderte Saverio ihr.

Doch als sie ihn bittend ansah, gab er seufzend nach. »Okay, ihr könnt ruhig mal zum Essen vorbeikommen, wenn ihr wollt. Aber meldet euch vorher an, wie es die Höflichkeit verlangt.«

»Natürlich«, sagte ich. »Ich hab auch diesmal Bescheid gesagt, oder? Und da wollten wir nicht mal bei euch essen.«

»Ich wollte nur-«

»Was habe ich gerade gesagt?«, fuhr Drea überraschend scharf dazwischen. »Ich will nicht, dass hier gestritten wird! Also haltet euch bitte daran.«

Saverio entschuldigte sich kleinlaut bei ihr. Ich nickte zerknirscht, da ich nicht ganz unschuldig war. Das stimmte Drea zufrieden. »Gut~. Ihr solltet von hier aus mit Glurak starten können, so dass ihr direkt zu eurem nächsten Zielort kommt.«

Sie zögerte einen Moment, dann lächelte sie. »Ich bin sicher, dass ihr euer Ziel erreicht.«

»Hast du das in der Zukunft gesehen?«, hakte Delion nach.

Darauf schüttelte sie lächelnd mit dem Kopf. »Nein. Ich glaube einfach nur an euch.«

Delion lächelte zurückhaltend. »Danke. Ich denke, das ist genau das, was ich hören musste.«

 
 

Kapitel 7: Ich lass dich nicht hier


 

»Das ist unser nächstes Ziel?« Ungläubig starrte ich auf den Wald vor uns. »Wirklich?«

Delion, nun wieder mit offenen Haaren, musterte mich aufmerksam. »Was hast du erwartet?«

»Jedenfalls nicht das.« Ich gestikulierte ein wenig hilflos.

Von Cerinkton aus waren wir direkt nach Furlongham geflogen und standen nun vor dem Schlummerwald. Als ich letztes Mal hier gewesen war, hatte ich es nicht bemerkt, aber nun fiel mir auf, dass Sanias Worte stimmten: Über dem Wald gab es keine Dynawolke. Dafür lag immer noch ein dichter Nebel zwischen den Bäumen, der Besucher abhalten sollte.

Vor sechs Jahren hatten Hop und ich hier Schwert und Schild der alten Helden gefunden und den Segen der legendären Pokémon erhalten – und doch war es nicht genug gewesen, um Endynalos aufzuhalten. Schliefen Zacian und Zamazenta hier nun wieder? Oder waren sie an einen anderen Ort verschwunden?

Während mein Blick über die Bäume wanderte, entdeckte ich plötzlich ein Seil, das an mehreren Stämmen festgeknüpft war und tiefer in den Wald hineinführte. Delion folgte meinem Blick. »Früher war das nicht hier. Sieht aus, als kommen hier regelmäßig andere Leute vorbei.«

Während Delion für einen Moment in nachdenkliches Schweigen versank, fragte ich mich, wer diese Personen sein mochten, die sich in den Schlummerwald trauten. Waren es Schutzsuchende, die der Dynawolke entgehen wollten? Aber wäre es dann nicht leichter, einfach in die Kronen-Schneelande zu fliehen, so wie der Großteil aller anderen? Vielleicht waren es auch helfende Trainer, die in der Nähe bleiben wollten, aber am Ende des Tages einfach nur in Sicherheit sein wollten? Würden wir ihnen da drinnen begegnen?

Wahrscheinlich dachte Delion so etwas Ähnliches, denn plötzlich schüttelte er mit dem Kopf. »Wie auch immer. Lass uns trotzdem reingehen und den Leuten einfach ausweichen, falls sie da sind.«

Hoffentlich funktionierte das auch. Aber solange wir nicht dem Seil folgten, sollte es gutgehen.

Ich sah Delion an. »Willst du mir jetzt erzählen, was genau du eigentlich suchst?«

»Ich sag es dir, sobald wir da sind. Ist das okay für dich?«

Am liebsten hätte ich ihn direkt gefragt, ob das etwas damit zu tun hatte, dass Endynalos von ihm Besitz ergriffen hatte, damit er wusste, dass er dieses Geheimnis nicht mehr für sich behalten musste und ich ihm helfen würde. Aber ich fürchtete mich vor Endynalos' Reaktion – und vor Delions. Deswegen nickte ich und folgte ihm in den Wald hinein.

Innerhalb weniger Schritte wurden wir von dem dichten Nebel verschluckt, so dass ich nicht mal mehr meine Hand vor Augen richtig sehen konnte. Ich streckte den Arm aus, um nach Delion tasten zu können, um ihn nicht zu verlieren, doch da war nichts. Schlagartig breitete sich Panik in mir aus. Gerade eben war er doch noch genau vor mir gewesen!

»Delion!?« Selbst meine Stimme schien einfach unterzugehen und nirgendwo anzukommen.

Es kam keine Antwort. Selbst von Pokémon war nichts zu hören.

»Delion!«

Schlagartig fühlte ich mich an die Arena-Challenge zurückerinnert und wie ich mich während dieser im Wirrschein-Wald verlaufen hatte. Allein, an einem unbekannten Ort, davon überzeugt, nie wieder nach draußen zu finden. Würde mir das auch hier passieren?

Die Erinnerung ließ Tränen in meinen Augen aufsteigen, doch bevor ich wirklich weinen konnte, griff plötzlich jemand nach meiner Hand. Erschrocken schrie ich auf, aber da erklang direkt Delions beruhigende Stimme: »Ich bin es, Rae. Alles ist gut.«

Durch den Nebel konnte ich ihn kaum sehen, aber er stand wirklich direkt vor mir. Mit der freien Hand wischte ich mir hastig die Tränen weg. »Mach das nie wieder.«

»Tut mir leid. Ich lasse dich jetzt auch nicht mehr los.«

Und damit zog er mich auch schon mit sich.

Während ich schweigend hinter ihm herlief, wurde mir immer mehr bewusst, dass es kein Leben außer uns hier zu geben schien. Selbst als ich das allererste Mal in den Schlummerwald gegangen war, um ein verirrtes Wolly zurückzuholen, waren hier noch andere Pokémon gewesen. Und Zamazenta.

Aber heute war hier nichts. Wir waren vollkommen allein. Die Stille war unheimlich.

Delion wies mir den Weg, als wäre er schon unendlich oft hier gewesen, er hielt nur an manchen Gabelungen inne, um sich zu orientieren, ehe er weiterlief. Und erst als wir schon ziemlich tief im Wald waren, fiel mir auf, was mich daran irritierte: »Hey, warum kennst du dich hier eigentlich so gut aus? Sonst verläufst du dich schon zwischen Furlongham und Brassbury.«

Der kürzesten und geradesten Strecke, die ich in ganz Galar kannte.

Darauf antwortete er mir nicht. Dafür fragte er etwas anderes: »Soll ich dir vielleicht etwas erzählen? So wie gestern beim Kochen?«

Offensichtlich wollte er nicht darüber reden, aber da ich die Stille nicht mehr wollte, sagte ich Ja. »Das wäre wirklich gut.«

»Vor langer Zeit«, begann er, »fiel ein Meteor vom Himmel, mitten in diese Region. Im Inneren des Meteors befand sich ein Lebewesen, das ganz anders war als alle anderen auf dieser Welt.«

Ich sah ihn fragend an, aber konnte nur seinen Rücken und seine Haare sehen. Warum erzählte er mir die Geschichte von Endynalos? Wollte er mich damit vielleicht darauf vorbereiten, dass er mir bald beichtete, dass er von ihm besessen war?

»Dieses außerirdische Wesen, das so einzigartig war, lebte lange Zeit allein. Alle anderen mieden es, aus Furcht vor seinem Gift, mit dem es – ohne es zu wollen – Gebiete der Region nachhaltig veränderte oder anderen Wesen Schmerzen zufügte. Deswegen zog es sich tief in eine Höhle in den Bergen zurück, um niemandem mehr zu schaden.«

Hatte Endynalos ihm das alles erzählt? Konnte er überhaupt mit Delion kommunizieren? Ich war so neugierig, aber ich hörte ihm einfach weiter zu.

»Während es in dieser Höhle schlief und von seiner weit entfernten Heimat träumte, bemerkte es nicht, dass es Energie ausschüttete, die, anders als das Gift, der Region einem Segen gleichkam. Die Ernten in der Nähe seiner Höhle waren reichhaltig und die Bewohner erreichten ein höheres Alter als irgendwo sonst.«

Davon hatte ich noch nie gehört. Aber wenn alles, was Sania mir während der Challenge erzählt hatte, der Wahrheit entsprach, musste das vor über dreitausend Jahre geschehen sein. Wahrscheinlich gab es deswegen keine Überlieferungen – oder sie waren während der Finstren Nacht verlorengegangen. Oder mutwillig von jemandem zerstört worden.

»So verbrachte es Tausende von Jahren in Einsamkeit«, fuhr Delion ungerührt fort, »bis es bemerkte, dass seine Kräfte schwanden. Statt den Tod zu akzeptieren, verließ es seine Höhle und absorbierte die einstmals abgegebene Energie. Aber es hatte nicht bedacht, dass sich diese möglicherweise inzwischen potenziert hatte – und deswegen nahm es viel zu viel davon auf und beschwor einen schwarzen Sturm.«

Ich schluckte. Delions Stimme klang während der ganzen Erzählung so distanziert, als redete er von einem Ereignis, das ihn überhaupt nichts anging. Was eigentlich ja auch so war, denn es war lange vor seiner Geburt geschehen, aber es betraf immerhin Galar, deswegen kam es mir seltsam vor.

»Der Sturm dauerte viele Jahre und zerstörte fast die gesamte Region, bis es zwei Kreaturen – Pokémon genannt – gelang, das außerirdische Wesen zu besiegen und zu versiegeln. So fiel es wieder in einen tiefen Schlaf, während dem sich das Leben in der Region normalisierte und bald tauchte es nur noch in alten Schauermärchen auf und alle vergaßen, wie viel Gutes es für sie getan hatte.«

Hatte Endynalos das alles mitbekommen? Oder es in Delions Erinnerungen gesehen? Ich wollte immer mehr fragen. Aber noch war er nicht fertig.

»Und dann, 3000 Jahre später, wurde es brutal aus seinem Schlaf gerissen, geradezu berstend vor Energie, ängstlich, verwirrt, unter einem neuen schwarzen Sturm … einem Mann gegenüberstehend, der es bekämpfte und einzufangen versuchte.«

Seine Stimme brach ein wenig ein, als er zu diesem Punkt kam. Ich erinnerte mich wieder an jenen Moment, als Hop und ich auf der Spitze des Energiewerks angekommen waren, als Delion Endynalos gerade eingefangen hatte – und er dann aus dem Pokéball ausgebrochen war. Wie Delion bewusstlos auf dem Boden gelegen hatte, weswegen Hop und ich kämpfen mussten. Und wie dann trotz der Hilfe von Zacian und Zamazenta alles schiefgegangen war.

»Kaum war der Mann besiegt, waren da zwei Kinder, die sich ihm entgegenstellten, zusammen mit den Kreaturen von damals. Aber diesmal schaffte das Wesen es, sie zu besiegen. Und als sie alle am Boden lagen, wollte es die Bedrohung ein für alle Mal beseitigen – aber da stellte sich der Mann zwischen die Kinder und das Wesen.«

Endynalos hatte uns töten wollen. Im Prinzip war das verständlich, aber es zu hören, ließ mich doch wieder schlucken. Ich lebte nur noch, weil Delion rechtzeitig wieder aufgewacht war.

»Er bat das Wesen inständig darum, den Kindern nichts zu tun. Im Austausch dafür würde er dem Wesen helfen so lange es sein musste.«

Eigentlich wollte ich ihn ausreden lassen, aber ich konnte mich nicht beherrschen: »Dann hat das Wesen – Endynalos – Delions Körper übernommen?«

Für einen Moment sagte er nichts, ich machte mich schon auf einen Wutausbruch gefasst und fragte mich, wie ich in diesem nebligen Wald vor ihm fliehen sollte – da lachte er plötzlich leise. »Du kennst die Geschichte anscheinend schon. Aber sie ist nicht ganz korrekt. Es hat den Körper nicht übernommen, es … teilt ihn sich eher.«

Glurak hatte das anders gesehen. Und auch das Buch, das ich für Delion beschafft hatte, ging von etwas anderem aus. Warum klang er dann also plötzlich so?

Plötzlich traten wir aus dem Nebel auf die Lichtung in der Mitte des Waldes, an den See, wo auch der Schrein stand, an dem Hop und ich damals das rostige Schwert und den Schild gefunden hatten. Natürlich waren sie nicht mehr hier, denn wir waren nie hierher zurückgekommen, um sie wieder auf ihren Platz zu legen. Aber das kümmerte Delion offenbar auch nicht.

Er blieb stehen, ließ meine Hand los, drehte sich aber nicht zu mir um. »Seit sechs Jahren ist das Wesen, das ihr Endynalos nennt, nun schon in diesem Mann – und es weiß, dass es euch Schwierigkeiten macht. Deswegen hast du das Wesen hierher begleitet.«

Ich wich einen Schritt zurück. Die Erkenntnis traf mich mit einer solchen Wucht, dass ich selbst trotz des Verdachts erst nicht glauben wollte, was er mir sagte. Als wir den Wald betreten hatten, war er noch Delion gewesen, da war ich mir ganz sicher. Was war im Nebel geschehen? Und warum hatte er mir das alles erzählt? Was wollten wir hier?

Delion drehte sich um und obwohl er lächelte konnte ich ihn nur entgeistert anstarren. Die lila Adern reichten bis an sein Kinn, teilten sich in seinem Gesicht aber wieder in feine blaue und rote Verästelungen, die bis zu seinen Augen reichten – und entsprechend glühte sein rechtes Auge blau und das linke rot. Das pulsierende Leuchten der Juwelen auf seiner Brust war so intensiv, dass es selbst durch seine Kleidung drang.

»Endynalos?«, fragte ich leise.

»Ihr nennt mich so«, bestätigte er, mit derselben ruhigen Stimme wie zuvor. »Also kannst du damit fortfahren, wenn das für dich einfacher ist.«

»Was hast du mit Delion gemacht?«

»Er schläft. Du musst dir keine Sorgen machen, Rae.« Er zog die Augenbrauen ein wenig zusammen. »Hast du Angst?«

An seinem Lächeln änderte sich nichts, nicht einmal ein kleiner Hauch. Je länger ich es betrachtete desto mehr verlor ich meine Furcht. Wenn die Geschichte, die er vorhin erzählt hatte, auch nur ansatzweise der Wahrheit entsprach, musste ich auch keine Angst haben, denn Endynalos war eigentlich nicht mein Feind, er wollte nur … Hilfe.

Vielleicht war es auch die Ruhe, die diesem Ort innewohnte und sich auf meiner Seele ablegte. Solange wir hier waren, würde mir nichts geschehen, auch er würde mir nichts antun.

»Nein«, sagte ich so aufrichtig wie möglich. »Wenn du mir etwas tun wolltest, hättest du das bestimmt schon getan.«

Seine Augen flackerten ein wenig, sein Lächeln wurde noch eine Spur herzlicher. »Das erleichtert mich. Delion hatte recht, als er meinte, es wäre in Ordnung, sich dir anzuvertrauen, Rae.«

Also konnten sie wirklich miteinander kommunizieren. Vor allem freute mich aber, dass Delion sich sogar ihm gegenüber für mich ausgesprochen hatte.

»Kann ich dich eigentlich etwas fragen, wenn wir schon reden können?«

Neugierig neigte er den Kopf, was ich als Zustimmung wertete und fortfuhr: »Warum ist Delion oft so wütend, wenn … na ja ...«

Ich war mir nicht sicher, wodurch es ausgelöst wurde, ich wusste nur, dass Glurak das schon oft erlebt hatte, deswegen konnte er damit umgehen.

»Ich befürchte, das ist meine Schuld. Menschliche Körper sind sehr eingeschränkt, das frustriert mich. Und manchmal verheddern sich unsere Gedanken und Gefühle und dann ...«

Dann wusste keiner von ihnen mehr, wer er war. Das musste furchteinflößend sein – und vor allem Endynalos wütend machen, nach allem, was er erlebt hatte.

»Wenigstens hat er das Pokémon, das ihr Glurak nennt. Es hat ihm geholfen, sich zu erden, damit er sich nicht selbst verliert. Und damit hat er auch mir geholfen.«

Während er das alles sagte, schwand sein Lächeln nicht und änderte sich auch kein bisschen. Ich war mir nicht sicher, ob er glücklich war oder ob er einfach nur nicht verstand, dass Menschen nicht immer lächelten. Im Endeffekt war das aber auch egal, denn ich hatte Delion versprochen, ihm zu helfen. Ich würde ihn nicht enttäuschen. Dafür musste ich aber vor allem eines wissen: »Erzählst du mir jetzt, warum wir hier sind?«

Er fuhr herum und bedeutete mir, ihm zu folgen, während er sich weiter auf den kleinen Schrein zubewegte. Oder das, was einmal ein Schrein gewesen war.

»Delion kann nicht für immer seinen Körper mit mir teilen. Schon gar nicht, wenn das bedeutet, dass diese Finstre Nacht für immer anhalten wird.« Noch im Laufen nahm er die Tasche ab, die er mit sich trug, ein Ende des Wisteria-Asts ragte daraus hervor. »Aber ich kann diesen Sturm nicht stoppen, ich weiß nicht einmal, wie ich überhaupt ein Teil von Delion wurde, deswegen muss ich-«

Ein lauter Knall zerriss die bis dahin angenehme Stille und ließ ihn abrupt verstummen und innehalten. Sofort fühlte ich mich hier nicht mehr sicher, überall glaubte ich bedrohliche Schemen zu sehen. Dabei war ich mir nicht mal sicher, was das gewesen war; vielleicht war es vollkommen harmlos. Aber mein Herz schlug dennoch viel zu schnell und aufgeregt und hielt mich in Alarmbereitschaft.

»R-Raelene …?«

Etwas an seiner Stimme war plötzlich anders als vorher, sie zitterte sogar ein wenig. Mit einem unguten Gefühl in meinem Inneren wandte ich mich ihm zu. Ich erkannte sofort, dass er wieder Delion war: die Adern hatten sich komplett zurückgezogen, seine Augen leuchteten nicht mehr, dafür sah er verwirrt an sich herunter.

Ich folgte seinem Blick, meine Knie wurden schlagartig weich. Auf seinem Oberteil breitete sich rasch ein dunkler Fleck im Bereich seines Unterleibs aus. In dem Moment, in dem ich realisierte, was geschehen war, fiel er bereits auf die Knie, dann stürzte er mit einem dumpfen Laut zu Boden.

»Delion!« Ich ließ mich neben ihn fallen und griff an seine Schultern. »Delion, nein!«

Mit ein wenig Mühe schaffte ich es, ihn umzudrehen, dabei stieß er ein schmerzerfülltes Keuchen aus. Vorsichtig hob ich seinen Oberkörper an und hielt ihn fest. Schwer atmend sah er mich an. »L-lauf weg, Raelene ...«

»Nein! Ich lass dich nicht hier!«

Nicht bei diesem unbekannten Feind, der auf ihn geschossen hatte. Einfach so. Wer würde so etwas tun?

Die Antwort kam schneller, als mir lieb war: »Es gibt ohnehin keinen Ort, an den du laufen könntest, kleines Dusselgurr. Wir kennen diesen Wald in- und auswendig.«

Unzählige Schauer liefen über meinen Rücken, als ich diese Stimme hörte. Es war Ike, und er trat gerade zwischen den Bäumen hervor, die Pistole immer noch in der Hand, ein überlegenes Grinsen im Gesicht. Hinter ihm traten auch die anderen Männer, die im Labor gewesen waren, aus dem Unterholz hervor. Eigentlich kannte ich ihre Namen, aber alle Gedanken wirbelten in meinem Kopf durcheinander und verhinderten, dass ich mich richtig erinnerte.

Die Angst wollte mich übermannen, aber für den Moment war meine Wut stärker: »Warum hast du auf ihn geschossen?!«

Ike zuckte mit den Schultern. »Du bist unser Ziel, Dusselgurr. Und er war im Weg.«

Es war meine Schuld? Weil diese Kerle mich unbedingt haben wollten? Ohne mich wäre das nie geschehen, ohne mich …

»Lauf weg«, wiederholte Delion, seine Stimme wurde schwächer.

Ich wollte noch einmal darauf bestehen, dass ich ihn hier nicht zurücklassen würde, aber die Juwelen auf seiner Brust leuchteten plötzlich so hell, dass ich die Augen zusammenkneifen musste.

Dennoch ließ ich Delion nicht los, auch nicht, als er einen Schrei ausstieß, der sich mit einem anderen zu überlagern schien. Ein heftiger Wind erhob sich hinter mir, vereinte sich mit einer Macht, die ich schon einmal gespürt hatte, damals, vor sechs Jahren auf der Spitze des Energiewerks. Deswegen musste ich nicht einmal den Kopf wenden, als ich meine Augen wieder öffnete, um zu wissen, dass Ike und die anderen fassungslos Endynalos anstarrten, der hinter mir auch schon derart laut brüllte, dass die anderen erblassten.

»Ike«, sagte einer von ihnen, »wir sollten abhauen!«

Statt darauf zu reagieren, starrte Ike einfach nur Endynalos an, mit einer Entschlossenheit, die mich frösteln ließ. Unwillkürlich drückte ich Delion enger an mich. Er reagierte darauf nicht.

Endynalos brüllte noch einmal, dann sammelten sich Funken um uns – und im nächsten Moment schoss er bereits einen blendenden Strahl auf Ike und die anderen. Als das Licht wieder erlosch, führte eine Schneise mitten durch den Wald. Der Anblick allein genügte, dass sich meine Kehle zuschnürte. Endynalos' Energie war immer noch so beeindruckend und furchteinflößend wie damals.

Das war offenbar auch Ikes Erkenntnis, der seinen Männern gerade den Rückzug befahl. Offensichtlich glücklich darüber, wirbelten sie bereits herum und rannten davon.

Endynalos flog an mir vorbei, um ihnen zu folgen – doch da befreite sich Glurak selbst aus seinem Pokéball, um ihm den Weg zu versperren. Der Größenunterschied zwischen ihnen war so gewaltig, dass ich tiefen Respekt für Glurak empfand, als dieser Endynalos anbrüllte. Doch Endynalos ließ das nicht auf sich sitzen und brüllte zurück, so laut, dass der gesamte Wald zu erzittern schien.

Aber Gluraks Blick schien selbst für ihn zu viel zu sein, denn plötzlich wandte Endynalos sich von ihm ab, um mich anzusehen. Als seine Augen auf mich fielen, hielt ich den Atem an. In diesem Moment wirkte seine Präsenz so erdrückend, so allumfassend, dass die Furcht mich übermannte, obwohl ich mich kurz davor noch mit ihm unterhalten hatte und alles gut gewesen war. Aber in dieser Form …

Ich beugte mich ein wenig über Delion; da er mich diesmal nicht beschützen könnte, übernahm ich das einfach für ihn, obwohl alles in mir danach schrie, einfach wegzurennen.

»Bitte«, murmelte ich. »Bitte tu ihm nichts.«

Endynalos musterte mich und Delion für einen Moment. Etwas an seinem Verhalten veränderte sich kaum merklich, die Atmosphäre schien noch erdrückender zu werden – dann stieß er einen markerschütternden Schrei aus, Energiewellen pulsierten und erschwerten mir das Atmen.

Ich spürte seinen Zorn und seinen Schmerz, und das Wissen, dass ich ihn enttäuscht hatte, stach direkt in mein Herz. Doch bevor ich mich entschuldigen oder erklären konnte, schoss er schon in den Himmel davon, so schnell, dass er wie ein umgekehrter Blitz wirkte.

Die Atmosphäre wurde sofort leichter, und ich war seltsam froh, dass er nicht hinter Ike und den anderen her zu sein schien. Obwohl er allen Grund hatte, auch auf sie wütend zu sein.

Glurak sah Endynalos hinterher, bis nicht einmal mehr eine Ahnung von ihm zurückblieb. Dann wandte er sich Delion und mir zu und kam ein wenig näher. Ich sah auf Delion hinunter, der blass geworden war, sein Atem ging auch viel zu flach. Wenigstens lebte er noch.

Doch für wie lange? Ich konnte ihn nicht behandeln, aber ich wusste auch nicht, wo ich ihn hinbringen sollte. Und wahrscheinlich wäre ich auch nicht schnell genug dort gewesen, denn ich hätte niemals so schnell auf Glurak fliegen können.

Was sollte ich tun?

Gerade als die Verzweiflung am höchsten schien, fuhr Glurak knurrend herum und breitete die Flügel aus, um Delion vor fremden Blicken oder Attacken zu schützen. So nahm er mir aber auch die Möglichkeit, zu sehen, was vor sich ging.

Irgendjemand kam mit langsamen Schritten auf uns zu. War Ike zurückgekommen, um zu beenden, was er angefangen hatte? Sollte ich einfach mit ihm gehen, in der Hoffnung, dass Glurak sich schon um Delion kümmern könnte?

Bevor ich dazu kam, den Vorschlag zu machen, weiterhin im Glauben, dass es Ike war, hörte ich eine Stimme, die ich erkannte, obwohl ich sie schon lange nicht mehr gehört hatte: »Da will ich nur einem Hinweis nachgehen, dass hier ein Glurak gesehen wurde, und werde fast von einem Laserstrahl gegrillt. Was ist hier denn passiert? Und wen beschützt du da?«

Glurak schien kurz nachzudenken. Er sah über seine Schulter auf mich und Delion hinunter. Ich erwiderte seinen Blick ängstlich. Wenn es jemanden gab, der Delion noch helfen könnte …

Ich musste nichts sagen, denn Glurak schien zu verstehen. Er trat beiseite und gab so den Weg frei für den stärksten Arenaleiter in Galar und Delions ärgsten Rivalen: Roy.

Es war eine Weile her, seit wir uns zuletzt begegnet waren, aber er erkannte mich sofort wieder: »Raelene? Was machst du denn hier?«

Bevor ich auch nur die Gelegenheit hatte, meine Gedanken zu ordnen, um ihm zu antworten, wanderte sein Blick nach unten. Kaum entdeckte er den bewusstlosen Delion, schien sogar Roy blasser zu werden. »W-was ist hier eigentlich passiert?«

»Ich kann alles erklären«, sagte ich rasch, flehend, gleichzeitig hoffend, dass es noch nicht zu spät war. »Aber bitte hilf Delion!«
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hatte das Kapitel eigentlich schon ewig fertig ... ich weiß nicht, warum ich nie zum Posten kam. Es tut mir leid. :< Komplett anzeigen

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