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Das Glück der Erde

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Bevor ihr euch in diese Fanfic stürzt, wollte ich anmerken, dass ich die Originalnamen bestimmter Vereine nicht nehmen werde, sondern ich die abgewandelten Formen nutze, die man in der Serie "Captain Tsubasa/ die Superkickers" (also die 2001er Adaption) nutzte. Ich glaub das war damals aus copyrightgründen der Fall gewesen, aber da mir die Namen dort so gut gefielen, werde ich die auch in meiner Fanfiction beibehalten. Seid mir nicht böse, aber waschechte Fans des Animes werden ohnehin durchblicken, welche Vereine sich hinter den Namen verbergen :D

Für alle, die da nicht so bewandert sind (oder es einfach wieder vergessen haben), hier ein kleiner Exkurs, welche Vereine gemeint sind (zumindest die, die momentan aktuell in diesem Kapitel erwähnt werden... und überhaupt eine Rolle in der Geschichte spielen):

- FC Grünwald = Hamburger SV/ HSV
- FC Rotburg = FC Bayern München

So, ich hoffe ich schreibe nicht wieder irgendwelche Vorworten. Bin da echt nicht gut darin und wünsch euch viel Spaß beim Lesen! :D Komplett anzeigen

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Die rote Kappe und der Dieb

Hätte ihn jemand gesagt, dass der Transfer nach Bayern sein Leben völlig auf den Kopf stellen würde, hätte er denjenigen für komplett bescheuert erklärt. Aber wer hätte denn ahnen können, dass ihm so etwas in seinen jungen Jahren jemals passierte?

Es war ein lauer Herbsttag am Morgen. Zwar waren die Tage ein wenig heruntergekühlt, aber die Sommerwärme war dennoch merklich spürbar gewesen. Das veranlasste einen jungen Mann dazu wie jeden Morgen vor dem Training seine Runden zu drehen. Seine schwarzen Locken waren unter einer dunkelroten Kappe versteckt. Da er seine Sportjacke aufgrund der angenehm warmen Temperatur in seinem Appartement hängen ließ, war er nur mit einem schlichten dunkelblauen Sport-Shirt und einer dazu passenden Sporthose bekleidet. Beides Marken von Adidas, für den der Sportler hin und wieder sein markantes und dennoch freundlich wirkendes Gesicht herhielt. Er trug die Marke schon als kleiner Junge und auch gerne, doch hatte er es nie zu träumen gewagt, dass er mal für sie die neuesten Kollektionen vorstellen durfte, sollte die Firma ihn anschreiben. Ein kleines Erfolgserlebnis, an das er sich so langsam gewöhnt hatte.

Gerne erinnerte er sich an die Zeit zurück, als er mit bereits zwölf Jahren Japan verließ, um in Deutschland als einer der besten Torhüter weltweit ausgebildet zu werden. Fußball war für Genzo Wakabayashi mehr als nur ein Sport. Es war sein Lebensinhalt. Etwas, wofür er von Beginn an hart dafür arbeitete, um jetzt da zustehen, wo er war. Die Grünwälder haben es ihm Anfangs nicht gerade leicht gemacht, aber er bewies einen unbändigen Willen und setzte sich durch. Es war eine tolle Zeit in Hamburg, dachte er sich und seufzte wehmütig, als er wieder an den Transfer nach Bayern dachte. Ihm fiel die Entscheidung schwer und das Geld, was ihm dahingehend angeboten wurde, war ihm ehrlich gesagt völlig egal gewesen. Er hatte mehrmals Vereinswechsel dankend abgelehnt, weil der FC Grünwald der Verein war, bei dem er sich wirklich heimisch fühlte und dort wunderbare Jungs als Freunde und Kameraden gewann. Doch als Rudi Frank Schneider plötzlich entschied den Trainerposten bei Rotburg anzunehmen und dabei seinen Sohn Karl – Heinz Schneider mitnahm, gab es einen relativ großen Umschwung innerhalb Grünwalds. Nicht nur, dass Genzo Kalle, wie der junge Fußballkaiser von den Jungs oftmals genannt wurde, die Mannschaft verließ und ab da sein ärgster Rivale wurde. Nein, der neue Trainer, Zeemann, machte es ihm nicht gerade leicht länger für Grünwald zu spielen. Ehrlich gesagt hatte er seit dem Trainerwechsel kaum spielen können. Nicht zuletzt, weil Genzo sich hin und wieder über die Anweisungen seines Trainers hinwegsetzte und beim letzten Spiel gegen Rotburg durch sein Eigenverschulden eine 2:1 Niederlage verursachte. Viel mehr wurde er überspielt, denn die bis dahingehende Ausländerregel, die nur auf drei Spieler beschränkt war, konnte er nicht länger bei dem Verein bleiben und so viel ihm der Abschied seiner Jungs und dem FC Grünwald minimal leichter.

Genzo war traurig, dass er allen voran Kaltz zurücklassen musste. Er hat das rauflustige Kraftpaket sehr ans Herz geschlossen. Er, Genzo und Kalle galten in den goldenen Grünwald-Zeiten als das Top Trio im deutschen Fußball. Ja, Genzo war traurig, dass er Kaltz nicht mehr so schnell wiedersehen konnte. Umso größer war die Vorfreude Karl – Heinz wiederzusehen und mit ihm gemeinsam wieder zu spielen.

Als er dann in Bayern ankam, staunte er nicht schlecht, wie anders es im Vergleich zu Hamburg war. So ländlich, ja fast schon idyllisch und nicht so städtisch, wie er es sonst gewohnt war. Beschweren konnte man sich bei den Bedingungen nicht. Die Landluft tat jedem gut – auch einem Genzo Wakabayashi.

Er joggte gerne die langen Feldwege entlang und manchmal nahm er kleinere Umwege, um sich weiter an der ruhigen Landschaft und der Natur zu erfreuen. Für einen Sportler, der während des Trainings immerzu unter Spannung stand und von sich aus das Beste verlangte, war das ein perfekter Ort zum Abschalten und Entspannen.

Die vorbeigehenden Spaziergänger grüßend erspähte er einen kleinen Wald und der Pfad langsam in einem Teppich aus roten und goldenen Blättern unterging. Es wirkte beinahe so, als habe der Wald schleunigst für den Topspieler seinen eigenen roten Teppich ausgerollt, um ihm seine morgendliche Joggingrunde so angenehm wie möglich zu machen. Selbst die Sonnenstrahlen, die durch die Baumkronen schienen, muteten Spotlights an, die nur darauf warteten den Torhüter anzuleuchten.

Vereinzelnd fielen die Ahornblätter auf den Boden; mal weit weg oder nahe des jungen Mannes. Vögel sangen ihre Lieder, das Laub raschelte im Rhythmus des Windes. Kaum verließ er den anschaulichen Waldweg, da hört er das leise Wiehern weidender Pferde in der Nähe. Beiläufig sah er auf die mächtigen Tiere, aber sonderlich viel Beachtung schenkte er keines von ihnen.

Genzo kam nie mit Pferden in Berührung. Offengestanden war er nie sonderlich von ihnen fasziniert gewesen und in Nankatsu geschweige denn in der Präfektur Shizuoka gab es keine Reitanlagen, wo übermäßig viel geritten wurde. Viel mehr hatte er seine Zeit eher seiner Ausbildung als Fußballprofi investiert und nachdem er seinen Abschluss in der Shutetsu – Schule machte und mit Tatsuo Mikami, sein persönlicher Trainer und Mentor, nach Deutschland umzog, da gab es nur noch den Fußball – und nebenbei auch andere Dinge, die sein Leben mal mehr mal weniger bestimmten. Seine Liebe zu diesem Sport war riesig, doch er könnte es niemals mit der grenzenlosen Hingabe, die Tsubasa für den Fußball hat, mithalten.

Tsubasa. Einer von Genzos Kollegen und einer seiner ältesten und besten Freunde. Als er an ihn dachte, konnte er nicht anders als zu lächeln. »Tsubasa«, sagte er leise. »Es gibt keinen, der diesen Sport mit so viel Liebe und Herzblut vorantreibt wie du es tust. Ich frage mich wirklich, gegen wen du heute spielst.«

Plötzlich hörte er ein lautes Schnauben neben sich, als würde sich jemand der Laufrunde angeschlossen haben. Er wandte seinen Blick nach links und weitete seine olivgrünen Augen. Trabte tatsächlich ein Pferd neben ihn her? Vor ihm erstreckte sich ein riesiges Weideland; ein Holzzaun trennte Keeper und Tier voneinander und als Genzo stehen blieb, blieb auch das Pferd stehen.

»Möchtest du etwa mit mir laufen?«, fragte er lächelnd und legte neugierig den Kopf schief. Genzo erwartete keine Antwort. Stattdessen sah er in die himmelblauen Augen des Geschöpfs vor ihm und das cremefarbene, seidige Fell schimmerte metallfarben, als das Sonnenlicht darauf fiel.

Er sah sich das durchaus anmutige Tier genauer an. Es hatte eine schlanke, aber muskulöse Statur. Der Hals war nach oben hin gerade und der Kopf hoch erhoben. Die wallende Mähne, die er sonst bei so vielen Pferden zuvor gesehen hatte, fehlte völlig, dafür fegte der hell glänzende Schweif munter hin und her.

Genzo fiel auf, dass um dessen Hals ein schwarzes, funkelndes Band hing. Tierhalter banden oft ihren Lieblingen Accessoires um, aber das hatte er vornehmlich bei Hunden beobachten können. An einem Pferd jedoch sah das Ganze etwas seltsam aus, aber darüber schmunzeln musste er dennoch.

Er verabschiedete sich vom Pferd und setzte sich in Bewegung und kaum zwei Schritte weit hörte er wieder das dumpfe Traben neben sich und blieb wieder stehen.

Wortlos besah er sich auf das Tier, welches ihn noch immer aufmerksam beäugte. Lange starrten sie sich einander an und Genzo machte ein Gesicht, als würde er gerade an einer Idee tüfteln. Und da kam ihm auch schnell eine.

Langsam hob er sein rechtes Bein und da bemerkte er, wie aufgeregt das Pferd darauf reagierte. Der Schweif wirbelte zwei Mal, die langen großen Ohren waren angespitzt. Genzo machte ein paar Schritte zurück und tatsächlich folgte ihm das Tier ohne Zögern und blieb stehen, sobald der Keeper selbst still am kiesigen Weg stand. Dann machte er ein paar Schritte nach vorn. Wieder folgte ihm das Tier, als wäre er selbst dessen Besitzer.

»Du bist ein seltsames Pferd, weißt du das?«

Der Nacken begann zu zucken, als eine Fliege es kitzelte.

Genzo seufzte leise. »Hör mal, ich muss wirklich los, sonst komme ich noch zu spät zum Training. Wenn du aber darauf bestehst mir ein wenig Gesellschaft zu leisten, dann gern. Bis zur Kreuzung dort drüben kannst du mit, okay?«

Das war ein komisches Gefühl mit einem Pferd zu sprechen, aber auf der anderen Seite fand er dieses Tier lustig. Er behielt das Lächeln, dann sprintete er los. Dicht neben ihn war das cremefarbene Pferd, der ihn in Sekundenschnelle im grazilen Trab einholte und ihm nicht von der Seite wich.

Ein seltsames Pferd, war sein Gedanke, als er hin und wieder ein paar Seitenblicke auf das Tier warf. Wirklich seltsam.

Dann kam die Kreuzung und das Eckstück des brusthohen Zauns. Laut schnaufend, was wohl Enttäuschung andeuten sollte, kam das Tier zum Stehen. Er drehte sich noch einmal zu es um und winkte ihm zum Abschied. Das Pferd jedoch schien bei seinem Abgang wenig angetan zu sein und wieherte laut los. Mit seinem linken Huf stampfte und schabte es die Erde auf.

Genzo musste dabei einfach schmunzeln und rollte mit den Augen. »Du willst anscheinend nicht, dass ich gehe, hm?«, kam er auf es zu, während das Pferd ihn unentwegt anstarrte. Jetzt stand der Keeper ihm direkt gegenüber. Der warme Atem blies ihm ins Gesicht und ein leises, wohliges Brummen dröhnte in seiner Kehle, sodass Genzo gerade noch den Impuls widerstand mit seinen Fingerkuppen die Nüstern zu berühren. Noch wirkte es friedfertig, aber wie sicher konnte er sein, ob es nicht doch urplötzlich nach ihm schnappen würde. Ein Risiko, was er ungern einging, allerdings...

Er zögerte etwas, dann wagte er doch einen Versuch. Vorsichtig streckte er seine Hand nach es aus. Das Pferd beschnupperte sie, da hatte Genzo die überraschend weichen Nüstern an seinen Fingern. Zuerst begann er sie leicht zu kraulen. Dann, als er merkte, dass er sich vor dem Tier nicht zu fürchten brauchte, strich er ihm über den langen Kopf.

»Du bist ein tolles Pferd«, sagte er lächelnd und klopfte mit seiner freien Hand behutsam gegen den starken Hals. »Hey, was hältst du davon, wenn ich ab jetzt immer hier vorbei jogge und wir laufen dann zusammen bis zur Kreuzung?«

Das Pferd nickte aufgeregt. Hatte es ihn wirklich verstanden? Das dachte er und musste lachen.

»Dann ist es beschlossene Sache.«

Kaum waren diese Worte ausgesprochen, waren sein leicht strubbeliges, schwarzes Haar in voller Pracht zu sehen. Genzo weitete verwundert die Augen, fasste sich am Kopf und stellte erschrocken fest, dass seine dunkelrote Kappe verschwunden war.

»W... wa –?!«

Weiter kam er nicht, da sah er das Pferd mit eben jener verloren gegangenen Kappe im Maul, der munter mit seinem Kopf wippte und sich trabend vom Keeper entfernte.

»Das gibt es doch nicht«, sagte er leise, als ihm ein Gedanke aufkam, der ihn sichtlich fassungslos machte. »War... war das alles von dir geplant gewesen? Hast du mir etwa was vorgemacht?!«

Zu seiner Überraschung ignorierte das Pferd ihn völlig und amüsierte sich weiter mit seiner Beute.

»Ich fasse es nicht. Ich wurde von einem dummen Pferd verarscht!«

Und das schien das Tier sehr wohl zu verstehen, denn es wedelte eifrig mit der Kappe, Genzos wütenden Blick definitiv bemerkend.

Ohne nachzudenken sprang der Keeper über den Zaun, entschlossen seine geliebte Kappe wiederzuerlangen.

»Hey!«, rief er lautstark nach dem Pferd. »Gib sie mir wieder, sie gehört mir!«

Er rannte wie ein geölter Blitz über die Wiese, das cremefarbene Pferd trabte gemütlich davon, blieb hin und wieder stehen, nur um wieder das Weite zu suchen, als Genzo sich ihm gefährlich näherte. Kreuz und quer tänzelte das Tier um ihn herum und wippte zur selben Zeit mit seinem Kopf auf und ab.

Ganz egal, was der Keeper versuchte. Es war ihm einfach nicht möglich das Pferd einzuholen geschweige denn zu schnappen. Gott, wenn nur seine Jungs im rotburger Verein ihn jetzt sehen könnten, er hätte umgehend seine Fußballkarriere hier in Deutschland beendet, wäre zurück nach Japan gereist, wieder in sein Elternhaus eingezogen und würde nie wieder sein Zimmer verlassen. Das Gelächter, welchem er ausgesetzt wäre, hätte zweifellos die ganze Bundesrepublik gehört!

Genzo wusste nicht, wie lange er diesem verdammten Pferd nachjagte. Er wusste nur, dass er dank dieser Bestie mit Sicherheit zu spät zum Training käme und sich eine verdammt gute Erklärung dafür ausdenken musste, wenn er sich nicht blamieren wollte.

Schnaufend stützte er sich an seinen Beinen ab, Schweißperlen tröpfelten aufs grüne Gras und fluchte sowohl innerlich als auch lautstark über sein peinliches Dilemma.

Ein sanfter Luftzug wehte über seine Haare und zähneknirschend hob er seinen Blick Richtung Übeltäter. Seine Kappe baumelte verführerisch direkt vor seiner Nase und Genzo könnte sie problemlos erreichen – und er versuchte sein Glück.

Es endete damit, dass er so viel Schwung nahm, dass er das Gleichgewicht verlor und mit dem Gesicht voran im Dreck landete. Das Pferd trabte triumphierend mit stolz erhobenem Kopf um ihn herum.

»Kacke verdammt«, fluchte er weiter und sah sich seine schmutzige Kleidung an. Er seufzte entnervt, als er erfolglos versuchte die Flecken von seinem Shirt abzuschrubben und hatte das Gefühl, dass er das nur viel schlimmer machte.

»Weißt du was, der Deal ist geplatzt! Du kannst hier auf der Wiese alleine herumrennen und nicht mehr auf mich warten, nur damit du es weißt, du blöder Klepper!«

»Na das will ich aber überhört haben, Balljunge.«

Der Keeper erschrak sich, als er eine weibliche und zugleich melodische Stimme vernahm. Rasch drehte er sich zur Quelle um und erstarrte fast. Auf dem Zaun saß eine junge Frau, die ihre schlanken Beine anwinkelte und mit einem Arm ihr Kinn abstützte. Ihr aschblondes, kurzes Haar strich über ihr feines Gesicht. Ihre haselnussbraunen Augen ruhten auf den verdutzten Keeper. Die Lippen hatten sich zu einem dünnen Lächeln verformt und amüsierte sich königlich über den Anblick des jungen Mannes.

»Balljunge?«, hatte er sie sagen hören. »Hast du mich ernsthaft „Balljunge“ genannt?«

»Gibt es hier noch einen lebensmüden Spinner auf der Koppel, auf dem die Beschreibung sonst passen könnte?«, stellte sie ihrerseits eine Frage und hob beiläufig eine Braue. »Also ich nicht. Du etwa?«

»Äh...« Genzo sah sie sich genauer an. Er musste zugeben, dass sie hübsch war. Sehr sogar, doch das änderte nichts an seiner Situation, in die er sich gerade befand und schon die Standpauke seines Trainers im Geiste abspielte, die ihm heute blühte.

»Ist das dein Pferd?«, fragte er und deutete mit seinem Daumen auf das Tier. »Wenn ja, kannst du ihm bitte sagen, dass er mir die Kappe wiedergeben soll? Ich hab's echt eilig, weißt du?«

»Warum sagst du es ihm nicht selbst?«

»Was glaubst du, was ich hier die ganze Zeit versucht habe zu erreichen?!«

Die junge Frau erinnerte sich gleich wieder daran und musste laut loslachen. Das fand der Keeper alles andere als witzig und begann langsam, aber sicher sauer zu werden.

»Hör mal zu, Kleine, ich habe keine Ahnung, warum du ihm solche blöden Tricks beibringst, aber das hat jetzt ein Ende, kapiert? Sag dem Gaul da drüben, dass ich genug von seinen Spielchen habe und ich nur die Scheiß Kappe zurückhaben will«

»Ist dir dieses olle Ding denn so wichtig, dass du dein Leben dafür riskierst und in die Koppel einsteigst?«, fragte sie offen verblüfft über die Aktion des Mannes. »Du bist echt seltsam, Balljunge«

»Ist sie mir nicht«, antwortete er bissig. »Ich mag es nur nicht, wenn sich jemand einfach so an meinen Sachen vergreift und wenn es sich dabei um ein blödes Pferd wie das hier handelt, welches lange Finger macht... oder Hufe, ach was auch immer!«

Das Lächeln der jungen Frau erstarb plötzlich, als Genzo es nicht lassen konnte gegen das Tier zu wettern.

»Verschwinde.«

Jetzt war der Keeper an der Reihe fragend dreinzuschauen und für einen kurzen Moment still zu sein. »Bitte?!«

»Jemand, der schlecht über Dilas spricht, spricht auch schlecht über mich. Also sieh gefälligst zu, dass du dich hier vom Acker machst, bevor du noch richtige Probleme bekommst. Ich hoffe, dass du das kapiert hast, Balljunge.«

Genzos Geduld erreichte langsam seine Grenzen. Er stapfte auf sie zu, schnaufte erzürnt und stand böse dreinblickend und mit verschränkten Armen vor ihr. Zugegeben aus der Nähe betrachtet war der Japaner wirklich gutaussehend und unter dem dunklen Shirt konnte sie klar die Konturen seiner Muskeln durchschimmern sehen. Und so wie er mit drohender Haltung vor ihr stand, war er durchaus respekteinflößend. Sie ließ sich jedoch nicht beirren und merkte ihre Aufregung nicht an.

»Weißt du was? Du hast recht. Es ist nur eine blöde Kappe und habe damit unnötig viel Zeit verschwendet dieser nachzujagen. Ich habe einen Schrank voll von ihnen, habe sogar Vitrinen mit richtig guten Stücken darin, da brauch ich wirklich nicht wegen einer einzigen nachtrauern!« Genzo kletterte rasch über den Zaun, ohne die junge Frau weiter anzusehen. »Soll das blöde Vieh glücklich mit dem Ding werden, ich hau ab!«

»Jetzt reicht es mir langsam!« Nun war der Dame der Kragen geplatzt und sprang vom Zaun. »Du glaubst, nur weil du für die Rotburg – Idioten spielen darfst und alle Welt dich für einen Weltklasse Keeper hält, denkst du, dass du dir alles erlauben kannst, aber so läuft das nicht! Jemand, der mit seinem Status angibt, ist für mich ein Verlierer und wenn ich du wäre, würde ich mir einen ganz anderen Ton aneignen und mein verkorkstes Verhalten noch einmal überdenken! Du kannst mich fertig machen, wenn es dir Spaß macht, aber wenn es um Dilas geht, da werde ich echt ungemütlich! Niemand beleidigt so schamlos mein Pferd und kommt einfach damit durch!«

Sie stoppte, streckte plötzlich ihren Arm Richtung Weide aus und schnippte ein Mal mit den Fingern. Sofort trabte Dilas, wie sie das cremefarbene Pferd nannte, auf sie zu und stupste sanft mit der Kappe ihre Hand. Er ließ von es ab, nachdem die junge Frau die Kappe festhielt und sie diese kurzerhand nach dem Keeper warf.

»Keine Ahnung, warum Dilas ausgerechnet so einen Wichtigtuer wie dich für seine Albernheiten ausgesucht hat, aber ich hoffe bloß, dass du dich hier wirklich nicht mehr blicken lässt, damit du deinem stumpfsinnigen Ballsport nachgehen kannst!«

»Keine Sorge, ich habe definitiv nicht vor wieder auch nur einen Fuß in diese Gegend zu setzen!«, keifte Genzo zurück. »Und Fußball ist kein stumpfsinniger Ballsport, aber ich sehe schon, dass du davon keine Ahnung hast. Der Ponyhof, den du betreibst, passt auch eher für kleine Mädchen, also... für dich geradezu perfekt«

»Tsk, das ist ja mal wieder typisch Fußballer. Sieht sich als überlegen an und schaut gerne auf andere Sportler herab. Dabei seid ihr für mich nichts weiter als kleine Hündchen, die einen unbedeutenden, kleinen Ball nachjagen, ihn treten, werfen oder fangen, als wäre das etwas lebensveränderndes. Was ist denn, wenn ich in eurem Verein ein paar Bälle ins Tor rein knalle? Darf ich mich dann auch großkotzig zu den anderen „Topspielern“ dazustellen und mit meinem „gottgegebenen Talent“ prahlen und angeben? „Schaut mal her ich bin genau wie ihr! Ich kann auch Tore schießen und das macht mich zu einem Profispieler, dem alles gelingt, was auch immer er sich wünscht, denn ich bin ein Fußballer, weil die alles können!“«

Genzo stieß ein lautes Lachen aus. Die Frau hatte Feuer, das musste man ihr lassen. Trotzdem fühlte er einen kleinen Stich in der Brust, denn er konnte die unterschwellige Abneigung seines Lieblingssports in ihrer erbosten Stimme heraushören. Das konnte er sich nicht bieten lassen und schon gar nicht als Keeper. Er fühlte sich herausgefordert und machte es ihr mehr als deutlich.

»Na schön, wie du willst«, sagte er merklich ruhiger und sah ihr weiter in ihre haselnussbraunen Augen. »Wenn du meinst mich im Fußball besiegen zu können, dann komm zum Verein. Wir werden dann sehen, ob hinter deinen Worten auch Taten folgen«

»Was?«, fragte sie irritiert und grinste schief. »Und was willst du damit beweisen? Dass Genzo Wakabayashi, der große Mustertorhüter, sich so sehr von einem Mädchen hat provozieren lassen, dass er sie unbedingt im Fußball besiegen will, nur um nicht als kompletter Vollidiot dazustehen? Die Schlagzeile will ich nur zu gerne lesen«

»Wie ist eigentlich dein Name?«, fragte er rundheraus und konnte ihr wieder einen verwirrten Ausdruck auf ihrem Gesicht entlocken. Jetzt brachte es auch nichts mehr, wenn er später im rotburger Verein erschien. Zu spät war zu spät. Auf die paar Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an und gerade jetzt begann er neugierig zu werden, wer die hübsche Frau nun sei.

»Mein Name«, sie verschränkte die Arme. »geht dich nichts an«

»Ok, wie wäre es damit. Komm zum Verein um 17 Uhr. Versuche ein Tor gegen mich zu erzielen und wenn du verlierst, verrätst du mir deinen Namen«

»Und was ist, wenn ich gewinne?«

»Dann siehst du mich hier nie wieder. Das wollen wir doch beide, oder nicht? Trotzdem will ich sehen, ob du doch ein Händchen für Fußball hast, was du ja großartig hinausposaunt hast. Wie klingt das?«

Lange sah das Mädchen ihn eingehend an. Schließlich seufzte sie und schloss die Augen.

»Fein«, sagte sie kühl. »Ein Tor. Wenn ich auch nur ein einziges Tor reinballer, will ich deine Schönlingsvisage nicht mehr hier sehen, verstanden?«

»Oh«, sagte er dunkel. »Du findest mich schön?«

»Bild dir ja nichts drauf ein«, gab sie trocken zurück. »Eine hübsche Verpackung hat noch lange keinen schmackhaften Inhalt«

»Verstehe«, begann er zu kichern. Er kehrte ihr den Rücken und setzte den Weg zum Verein an. »Heute, 17 Uhr. Komm ja nicht zu spät«

»Sagt der, der selbst zu spät zum Training kommt.«

Bei dieser Bemerkung zwang er sich zu grinsen und sah ihr noch einmal nach. »Und wessen Schuld ist das?«

»Deine.«

Das sie immer kontern musste, war zum verrückt werden, aber er war auch nicht ganz unschuldig dabei. Immerhin gab er ihr ja Futter, um für jede Bemerkung, die er machte, schlagfertig zu antworten.

»Kneifen gilt nicht, klar?«

»Hör auf zu nerven«

»Wehe du kommst nicht!«

»Verschwinde endlich, du verkanntes Torwarttalent!«

Sie schnaufte verächtlich, als sie das selbstgefällige Lachen des Keepers hörte und am Horizont immer kleiner wurde, bis er hinter einer kleinen Erhebung verschwand.

»Was ein Idiot...«, dachte sie laut und sah noch eine Weile den Weg an, den er nutzte. Sich daran erinnernd, zu was sie eigentlich „ja“ sagte, stieß sie ein so lautes Stöhnen aus, dass einige der Pferde inklusive Dilas aufschreckte und irritiert in ihre Richtung sahen.

»Oh wunderbar, warum habe ich mich bei so etwas nur bequatschen lassen?!«

Na das konnte ja was werden. Meckern brachte nichts und sie wollte definitiv nicht als Feigling dastehen – und schon gar nicht vor dem eingebildeten Japaner Genzo Wakabayashi, dem sie aber so was von ein paar Bälle ins Tor knallen würde.

»Pff... träum weiter, Lenchen, das schaffst du nie«, sagte sie leise, aber sich entmutigen lassen war auch keine Option.

»Ich schaff das schon«, spornte sie sich an an sich und an ihren „Ballkünsten“ zu glauben. »Es wird zwar schwer, aber ich krieg das vielleicht sogar hin. Wäre lustig, wenn ich ihm sein blödes Grinsen aus dem Gesicht knallen würde, dann hätte er nichts mehr zu lachen – dafür aber ich.«

Den Gedanken daran festhaltend, dass sie unfreiwilligerweise um 17 Uhr beim Rotburger Verein ankommen sollte, um sich mit Genzo zu messen, machte sie sich auf dem Heimweg – dabei das stetige Traben ihres Pferdes hinter sich hörend.

Ein Tor für einen Namen

Das Training war seit einer Stunde vorbei. Beinahe die komplette Mannschaft verließ den Platz; nur vier waren geblieben. Drei der Jungs, die sich auf der Zuschauertribüne gemütlich machten, sahen zeitgleich auf Genzo, der sich lässig und mit heruntergezogener Kappe gegen den Torpfosten gelehnt hatte und mit seinem linken Turnschuh den leicht abgenutzten Fußball am Wegrollen hinderte.

»Sagt mal wisst ihr, was mit Gen heute los ist?«, kam es plötzlich von Sho, der zwischen Kalle und Levin saß. Die Angesprochenen waren genauso überfragt, wie ihr Kollege.

»Erst kommt er zu spät zum Training und nun bleibt er hier und rührt sich nicht von der Stelle. Er scheint auf jemandem zu warten, seht ihr?« Levin, ein recht stiller, aber freundlicher Fußballer, deutete auf Genzos Hand, die kurz in seiner Jackentasche verschwand und mit einem gezückten Smartphone wieder hervorkam.

»Wen bitteschön soll er denn erwarten? Hat er einen Kumpel, von dem wir nichts wissen und von ihm abgeholt wird?«

»Vielleicht hat er auch eine Freundin, die er uns verheimlicht?«, scherzte Sho, wobei die Idee gar nicht mal so abwegig klang. Genzo war als Topkeeper weltberühmt und viele seiner Kollegen hatte man des öfteren mit reizenden Damen gesehen. Er allerdings war da ganz anders. Nie gab es Anzeichen dafür, dass er eine Freundin hatte. Manche behaupteten gar, dass er sich anders umorientierte und eher die Gesellschaft von Männern genoss, was er allerdings lachend abstritt. Ganz der Profi erklärte er der Presse einst, dass er wegen seines Berufes leider nie wirklich die Zeit fand die ganz Besondere für eine langfristige Partnerschaft zu finden, aber zuversichtlich wäre, dass es eines Tages der Fall sein könnte. Seine Freunde wussten ganz genau, dass es für Genzo ein Kinderspiel wäre sich eine Freundin zu angeln. Er war nicht nur ein erfolgreicher Profispieler, was bereits ein Pluspunkt in der Partnersuche war, er war auch wirklich gutaussehend. Wie laut die Mädchen seinen Namen schrien, wenn die Rotburger ins Stadion eintraten und an die Fanmassen vorbeigingen. Das einzige, was der Keeper tat, war ihnen Autogramme zu geben, ein paar Selfies zu schießen oder ihnen einfach nur lächelnd zuzuwinken. Karl fand es bemerkenswert, wie professionell und mit solch einer Souveränität er damit umging. Er wusste auch, dass, sobald man zu der Prominenz gehörte, die ganze Welt auf einem schaute. Skandalfreie Berühmtheiten waren überaus selten und Genzo hatte es bis jetzt geschafft eine reine Weste zu haben und galt bis heute als Vorbild für viele Menschen weltweit.

Nicht schlecht, Alter, dachte der Fußballkaiser lächelnd. Mach weiter so. Starallüren würden ohnehin nicht zu dir passen.

»So Jungs, ich will wissen, was mit Gen los ist«, streckte sich Sho und rieb sich den Nacken. »Kommt ihr mit?«

»Das fragst du noch?«, lachte Levin und stand ebenfalls auf. Alle drei machten sich bereit auf ihn zuzugehen, da preschte plötzlich ein Pferd an ihnen vorbei und galoppierte wiehernd Richtung Fußballfeld. Levin erschrak sich so fürchterlich, dass er rücklings auf den Boden landete und einen lauten Schrei ausstieß. Sho und Karl taumelten zurück und Karl wäre das selbe Schicksal ereilt, hätte sein Kumpel ihn nicht rechtzeitig aufgefangen.

»Was zum Teufel?!« Levin verschlug es die Sprache und auch den anderen erging es nicht anders. Selbst Genzo war vom plötzlichen Auftauchen des Pferdes erschrocken und starrte regelrecht auf das Tier samt Reiterin.

»Also, kleiner Balljunge«, sagte sie gleichgültig und hielt die Zügel locker in ihrer Hand. »Da bin ich. Bringen wir es hinter uns.« Sie stieg von Dilas ab, band einen losen Knoten um den Sattelknauf, dann trabte das Tier ein paar Schritte voraus, als er den sanften Klaps auf die Flanke spürte.

»Okay wow. Ich bin auf einiges vorbereitet gewesen, aber nicht auf das«, musste Genzo lachen, als er seine Fassung wiedererlangte.

»Genzo, wer zum Teufel ist dieses Mädchen?!«

»Und warum kommt sie mit einem Pferd hier an?!«

Der Keeper sah zu Karl und Sho, die mit Fragen nur so um sich schmissen.

»Wer bist du?«, wollte Levin in aller Aufregung wissen und rieb sich weiter seinen Allerwertesten. »Was machst du hier? U... und wie bist du ins Vereinsgelände reingekommen?! U... und das Pferd?!«

Die junge Frau sah sie unbeeindruckt an. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf Genzo, die ungeduldig ihre Arme verschränke. »Können wir jetzt endlich mal anfangen, oder hast du keine Lust mehr, du Wundertorhüter?«

»Jetzt mach doch mal langsam, wir fangen gleich an. Ich habe dem Personal gebeten das Vereinsgelände offen zu lassen, weil ich... nun ja... jemanden hierher eingeladen habe. Und da steht sie«

»Ja, schön... aber wer ist das jetzt?«, stellte Karl erneut mit zunehmender Ungeduld die Frage.

»Das ist der Grund, warum sie hier ist«, antwortete Genzo lächelnd. »Ich selbst kenne auch nicht ihren Namen, daher habe ich mit ihr einen kleinen Deal ausgehandelt. Wenn ich ihre Bälle halte, verrät sie mir, und auch euch, ihren Namen. Wenn auch nur ein Ball hinter die Torlinie gerät, werde ich aus ihrem Leben verschwinden«

»Okay... und das Pferd?«

»Gehört mir«, antwortete sie Sho. »Sein Name ist Dilas und da ich heute mit ihm ausreite, kam mir der kleine Umweg hier gerade recht. So, können wir jetzt endlich beginnen? Ich habe keine Lust weiter meine Zeit hier auf diesem... Vereinsgelände zu verbringen«

»Was denn, was denn?«, stichelte Genzo und kickte ihr dann den Ball zu, den sie mühelos mit ihrem Fuß abfing. »Gefällt es dir hier bei uns etwa nicht?«

»Nein«, sagte sie knapp und kickte ein paar Mal den Ball mit ihrem Knie.

»Du magst offenbar kein Fußball, kannst aber so was?«

»Fußball ist langweilig und unnötig«, gab sie lässig zurück und ließ weiter den Ball auf ihrem Knie tänzeln. »Und meine Talente in diesem Sport beschränken sich auch nur aufs Kicken. Richtig spielen kann ich nicht, falls du fragen solltest. Mein Bruder und manchmal auch mein Vater „zwangen“ mich mit ihnen ein bisschen mit dem Ball zu spielen, wenn ich gerade nichts besseres mit meiner Zeit anfangen konnte und ich Langeweile hatte. Jungs und ihr bescheuerter Fußball.«

Sie stoppte und sah beinahe abwertend zur Männergruppe. »Wieso man euch für das hier feiert, werde ich nie verstehen«

»Und was macht dich besser als uns?«, fragte Levin und stemmte eine Hand auf seine Hüfte.

»Ich bin professionelle Springreiterin mit Leib und Seele. Der Pferdesport ist anspruchsvoll, aber doch nicht... das.« Sie deutete auf das ganze Gelände um sich herum. »Und wer sagt, dass ich angeblich besser als ihr bin? Ich sagte nur, dass Fußball langweilig und schwachsinnig ist. Ich bin nicht ein gewisser Torwart, der mit seinem Ruhm und Status angibt und gerne mein geliebtes Pferd beleidigt«

»Darauf wirst du wohl ewig... herumreiten, oder?« Genzo entschuldigte sich sofort für dem Wortwitz, konnte aber das leise Lachen seiner Teamkollegen dennoch nicht verhindern.

»Stell dich gefälligst ans Tor oder ich verschwinde wieder!«

»Ist ja gut, du brauchst hier nicht gleich die Zicke spielen«, hob Genzo beschwichtigend seine Hände. »Drei Versuche gebe ich dir und wenn sie alles Nieten sind –«

»Dann sage ich dir meinen Namen. Hör auf dich zu wiederholen.«

Die Jungs machten ihr Platz, sodass die Beiden endlich mit ihrem kleinen Duell beginnen konnten. Sie legte den Ball bewusst auf den Elfmeterpunkt. Genzos Fähigkeiten waren selbst ihr bekannt und er galt in der Fußballwelt als unbezwingbarer Gegner, der in der Lage war nahezu jeden Ball außerhalb des Strafraums zu halten. Nur den wenigsten war diese Leistung jemals geglückt. Einer von ihnen, der Wakabayashi bezwang, war Shunko Sho – Der Shunko Sho, der in diesem Moment zusammen mit Karl – Heinz und Levin am Platz stand und sich das kleine Duell ansah. Beeindruckend, gab sie gedanklich zu und konnte von sich aus nicht erwarten, dass auch ihr dieses Glanzstück gelänge. Das wollte sie auch nicht. Sie fand den Japaner einfach nur überheblich und nervig und wenn der kleine Ball auch nur einen Millimeter hinter der Torlinie rollte, wäre das Grund genug für sie sich zu freuen ihn nie wieder sehen zu müssen.

»Schieß einfach, wenn du bereit bist!«, rief er ihr zu und beobachtete sie ab da ganz genau, was sie als Nächstes tat.

Sie nickte und ging langsam ein paar Schritte zurück, um Anlauf zu nehmen. Sie atmete tief ein und konzentrierte sich.

Dann wollen wir mal. Sie schoss. Der Ball flog relativ mittig Richtung Tor. Für Genzo war das kein Problem ihn zu halten – sogar mit nur einer Hand. Dabei ging er nur zwei Schritte nach rechts und streckte seinen Arm aus, sodass der Ball beinahe einladend in seine Handfläche landete

»Das geht besser«, sagte er grinsend und warf ihr den Ball zu, den sie mit ihrem Oberkörper abfing. »Zwei Versuche hast du noch!«

Sie legte den Ball wieder auf den Elfmeterpunkt, konzentrierte sich erneut und schoss ein zweites Mal. Dieses Mal war dieser Schuss besser platziert und kam der rechten Torecke nahe.

Genzo musste sich etwas mehr anstrengen, um sich diesen Ball zu schnappen. Er hechtete sogar, pflückte das runde Leder aus der Luft und landete mit einer Rolle neben dem Tor.

»Okay der Schuss war besser, nicht schlecht!«, lobte er und selbst ihre Zuschauer waren positiv überrascht von ihrer Schusskraft. Für ein Mädchen wirklich nicht übel, auch, wenn da noch eine ganze Menge Luft nach oben war.

Der Ball rollte zu ihren Füßen, während Genzo seine Handschuhe richtete.

»Ein letzter Versuch noch, dann wissen wir endlich, wie du heißt.«

Der kleine Fußball rollte zur jungen Frau und blieb vor ihren Schuhspitzen stehen.

»Vielleicht sollten wir doch aufhören und sagst ihn uns jetzt?«, grinste Genzo und war sich seines Sieges absolut sicher – ein fataler Fehler, wie sich zeigte.

»Genzo, lauf!«, schrie Karl seinen Freund plötzlich an. »Sie setzt zum Schuss an! Beeil dich!«

Der Keeper bemerkte, wie das Mädchen den Ball so fest in die andere Ecke trat, dass er bereits die Hälfte der Strecke hinter sich legte und jeden Moment im Netz zappelte. Wie ein geölter Blitz jagte Genzo entlang des Tores und sprang erneut.

Jetzt hab ich dich, Balljunge, lächelte sie schwach und sah den Keeper Richtung Ball springen.Den schaffst du niemals... was?!

Unglaublich. Er konnte den Ball tatsächlich wegfausten, noch bevor es die Torlinie überschritt! Der Keeper landete seitlich aufs Gras, der Ball kullerte ins Aus.

Das Mädchen starrte fassungslos auf das kleine runde Ding, der Mund stand ihr sperrangelweit offen.

Himmel, Arm und Zwirn war das knapp. Sie hatte tatsächlich Genzos Unachtsamkeit ausgenutzt und geschossen. Karl war schwer beeindruckt, dass sie den Keeper so leicht überlisten konnte und auf eine günstige Gelegenheit wartete, um zuzuschlagen.

»Das nächste Mal solltest du besser aufpassen, Gen«, rief der Fußballkaiser ihm zu. Das Einzige, was er als Antwort bekam, war nur ein ausgestreckter Arm mit einer geballten Faust in der Luft.

»So, Kleine!«, sagte Genzo lauthals, stand auf und richtete sich seine Uniform samt Kappe zurecht. »Drei Versuche hattest du und ich habe sie alle abgewehrt. Jetzt fordere ich meinen Preis!«

Sie seufzte enttäuscht. Natürlich war es vornherein klar gewesen, dass sie niemals ein Tor gegen Genzo schießen konnte. Bitter war die Niederlage dennoch, grade beim letzten Schuss, wo sie sich so sicher war, dass er rein ginge. Sie schloss die Augen und drehte sich wortlos um.

»H – hey, warte!«, ging er auf sie zu. »Du kannst doch nicht einfach –«

»Goldstein.«

Die Jungs sahen ihr stumm nach, als sie Dilas mit einer simplen Handbewegung zu sich rief und sanft schnaubend vor ihr stehen blieb.

»Elena Goldstein. Und jetzt werde ich gehen«

»Warte doch mal«, stoppte Genzo sie erneut und hörte bereits das genervte Seufzten der Reiterin.

»Was willst du denn noch von mir, du Spinner?«

»Ich hoffe du bist nicht allzu nachtragend, weil ich die Bälle gehalten habe«

»Warum sollte ich?«, fragte sie offen verwundert. »Ich habe nie daran geglaubt ein Tor reinmachen zu können. Ich weiß doch, worauf ich mich letztendlich eingelassen habe. Sonst noch etwas?«

»Da wir jetzt deinen Namen wissen, wird es Zeit dir meine Kollegen hier vorzustellen. Also das sind –«

»Stefan Levin, Shunko Sho und Karl – Heinz Schneider«, nahm sie ihm prompt die Arbeit ab. »Ich mag Fußball zwar nicht besonders, aber ich komme nicht drumherum eure Namen zu kennen... und die dazu passenden Gesichter. Euer toller Sport ist einfach zu omnipräsent und das macht mich wahnsinnig. Ständig das Gegröle der Zuschauer und diese albernen Fußballhymnen. Ganz zu schweigen von den rauflustigen Idioten, die meinen überall eine Schlägerei anfangen zu müssen oder mit Bengalos Chaos anzurichten, aber dafür könnt ihr Spieler ja nichts«

»Ja, das ist so eine Sache, die mich auch stört, aber was sollen wir schon großartig machen, außer unseren Fans klarzumachen, dass das nicht geht?«, entgegnete Sho ihr mit betrübter Mimik. Auch den Jungs ging es ähnlich. Immerhin sollte Fußball in erster Linie für alle ein großartiges Erlebnis sein und die „Kämpfe“ sollten vornehmlich auf dem Feld stattfinden.

»Hey, aber bei den Fußballhymnen kann man gut mitsingen«, kam es erneut von Sho und begann eines von ihnen zu singen. Es dauerte nicht lange, da stimmten die Jungs mit ein, legten ihre Arme um ihre Schultern und trällerten jede Strophe in voller Euphorie nach.

Elena wich mit Dilas ein paar Schritte zurück und war sichtlich verstört über den albernen Anblick des Quartetts, die noch immer ihren Spaß an ihren... sagen wir... „bescheidenen“ Gesängen hatten und gar nicht mehr damit aufhören wollten oder konnten.

»Genau das meinte ich...«, sagte sie zu sich, während die Fußballer weiter herumalberten und die hübsche Reiterin fast zu vergessen schienen.

Schnell entknotete sie die Zügel und schwang sich auf den Sattel.

»Willst du etwa schon weg, Elena?«, bemerkte Levin sie, nachdem er als erster aufhörte zu singen. Dann beendeten der Rest ihr Gesinge und sahen die junge Frau neugierig an.

»Bleib doch noch ein bisschen«, meinte Sho daraufhin und sah fast schon hoffnungsvoll zu ihr hinauf. »Wäre echt schade, wenn du schon gehst«

»Warum um alles in der Welt sollte ich noch bei euch bleiben?«

»Du hast einen starken Schuss drauf«, sagte Karl anerkennend. »Vielleicht hast du ja Lust hin und wieder mit uns zu kicken? Was meinst?«

So ein Angebot machte Karl selten und schon gar nicht bei einem Mädchen, aber der Profispieler hegte gewisse Sympathien für die junge Frau und er merkte, dass die Jungs sie ebenso gerne um sich hatten. Besonders sah er zu Genzo, dessen grünen Augen sie geradezu fixierten. Wie am Tor vorhin, als er ihre noch so kleine Bewegung analysierte, bevor sie schoss. Dieser Blick jedoch. Dieser eine, den er ihr gerade zuwarf, der war anders...

»Ist... ist das dein ernst?«, fragte sie und grinste verunsichert. »Ich soll mit euch spielen?«

»Also von meiner Seite aus spricht nichts dagegen«, sagte Levin heiter.

»Auf hübsche Gesellschaft kann ich doch nicht verzichten«, posaunte Sho drauf los und grinste dabei breit. »Besonders dann nicht, wenn sie offenbar ein Talent für unseren Sport hat«

»Ich kicke nur und spiele nicht«, korrigierte sie den sympathischen Chinesen. »Und du hast überdies auch deinen wahren Grund genannt, warum ich mit euch rumhängen soll«

»Wäre das denn so verkehrt?«

Das Zwinkern sprach eine deutliche Sprache. Sho, der alte Schwerenöter, dachten sich die Jungs. Kaum sah er ein hübsches Gesicht, schon ging er in die Vollen. Übel nahmen sie es ihm gewiss nicht. Elena war wahrlich bildhübsch. Und Genzo konnte noch immer nicht seine Augen von ihr lassen, was Karl schon seit einer Weile auffiel und sich allergrößte Mühe gab ihn nicht vor versammelter Mannschaft damit aufzuziehen.

»Hör mal, wir sind keine Verrückten oder Perversen, die dir an die Wäsche wollen«, versuchte Levin ihr die Zweifel zu nehmen. »Wir sind wirklich ganz nette Jungs, die keiner Fliege was zu Leide tun. Ich zumindest finde dich echt cool und würde mich freuen mehr von dir zu hören«

»Wenn du mehr von mir hören willst, Herr Stefan Levin, dann würde ich dir raten deine ganze Lebenszeit nicht auf den Fußball zu beschränken und stattdessen andere Sportarten im Augenschein zu nehmen. Besonders dort, wo der Name „Goldstein“ geläufig ist. Mehr sag ich dazu nicht mehr und um nochmals auf dein Angebot zurückzukommen, Fußballkaiser, ich kann dir nichts versprechen«

»Aber das ist auch kein „nein“«, freute sich Sho, was die Anderen nur mit einem amüsierten Augenrollen erwiderten.

»Goldstein«, wiederholte Levin ihren Familiennamen. »So, wie du ihn betonst, klingt das so, als wäre er bekannt.«

Sie seufzte frustriert und rieb sich den Nasenrücken. »Da sieht man mal wieder, wie beschränkt Fußballer eigentlich sind. Denkt ihr auch mal an etwas anderes, als an euren blöden Ball?«

»Ich habe mich schon gefragt, wann du wieder deine Zähne zeigst, kleine Ponyhalterin.« Genzo hatte genug stiller Zuhörer zu sein und entschied wieder das Wort zu ergreifen.

»Wie geht’s denn deiner Kappe?«, fragte sie schnippisch und sofort zog sich der Magen des Japaners zusammen, als sie ihn darauf ansprach. »Alles noch dran?«

»Was meint sie denn damit?«, fragte Kalle neugierig und Genzo hatte die Blicke seiner Jungs auf sich.

»Gar nichts«, antwortete er zügig. »Es ist nichts. Nur ein bisschen am Schild ausgefranst, mehr nicht.«

Dieses plötzlich auftauchende, boshafte Grinsen gefiel Genzo absolut nicht. Es hatte ihn Zeit und Mühe gekostet seiner Mannschaft und Rudi Schneider zu erklären, warum er heute Morgen zu spät kam. Der Klassiker war, er habe verschlafen und seinen Wecker nicht gehört. Sie ließen es stehen, so richtig glauben konnten sie ihn dennoch nicht, da Genzo bekannt für seine Pünktlichkeit war und er für gewöhnlich als Erster am Feld stand und sich aufwärmte und daher ein zu spät kommen für ihn mehr als ungewöhnlich war.

»Ausgefranst nennt sich das heute«, kicherte sie süffisant, was die Jungs noch stutziger machte. »Ich verstehe«

Bitte nicht, flehte er sie im Geiste an nichts zu verraten und sein Blick war so verzweifelt gewesen, dass Elena wirklich überlegte ihn auffliegen zu lassen. Verdient hätte er es, denn jetzt mal im ernst, wie konnte man so blöd sein und unerlaubt in eine Koppel einsteigen? Wusste er bis dahin nicht, wie gefährlich das sein konnte? Und das alles wegen einer bescheuerten Kappe? Der Keeper hatte großes Glück, dass nichts schlimmeres passiert war und er gesund und munter vor seinen Freunden stand.

Statt die ganze Geschichte zu erzählen, schnalzte sie kurz mit der Zuge und Dilas trabte langsam Richtung Ausgang.

»Das Angebot steht noch!«, rief Karl ihr nach, doch sie winkte ihm nur zu und verschwand in einem schnellen Galopp vom Vereinsgelände.

Minutenlang herrschte bei den Fußballern rege Stille. Verarbeiteten, was gerade passierte, bis einer von ihnen wieder seine Stimme erhob, aber den Blick nicht vom Ausgang abwenden konnte.

»Leute«, kam es ruhig aus Shos Mund heraus. »Ich glaub ich bin verliebt!«

»Oh Gott...«, jammerte Kalle und hörte um sich nur noch schallendes Gelächter ertönen.
 

Daheim in seinem Appartement ging Genzo nur mit einem Handtuch bekleidet ins Wohnzimmer, schnappte sich sein Notebook und fuhr ihn hoch. Noch immer kreisten seine Gedanken an dem heutigen Tag und besonders Elena tauchte immer wieder vor seinem geistigen Auge auf.

»Elena Goldstein«, summte er ihren Namen, bevor er diesen in eine Suchmaschine eingab und auf Enter klickte. Unzählige Artikel rund um die Reiterin blitzten auf. Ein Ausnahmetalent im Reitsport hieß es dort. Eine neue Reitkünstlerin im Springen, die mindestens einen Platz auf dem Siegertreppchen belegte.

»Oh, richtig«, merkte er lächelnd an. »Sie sagte ja, dass sie Profireiterin ist.«

Er las sich die Artikel weiter durch und betrachtete auch die Fotos, die während der Turniere geschossen wurden, aber auch welche, wo sie als Model für diverse Sportmagazine stand. Manchmal auch mit ihrem Pferd Dilas, welcher als „Juwel unter den Springpferden“ bezeichnet wurde.

»Hmm«, murmelte er leise. »Sie ist in eine Pferdefamilie hineingeboren und hat sogar in ihrem Debüt – Turnier gleich Rang Eins belegt? Nicht schlecht.«

Er schloss die Artikel und ging gleich auf deren edel eingerichteten Webseite rein. »Das Goldsteingestüt züchtet und trainiert qualitativ hochwertige Akhal – Tekkiner, die als eine der ältesten Pferderassen gilt«, las er ein Teil der Beschreibung durch. »Dank ihres unermüdlichen Einsatzes des Gründers und seiner Familie konnte diese edle Pferderasse auch im Westen zu noch größerer Beliebtheit in der Pferdesportszene erlangen und seitdem gilt das Goldsteingestüt zurecht als eine der renommiertesten Anlagen Europas und genießt selbst außerhalb der Reiterei hohes Ansehen...«

Die Fotos sprachen für sich. Die Ställe, die Reithallen, die riesige üppige Weide und natürlich die Pferde selbst, von denen die besten steckbrieflich vorgestellt wurden oder aber auch zum Verkauf angeboten wurden, welche nicht wenige die Preise von Sportwagen hatten! Bei den Zahlen musste Genzo schlucken und überlegte fast, ob er eventuell den falschen Beruf ausgesucht hatte, wenn er sah, wie lukrativ der Pferdesport eigentlich war. Bei dem Gedanken lachte er leise auf. Nein. Er war rundum glücklich mit dem Leben, welches er führte und er würde seinen geliebten Fußball für keinen anderen Sport dieser Welt eintauschen.

Bis tief in die Nacht durchstöberte der Keeper nach weiteren Infos über sie. Über Elena Goldstein, der talentierten Reiterin, die das Interesse des jungen Mannes erweckte.

Die Goldsteingeschwister

»Und? Wie sind die so? Erzähl!«

Elena machte sich und für den Mann hinter der Kücheninsel Kaffee. Er war total aufgeregt wie ein kleines Kind, als die junge Frau ihm von ihrem gestrigen Erlebnis erzählte und überreichte ihm endlich seine heißgeliebte Tasse.

»Wie sollen die schon sein?«, fragte sie nüchtern und begann an ihrem Kaffee zu nippen. »Kleine Jungs eben, die mit Bällen spielen«

»Lenchen.« Der Mann grinste sie an und ließ sich vom Duft des heißen Getränks berauschen, bevor er einen Schluck davon nahm. Sein kastanienbraunes, volles Haar war ordentlich und, bis auf ein paar Strähnen, die seitlich am Gesicht hingen, nach hinten gekämmt. Sein weißes Shirt betonte seine athletische Statur zunehmend.

»Was willst du denn von mir hören, Timur? Dass ich die toll finde? Dass ich total begeistert von deren Fußball bin?«

»Wie wäre es denn mit „Hey Jungs, mein absoluter Lieblingsbruder ist ein großer Fan von euch Rotburgern, der jedes Spiel von euch anschaut und es wäre echt cool, wenn er ein paar Autogramme von euch bekommen könnte?“«

»Daher weht also der Wind«, zwinkerte sie ihrem Bruder zu, der gerade sein Smartphone in seine Pfoten hielt. »Gratis Autogrammkarten und vermutlich auch VIP – Pässe, um die Spieler Backstage zu treffen. I see, I see«

»Prominenz trifft auf Prominenz. Wie nennt uns die Presse noch gleich? „Die neue Generation von Reitern, die die Pferdewelt revolutionieren wird“.«

Dann musste Timur kichern, als er amüsiert aufs Display seines Smartphones starrte.

»Was ist?«, fragte sie zwischen den Schlucken ihres Kaffees.

»Du hast einen Fa – an, du hast einen Fa – an~«

»Neuer Follower auf Insta? Und?«

Er gackerte weiter. »Wenn du nur wüsstest, wer dir seit heute folgt.«

Jetzt hatte er sie. Ihre Neugierde wuchs. Sie schnappte sich Timurs Smartphone und starrte auf den Bildschirm. Er hatte ihre Instaseite aufgerufen. Das tat er oft, aber sie störte sich nicht daran. Nachdem sie auf den „Follower“ – Button drückte, hätte sie beinahe ihren Kaffee direkt auf ihren Bruder gespuckt. Stattdessen wäre sie daran beinahe erstickt, als sie sah, wessen Namen sie dort sah.

»WAS?!«

»Ja, oder? Ich hab's zuerst auch nicht glauben können und hab mir dann sein Profil genauer angesehen, und Tatsache. Genzo Wakabayashi höchstpersönlich folgt dir auf Insta.« Timur musste über den schockierten Anblick seiner Schwester so laut lachen, dass er beinahe vom Hocker gefallen wäre.

»Oh Gott, warum?«, hörte er sie jammern und musste sich seine Lachtränen wegwischen, die sich in seinen Augenwinkeln gesammelt hatten.

»Ja, warum denn nicht? Ist ja nicht so, dass der ein oder andere Fußballprofi oder anderer Profisportler uns Reitern folgt. Was ist denn schon dabei?«

»Den blockier ich jetzt.« Sie holte ihr Telefon heraus und hörte bereits das laute Einatmen ihres Bruders.

»Was?! Nein! Lass das!«

Sofort hatte Timur gleich zwei kleine Geräte in seinen Händen, um seine Schwester vor einer Dummheit zu bewahren. »Wieso willst du ihn blockieren?«

»Mit Idioten will ich nichts zu Schaffen haben«, antwortete sie fest. »Außerdem so toll ist er gar nicht. Eigentlich ist er ein ziemlicher Arsch, der Dilas schlecht macht. So einer braucht mir nicht folgen und jetzt gib mir mein Smartphone!«

Er dachte nicht daran ihr das Ding wiederzugeben, sondern ließ es zügig in seine Hosentasche verschwinden und tippte eifrig auf seinem herum.

»Timur!«, wurde sie ungehalten und stand auf.

»Ich klär das mal für dich, Schwesterchen. Bedanken kannst du dich später bei mir.«

Tipp, Tipp, Tipp. Das hörte sie immerzu, als sie ihren Bruder eifrig beim chatten beobachtete und geschockt auf dem Bildschirm starrte, als sie folgenden Text las, den Timur an Genzo schrieb:
 

Hi, Genzo! Sorry, wenn ich dich so überfalle, aber ich bin Timur Goldstein und der Bruder von Elena, der du gestern begegnet bist. Freut mich sehr, dass du Lenchen folgst, denn sie hatte gerade vorgehabt dich zu blockieren, weil du sie offenbar sauer gemacht hast und sie mit einem, ich zitiere „blöden Arsch“ nichts am Hut haben will. Ihre Worte, nicht meine :D

Schreib zurück, dann kann ich sicher etwas machen, damit ihr euch vertragen könnt! :)
 

»Ich hasse dich«

»Aww!«, freute er sich und gab seiner kleinen Schwester einen dicken Schmatzer auf die Wange. »Sei doch nicht so fies und gemein und vertrag dich mit ihm«

»Ich bin nicht fies und gemein! Er ist es und ich vertrage mich ganz sicher nicht mit ihm!«

Timurs Smartphone rumorte auf der glatt polierten, marmorierten Tischplatte und sah, dass Genzo ihm zurückschrieb:
 

Oh hi, Timur! Ja, ich bin gestern deiner reizenden Schwester eher zufällig begegnet.
 

Als der junge Mann ihr die erste Zeile der Nachricht vorlas, machte sie eine Würg – Geste. Dann hörte sie ihn weiter vorlesen und ihr wurde ein wenig mulmig zumute.
 

Und was? Sie wollte mich blockieren? Und einen blöden Arsch hat sie mich auch noch genannt? Das ist gemein :'(

Dabei habe ich so sehr gehofft, dass die innige Freundschaft zwischen Balljunge und Ponyhalterin Bestand haben könnte. Schade, schade ~
 

Timur schrieb eifrig weiter mit ihm, aber die Textnachrichten las er ihr nicht mehr vor. Es dauerte nicht lange, da folgten sich die beiden Männer gegenseitig und nach dem Gesichtsausdruck ihres Bruders zu urteilen, schienen sie sich immer mehr zu verstehen.

»Ernsthaft, Lenchen ich weiß gar nicht, was du hast. Er ist super nett!«

»Da hat wohl jemand eine neue, beste Freundin gefunden«, spottete sie über ihn und schmierte sich etwas Erdbeerkonfitüre auf ihr aufgeschnittenes Weizenbrötchen. »Krieg ich jetzt mein Telefon zurück?«

»Erst, wenn du mir versprichst Genzo nicht zu blockieren«

»Fein, ich versprech's«

»Du weißt, dass ich das prüfen kann, oder?«, zwinkerte er ihr zu und starrte direkt in das finstere Gesicht der jungen Frau.

»Bist du bei der Stasi? Jetzt gib mir endlich das verdammte Ding oder du kannst was erleben!«

Lachend steckte er seiner Schwester wieder ihr dunkelblaues Smartphone zu und Elena versprach ihrem Bruder hoch und heilig ihn nicht von ihrer Follower – Liste zu verbannen. Immerhin musste sie ihm nicht folgen und wenn er ihr hinterher schnüffeln wollte, dann sollte er das eben machen.

»Außerdem tut es ihm wegen gestern wirklich leid«, setzte Timur mit etwas mehr ernst in seiner Stimme an. »Ich hab ihm die Sache mit dir und Dilly erklärt. Ist zwar lustig sich das anzuhören, hab ihm aber auch klar gemacht, wie sehr du an ihm hängst, wie deine Beziehung zu ihm ist und du es gar nicht leiden kannst, wenn man böse von ihm spricht. Das versteht er völlig und würde sich auch gerne persönlich bei dir entschuldigen«

»So, will er das, ja?«, klang sie wenig überzeugt und biss unbeeindruckt in ihr Brötchen rein.

»Jetzt hab dich nicht so und geb' dir einen Ruck, Lenchen«, sagte er mit ein bisschen Nachdruck. »Und wenn du ihn noch immer für einen blöden Arsch hältst, dann werde ich dich nie wieder damit nerven und kannst ihn meinetwegen von der Liste streichen«

»Deal?«

»Deal.«

Jetzt vibrierte auch ihr Telefon und sah auf die eingegangene Nachricht.

»Na, wenn man vom Teufel spricht«, seufzte sie leise und las sich den Text durch, den Genzo ihr schrieb:
 

Hi, Elena. Auch auf die Gefahr hin, dass du meine Nachricht sofort löschst, wollte ich wirklich nicht respektlos zu deinem Pferd und dir gegenüber sein. Ich hab zwar deinem Bruder gesagt, dass ich das gerne persönlich klären würde, aber um das Eis irgendwie zu brechen, wollte ich ein bisschen Vorarbeit leisten und dir eine kurze Nachricht zukommen lassen. Ich würde mich wirklich freuen, wenn wir das Kriegsbeil zwischen uns begraben könnten. :)
 

Liebe Grüße, Genzo
 

Bei der Nachricht musste sie ein bisschen schmunzeln, was, zu ihrem Bedauern, nicht unbemerkt blieb.

»Ha ha, du hast ihn doch gern«

»Ich find ihn weiterhin total blöd«, verteidigte sie sich schnell.

»Er hat mich gefragt, ob wir mal bei ihnen vorbeischauen könnten, wenn sie Training haben«

»Geht das denn?«

»Der Verein hat auch Öffnungszeiten für Besucher und Schaulustige«, erklärte er sachlich. »Heute wäre so ein Tag, also falls du Lust hast, komm vorbei«

»Danke, aber ich lehne ab«, winkte sie ab, was Timur dazu veranlasste ein kleines Seufzen auszustoßen.

»So werdet ihr niemals Freunde sein«

»Wer sagt denn, dass ich das will?«

»Dein schmales Lächeln, als er dir geschrieben hat und du wohlwollend darauf reagiert hast«, antwortete er augenzwinkernd.

Er trank seinen Kaffee aus und stand dann auf. »Ich jedenfalls kann es kaum erwarten Gen und die anderen persönlich zu treffen«

»Kaum schwärmst du für diesen Keeper, schon willst du ihn sofort um dich haben«

»So weit sind wir noch nicht«, scherzte Timur herzhaft. »Wir sollten aber so langsam in die Puschen kommen. Die Pferde versorgen sich nicht von allein«

»Ja.« Sie nahm schnell die letzten Bissen und den letzten Schluck ihres Kaffees zu sich und räumte das Geschirr weg. Dann ging es aus dem Haus und machten sich ans Werk.
 

»Sie ist nicht gekommen? Wie schade.«

Man konnte Shos Enttäuschung heraushören, als Timur den Jungs mitteilte, dass Elena sich entschloss nicht am Verein zu erscheinen. Bis auf Levin, Sho, Schneider und Genzo wusste der Rest der Mannschaft nicht, um was es hier ging. Viel mehr stellten sie die Frage, wer der Mann war, der bei ihnen stand.

»Okay, Chef. Klär uns auf. Wer ist das?« Es war Coleman, der zusammen mit Seaken und Minba zu seinen Kameraden schlenderte und neugierig den Besucher musterten.

Karl stellte Timur der Mannschaft vor, die ihn alle herzlich begrüßten.

»Sie hasst mich«, klagte Sho, während er es sich auf der Zuschauerbank gemütlich machte und seine Hände übers Gesicht schlug.

»Sie hasst dich nicht, Kumpel«, versuchte Timur ihn zu beruhigen. »Sie hasst ihn hier.« Er deutete mit einem Kopfnicken zu Genzo, der grinsend beide Daumen nach oben hielt.

»Und wer ist „sie“, von dem hier die Rede ist?«, wollte Minba wissen.

»Das mit Abstand hübscheste Mädchen Münchens«, schwärmte der Chinese ununterbrochen von ihr. »Ihr habt gestern echt was verpasst, sag ich euch. Wie sie mit diesem Pferd aufs Fußballfeld ritt...«

»Und ich jeden Ball von ihr gehalten habe«, fügte Genzo lachend hinzu.

»Also ein Ehrentor hättest du Elena lassen können«

»Aber dann wüsstest du nicht, dass sie Elena Goldstein heißt.«

Auch wieder wahr, dachte sich Sho und legte urplötzlich seine starken, gebräunten Hände auf Timurs Schultern. »Eine Frage hätte ich!«

Alle, einschließlich der Reiter selbst, waren gespannt darauf, was Sho wollte. Vermutungen gab es dahingehend bereits.

»...So wie du für meine Schwester schwärmst, willst du glatt wissen, ob sie einen Freund hat... oder ob du als Profifußballer jemals eine Chance bei ihr hättest, richtig?«

Seltsamerweise fürchtete sich Sho vor der Antwort. Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in seiner Brust aus und als er das beherzte Schulterklopfen und den wehleidigen Blick des Gegenübers bemerkte, wurde das miese Gefühl größer.

»Ich glaube die Antwort kennst du bereits – zumindest was dich als Fußballer betrifft«

»Neiiiin...« Sho war geknickt, einige seiner Kollegen lachten, andere sahen ihn mitleidig an, obwohl sie sich auch darüber amüsierten, wie der arme Spieler sich falsche Hoffnungen machte.

»Dabei ist sie doch der Traum vieler Männer. Wieso nur, wieso?«

»Sie ist kein großer Fan von Fußball«, merkte er grübelnd an. »Und Single ist sie auch seit kurzem wieder«

»Dann besteht ja doch noch Hoffnung für mich!«

»Oh man dich hat's ja richtig erwischt«, lachte Karl, was Sho Kopf kratzend und mit schüchternem Kichern erwiderte. »Viel Glück dabei«

»Das kannst du vergessen, Kollege.«

Die Männer sahen dann zu Timur, der plötzlich so ernst wurde und seine Arme verschränkte. Sein Blick hatte auf einmal jegliche Freundlichkeit verloren und sah die Spieler mit strenger Mine an.

»Sie hat momentan genug von Männern und ganz ehrlich ich möchte sie vor einer weiteren Enttäuschung bewahren. Also Finger weg von meiner Schwester, Freunde.«

Timur hatte schnell begriffen, dass tatsächlich einige Interesse an ihr hatten – nicht zuletzt, weil Sho den anderen Spielern freudestrahlend ihr Instaprofil zeigte und die Angesprochenen dahingehend für sie auch nur liebe Worte übrig hatten – und zog ab da eine Grenze. Was anfänglich als Spaß begann, wurde für ihn schlagartig ernst und das machte er den Fußballern mehr als deutlich.

»Oh. Klingt, als habe sie eine furchtbare Trennung hinter sich«

»Eigentlich sollte ich das nicht erwähnen, weil ich es Lenchen versprochen habe, aber, wenn ich wieder an dieses Arschloch denke, kommt mir die Galle hoch«

»Du musst uns hier nichts erklären«, kam es von Genzo und merkte, dass sich auf Timur Zornesfalten bildeten. »Allein deine Reaktion auf ihren Exfreund sagt doch schon alles«

»Elena ist wirklich ein herzensguter Mensch und hat jemanden verdient, der sie aufbaut, motiviert, unterstützt. Einfach auf den sie sich verlassen kann und keinen selbstgefälligen Idioten, dem seine eigene Karriere wichtiger ist als seine Freundin.«

Ein missmutiges Raunen ging plötzlich um, als Timur darauf ansprach. Das Thema kannten viele Sportler und besonders in der Fußballwelt konnten sie den ein oder anderen Partner ihrer Kollegen beobachten, wie sie eher auf den Erfolg des Spielers aus waren, als um die Person selbst. Geld ist ein unglaublich effektiver Köder für solches Klientel und nicht selten kam es vor, dass die verwöhnten Spielerfrauen sich gerne an die Teamkollegen ihrer Männer heran schmissen. Dass das Einfluss auf die Kameradschaft und den Spielfluss hatte, war ihnen völlig egal gewesen. Wer in deren Augen nicht gut spielte, verdiente weniger und suchten sich dann anderorts eine Geldquelle, um ihren verschwenderischen Luxus auszuleben.

Das kannten Genzos Jungs gut. Das Gefühl von diesen Mädchen nur ausgenutzt und als kleine Errungenschaft angesehen zu werden, bis sie was besseres fanden und sie fallen ließen. Er hatte das bei einigen der Grünwälder, aber auch bei den Rotburgern hautnah miterleben müssen, wie die Freundinnen seiner Kollegen mit anderen Spielern fremdgingen und sich daraufhin auf unschöne Weise trennten.

Weibliche Fans hatten sie mehr als genug und welcher Profifußballer freute sich nicht darüber. Aber unter ihnen jemanden zu finden, der es wirklich ernst mit ihnen meinte, war wie eine Nadel im Heuhaufen zu finden. Genzo musste diese Erfahrung zum Glück nicht machen. Seine letzte Beziehung lag Jahre zurück und hatte sich bis dahin nicht in irgendwelche Frauenabenteuer gestürzt. Nicht einmal One Night Stands hatten ihn gereizt. Dafür war er einfach nicht der Typ. Er erinnerte sich gern an seine erste und bis jetzt einzige Beziehung, die er führen durfte.

Damals lebte er in Hamburg und spielte für den FC Grünwald. Er war vierzehn, als er Nina kennen und lieben lernte. In dieser Zeit hatte er bereits begonnen sich einen Namen in Deutschland zu machen und sich einen Stammplatz bei der Mannschaft zu sichern. Es war alles andere als leicht gewesen, aber Nina war diejenige, die ihn immer unterstützt und motiviert hatte weiter am Ball zu bleiben und diese Hartnäckigkeit hatte sich letztendlich ausgezahlt. Sie führten eine sehr glückliche Beziehung, taten alles, was Paare nun mal machten und erlebte sogar mit ihr sein Erstes Mal. Perfekter hätte es für ihn damals nicht sein können, doch das Schicksal meinte es nicht gut mit ihnen.

Ihre Beziehung hielt nur ein Jahr, da Nina in den Vereinigten Staaten umziehen sollte, weil ihre Eltern dort ein Jobangebot hatten, den sie annahmen. Sie sprachen sich lange aus und kamen zu dem Schluss, dass eine Fernbeziehung für sie nicht in Frage käme. Sie gingen in Frieden auseinander, wünschten sich gegenseitig, dass ihre Träume in Erfüllung gingen und sahen sich das letzte Mal am Flughafen. Genzo war sehr bestürzt darüber, dass seine erste große Liebe so ein Ende nahm. Gleichzeitig aber war er froh darüber solch eine Erfahrung machen zu dürfen und hoffte für sie, dass sie in den USA jemand Nettes fand, der sie noch viel glücklicher machen konnte als er es je könnte.

»Mann, da denkt man, man könnte sich ein nettes Mädel anlachen, nur um dann enttäuscht zu sein«, hörte Genzo plötzlich Seaken sagen.

»Was soll man denn machen? Viele von denen sehen aber auch zum Anbeißen aus«, musste Coleman zugeben und musste dabei lachen.

»Eine hübsche Verpackung hat noch lange keinen schmackhaften Inhalt...«, murmelte Genzo in Gedanken und ignorierte Kalles fragenden Blick.

»Vielleicht solltet ihr anderswo auf Brautschau gehen?«, schlug Timur lächelnd vor. »Welche, die sich nicht als Influencer oder sonst was bezeichnen, sondern einfach nur... na ja... ganz normale Mädels sind? Die habe ich persönlich viel lieber um mich als diese gekünstelten Weiber, die mir oft im Blitzlichtgewitter begegnen. Da habt ihr viel mehr von, glaubt mir.«

Ein Anreiz, den die Sportler ernsthaft in Erwägung zogen.

»Vielleicht doch keine so schlechte Idee, Jungs«, Coleman und die anderen schienen ihm zuzustimmen.

Timur verabschiedete sich dann von der Mannschaft und trat den Rückzug zum Goldsteingestüt an. Während die Fußballer ihrerseits auf dem Weg nach Hause waren, rannte Genzo mit gepackter Sporttasche zum Reiter, der gerade ins Auto stieg.

»Tim, warte mal!«, hielt er ihn auf und legte seine Hand auf das silberfarbene Autodach. »Bist du auf dem Weg nach Hause?«

»Ja, wieso? Willst du dir das Gestüt anschauen?«

»Eigentlich wollte ich die Sache mit Elena klären und habe gehofft, dass sie heute auf dem Vereinsgelände kommt«, kratzte er sich verlegen am Kinn. »Und ich kann mir auch das Gestüt aus der Nähe ansehen. Ich habe bereits einen kleinen Einblick davon auf eurer Website bekommen und oh Mann! Pferd müsste man sein, um da leben zu dürfen.«

Die Männer lachten, dann stieg Genzo auf die Beifahrerseite ein und schmiss seine Sporttasche in den Rücksitz. Während der rund zehnminütigen Autofahrt über die weiten Felder beantwortete Timur jede Frage, die Genzo ihm rund um das Thema Pferd stellte. Der Keeper hörte aufmerksam zu. Er hätte nie gedacht, wie umfangreich und komplex die Pflege und Ausbildung der Pferde wirklich war. Ehrlich gesagt wusste er nicht, warum ihm dieses Thema auf einmal interessierte, aber das tat es.

»Und ich dachte immer, man sitzt einfach auf dem Sattel, zieht an den Zügeln und sagt dem Tier, wohin man reiten will«

»Oh, das hören wir Reiter absolut nicht gern«, kommentierte er lachend. »Beim Reiten geht es viel mehr als nur dem Pferd zu sagen, in welche Richtung es zu laufen hat. Es geht um Vertrauen und Respekt, welches man aufbaut. Das Pferd ist unser Freund. Es will unser Freund sein, ein Gefährte und Partner sein. So ein Band zwischen Pferd und Reiter kann niemals reißen, wenn beide sich ihr Vertrauen hart erarbeitet haben. Turnierpferde haben zum Teil ein hartes Leben. Nicht jeder Reiter sieht sein Pferd als Freund, sondern als Sportgerät an. Sie fordern von ihnen Leistung, die Tiere wollen leisten, aber wenn die Leistung über das Wohl des Pferdes liegt, hört da schon der Sportsgeist auf. Reiten ist ein Teamsport und wenn man verbissen an die Sache herangeht, kommt nicht weit und das tut weder dem Reiter noch dem Pferd gut.«

Genzo ließ die Worte auf sich wirken. So hatte er es nie gesehen und es machte ihn traurig, dass es auch in dieser Szene schwarze Schafe gab. Eigentlich sollte es ihn gar nicht überraschen. Es war doch überall so, dass, wenn es um viel Geld ging, nicht wenige über Leichen gingen.

»Deswegen tun wir Goldsteins alles, damit wir der Welt zeigen können, dass Reitsport auch toll sein kann und dass man durchaus mit gesunden, motivierten und vor allem glücklichen Pferden Turniere bestreiten und auch gewinnen kann. Ja, wir bilden Sportpferde aus. Das war schon seit der Gründung dieses Gestüts der Fall gewesen, aber sie dürfen und müssen sogar Pferd sein, damit sie voller Elan in den Training starten können und danach viel Freizeit haben, um mit anderen Pferden zusammen auf unserer Koppel zu grasen und zu spielen«

»Das ist schön zu hören, ehrlich«

»Tut auch unter anderem unserem Image gut, wenn jeder sieht, wie wir uns um die Tiere kümmern«, fügte er hinzu. »Schlechte Publicity können wir uns nicht leisten und die Anerkennung, die meine Familie sich hart erarbeitet hat, dürfen und wollen wir nicht wegen Negativschlagzeilen beflecken. Nicht, dass du jetzt denkst uns geht es nur darum! Uns geht es wirklich um die Pferde und in der turkmenischen Kultur haben sie einen extrem hohen Stellenwert«

»Ach tatsächlich?«

Stolz erzählte Timur einiges über das Land seiner Familie und über die besondere Verbindung zu den Pferden. Was sie für das Volk bedeuteten und dass selbst das Pferd immer zuerst freudig begrüßt wurde, ehe die Familienmitglieder dran kämen.

»Würdest du meine Schwester fragen, ob sie mich oder Dilas vor einem Brand retten würde, sie würde ohne Zögern das Pferd wählen.«

Er lachte und Genzo hatte für ihn nur einen schrägen Blick übrig. Ihm war schon zu Ohren gekommen, dass Reiterinnen eine besondere Bindung zu ihren behuften Lieblingen hatten, aber dass es in manchen Ländern so extrem sein konnte, hätte er nicht gedacht. Verrückte Pferdewelt, dachte er sich und sah wieder aus dem Fenster.

»Du hast doch etwas, Kumpel.«

Der Keeper warf ihm einen fragenden Seitenblick zu, als er auf halber Strecke kein Ton mehr von sich gab.

»Du schaust mir so aus, als wärst du gedanklich ganz woanders. Ist alles in Ordnung?«

»Na ja...«, begann er zu antworten, wusste jedoch nicht, ob er weitersagen sollte.

»Ich beiß' dich schon nicht, also wo drückt der Schuh?«

»Eigentlich geht es mich auch nichts an... und ich weiß nicht, ob ich da wirklich nachbohren soll...«

»Du meinst Elenas Ex – Geschichte, oder?«

Genzo traute sich nicht ihm zu antworten geschweige ihn anzusehen. Timur lächelte warm. Offenbar war es dem Spieler wichtig, wie es seiner kleinen Schwester ging. Sie kannten sich nicht einmal wirklich und machte sich jetzt schon Sorgen um sie.

»Och, ich denke ich kann es dir erzählen. Aber nur, weil du es bist.«

Sie erreichten ein elegantes, schwarzes und mit goldenen Ornamenten verziertes Tor, welches augenblicklich für den Wagen des Reiters geöffnet wurde und durch eine Allee fuhr. Schon von weitem konnte Genzo die riesige Reitanlage der Familie Goldstein entdecken. Pferde mit goldschimmerndem Fell konnte der Fußballer zwischen den üppigen Eichen grasen und munter galoppieren sehen.

»Jens Küpfer«, antwortete Timur lose. »So hieß ihr Exfreund. Er ist Sportjournalist und berichtet vorläufig über die Ereignisse rund um den Fußball. Selbsterklärend ist er begeisterter Fußballfan und in seiner Freizeit verbringt er auch ganz oft auf dem Platz – zusammen mit seinen Freunden«

»Ok, kein Vereinsmitglied also«

»Nö, dafür reichen seine Fähigkeiten bei weitem nicht aus, um als Profi wirklich durchzustarten. Du machst es ja hauptberuflich und stehst gefühlt den ganzen Tag auf dem Feld, aber für ihn als Sportjournalist fehlt einfach die Zeit dafür richtig zu spielen. Sie lernten sich auf einem Schützenfest kennen und verliebten sich schnell, aber ich hatte bei ihm von Beginn an ein mulmiges Gefühl gehabt, gleichzeitig wollte ich ihrem Glück nicht im Wege stehen. Er war ihr erster Freund und ich freute mich ja auch für sie, nur... ab da ging bei ihnen alles drunter und drüber«

»Wie das?«, fragte Genzo vorsichtig.

»Nun am Anfang unternahmen sie eine Menge zusammen und es schien, als wäre sie mit Jens glücklich gewesen, aber als Elena mehr Zeit für die Pflege und das Training von Dilas investierte, besonders dann, sobald Turniere anstanden, da begannen die ersten Probleme. Er fand es, in seinen Augen, unfair, dass sie mehr Zeit auf dem Gestüt als mit ihm verbrachte. Sie hatte Verständnis für seinen Unmut, aber zeitgleich hatte sie versucht ihm zu erklären, dass der Reitsport für sie kein Hobby, sondern Arbeit ist, mit dem sie ihr Geld verdient. Sie trainiert die Pferde, vermittelt sie zusammen mit unseren Eltern an Kunden, die unsere Tiere kaufen wollen, nimmt an Turnieren teil und kümmert sich um die Pflege der Ausrüstung. Natürlich haben wir dafür auch Personal, aber Elena besteht darauf, dass sie sich zumindest alleine um Dilly kümmert und dass das enorm zeitaufwändig ist, muss ich dir hoffentlich nicht erklären«

»Nein«, antwortete er leise. »Natürlich nicht«

»Jens sah das nicht wirklich ein und es gab dahingehend oft Streit zwischen ihnen. Um die Wogen irgendwie glätten zu können, hatte sie sogar begonnen etwas zurückzustecken, damit sie es ihm recht machen konnte, um gemeinsame Zeit zu verbringen. Meist gab sie ein Teil ihrer Arbeit an mich ab, damit sie Jens öfters sehen konnte, was ich ihr zuliebe tat. Ab da mochte ich ihn echt nicht und habe Elena darauf angesprochen, aber sie meinte, dass es nur eine Eingewöhnungsphase sei und dass ihr Ex für ihre Arbeit früher oder später Verständnis hätte. Kannst dir ja denken, was von seiner Seite aus kam, oder?«

»Ich habe da so eine vage Vermutung.«

Die Stimmung im Wagen wurde zunehmend dunkler. Selbst Genzo bekam ein unangenehmes Kribbeln im Bauch, während Timur ihm die Geschichte erzählte und behielt seinen festen und mittlerweile unterkühlten Blick weiter auf die Koppel gerichtet.

»Er nahm ihre Kompromissbereitschaft als selbstverständlich an. Glaubst du er hat das Gleiche auch für sie getan? Und wenn sie mal wirklich freie Tage hatte, um sich mit ihm zu treffen, hatte er sie immerzu vertröstet. War mit seinen Jungs verabredet oder musste länger Arbeiten. Oder aber sein Verleger brachte ihn für Events in irgendwelche Länder, um dort über den Fußball zu berichten. Ihm war es auch erlaubt jemandem mitzunehmen. Dass er nicht einmal daran dachte, Lenchen zu fragen, kam ihm nicht in den Sinn. Vermutlich glaubte er, sie hätte ohnehin keine Zeit für ihn, obwohl sie viel für ihn zurücksteckte, nur, um paradoxerweise Zeit mit ihm zu verbringen.« Timur stoppte, als er endlich das Gestüt erreichte und Genzo beinahe die Augen ausfielen, als er die luxuriöse Einrichtung in Natura bestaunte. Alles wirkte so edel und bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Gepflegte Hecken, die dunkle Fassade der Gebäude war sauber und selbst auf dem Boden zeigte sich kein einziger, schmutziger Fleck. Kurios, wenn man bedachte, dass es sich hier um eine Reitanlage handelte und er zumindest Strohreste auf den Boden vermutete.

Er beobachtete ein paar Menschen, die sich gerade um die Pferde kümmerten und manch einer leere Schubkarren in Richtung der Ställe führten, um die Boxen zu reinigen.

»Ziemlich cool hier, oder?«, lachte Timur und fuhr einem bedachten Durchgang entlang, wo ihnen ein Springbrunnen begrüßte und auf dem Sockel eine Pferdestatue thronte, die sich imposant auf den Hinterbeinen aufrichtete.

»Ich glaub ich hab den falschen Beruf ausgesucht«, sah er die Villen, die sich hinter dem Gestüt zeigten und auch zur Goldsteinfamilie gehörten.

»Ach was. Beim Fußball verdient man doch auch eine Menge.«

Der Wagen hielt dann vor einer Ausfahrt an und drehte den Zündschlüssel um. Sofort verstummte der Motor und der Wagen bewegte sich nicht mehr. Der Reiter blieb noch eine Weile still im Wagen sitzen und hatte noch immer eine Hand auf dem Lenkrad liegen.

»Tim?«

»Ich hasse diesen Kerl wirklich.«

Er kochte innerlich vor Wut und das konnte Genzo an seiner angespannten Körperhaltung sehen. Und nach allem, was er so von ihm hörte, konnte er ihn zu eintausend Prozent verstehen.

»Er hat sich wirklich einen Dreck für sie interessiert. Er hatte sogar mehrmals ihr Angebot abgelehnt sie mal auf dem Gestüt zu besuchen. Er wollte den "Pferdegestank" nicht an seiner Kleidung haben oder auch nur in der Nähe dieser Tiere kommen. Einmal hatte er sie ernsthaft gefragt, warum sie eine Reiterin ist und warum sie nicht etwas anderes hätte machen können. Das war der Moment, wo sie ernsthaft die Beziehung in Frage gestellt hatte und sich nicht sicher war, ob das noch mit ihm Sinn machte. Ich sagte ihr, was ich von ihrem tollen Freund hielt, riet ihr aber auf ihr Bauchgefühl zu hören. So kam es schließlich, dass sie ihren Ex spontan in seine Wohnung besuchen kam und... nun... ihn mit einer anderen Frau inflagranti erwischt hat. Und seit dem gehen sie getrennte Wege. Zum Glück, kann ich da nur sagen.«

Genzo war fassungslos. Ihm verschlug es wortwörtlich die Sprache. Er hatte absolut keine Ahnung, was er daraufhin sagen sollte. Dieser Scheißkerl, dachte er und er spürte, dass auch ihm langsam die Wut hochkam.

»Wenn... wenn er sich für ihren Sport nie wirklich interessiert hat«, setzte er in Ruhe an, nachdem er endlich in der Lage war wieder etwas zu sagen. »warum war er dann mit ihr zusammen?«

»Ach Genzo. Diese Frage ist selbsterklärend. Geld und Erfolg sind attraktiv. Und sie sieht obendrein auch noch Top aus. Welcher Mann hätte denn nicht gerne ein berühmtes Anhängsel an seiner Seite, mit dem er angeben kann? Hat auch seine Karriere ordentlich gepusht, als rauskam, dass er mit einer bekannten Turnierreiterin zusammen kam. Und das Schlimme dabei ist, er kam aus der Geschichte relativ gut weg – zumindest in der Öffentlichkeit«

»Was?!«, glaubte Genzo sich verhört zu haben. »Hat er sich irgendwie rausreden können oder was ist passiert?«

»Das war Elena«, sagte er schlicht. »Sie gab der Presse bekannt, dass sie einfach zu unterschiedlich waren und hat gemeint, dass sie „im Guten“ auseinandergegangen sind. Sie hat bewusst gelogen, damit die Presse vom eigentlichen Grund nichts mitbekommt. Sie wollte das Ganze einfach hinter sich haben und nicht von der ganzen Welt bemitleidet werden. Auch hat sie das gemacht, um ihn zu schützen, weil sie, trotz allem, was er ihr angetan hat, nicht wollte, dass er Probleme bekommt. Sie hat so viel für ihn getan und dafür so gut wie nichts von ihm verlangt, außer Respekt, Liebe und Zuneigung, die er ihr nicht wirklich gab. Es tat mir weh sie in ihrem Trennungsschmerz zu sehen, aber ich denke mir, dass sie darüber hinweg gekommen ist. Sie hat auch eingesehen, dass Jens rückblickend einfach ein totaler Vollidiot ist, der ein so tolles Mädchen hinterging. So eine wie Lenchen wird der Trottel nie wieder kriegen.«

Dem war nichts mehr hinzuzufügen. Der Keeper fand es bemerkenswert, wie viel Größe die junge Frau ihm gegenüber zeigte und trotz seiner miesen Masche ihn nicht vor der ganzen Welt vorgeführt hatte. Verdient hätte er es allemal. Er wusste nicht, ob er es jemals gekonnt hätte, wäre er an ihrer Stelle gewesen. Er bemerkte nicht einmal, wie er zu lächeln begann, wenn er auch nur ihren Namen hörte... oder an sie dachte.

»Tu mir ein Gefallen und sag ihr nix davon, okay? Ich hab es dir nur anvertraut, weil du wirklich in Ordnung bist... und du auch einer meiner Lieblingsspieler bei den Rotburgern bist.«

Genzo musste unweigerlich lachen und sah ihn an. »Jetzt muss ich dir ein paar Autogramme geben und ein Selfie mit dir machen. Und ich werde nichts verraten, versprochen. Danke für dein Vertrauen in mich. Ich habe jetzt ein völlig anderes Bild, was deine Schwester angeht«

»Na ja. Die Chancen stehen gut, dass ihr euch doch noch zusammenrauft und euch anfreundet. Ich merk dir an, dass du kein Beef mit ihr haben und du dich wirklich bei ihr entschuldigen willst.«

Dann öffnete Timur die Fahrertür und deutete Genzo damit an das Gleiche zu tun. Sie stiegen aus dem Wagen und der Reiter schloss ihn ab.

»So«, sagte er, während er sich kurz streckte und sich den Nacken ausgiebig rieb. »Dann wollen wir mal schauen, wo sich meine Lieblingsnervensäge aufhält.«

Friedensangebot

Aufmerksam sah er sich die leeren Pferdeboxen an, an denen er vorbeilief und war angenehm überrascht, dass der „Pferdegestank“ gar nicht schlimm war, wie immer behauptet. Viel mehr roch es nach normalem Heu und hatte schon befürchtet die Nase rümpfen zu müssen, als er mit Timur den Stalldurchgang Richtung Halle nutzten. Große Fenster am Dach ließen genügend Sonnenlicht hinein und am Abend taten die vielen Lampen an den Wänden ihr Übriges. Die beiden Männer grüßten die Mitarbeiter, die die Ställe ausmisteten oder die Ausrüstung reinigten.

»Da habt ihr keine Kosten und Mühen gescheut, um es hier für die Tiere so angenehm, wie möglich zu machen«

»War auch nicht billig«, witzelte er. »Aber, wenn ich sehe, wie gut es den Pferden geht, ist jeder Cent definitiv wert. Und unser Team ist auch das Beste, was uns passieren konnte. Richtig tolle Leute hier, für deren Mitarbeit wir ihnen unendlich dankbar sind. Ohne sie läuft hier einfach nix.«

Die Halle war direkt vor ihnen zu sehen. Man konnte bereits den leisen Klang von Musik hören, der nach außen drang und traten ein.

Sie sahen die Hindernisse, die kreuz und quer am Platz aufgestellt waren und das metallene Schimmern des Hengstes blitzte kurzzeitig in ihren Augen, als er gerade über eine Triplebarre sprang und leichtfüßig auf den weichen Boden landete.

Genzo beobachtete das Training genau. Dilas trabte elegant zum nächsten Hindernis und nahm umgehend Anlauf. Erneut sprang es auf Elenas' stummen Befehl hin über eine weitere Triplebarre hinweg.

»Das sieht so leicht aus«

»Ist es aber definitiv nicht«, merkte Timur an und verfolgte mit prüfendem Blick das Training, während sie die Musik, die aus den Boxen kam, kaum beachteten.

»Beim Springen setzt Können, Geduld, Ruhe, Konzentration und absolutes Vertrauen auf beiden Seiten voraus. Es kann dabei so vieles schief gehen, wenn Reiter und Pferd nicht perfekt aufeinander abgestimmt sind. Ist der Reiter verunsichert, überträgt sich das auch auf das Pferd. Gleichzeitig muss der Reiter auch dem Pferd die Angst vor einem Hindernis nehmen, sobald er merkt, dass es nervös ist. Man darf es nicht zwingen zu springen. Manche Reiter haben diesen Fehler teuer bezahlen müssen. Bestenfalls haben sie auf Turniere Strafpunkte kassiert, weil eine Stange sich von der Halterung gelöst und runter gefallen ist. Leider ist es auch vorgekommen, dass sich Pferde und auch Reiter bei solchen Sprüngen verletzt haben. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Meist, weil sie sich überschätzt und sich bei ihren Sprüngen verkalkuliert haben«

»Verstehe.«

Das letzte Hindernis, eine Doppelbarre, wurde überwunden und im lockeren Trab ritt Elena am Rand der Halle entlang. Sie entschleunigte die Geschwindigkeit, als sie die Männer entdeckte und ließ die Zügel los, sodass Dilas von selbst auf sie zuging.

»Timur«, grüßte sie ihn und begann ihren Reithelm abzunehmen. »Und der kleine Balljunge«

»Ponyhalterin«, grüßte Genzo zurück und sah den vorbeifliegenden Helm, den der Reiter mühelos mit beiden Händen fing. Schnaubend blieb Dilas direkt neben den Keeper stehen und streckte ihm neugierig seinen Kopf entgegen.

»Muss ich fragen, warum ihr hier seid?«

»Er ist so begeistert vom Reiten, dass er mit dem Gedanken spielt es mal auszuprobieren«, scherzte Timur und bekam prompt vom Keeper und Reiterin einen irritierenden Blick zugeworfen. »Nein er ist eigentlich hier, um mit dir zu reden«

»Das glaube ich schon eher, als das dieser Spinner hier Interesse hat auf ein Pferd zu steigen.« Elena ging von Dilas runter und kam auf den Fußballer zu.

»Du kamst nicht zum Vereinsgelände, also habe ich Timur gefragt, ob er mich mitnimmt. Wir beide haben uns gedacht, dass du dich hier im Gestüt aufhältst und wollte die Chance für ein Gespräch nutzen.«

Sie schloss die Augen. »Ich habe das dumpfe Gefühl, dass ich dabei keine allzu große Wahl habe«

»Lenchen, sei brav«

»Halt die Klappe, Tim.« Sie nahm die Zügel und ging an den Beiden vorbei.

»Elena, es tut mir wirklich leid, was ich gestern gesagt habe, ehrlich«, sah er sie an. »Ich möchte mich nicht mit dir streiten und ich habe auch eingesehen, dass ich mich nicht gerade wie ein Gentleman verhalten habe. Lass uns einfach noch einmal von Neuem beginnen. Was hältst du davon?«

Sie sah ihn eingehend an, doch überzeugt war sie noch immer nicht. Sie schnaubte nur und ließ die Männer eiskalt in der Halle stehen.

»Elena...«, seufzte Timur, als das hohle Klappern des Pferdes nicht mehr in der Halle erklang und sah etwas enttäuscht zu Genzo. Zu seiner Überraschung ließ er sich von dieser vergebenen Mühe nicht entmutigen und sah ein Glitzern von Entschlossenheit in seinen Augen aufblitzen, der alles andere als ans Aufgeben dachte.

Da ging er schon los und holte die junge Reiterin ganz schnell ein. »Du machst es mir echt nicht leicht, weißt du das?«

»Was willst du denn von mir hören?«, fauchte sie ihn überraschend an. »Dass ich deine Entschuldigung annehme? Fein! Ich nehme sie an!«

»Du nimmst das Ganze hier nicht ernst«

»Oh, da irrst du dich aber gewaltig, mein lieber Freund. Ich nehme das Ganze hier verdammt ernst und von meiner Seite aus haben wir uns nichts mehr zu sagen. Ich habe keine Zeit mich noch länger mit dir zu befassen, denn ich würde mein Gaul gerne von seiner Ausrüstung befreien und es auf die Koppel bringen... und dann muss ich mich auch noch für heute fertig machen.«

Daher wehte also der Wind. In diesem Streit ging es nicht um sie, sondern um Dilas. Es war immer nur um ihn gegangen. Timur hatte, was ihre Beziehung zu diesem Hengst anging, definitiv nicht übertrieben.

Wenn ich das eher gewusst hätte..., war Genzos Gedanke, ging schnurstracks an ihnen vorbei und blieb stehen. Elena hatte die Zügel etwas fester in der Hand, als Dilas kurz aufschreckte und seine Nüstern aufblähte.

»Oh Gott so langsam gehst du mir echt auf die –«

Sie schwieg augenblicklich, als sie sah, wie Genzo sich tief vor ihr verbeugte. Sie wollte etwas sagen, doch der Keeper ließ das nicht zu.

»Ich, Genzo Wakabayashi, bitte aufrichtig um eure Entschuldigung. Mein Verhalten gestern war unüberlegt und taktlos. Du hattest recht. Es war dumm und leichtsinnig von mir gewesen, wegen einer Kappe auf die Koppel zu gehen. Ich wollte weder dich noch Dilas beleidigen und hoffe inständig, dass du mir verzeihst. Und sollte das auch nicht reichen, werde ich einen anderen Weg finden, um es wieder gut zu machen.«

Da war die Reiterin aber platt. Sie hatte gehört, dass Japaner viel Wert auf Respekt und Anstand legten und ein verdammt großes Ehrgefühl besaßen. Bei Genzo schien das nicht anders zu sein und wenn er sich auf diese Weise entschuldigte, dann meinte er das verdammt ernst. Sie konnte es ihm ansehen, dass jedes einzelne Wort von ihm aufrichtig und ehrlich war, da konnte sie kaum noch böse auf ihn sein.

»Stell dich wieder hin, Genzo.«

Er gehorchte und sah ihr tief in die Augen. Sein Blick war ernst und auf eine Vergebung hoffend.

»Du machst es mir echt nicht leicht weiter sauer auf dich zu sein«, seufzte sie resigniert. »Besonders dann, wenn du solch schwere Geschütze auffährst.«

Das nahm er als Kompliment und musste unweigerlich schmunzeln.

»Also... alles wieder gut?«, wollte er vorsichtshalber wissen. Elena machte ein Gesicht, als sagte sie ihm, dass sie gerade innerlich darum kämpfte, ob sie ihn verzeihen sollte oder nicht.

»Vielleicht ein ganz kleines bisschen noch«

»Oh nein, da muss ich mich aber noch viel mehr anstrengen, damit du gar nicht mehr böse auf mich bist«

»Kann schon sein«, streckte sie ihm lächelnd die Zunge raus und ging an ihm vorbei. »Vermutlich werde ich aber für immer auf dich sauer sein, selbst, wenn wir uns blendend verstehen sollten.«

Ein schnelles Augenzwinkern an den stattlichen Keeper gerichtet, dann war sie mit Dilas in den Ställen verschwunden. Eine ganze Weile sah er ihr nach und konnte das breite Lächeln auf seinem Gesicht einfach nicht loswerden – und das wollte er auch nicht.

»Hiermit ist es amtlich, Gen«, kam Timur grinsend auf ihn zu und legte beherzt einen Arm um seine Schulter. »Sie hat dich von heute an gern.«
 

»Man ich bin so neidisch!«

Eine Gruppe aus drei jungen Frauen hatte sich in ein Café in der Stadtmitte verabredet. Das Wetter war sonnig und einzig weiße Wolken zogen im strahlend blauem Himmel gemütlich ihre Bahnen.

»Du bist eng mit den Rotburgern connected. Machst du mich vielleicht mit einigen von ihnen bekannt?«, lachte eine sommersprossige Brünette und zog demonstrativ ihre Sonnenbrille runter, um Elena mit ihren blauen Augen genauer anzusehen.

»Was denn? Hast du da wen im Visier, Kimmy?«, kam es von einer anderen Dame, die gegenüber der Brünetten saß. Sie war langgestreckt und ihr glattes Haar hing ihr wie ein schwarzer Vorhang über ihren Rücken.

»Du etwa nicht, Mina?«, wollte sie wissen und starrte zu ihrer Freundin. Kamina, wie sie eigentlich hieß, sah auf den ersten Blick wie eine Frau, die einem gewissen gehobenen Stand angehörte. Sie gab sich fein, förmlich und ganz und gar elitär, welches durch ihre maßgeschneiderten Kostüme in hellen, wenn auch bedeckten Farben, untermauert wurde. Jeder, der sie nicht kannte, hätte sie ohne Zögern für eine arrogante und geradezu hochnäsige Dame gehalten, die naserümpfend durch die Welt spazierte. Sie machte kein Geheimnis um ihren Stand und sie versteckte ihren Wohlstand nicht. Dass jedoch hinter der oberflächlichen Aufmache eine ehrliche, warmherzige und vor allem bodenständige Haut steckte, wussten nur die wenigsten, die bereit waren sie näher kennen zu lernen.

Kimmy war das komplette Gegenteil von Mina. Sie war direkt, flippig und recht einfach aus der Fassung zu bringen. Ihre fröhliche Art sah man ihr schon aus kilometerweite Entfernung an und verstand es schon immer den Charakter eines Menschen zu durchschauen. Daher war Kim die erste, die Elenas Exfreund auf Anhieb nicht mochte. Sie scheute sich nicht einmal davor zurück ihm das direkt ins Gesicht zu sagen, obwohl sie damit die Freundschaft zu Lenchen aufs Spiel setzte. Ein schlechtes Gewissen hatte sie dabei immer gehabt, doch diese verflog augenblicklich, als sie hörte, dass Elena sich von Jens getrennt hatte.

»Ob ich jemanden von diesen Jungs im Visier habe, fragst du mich?« Mina spitzte die Lippen und grübelte nach. »Nein, da fällt mir gerade keiner ein, tut mir leid, Liebes«

»Lüge~«, grinste Kimmy frech. »Ich kann mich erinnern, dass eine gewisse Dame es auf einen gewissen Chinesen abgesehen hat«

»Shunko Sho?«, mischte sich Elena ins Gespräch ein. »Ich weiß nicht. Er macht auf mich den Eindruck, als würde er jedem Mädchen, was er halbwegs interessant findet, schöne Augen machen wollen. Was soll unsere Kamina mit so einem Kerl anfangen?«

»Meine Reden«, stimmte sie der Reiterin zu und nippte an ihrer Kaffeetasse. »Aber mal was anderes, stimmt das jetzt wirklich, dass Timur sich mit dem Keeper angefreundet hat?«

»Scheint wohl so zu sein«, zuckte Elena mit den Schultern. »Zumindest haben sie eifrig gechattet und jetzt lungert er bei uns im Gestüt herum«

»Eigentlich sehr seltsam das Ganze«, setzte Mina an und bekam fragende Blicke ihrer Freundinnen zu sehen. »Die Rotburger hatten sich doch bis jetzt auch nie für das Reiten interessiert. Warum jetzt auf einmal?«

»Eigentlich eine gute Frage. Lenchen? Erklärung bitte.«

Sie musste schmunzeln bei der liebevollen Bitte Kimmys. Sie war schon ganz versessen darauf die Geschichte dahinter zu erfahren.

»Nun, ich wollte mit Dilas ausreiten und war deswegen auf dem Weg zur Koppel«, begann sie zu erzählen. »Da habe ich diesen Verrückten durch die Gegend stolpern sehen... und jagte meinen Dilly nach«

»Warte, warte«, fuchtelte Mina mit ihrer Hand und fuhr anschließend fort. »Du willst mir jetzt nicht ernsthaft erzählen, dass Genzo einfach in die Koppel eingestiegen ist?«

»Ich wünschte ich hätte in dem Moment mein Smartphone gezückt, um euch das Beweisvideo zu zeigen«, lachte sie.

»Was hatte er denn da zu Suchen gehabt?«

»Dilas hat ihm seine Kappe geklaut und damit herumgespielt. Fand der werte Keeper nicht so lustig... aber dafür ich«

Kamina seufzte schwer und konnte die Leichtsinnigkeit des Mannes nicht glauben. Kimmy jedoch musste sich zusammenreißen, um nicht das ganze Café zusammenzuschreien vor Lachen.

»Ich hoffe unser wagemutiger Spieler hatte dabei Erfolg«, fügte Kim hinzu.

»Nicht wirklich. Ich kam dazwischen und... na ja... wir haben uns „unterhalten“«

»So, so«, eckte Mina an.

»Er war nicht gerade nett zu Dilas gewesen und ihr wisst, wie ich zu meinem Pferd stehe. Mich kann er beleidigen, wie er will, aber wenn es um Dilly geht –«

»Bist du nicht mehr zu bremsen. So kennen wir unsere kleine Reiterin«

»Unsere Jungs werden die nächsten Tage wieder so richtig ranklotzen«, wechselte Kimmy plötzlich das Thema. »Rotburg gegen die anderen Vereine Deutschlands. Diese Matches sind immer die spannendsten, wie ich finde«

»Ja, da hast du völlig recht«, sagte Kamina ehrlich. Sie sah nicht danach aus, aber Fußball mochte sie schon immer recht gern. Lieblingsvereine hatte sie nie welche, dafür aber Spieler, die sie interessant fand. Und jetzt, da bald Grünwald gegen Rotburg spielte, war es für sie nicht einfach, welcher Mannschaft sie den Sieg mehr gönnte.

»Die Allianzarena wird wieder beben, das sag ich euch«

»Ist das wahr...«, gähnte Elena und stocherte an ihrem Erdbeerkuchen herum.

»Ich seh' schon, selbst der gutaussehende Keeper konnte dich nicht für Fußball begeistern«

»Das ist einfach ein dummer Sport, sonst nichts. Ich verstehe echt nicht, wie ihr euch für so etwas begeistern könnt«

»Es ist immer wieder aufregend zu sehen, wie die Mannschaften alles geben das Runde ins Eckige zu schießen«, merkte Kimmy euphorisch darauf an.

»Außerdem ist es immer wieder schön zu sehen, wie neue Spieler untereinander Freundschaften schließen«

»Das ist im Reitsport nicht anders, und?«

»Diese Emotionen, die Überhand nimmt. Das ganze Adrenalin, welches durch den Körper schießt. Wie kann dich das nicht begeistern?!«

»Das habe ich, wenn ich reite.«

Es war zum Mäusemelken. Von den Dreien war Kim die, die sich am meisten für den Fußball begeistern konnte. Trotz Elenas Beweggründe, warum sie diesen Sport nicht mochte, versuchte die aufgeweckte, junge Frau immer wieder ihre Abneigung dagegen abzulegen und dem Fußball eine zweite Chance zu geben. Ein Ziel, welches sie sich fest vornahm und nicht so schnell locker ließ.

»Du solltest sie nicht allzu sehr drängen, Kimmchen«, mahnte Mina sie mit sanfter Strenge. »Du weißt doch, was für eine Bedeutung der Fußball für sie hat«

»Das ist jetzt schon Monate her und Jens, dieser Volldepp, ist längst Geschichte... und ich kann verstehen, dass –«

»Was genau verstehst du denn, Kim?«, schnitt Elena ihr das Wort ab und war überraschend ernst. »Dass er sich eher die Zeit für sein Hobby nahm als für mich? Dass das Thema sich rund um diesen Sport drehte, selbst, wenn wir unsere seltenen gemeinsamen Moment miteinander hatten? Dass seine Arbeit oder seine Kumpels so viel wichtiger waren, dass er sich immer abstruse Ausreden erfinden musste mich nicht zu sehen? Dass ich für ihn nur vorzeigbar gewesen bin, weil ich eine Berühmtheit in der Reiterei bin? Dass er mich mit Undank bestraft hat, wenn ich mal keine Zeit für ihn hatte, aber von mir verlangte zurückzustecken, nur, damit er seinen Willen durchsetzt? Fußball hat so einiges kaputt gemacht und vielleicht war Jens auch schon vor unserer Beziehung ein kompletter Arsch gewesen, aber wenn ich diesen Sport sehe, muss ich unweigerlich an ihn denken und das schmerzt noch immer.«

Darauf erwiderten ihre Freundinnen nichts mehr. Sie wüssten nicht wie. Die Zeit mit Jens war nicht nur für Elena schwer gewesen. Selbst die Freundschaft der drei Mädchen stand vor einer Zerreißprobe. Streit gab es mehr als genug. Die Liebe und das Vertrauen, welche Elena für ihn aufbrachte, war aufrichtig. Etwas, was dieser Mann niemals verdient hatte und als sie ihren Freundinnen erzählte, was er ihr antat, war Kim die Erste, die sich merklich freute, dass es vorbei war. Dieser furchtbare Mensch hat endlich sein wahres Gesicht gezeigt, hatte sie einst gesagt und Elena stimmte ihr nach einiger Zeit zu. Jetzt war er nicht mehr ihr Problem und sie konnte sich endlich wieder der Reiterei widmen.

»Tut mir leid«, kam es kleinlaut von Lenchen. »Ich wollte dich nicht so anfahren«

»Ach was ist schon gegessen! Ich kann dich ja verstehen, warum dieser Typ ein rotes Tuch für dich ist. Bah, allein schon, wenn ich an seine blöde Visage denken muss, wird mir ganz anders«

»Dann denk nicht mehr an ihn, sondern an das Spiel, welchen die Rotburger in ein paar Tagen liefern werden.«

Und schon hatte Kim wieder ihr strahlendes Lächeln aufgesetzt, was ihre Freundinnen mit einem heiteren Lachen kommentierten.
 

»Danke fürs Mitnehmen, Mina.«

Die adrette Schwarzhaarige lächelte und winkte ihr zu, ehe sie ihren schnittigen Flitzer in Bewegung setzte und aus dem Gestüt fuhr. Elena wartete vor ihrer Haustür, bis ihre Freundin außer Sichtweite war und steckte ihren Hausschlüssel ins Schloss. Gerade, als sie die Tür öffnete, hörte sie lautes Gelächter hinter sich. Neugierig drehte sich in ihre Richtung und bereute es gleich wieder.

»Lenchen ist wieder da!«, rief ihr Bruder lautstark seiner Schwester entgegen und breitete vor Freude seine Arme aus. Genzo schmunzelte etwas, wobei seine Freude über ihr Wiedersehen nicht weniger war.

»Der Balljunge ist noch immer hier?«, sah sie ihn mit kecken Grinsen an.

»Dein Bruder hat mich eingeladen«, antwortete Genzo, während er mit Timur auf sie zuging. »Also darf ich hier sein und da kannst du leider nichts machen«

Sie seufzte demonstrativ und rollte gespielt enttäuscht mit den Augen. »Ich habe aber auch immer ein Pech«

»Jetzt bloß nicht streiten, ihr beiden«

»Wir streiten uns doch nicht«, beruhigte sie ihren Bruder. »Wir necken nur, das ist was völlig anderes.«

Dann war schon die Tür geöffnet und trat ein. Sie schloss sie nicht, sondern stand sperrangelweit für die Jungs offen. Eine stumme Einladung für sie einzutreten. Ohne großartig Zeit zu verlieren ging Timur hinein, Genzo jedoch zögerte und blieb draußen. Der Reiter bemerkte schnell, dass sein Freund vor der Tür stand und legte fragend den Kopf schief.

»Worauf wartest du denn? Komm doch rein«

»Ist das auch wirklich in Ordnung?«

»Jetzt komm schon rein, du Wundertorhüter!«, schallte es durch den Flur. Elena war in der Küche und packte dabei ihre Einkäufe aus.

Er betrat dann das Haus und schloss leise die Tür. Er war schon seit fast zehn Jahren in Deutschland und noch immer hatte er die Angewohnheit immer die Erlaubnis des Hauseigentümers zu erhalten, um einzutreten.

Sofort zog er sich die Schuhe aus und stellte sie neben den anderen hin, ehe er durch den Flur Richtung Wohnzimmer ging, wo ihm bereits eine offene Küche entgegenblickte und Elena etwas in der Küchentheke tat. Die warmen Farben harmonierten wunderbar mit den dunkleren Möbel und ließen das Innere der Villa heimisch wirken. Selbst hier konnte er viele Details der Reiterfamilie ausmachen. Bilder, Wanddekorationen und selbst kleine Pferdestatuen waren ordentlich auf Kommoden und Tische drapiert, um die Herkunft der Familie und ihres Berufes zu unterstreichen.

Ein vertrautes Geräusch klirrendem Geschirr lockte die Jungs zur Theke wie eine Motte das Licht. Timur war der erste, der seinen Kopf über die Theke streckte und sich seine braunen Augen weiteten, als er Kuchenstücke auf den Tellern sah.

»Bedient euch.« Elena hatte sich im Café zwei wirklich leckere Stücke eines erfrischenden Früchtekuchens gekauft. Sie wusste, dass Timur eine Naschkatze war und alles in sich hineinstopfte, was ordentlich Karies hätte verursachen können. Je süßer desto besser, daher hatte sie sich entschieden für ihn eine etwas „gesündere“ Variante zu nehmen. Es war zwar eine süße Köstlichkeit, aber zumindest war Obst als Belag dabei, wenn auch mit Gelatine ummantelt... und weiteren sündigen Zutaten, die unausgesprochen blieben.

»Die Sorte ist echt lecker. Probiert ruhig«, sagte sie und schob den Männern die Kuchenteller vor ihre Nase.

»Die sind... wirklich für uns?« Genzo war sichtlich überrascht über die Geste und sah abwechselnd zu Elena und dem Gebäck.

»Ich denke mir als eine Art Friedensangebot wäre das sicher nicht verkehrt. Ach ja ich soll dich von den Mädels grüßen lassen, Tim«

»Danke, das gebe ich gerne zurück«, schnappte dieser sich sogleich die Gabel und begann auch gleich ein kleines Stück davon zu naschen.

»Dankeschön...«, kam es beinahe nuschelnd aus dem Keeper heraus und hörte schon den Wasserkocher hinter Elena laufen.

»Tee?«

Sie nickten und da hatten sie wenig später zwei Tassen vor sich stehen.

»Du... hättest dir keine Umstände machen brauchen«

»Glaub ja nicht, dass ich das ab jetzt immer mache, Balljunge«, zwinkerte sie ihm frech grinsend zu. »So Jungs ich verschwinde ins Bad und hoffe, dass ich keinen Mucks von euch hören werde. Ich will mich entspannen und habe das Gefühl mein Stresspegel beginnt wieder anzusteigen«

»Oh was reizt dich denn jetzt schon wieder, liebstes Schwesterlein?«

»Du atmest und das treibt meinen Puls stetig in die Höhe.«

Diese geschwisterliche Sticheleien der Beiden. Das erinnerte ihn an damals, als seine Familie in Japan lebte. Er hatte sich oft mit Shuichi und Eiji, seine beiden älteren Brüder, angelegt, als sie ihn ärgerten. Er liebte sie abgöttisch, aber manchmal hätte er sich gewünscht ihre Köpfe wie einen Fußball ins Tor zu kicken, nur um seine Ruhe vor ihnen zu haben. Als dann jedoch seine Eltern ihre Firma nach London verlegten, nahmen sie die beiden Jungs mit zu sich. Genzo allerdings blieb in Japan, damit er seinen Abschluss machte. Tatsuo Mikami war in dieser Zeit nicht nur sein Trainer und Mentor gewesen. Er hatte sich auch um ihn als Menschen gekümmert und übernahm die komplette Verantwortung für ihn. Für viele wäre das ein einsames Leben ohne Familie gewesen, doch die vielen Besuche in London oder in Japan machten die einsamen Tage wieder wett.

»Hast du das gehört, Gen? Ich treibe ihren Puls in die Höhe«

»Wie kannst du nur?«, eckte er grinsend an und nippte an seiner Tasse. Er sah noch einmal zum Flur, den Elena nahm, ehe sein Blick wieder auf den Früchtekuchen ruhte.

Ein Friedensangebot, dachte er lächelnd. Das nehme ich doch sehr gerne an.

Alte Wunden

Das Training im rotburger Vereinsgelände war im vollen Gange. Heute stand ein Probespiel an, wo die Mannschaft sich in zwei Teams aufteilte und gegeneinander antrat. Sechs Spieler gegen sechs Spieler. Und wieder einmal fand ein Duell zweier Topspieler statt, deren Zusammenspiel bereits in Zeiten der Grünwälder bekannt war. Karl – Heinz Schneider, auch als „neuer deutscher Fußballkaiser“ bekannt gegen Genzo Wakabayashi, der in Japan als „Towartgenie“ galt.

»Schnapp ihn dir, Levin!«, rief Genzo dem Mittelfeldspieler zu. Das ließ sich der Schwede nicht zwei Mal sagen und flitzte wie ein Wiesel Richtung Schneider. Schnell lieferten sie sich ein spannendes Duell um den Ball, doch ganz der Captain der Rotburger konnte Karl Levin mühelos ausspielen und jagte Richtung Tor. Dann schoss er. Bevor der Ball sich dem Tor näherte, kam Minba, einer der Verteidiger gesprungen, und erwischte den Ball. Das runde Leder klatschte gegen seine Brust und schon war er unter den Stollen des Fußballers geklemmt.

»Sho! Knall das Ding rein!«, rief der nigerianische Spieler ihm zu und gab einen genialen Pass weit in der gegnerischen Hälfte.

»Auf dich ist echt Verlass, Minba«, freute sich Genzo und grinste breit. Seine Antwort kam schnell. Minba hob lässig seinen Daumen, Sho rauschte mit dem Ball Richtung Tor. Er wich gekonnt den beiden Verteidigern aus und schoss. Ein machtvoller Kick seitens des Chinesen, doch Drener war aufmerksam und sprintete los. Er krallte sich das Leder und landete galant nahe des Tores.

»Seit wann bist du so schnell geworden, Drener?«, witzelte Sho und konnte das selbstbewusste Lachen des Keepers nicht überhören.

Die Trainer indes sahen auf ihre Uhr. Die letzten Minuten waren noch zu spielen. Das fiel einigen Spielern auf und besonders Genzo und Karl sahen aufmerksam auf dem Spielfeldrand. Vielsagende Blicke wurden zwischen Keeper und Stürmer ausgetauscht und die umstehenden Spieler wussten sofort.

»Drener!«

»Hier kommt er, Chef!«

Ein kraftvoller Pass flog über das halbe Feld Richtung Schneider, der den Ball mit seiner breiten Brust auffing und direkt in Genzos grüne Augen starrte.

»Lasst ihn durch!«, rief Genzo und behielt den Blickkontakt seines Mannschaftskapitäns bei. Gesagt getan. Jeder Spieler in Genzos Team ließ den Fußballkaiser auf den Keeper zustürmen. Das war zu einem Ritual geworden. Die beiden Topspieler bestanden bei jedem Probespiel darauf immer gegeneinander anzutreten, was ihre Trainer wohlwollend zuließen. Es war unter den Rotburgern bekannt, dass die beiden Fußballer gerne spannende Duelle bestritten und sich untereinander zu übertreffen versuchten. Hin und wieder kam es vor, dass kleine Wetten abgeschlossen wurden, welcher von ihnen als Sieger vom Feld ging. Entweder Schneider erzielte ein Abschlusstor oder aber Wakabayashi hielt seine berüchtigten Feuerschüsse.

Karl erreichte die Linie des Strafraums und setzte zum Schuss an. »Mal schauen, ob du den hältst, Wakabayashi!«

»Du kannst mir so viele Bälle um die Ohren knallen, wie du willst«, erwiderte Genzo mit siegessicherem Grinsen. »Ich werde nie wieder zulassen, dass dir das noch einmal von außerhalb des Strafraums gelingt, hast du kapiert?«

Und der Ball jagte quer über den Strafraum. Für einen Moment blieb der Keeper stehen. Dann, als er erkannte, in welche Richtung der wuchtige Schuss flog, sprang er los. Er streckte seine Arme aus, doch er berührte den Ball nur mit seinen Fingern. Dennoch gelang es ihm die Flugbahn umzulenken, sodass dieser am Torpfosten abprallte und den Kasten verließ. Dieser Sieg galt eindeutig dem Japaner, was Karl mit müdem Lächeln anerkannte.

Und da kam auch schon der Schlusspfiff. Das bedeutete Feierabend für die Rotburger und die ersten machten sich bereits auf dem Weg in die Duschräume.

»Ihr beide könnt es aber auch nicht lassen, wie?« Rudi kam auf sie zu, mit einem wohligen Grinsen im gealterten Gesicht.

»Es macht Spaß und hilft uns besser zu werden, Vater«, erwiderte Karl nüchtern darauf und nahm dankend das Handtuch, welches ihm der Mann überreichte. »Und gerade, da wir in einigen Tagen gegen die Bremer antreten, möchte ich umso härter trainieren, damit ich es ihnen nicht leicht mache«

»So lobe ich es mir, mein Junge«, klopfte Rudi beherzt auf die Schulter seines Sohnes. »Und ich bin auch mit deinen Fortschritten mehr als zufrieden, Genzo. Seit du hier bei uns angefangen hast, hast du dich wahrlich gemacht. Ich bin froh, dass du dich dazu entschieden hast bei uns zu spielen. Mir ist nicht entgangen, dass auch andere große europäische Vereine Interesse hatten dich zu verpflichten«

»Es gab viele gute Angebote, das stimmt«, sagte Genzo und warf sich das Handtuch um die Schulter. »Aber ich habe mich in Deutschland so gut eingelebt, dass ich hier nicht weg wollte«

»Na das höre ich doch gern!«, meinte Rudi daraufhin. »Dennoch... es ist schade, dass es mit Grünwald nicht länger geklappt hat. Immerhin hat deine Fußballkarriere auf internationalen Boden dort angefangen«

»Ich bin dem Verein trotz der Umstände sehr dankbar für alles, was sie für mich getan haben.« Genzo stellte sich dann direkt vor Rudi und verbeugte sich respektvoll vor ihm. »Und ich möchte mich auch bei Ihnen bedanken für die Chance, die Sie mir gegeben haben für Rotburg zu spielen«

»Ach nicht doch, mein Junge. Es war für mich eine positive Überraschung gewesen einen so außergewöhnlichen Torwart kennen lernen zu dürfen. Und noch dazu ein Japaner. Ich weiß ja, dass der Fußball in deinem Land noch in den Kinderschuhen steckt, aber ich habe gesehen, dass es auch dort talentierte Spieler gibt, deren Potential gefördert werden muss«

»Es freut mich sehr das zu hören«

»So und nun ab mit euch unter die Dusche und geht Heim. Morgen früh geht es weiter mit dem Training, verstanden?«

»Ja, Trainer!«
 

»So, Jungs. Treffen wir uns alle nachher in unserer Stammkneipe?«, fragte Kalle in die Runde. Der heiße Dampf entwich aus den offenen Fenstern, während die Männer weiter damit beschäftigt waren den angesammelten Schweiß und Dreck aus ihren Körpern zu waschen.

»Normalerweise würde ich sagen „auf jeden Fall!“, aber dieses Mal nicht. Ihr wisst ja, meine Freundin hat heute Geburtstag und wenn ich ihr stecke, dass ich eher mit euch als mit ihr feiern gegangen bin, dann ist die Hölle los«

»Wo er recht hat?«, meinte Levin lächelnd dazu. »Dann müssen wir uns einen neuen Keeper suchen, der seinen Platz einnimmt.«

Die Jungs verloren sich im lautstarken Gelächter. Drener. Der zweite Torwart der Rotburger. Bevor Genzo zu ihnen kam, war er der Stammkeeper der Mannschaft gewesen, bis er den Platz für den Japaner räumen musste. Damals war es Genzo mulmig zumute und fühlte sich umgehend an seine Anfänge in Grünwald erinnert. Hans, einst der Stammtorwart des Vereins, fühlte sich um seine Position verdrängt und war ganz und gar nicht begeistert die Rolle des Ersatztorwarts zu übernehmen. Die beiden Jungs hatten ab da ein angespanntes Verhältnis, welches schlimmer wurde, als Genzo eine Sonderbehandlung von Karl bekam, da dieser ihn neben dem eigentlichen Training, noch zusätzlich forderte und förderte. Genzo zog daraufhin den Groll einiger Mannschaftskameraden auf sich und es dauerte nicht lange, bis es zu einem Handgemenge kam. Hans und drei weitere Spieler gingen auf Wakabayashi los, verprügelten ihn, doch er ließ sich nicht unterkriegen. Gleich am darauffolgenden Tag hatte er sich bei Hans und seinen Freunden revanchiert und ihm seine eigene Medizin schlucken lassen.

Die große Standpauke der Trainer und des Vorstands ließ nicht lange auf sich warten. Sie gingen ab den Tag nicht wieder aufeinander los, aber Freunde waren sie seitdem nie geworden und redeten nur über das Nötigste miteinander. Sonst gingen sie sich immer aus dem Weg.

Nicht so wie Drener. Ihm schien das Ganze absolut nichts auszumachen, dass er etwas zurücksteckte und Genzo den Vortritt überließ. Vermutlich lag es daran, dass das „Torwartgenie“ sich bereits einen Namen in der Fußballwelt machte und er großen Respekt vor seinem Teamkollegen und dessen Talent hatte. Genzo war mehr als froh darüber, dass er mit Drener keine Probleme hatte und er sich tatsächlich prima mit ihm verstand.

»Bestell Laura von uns viele Glückwünsche«, sagte Genzo und stellte die Dusche ab.

»Mach ich«, winkte Drener und verschwand in die Umkleide, um sich anzuziehen. Die Anderen zogen nach. Einzig Genzo und Karl waren die letzten, die noch in der Gemeinschaftsdusche standen und der Keeper den ersten Schritt Richtung Umkleide machte. Ein seltsamer Schauer fuhr durch den Körper des Fußballkaisers, als er die große Rückennarbe seines Freundes sah.

»Kalle, alles klar bei dir?«, wunderte sich Genzo, wo sein Kumpel abgeblieben ist und sah über seine breite Schulter hinweg nach hinten. »Du bist auf einmal so blass«

»... Es ist nichts, Gen«, schüttelte er leicht den Kopf, tupfte sich sporadisch das Wasser vom Körper ab und wickelte sein Handtuch um die Hüfte.

»Karl...«

»Es geht mir gut«, klopfte er ihm beruhigend auf die Schulter, doch der eindeutige Blick auf die Narbe war selbst für den Keeper nicht zu übersehen gewesen.

»Machst du dir noch immer Gedanken darüber?«

Schweigen. Gezo seufze leise.

»Hör auf damit. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass das ein Unfall gewesen ist und du dir nicht die –«

»Es war meine Schuld!«, unterbrach Schneider ihn abrupt und ging ein paar Schritte zurück. »Verdammtes Match. Wie konnte ich nur so versessen darauf gewesen sein diesen Ball annehmen zu wollen, obwohl du ihn locker gehalten hast? Du hast meinetwegen diese furchtbare Narbe bekommen und allein durch mein Leichtsinn hätte ich beinahe einen guten Freund verloren!«

Das belastete Schneider heute noch und er wusste nicht, ob er sich das jemals verzeihen könnte, was er tat. Das Spiel war spannend. Japan spielte in der Meisterschaft gegen Deutschland. Der Ball flog Richtung Tor, Genzo jedoch konnte ihn halten. Schneider kam ihm gefährlich nahe und beide reagierten zu spät. Die Stollen des Fußballkaisers rissen das Trikot am Rücken auf; eine tiefe Wunde brachte der Stürmer ihm bei. Blut floss in Strömen und es hörte nicht auf. Panik hatte sich im Stadion breit gemacht. Genzos Kameraden eilten auf ihn zu und drückten die Wunde mit ihren Trikots zu, in der Hoffnung, dass ihr alter Freund nicht vor ihren Augen verblutete. Und es war knapp. Genzo überlebte nur um Haaresbreite. Karl war an dem Tag wie ausgewechselt. Er war nicht mehr der gefasste, starke Spieler, den die Welt kannte. Er zog sich zurück, war in sich gekehrt, wagte es sogar nicht dem Keeper unter die Augen zu treten. Diese Schuldgefühle belasteten ihn heute noch und egal, wie oft Genzo ihn vergab, er selbst konnte sich nicht vergeben.

»Es hat mich sehr viel Nerven gekostet, um dich davon zu überzeugen, dass ich dir nicht böse bin oder dich hasse. Du bist, trotz des Unfalls, noch immer mein Freund und daran wird sich auch nichts ändern. Bitte höre auf dir weiter darüber Gedanken zu machen. Ich bin nicht gestorben, ich stehe vor dir und das auch noch halbnackt und frisch geduscht und mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Außerdem habe ich mich längst an die Narbe gewöhnt. Schaut gar nicht mal so übel aus, wie ich finde und ich mag sie mittlerweile«

»Genzo«

»Jetzt mach dich doch mal locker. Vergessen wir die ganze Sache einfach und sehen nach vorn. So schnell wirst du mich ohnehin nicht los, nur damit du es weißt.«

Dann ging der Keeper davon und verschwand in die Umkleide. Eine Weile stand Karl wortlos da, beobachtete den Gang, den Genzo nahm. Er hatte recht mit dem, was er sagte. Dennoch war das alles andere als leicht mit sich damit im Reinen zu sein. Er hoffte es. Er hoffte es inständig, dass er seinen Freund nicht mehr ohne dieses dumpfe Gefühl gegenübertritt, wie es seit dem Spiel der Fall war. Über diese Zeit hatte er die Fassade des typischen Karl – Heinz Schneider, den alle Welt kannte, aufrechterhalten. Doch einzig Genzo wusste, dass hinter der Fassade noch immer der von Schuld geplagte Mann steckte, von dem sich der Fußballkaiser einfach nicht lösen konnte. Er hasste es. Er hasste diesen Tag, als es passierte. Er hasste seine dumme Entscheidung den Ball annehmen zu wollen, als Genzo ihn locker fangen konnte. Er hasste den bemitleidenswerten Anblick, den er anderen bereitete. Er hasste es seinem Freund so etwas furchtbares angetan zu haben. Er hasste sich selbst, weil er derjenige war, der ihn beinahe tötete. Und er hasste es, dass er nicht die selbe Größe besaß wie er und einfach nicht loslassen konnte.

Genzo, dachte er und verharrte noch immer an Ort und Stelle Er spürte, wie sich langsam ein Kloß in seinem Hals bildete und seine Atmung schwerer wurde. Wieso hasst du mich nicht? Du hast jedes Recht dazu mich zu verabscheuen, also tu es, verdammt nochmal!
 

In der früh war Elena schon längst auf den Beinen und joggte wie jeden Morgen ihre Runde, ehe sie mit ihrer eigentlichen Arbeit begann. Mit schwarzem Sportanzug und aschblondem Pferdezopf lief sie den Feldweg nahe des Gestüts entlang. Die kalte Morgenluft ließ ihre hellen Wangen erröten und ihre Lungen auffrischen. Letzte Nacht hatte es einen leichten Schauer gegeben und die durchnässte Straße konkurrierte mit dem Morgentau.

Überzeugt davon, dass keine Menschenseele in ihrer Nähe war, bemerkte sie plötzlich einen langgezogenen Schatten neben sich, der rasant an Größe zunahm. Kurz sah sie nach hinten und schon begann das Augenrollen.

»Das darf doch nicht wahr sein...«

»Hallo, Ponyhalterin!«, winkte ein gut gelaunter Keeper ihr zu und war auch neben sie geschritten. »Ich hoffe du hast gut geschlafen? Hab dich hier noch nie gesehen«

»Die Strecke laufe ich hin und wieder«, meinte sie lasch. »Du probierst wohl gerne einige Wege zum Laufen aus, oder?«

»Kann man so sagen, ja«, erwiderte er kurz darauf. »Jetzt habe ich einen Grund mehr diese Strecke zu nehmen«

Ich ahne, was jetzt gleich kommt, dachte sie und gab sich große Mühe ihre Mundwinkel unten zu lassen.

»Um dich weiter mit meiner Anwesenheit zu beehren.«

Elena lachte so laut, dass sie beinahe über ihre eigenen Füße gestolpert wäre. Kurz stützte sie sich auf einem kleinen Holzpfahl ab und hielt sich mit der anderen Hand die Seite. Sie konnte ihm nicht antworten. Ihr Lachen ließ es nicht zu.

»Ach komm, als würde es dich nicht freuen mich zu sehen«, grinste Genzo und stemmte selbstbewusst seine Hände auf die Hüfte. »Und sag mir nicht, dass dir unsere Gespräche nicht gefallen haben, die wir führen. Ganz zu schweigen von den ganzen Witzen und Blödeleien mit den Jungs, als sie „rein zufällig“ in den Talk rein schlitterten, sobald du drin warst«

»Wieso nochmal habe ich deine Servereinladung angenommen?« Elena hätte sich in den Hintern beißen können, musste aber dennoch grinsen, als sie an die anregenden Gespräche im beliebten Onlinedienst Discord denken musste. Die Rotburger hatten ihren eigenen Server, den sie vorrangig privat hielten und andere Fußballkollegen aus aller Welt einluden, doch nicht selten kam es vor, dass auch Freunde und Bekannte der Spieler als Gäste im Server kamen und sich dort, neben dem Fußball, auch über andere Themen austauschten und neue Freundschaften knüpften.

Elena war beeindruckt, dass ihr „Rotburger Eck“, wie die Mannschaft den Server taufte, eine beachtliche Mitgliederzahl auf mehrere hundert belief. Für einen privaten Server eine ordentliche Leistung und die ganzen bekannten Fußballer erst, die sich dort tummelten. Sogar einige japanische Spieler waren drin gewesen, mit denen sich Genzo sehr oft unterhielt. Alte Freunde aus Kindertagen und zusätzlich Teamkollegen, wie er sagte. Das war ihr erst vorgestern aufgefallen, als sie sein Icon, eine schicke Vektorgrafik einer roten Kappe, wo darauf ein schwarzes „W“ zu sehen war, mit sieben weiteren Spielern im Talk drin war. Einige von ihnen hatten ihre richtigen Namen benutzt und sie wusste bereits, um welche Jungs es sich dabei handelte.

»Ihr seid solche Quatschköpfe«, kicherte sie, als sie an die Rotburger dachte.

»Na ja. Jungs sind nun mal Jungs, wie man so schön sagt«

»Ja«, stimmte sie ihm nahtlos zu. »Besonders dann, wenn zu später Stunde noch „ganz besondere Themen“ aufkommen, die nicht ganz jugendfrei sind, wenn du verstehst«

»Ehrlich, das ist nicht meine Schuld, wenn das manchmal so ausartet. So einer bin ich echt nicht!«, erklärte er sich.

»Du hast bei den zweideutigen Fußballfloskeln mitgelacht und auch noch selbst welche hinzugefügt, also jetzt tu mal hier nicht einen auf braver Chorknabe, du Perversling«

»Du bist aber auch nicht gerade besser, Madame«

»Keine Ahnung, was du meinst.«

»Aber sicher doch«, grinste er frech und bekam prompt einen kleinen Schlag auf den Arm spendiert. »Wie war das noch mit „Es rauscht von hinten rein...“?«

Da lachten sie wieder und setzten gemeinsam ihre Joggingrunde fort. So sehr der Keeper die Idee anregend fand mit Elena jeden Morgen zu laufen, fragen wollte er sie dennoch. Noch mehr freute er sich, als die Reiterin ohne Zögern zustimmte öfters gemeinsam einige Runden zu drehen.

Neben ein paar banalen Gesprächen war Genzo nach einer Weile unerwartet still. Er sah merklich oft seinen Schatten vor sich an und atmete aus, als wolle er etwas sagen.

»Stimmt etwas nicht?« Elena bemerkte, wie der Keeper nach dieser Frage langsamer wurde und schließlich stehen blieb. Seine grünen Augen dabei weiter auf den Boden gerichtet.

»Genzo?«

»Bitte entschuldige. Ich bin gedanklich gerade... ganz woanders«

»Es ist etwas vorgefallen, oder?«, kam sie auf ihn zu. »Möchtest du darüber sprechen?«

»Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wie ich anfangen soll«

»Vielleicht sollten wir uns erst einmal setzen?«, deutete Elena mit einem Kopfnicken auf eine Bank, die unter ein paar Bäumen stand. Er nickte und beide setzten sich.

»Ich weiß, wir kennen uns eigentlich seit knapp einer Woche, aber das bedeutet nicht, dass ich kein offenes Ohr für deine Probleme habe. Egal, was es auch ist, du kannst mir ruhig sagen, was dich beschäftigt«

Er nahm es zur Kenntnis und dankte ihr im Stillen dafür.

»Es geht um die WM letztes Jahr.«

Kurz murmelte sie nachdenklich, ehe es ihr wieder einfiel. »Oh richtig. Da hast du im Finale mit deinem japanischen Team gegen Deutschland gespielt, oder?«

»Ja. Und du hast sicher den Unfall mitbekommen, der im Spiel stattfand.«

»Wie könnte man so etwas nur vergessen?«

Der Unfall schockierte die ganze Welt. Während des Finalspiels verletzte Karl – Heinz Japans Topkeeper schwer, sodass das Spiel kurzzeitig unterbrochen war. So schnell der Krankenwagen fuhr wurde Genzo in die Notaufnahme gebracht. Sogar eine Bluttransfusion war notwendig gewesen, um sein Leben zu retten. Über kaum ein anderes Thema wurde in den Sportnachrichten gesprochen wie um die Gesundheit des beliebten Torhüters. Nahezu jeder, ob Fußballfan oder keiner, bangte um sein Leben. Jeder wollte, dass er überlebte. Jeder hoffte, dass er überlebte.

»Ich habe die WM kaum verfolgt, aber selbst das hat mir angst gemacht und hab alle Nachrichten darüber verfolgt und dir alle Daumen gedrückt, dass du es schaffst«

»Karl nimmt das heute noch ziemlich mit«, kam er zum Punkt und knetete unruhig seine Finger. »Und er hatte es in dieser Zeit schon schwer genug gehabt«

»Ja, ich erinnere mich. Er wurde deswegen von vielen angefeindet. So furchtbar«

»Unser ganzes Team stand hinter ihm. Der Fußballverband, andere Mannschaften und sogar meine Leute haben ihn in Schutz genommen. Sie alle wussten, dass das ein Unfall gewesen ist und ihm keine Schuld trifft. Karl ist ein Typ, dem solche Nachrichten nicht nahegehen. Ihm ist eigentlich egal, was Wildfremde von ihm halten. Aber als die Hassnachrichten sich rasant verbreiteten und drohten zu eskalieren, fühlte er sich an damals zurückversetzt, als es Ärger mit dem Grünwald – Verein gab, und das hat ihm richtig zu Schaffen gemacht, sodass er sich für eine Weile vom Fußball distanzierte. Das Spiel, welches wir in ein paar Tagen gegen unseren ersten Vereinsgegner Werder Bremen bestreiten, sollte sein Comeback sein«

»Du meinst also er war seit der WM in keinem offiziellen Spiel mehr zu sehen?«

»Nein«, antwortete Genzo ausdruckslos. »Er brauchte Ruhe, um das Ganze zu verarbeiten. Der Verein hat ihn daraufhin auf unbestimmte Zeit freigestellt, trainiert hat er aber dennoch wie verrückt mit uns und das tat ihm wirklich gut. Du weißt ja, wie das ist. Wir Fußballer brauchen unseren Sport und unser Kalle hatte es mehr als dringend nötig gehabt«

»Ohne euren kleinen Freund seid ihr nur ein halber Mensch«, lächelte sie und Genzo erkannte die Ehrlichkeit hinter den Worten.

»Und... wie geht es ihm jetzt?«, fragte sie vorsichtig.

»Er macht sich noch immer Vorwürfe«, seufzte der Keeper müde vom Thema. »Neulich in der Gemeinschaftsdusche hat er wieder meine Narbe gesehen und anscheinend kam das wieder hoch. Ich hab ihm aber immer wieder gesagt, dass ich ihn dafür niemals hassen werde, weil das ein Unfall war. Ich hoffe nur, dass er das eines Tages doch überwinden wird. Sorgen mache ich mir dahingehend immer mal wieder«

»Er ist doch dein Freund. Ich würde mich wundern, wenn du dir keine Gedanken um sein Wohlergehen machst«

»Ja, das stimmt«

»Ist er deswegen in Therapie? Ich mein, das ist kein simpler Zusammenstoß zwischen zwei Fußballern gewesen. Das war schon etwas Größeres, was durchaus traumatisch ist«

»Ja, ist er tatsächlich«, antwortete Genzo erleichtert. »Es bessert sich, aber manchmal gibt es diese kleinen Rückfälle wie neulich, nur sind sie zum Glück viel weniger und nicht mehr so extrem geworden wie zu Beginn«

»Das ist wirklich gut zu hören, wirklich. Ich hoffe sehr, dass Kalle das komplett überwinden und damit abschließen kann. Das ist etwas, was ihr euch auch als Freunde und Kollegen für ihn wünscht. Dass er wieder der wird, den ihr kennt«

»Ja.«

Stille hatte sich zwischen ihnen gelegt, während sie wortlos auf der Bank saßen und ins Nichts starrten.

»Danke für's Zuhören, Elena«, kam es rundheraus vom Keeper.

»Nicht der Rede wert«, erwiderte sie. »Das Gespräch bleibt unter uns, falls du fragen solltest«

»Ja, das... ist wirklich für den Moment besser so, finde ich«

»Dann weiß ich Bescheid«, sagte sie und stand wieder auf. »Und vergiss nicht, ich habe immer ein offenes Ohr für gewisse Balljungen, die mir ihr Herz ausschütten wollen.«

Genzo lachte leise und erhob sich ebenfalls von seinem Platz. »Das freut mich aber ungemein, Ponyhalterin.«

Es tat gut mit ihr darüber gesprochen zu haben. Genau genommen wusste er nicht, warum er mit ihr darüber redete. Lange kannten sie sich nicht, wie sie selbst anmerkte und dennoch fühlte es sich richtig an sich ihr anzuvertrauen. Ihm ging es besser und beide hofften, dass es auch Karl eines Tages so erging. Wie hieß es doch gleich? Alte Wunden sollte man nicht aufreißen, sondern alles tun, damit sie verheilen. Und genau das war es, was der junge Fußballkaiser brauchte: Heilung.

Unliebsame Begegnung

Es war soweit. Das Stadion tobte. Heute begann das Bundesligaspiel Rotburg gegen Werder Bremen. Rudi war mit der Mannschaft noch in der Kabine, die sich um ihren Trainer versammelten und gar nicht mehr abwarten konnten aufs Feld zu stürmen.

»Also, Jungs. Denkt dran, warum wir hier sind. Gebt alles und sorgt dafür, dass wir weiter die Tabellenspitze anführen!«

Das Team johlte und war auch schon aus der Kabine verschwunden.

»Karl«, sah Rudi den jungen Fußballkaiser langsam auf die Tür zugehen. Stumm blieb er vor dieser stehen und hatte bereits die Hand auf die Klinke gelegt.

»Was gibt es, Vater?«

»Ich spreche jetzt nicht als dein Trainer zu dir, Sohn.« Rudi trat auf ihn zu und legte seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes. »Wie fühlst du dich?«

Er zögerte zu antworten. »Aufgeregt, denke ich«

»Na, wer wäre das nicht bei so einem Spiel, oder?«, lachte er sanft und versuchte die Stimmung etwas aufzulockern. Noch immer verharrten sie in der Position, ehe die Stille wieder durch ein paar Wortwechsel unterbrochen wurde.

»Ich bin stolz auf dich, Karl«, kam er direkt auf den Punkt. »Ich weiß, wie viel Kraft und Mühe es dich gekostet hat, um es in den Griff zu bekommen und du hast wirklich großartige Fortschritte gemacht. Die... „Pause“ tat dir sehr gut«

»Es ist auch besser geworden«, sah Karl seinen Vater eingehend an. »Aber...«

»Du hast manchmal diese Phasen, oder?«

Karls Schweigen war Antwort genug. Behutsam nahm er seinen Sohn in die Arme und strich sanft über seinen Rücken. »Schlimme Dinge passieren. Egal, ob man es will oder nicht. Sie passieren und es liegt an uns selbst, wie wir damit umgehen.«

An diese Worte erinnerte sich Karl gut. Seine Therapeutin war in der Hinsicht schonungslos ehrlich und es kam der Moment, wo in dem jungen Fußballer alle Dämme brachen. Als er die Gefühle freien Lauf ließ, war das wie ein Befreiungsschlag gewesen. Er zog sich lange Zeit zurück, verschloss seine Gefühle viel mehr, als gewöhnlich und nahm kaum am Leben teil. Die Schuld hatte sich so lange in seinem Inneren festgesetzt und wurde unerträglich, sobald Genzo in seiner Nähe war. Er ging ihm aus dem Weg, sprach kaum mit ihm und weigerte sich gar mit ihm zu trainieren, ohne an das Bild an dem schrecklichen Tag zu denken, welches sich tief in seiner Seele einbrannte. Die Anfangsphase der Therapie war das schwierige gewesen. Er hatte sich zunächst dagegen gesträubt überhaupt dorthin zu gehen, doch die Hartnäckigkeit seiner Freunde und Familie ließ ihn widerwillig umstimmen – und er war ihnen unendlich dankbar dafür. Es wurde besser, das sah er langsam ein, aber jeder wusste, dass diese Wunde nicht innerhalb eines Jahres komplett heilen konnte. Doch keiner hatte Zweifel daran, dass er eines Tages auch diese Hürde meistern und es für ihn nur noch bergauf ginge. Diesen Weg ging er nicht alleine, sondern mit jenen, die ihm am meisten bedeuteten.

»Zeit für mich zu spielen«, drückte sich Karl sachte, aber bestimmend von seinem Vater weg, um ihn mit entschlossenen Augen anzusehen.

»Zeig den bremer Amateuren, wer hier der wahre Meister des Fußballs ist«

»Ja, Trainer!«
 

Sie erreichten das Feld. Die Rotburger warteten sehnsüchtig auf ihren Kapitän. Das Publikum jubelte ihrem Fußballkaiser zu. Die Freude ihn wieder in einem öffentlichen Spiel zu sehen, war gigantisch. Das Blitzlichtgewitter wollte einfach nicht aufhören. Die Spieler betraten das Feld und der Gast hatte Anstoß. Die Bremer stürmten auf die feindliche Seite zu, der Ball rotierte wild unter den Füßen der Kicker, dann kam der Kaiser höchstselbst und schnappte sich mit einer gekonnten Grätsche den Ball.

Stolz stand er mit dem rundem Leder unter seinem Schuh mitten am Feld, beobachtete die Spieler genau, dann spurtete er los. Karl spielte jeden Gegner mit lächerlicher Einfachheit aus. Es schien, als würde der Ball förmlich an seinem Fuß kleben und dem Fußballkaiser nicht von seiner Seite weichen wollen.

Er flog regelrecht über das Feld, die Menge feuerte ihren geliebten Kaiser an. Er näherte sich gefährlich nahe dem Strafraum, der Keeper machte sich zum Sprung bereit und da fegte der Ball auf das Tor zu. Keine Chance für den Keeper. Der Ball zappelte im Netz und das Stadion bebte. Ihr Kaiser war wiedergekehrt und erzielte in wenigen Augenblicken den Führungstreffer für die Rotburger!

Minba, Coleman und auch Sho eilten ungestüm auf ihren Kapitän zu, bejubelten und feierten mit ihm um die Wette. Während seine Kollegen vor Freude beinahe überquollen, lächelte Karl demütig.

»Als wäre er nie weg gewesen.« Kim saß mit Kamina in der vorderen Reihe des Stadions. Beide in rotburger Trikots gekleidet. »Kalle hat einfach das Ding reingehauen!«

»Was hast du denn anderes erwartet, Liebes?«, kicherte sie und versuchte aufgrund der gewaltigen Stimmung vernünftig mit ihrer Freundin zu sprechen. »Selbst ohne ihren Kaiser sind die Jungs schwer zu schlagen«

»Ich bin so froh, dass er wieder da ist. Es war einfach nicht das Gleiche ohne ihn«

»Ja«, lächelte Mina beinahe wehmütig. »Die Ruhe schien ihm sichtlich gut getan zu haben. Und selbst die Bremer scheinen sich zu freuen, dass Karl wieder da ist«

»Obwohl die gerade mit 1:0 im Rückstand liegen«

»Dann müssen sie sich mehr anstrengen, wenn sie gewinnen wollen.«

Die Frauen sahen sich einander an und begannen lauthals zu lachen. Als würden die Bremer es auch nur Ansatzweise schaffen die Rotburger zu besiegen.

»Es ist schade, dass Lenchen nicht hier ist«, schmollte Kim ein wenig, setzte jedoch wieder ein breites Grinsen auf, als Minba den Ball annahm und ihn weit auf das gegnerische Feld kickte.

»Es ist eher schade, dass Timur nicht da ist, aber auch die beiden haben ein wichtiges Turnier heute, an dem sie teilnehmen wollten«

»Ein schlechtes Gewissen habe ich trotzdem«, sagte Kim. »Auch, wenn Lenchen meinte, dass es in Ordnung wäre, wenn ich die Rotburger bei ihrem Spiel zu schaue und sie anfeuere«

»Es soll nur ein kleines Turnier ohne viel Tam Tam sein«, meinte Kamina nachdenklich. »Es ist nicht wie das CHIO, wo es wirklich eine Weltmeisterschaft ist.«

Sie stoppte plötzlich, als sie Sho mit dem Ball entdeckte. Ihre blassblauen Augen hafteten auf dem athletischen Mann, der wieselflink über das Feld flitzte. So schnell und diese Eleganz, die sie selten bei einem Mann fand. Sie bemerkte ihr schmales Lächeln nicht, welches sich auf ihrem Gesicht bildete – anders, als bei Kimmy, die ihre Freundin grinsend von der Seite anstarrte und zu Kichern begann.

»So viel zu „ich interessiere mich nicht für ihn“«

»W – wie bitte?«, wurde die adrette Dame von ihren Gedanken gerissen und sah fragend zur jungen Frau neben sich. »Hast du was gesagt?«

»Also dafür, dass du selber sagst, dass dir der gute Sho vollkommen gleich ist, kannst du gar nicht genug von seinem Anblick haben.«

Während das quirlige Mädchen ihr Kichern hinter ihren Händen verbarg war Kamina gerade am Grübeln, was sie damit meinte. Sie sah erneut auf das Feld und wieder blieb ihr Blick am hübschen Chinesen haften, dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen und ihr Gesicht nahm prompt eine ähnliche Farbe an wie das rotburger Trikot.

»Du hast doch einen Knall!«

Jetzt brach es aus Kimmy aus und hielt sich den Bauch vor Lachen.

»Ich habe nichts für ihn übrig!«, machte sie ihren Standpunkt dahingehend klar. »Und außerdem muss ich mich um neue Kollektionen kümmern, die ich mit meiner Schwester vorbereite. Da kann ich mir momentan keine Klette ans Bein binden, die mich nur bei meiner Arbeit stört«

»Das war jetzt gemein«, kicherte Kimmy weiter. »Und so weit ich weiß ist eure Winterkollektion so gut wie fertig, also an Zeitdruck mangelt es sicher nicht«

»Ach sei still und schau dir weiter das Spiel an.«

Kamina war Schneiderin und entwarf zusammen mit ihrer Schwester Ahri maßgeschneiderte Kleidung für vornehmlich wohlhabende Kunden. Der Aufwand ihrer Designs war groß, da sie für extravagante Entwürfe bekannt waren, die es sonst nirgends zu finden gab. Das lange Warten jedoch zahlte sich immer aus und so kam es, dass selbst die Prominenz für eine Jacke gut mehrere Monate warten musste, bis sie fertig war. Perfektion beanspruchte Zeit und die Schwestern konnten sich diese auch erlauben - und pochten auch stets darauf.

Der Halbzeitpfiff hallte plötzlich im ganzen Stadion und es stand weiter 1:0 für Rotburg. Viele Spieler gingen zu ihren Bänken und einige andere wiederum wurden von diversen Reportern belagert, wurden interviewt und Fotos mit ihnen geschossen. Karl wurde dabei besonders in Augenschein genommen. Seit der WM vergangenes Jahr war er in keinem anderen Spiel mehr zu sehen gewesen und das Spiel heute gegen Werder Bremen sollte sein Comeback sein. Er blieb ruhig und gefasst, beantwortete jede Frage der Reporter, die ihm gestellt wurde, wie immer professionell. Als dann aber das Thema mit dem Unfall zu Sprache kam und ob es ihm nachhaltig beeinflusst hatte, wurde die Antwort prompt von seinem Vater abgenommen. Ihm ginge es gut und die Pause hat sein übriges getan. Die ganze Mannschaft und generell die ganze Fußballwelt stand hinter dem Kaiser. Als der Fragende sich lächelnd von ihnen verabschiedete, um mit den anderen Spielern zu sprechen, kam Rudi und Karl ein weiterer Reporter entgegen, der das Vergnügen hatte ein paar Worte mit dem Starspieler zu wechseln. Das plötzliche Auftauchen dieses einen Mannes ließ eine sommersprossige Frau schockiert zurück, als sie ihn von der Zuschauertribüne aus im Augenwinkel bemerkte.

»Was ist los, Kim?«, fragte Kamina verwundert.

Sie sagte nichts. Stattdessen nickte sie nur mit dem Kopf in Richtung des Mannes, der weiter mit Karl in aller Vertrautheit sprach. Die Schneiderin sah in die Richtung – und atmete scharf ein.

»Ich glaub das nicht«

»Elena wird durchdrehen, wenn sie erfährt, dass Jens hier ist«

»Du machst dir wegen Elena Sorgen?« Kamina brachte Kimmy dazu sie richtig anzusehen. »Sie ist harmlos verglichen mit Timur. Hast du etwa vergessen, wie wütend er auf ihn war und dass er beinahe auf ihn losging?«

»Ja«, erinnerte sich Kim mit leichtem Schaudern daran. »Er war zum fürchten und ich hatte schon angst gehabt er würde ihn in Stücke reißen. Verdient hätte er es.«

Kamina dachte weiter, als sie noch immer den Journalisten bei den Spielern sah. Ihr Magen zog sich zusammen bei den Erinnerungen, die wieder in ihrem Kopf spukten. Sie zuckte schwach zusammen, als Jens auf einmal nach oben schaute und ihre Blicke sich für einen kurzen Augenblick trafen. Der eine völlig überrascht und der andere plötzlich finster. Schnell sah sie wieder auf das Fußballfeld und bemerkte nicht das schwache Lächeln des jungen Mannes, welches sich auf seinem hübschen Gesicht formte. Dann begann die zweite Hälfte.
 

3:0. Das war das Endergebnis zwischen Rotburg und Werder Bremen. Karl hatte in diesem Spiel einen Hattrick erzielt und dieses Match klar für sich entschieden. Die Münchener jubelten, die Bremer weinten. Sie hatten haushoch verloren, aber die Freude über die Rückkehr des geliebten Fußballkaisers war umso größer.

Die Zuschauer verließen nach und nach die Allianzarena. Viele Fans, große und kleine, bekamen die Chance für einen kurzen Moment mit ihren Helden zusammen zu sein. Selfies wurden geschossen, Autogramme geschrieben, doch nicht jeder verließ das Stadion mit einem super Gefühl im Bauch.

Die Mädchen kamen am Seitenausgang hinaus; betretendes Schweigen hatte sich bei ihnen gelegt und während sie das Gebäude verließen, sahen sie dabei gedankenverloren auf den Boden. Kim bemerkte beiläufig den Mannschaftsbus der Rotburger, welches von kreischenden Fans beinahe belagert wurde und wenig später zum Hotel fuhr.

»Genug der Trübsalblaserei!«, rief Kim aus und ballte ihre Hände zu Fäusten. »Ich lass mir doch nicht die super Stimmung von diesem Penner vermiesen!«

»Recht hast du, Liebes«, stimmte Kamina ihr zu und hatte wieder ihr reizendes Lächeln aufgesetzt. »Jens ist nicht mehr unser Problem und erst recht nicht mehr das von Lenchen. Er hat großen Mist gebaut und ich bin ehrlich froh, dass er keinen Platz mehr in ihrem Leben hat«

»Hallo, Kamina.«

Sie erschrak sich und ihrem schlanken Körper überkam ein unangenehmes Kribbeln. Die blonden, nach hinten gekämmten Haare, Die stahlblauen, verräterischen Augen und die mittlerweile dunkler gewordene, muskulöse Haut hatten sich vor ihr breit gemacht.

»Jens«

»Ich habe mir schon gedacht, dass ich euch auf der Tribüne gesehen habe. Ist eine Weile her. Schön euch beide wieder zu sehen«

»Was willst du?«

Jens blinzelte verdutzt auf Kaminas Frage. »Ich arbeite hier. Als Journalist muss ich die Sportler –«

»Das meinte ich nicht«, unterbrach sie ihn prompt und warf ihm einen eiskalten Blick zu. »Ich will wissen, was du hier machst«

»Ok«, hob der junge Mann seine Hände. »Ich weiß, du bist sauer. Ich verstehe das. Ich habe ein klein wenig Mist gebaut«

»Ein klein wenig?«, meldete sich die sonst quirlige Kim zu Wort und stapfte ein paar Schritte auf ihn zu. »Ein KLEIN WENIG?! Du bist Lenchen fremd gegangen und das nennst du „ein klein wenig“?!«

»Gut, ich habe ziemlich großen Mist gebaut und habe erst danach realisiert, was ich überhaupt angerichtet habe. Ich bedaure es sehr und ich hoffe wirklich, das Elena mir diesen Ausrutscher irgendwann verzeiht«

»Glaubst du allen ernstes, dass ich dir dieses Geschwätz abkaufe?«, fragte Mina verächtlich. »Ich werde nie verstehen, was sie bloß an dir gefunden hat. Du magst andere mit deiner geheuchelten Freundlichkeit täuschen, wir beide jedoch wissen genau, dass hinter deine Fassade ein kleiner Wicht steckt«

»Du wirst es mir wohl ewig vorhalten, wie?«, kam der Blonde ihr näher. »Du hast mich von Anfang an nie leiden können. Egal, was ich auch versucht habe, nie habt ihr mir eine Chance gegeben oder mich akzeptiert. Ich weiß, ich bin nicht perfekt und auch ich habe meine Fehler, aber jetzt hoffe ich nur noch damit abschließen zu können und... ich würde gerne mit Elena sprechen, auch, wenn ich die letzte Person bin, die sie jemals sehen will«

»Da sagst du endlich mal was Richtiges«, verschränkte Kamina ihre Arme. Den Groll, den sie für den Reporter empfand, konnte oder eher wollte sie nicht verbergen. Mit jeder sich bietender Gelegenheit machte sie ihm klar, wie sehr sie ihn zutiefst verabscheute. Das wusste Jens und es war ihm egal. Elenas Freundinnen waren ihm egal gewesen. Und wenn er darüber nachdachte war sogar Elena selbst ihm während ihrer Beziehung völlig egal gewesen. Sie war berühmt. Sie war wunderschön. Die vielleicht schönste Frau, die er je an seiner Seite hatte und er war derjenige, der dieses wertvolle Juwel besaß. Und als er ihr Herz gewann, war es ein Triumph für ihn. Sie war eine Trophäe und nichts anderes war sie für ihn.

»Du musst mir nicht glauben«, sagte er locker. »Du würdest es ohnehin nicht tun. Mir ist nur wichtig, dass ich eines Tages mit ihr reden kann, um ihr in Ruhe zu erklären, warum ich so gehandelt habe – eine Chance, die sie mir leider nie gab«

»Der ganzen Welt hat sie vorgemacht, dass ihr euch „einfach auseinandergelebt habt“«, zwang Kamina ihn dazu sich an das Interview zu erinnern, welches sie vor knapp vier Monaten gab. »Dass ihr euch im Guten getrennt und euch alles Gute gewünscht habt. Sie hat deinen widerlichen Arsch gerettet und daraus kein großes Ding gemacht. Weil sie nicht wollte, dass der wahre Grund ans Licht kam und du Schwierigkeiten bekommst. Viel mehr noch wollte sie nicht von der ganzen Welt bemitleidet werden, aber ich hätte es dir so gegönnt. Ich hätte es so genossen dich leiden zu sehen für das, was du meiner Lenchen angetan hast, du elender Scheißkerl«

»Warum tust du es denn nicht?«, fragte er plötzlich.

Sie war irritiert. Sie ging ein paar Schritte zurück; ihr verwirrter Blick blieb weiter am standhaften Mann haften. »W – was?«

»Ich sehe es dir an der Nasenspitze an, wie sehr es dich lockt der ganzen Welt die Wahrheit zu sagen.« Sein Mundwinkel hob sich plötzlich an. »Wie sehr du dich danach sehnst mich erniedrigt und gedemütigt zu sehen. Wie sehr du dir wünschst, dass ich die Genugtuung in deinem Ausdruck sehe. Warum tust du es denn nicht einfach?«

»Vielleicht sollte ich es wirklich tun...«, begann sie leise zu knurren, dann aber verstummte, als sie das raue und dunkle Kichern des Journalisten vernahm.

»Ach Mina«, säuselte er. »Ich habe dich immer für einen klugen Menschen gehalten. Das tue ich weiterhin. Das einzige Problem, was du hast, ist deine impulsive Ader, die dich zu so vielen dummen Entscheidungen verleitet. Nur zu. Erzähl der Welt die wahre Geschichte über meine Trennung mit Elena. Ich frage mich nur, wie unsere Lenchen das findet, sollte sie auch nur einen Bericht davon lesen – und die ganzen Reporter, die dann vor der Matte stehen und ihr Löcher in den Bauch fragen«

»Verschwinde einfach«, kam es leise von Kim, als Mina die Worte im Hals stecken blieben.

Er nickte ihr respektvoll zu und hatte dabei weiter sein unverschämtes Lächeln am Gesicht kleben. »Ich sollte mich auf dem Weg zum meinem Verleger machen. Ich habe alles, was ich brauche und diese sogenannten „Fußballhelden“ erzählen immer so viel, wenn der Tag lang ist. Eine bessere Geldquelle als diese Hinterwälderprominez gibt es nicht.«

Ein Wink zum Abschied, der breite Rücken war ihnen zugewandt und dann war er aus dem Stadion verschwunden.

Gespräche unterm Weidenbaum

Die Bundesliga war im vollen Gange und die Rotburger bereiteten sich auf ihre Reise nach Bremen vor. Heute war ihr freier Tag, bevor sie morgen losfuhren und Genzo hatte schnell den Entschluss gefasst spontan das Gestüt zu besuchen. Timur erzählte ihm Tage zuvor, dass auch sie zu einem Turnier nahe Münchens waren und heute wieder nach Hause kämen.

»Bleib ja nicht zu lange weg, sonst fahren wir ohne dich nach Bremen«, kam es von Karl, der gerade die letzten Sachen in seinen weinroten Koffer verstaute.

»Keine Sorge ich werde rechtzeitig zurückkommen. Wir wollen doch nicht, dass ihr von den Bremern besiegt werdet. Ohne mich seid ihr ja völlig aufgeschmissen.«

Lachend wich der Keeper einem vorbeifliegenden Seidenkissen aus, den er kurz darauf aufsammelte und prompt seinem besten Freund damit bewarf.

»Wie haben wir nur ohne dich so lange die Tabelle anführen können?«

»Siehst du das also auch, ja?«

Das Herumalbern wurde jäh von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Die ausgelassene Kissenschlacht mussten die Männer fürs Erste auf Eis legen und es war Genzo, der zur Tür stürmte, durch den Spion starrte und lächelnd die vergoldete Klinke nach unten drückte.

»Sho!«

»Hi, Gen –« Der Chinese hielt plötzlich inne und hob eine seiner dunklen Brauen, als er den Keeper aufmerksam musterte. »Hast du in einem Hühnerstall geschlafen oder was?«

»Was meinst du?«

Wortlos deutete Sho auf die kleinen Federn, die sich in seinen schwarzen Locken verfingen und sah auf den Wandspiegel direkt neben sich. »Was äh?!«

Karl indes lachte laut auf, den mürrischen Blick seines besten Freundes deutlich an sich haftend.

»Du Sack hast die Klappe gehalten«, zupfte er sich die Federn aus seinem Haar, die er dann auf die Kommode legte.

»Ich habe daran gedacht, ehrlich!«, kicherte er weiter. »Doch ich dachte mir, warum unserem Gast diesen Anblick nicht gönnen?«

»Blödmann...«

Schmunzeln musste er bei der Aktion des großen Fußballkaisers doch. Gerade jetzt, da er auf dem guten Weg war wieder er selbst zu sein war die Neckerei unter Jungs genau das Richtige.

»Gibt es einen besonderen Grund, warum du hier bist?«

»Genzo hat mich gebeten ihm Bescheid zu sagen, wenn sein Taxi da ist. Und da bin ich«

»Danke, Sho. Du bist ein echter Freund«, betonte Genzo es auf höchst übertriebene Weise und klopfte ihm, wie es bei Männern üblich war, brüderlich auf den Rücken.

»Ja, mach mich nur schlecht, Wakabayashi.«

Ein weiteres Kissen kam angeflogen, doch dank der schnellen Reflexe des Keepers, bekam der Chinese das Ding mitten ins Gesicht ab. Keine zwei Sekunden danach pfefferte Sho seinem Captain das Kissen um die Ohren, während Genzo klammheimlich Richtung Tür marschierte und hinaustrat.

»Bis heute Abend, Jungs«, sagte der Keeper, aber die Beiden waren so sehr mit ihrem Gerangel beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkten, wie die Hoteltür ins Schloss fiel.

Der Rezeption sagte er, um wie viel Uhr er ungefähr wiederkehrte, dann sah er bereits das Taxi vor dem Hotel, stieg ein und das Gefährt setzte sich in Bewegung.
 

Das Gestüt war in Sichtweite und auch die Pferde, besonders die Hengste, waren drauf und dran die Koppel unsicher zu machen. Ins Auge stach ihm Timur, welcher gerade ein Pferd aus dem Anhänger führte. Und wenn er an Timus Pferd dachte, brach bei ihm der kalte Schweiß aus. Birin, wie die Rappstute hieß, war... gelinde gesagt recht eigen. Keine Ahnung warum, aber aus irgendeinem Grund konnte die Stute Genzo nicht besonders leiden. Er hatte zumindest diesen Eindruck, denn wann immer er das Gestüt besuchte, sah er die Goldsteingeschwister fast immer mit ihren Pferden zusammen. Birin machte dabei immer den Eindruck einer hochnäsigen Ziege, die naserümpfend ihren schlanken Kopf himmelwärts reckte und ihre großen, dunkelbraunen Augen den Japaner argwöhnisch musterten. Nicht einmal Komplimente vom Keeper, um die Wogen irgendwie zu glätten, schienen zu fruchten – und das war nicht einmal gelogen, wie er immerzu betonte.

Birin war ein wunderschönes Pferd. Das seidige, schwarzbraune Fell schimmerte kupferfarben im Sonnenlicht. Die Beine waren schlank und elegant und hielten den sehnigen, kräftigen Körper mühelos. An den Fesseln waren je weiße Abzeichen zu erkennen und auch an ihrer Stirn war ein großer, weißer Fleck zu sehen. Eine „Blume“, wie es in Fachkreisen genannt wurde.

Genzo fand die „Goldstein – Pferde“ bemerkenswert. Allein die Tatsache, dass das Fell dieser Tiere einen metallischen Glanz hatte, ließ ihn immer wieder erstaunt zurück. Bei keiner anderen Pferderasse sah man dieses Naturwunder und diese Besonderheit war ausschließlich den Akhal – Tekkiner vorbehalten. Dass allerdings Birin ihn nicht mochte, dafür aber die anderen Pferde, machte nicht nur Genzo stutzig.

Nie tat er ihr etwas zuleide, grüßte sie immerzu, doch entweder ignorierte sie ihn, schnaubte ihn verächtlich an oder stellte sich beinahe drohend vor ihm auf. Einmal kam er auf Timur zu, als der Reiter sein Pferd mit einem Hufkratzer säuberte, da begann sie heftig mit ihrem Huf auf den harten Steinboden zu schaben und aufzutreten. Ihre Ohren waren nach hinten gelehnt, lautes Wiehern drang aus ihrer Kehle und wäre sie nicht an beiden Seiten durch eine Leine gesichert, hätte sie ihn vermutlich sogar angegriffen.

Noch nie hatte Genzo so viel Angst vor ein Tier wie in diesem Augenblick und in diesem Moment wurde ihm ernsthaft bewusst, was für ein unglaubliches Glück er auf der Koppel hatte. Elena bezeichnete ihn als „lebensmüden Spinner“ und wenn er darüber nachdachte, konnte sie damit nicht richtiger liegen. Wegen einer bescheuerten Kappe riskierte er sein Leben und er war heilfroh, dass er glimpflich aus der Sache raus kam. Pferde, so friedliebend sie auch sein mochten, waren unfassbar kraftvolle Kreaturen mit großem Gefahrenpotential und Birin hätte ihn ernsthaft verletzen können... oder sogar schlimmeres.

Das Taxi war längst verschwunden und Genzo stand abseits des Geländes. Still beobachtete er das gerade ruhige Pferd und fing sogleich den überraschten wie freudigen Blick des Reiters ein.

»Genzo!«, winkte er ihm zu und der Keeper erwiderte die Geste mit einem flüchtigen Lächeln und kurzem Wink.

»Warte, ich befreie Birin von ihrer Ausrüstung und bringe sie auf die Koppel. Dann komm ich zu dir!«

Er nickte bloß und lehnte sich an einem brusthohen, weißen Holzzaun. Schnell hatten die Männer sich geeinigt, dass, sollte Birin bei Timur sein, blieb Genzo auf Abstand.

Als nach einer halben Stunde die anmutige Rappstute über die Wiese raste, kam auch der Reiter dem Keeper entgegen und stellte sich neben ihm, der interessiert und ein wenig wehmütig auf das Pferd sah.

»Ich würde so gerne wissen, warum sie mich hasst«, seufzte er schwach. »Sie scheint eigentlich ein nettes Pferd zu sein, aber...«

»Ehrlich, das wüsste ich auch gern. Du hast doch nichts angestellt... oder etwa doch?!«

»Natürlich nicht!«, wirbelte Genzo herum und sah Timur direkt in seine braunen Augen. »Ich bin doch nicht bescheuert und lege mich mit einem Pferd an. Das eine Mal hat völlig gereicht. Ich bekomme wieder zittrige Hände, wenn ich an neulich denke«

»Genzo, ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut. Sie kann ein echter Wirbelwind sein, aber noch nie hatte sie ein solch aggressives Verhalten gezeigt und ich hoffe sehr, dass das nur eine einmalige Sache war«

»Kann man nur hoffen«, sagte Genzo. »Und entschuldige dich nicht. Wir finden schon heraus, was Birin für ein Problem mit mir hat.«

Sie waren wieder still und beobachteten schweigend die Pferde. Jeder von ihnen schien in ihrer eigenen Gedankenwelt versunken, bis ein kurzer Laut Timurs Genzo aufschrecken ließ und ihn mit leicht geweiteten Augen anstarrte.

»Bevor ich's vergesse, wie war denn das Spiel?«, fragte Timur hastig und so aufgeregt, als wäre das Birin – Thema nie zur Sprache gekommen. »Ich hab's mir ja leider nicht ansehen können«

Genzo lächelte spitzbübisch. »3:0 gewonnen. Kein großes Ding gewesen«

»Ah, ich habe nichts anderes von euch Jungs erwartet«

»Ich weiß, dass du und Elena auch ein Turnier hattet. Wie war es denn bei euch?«

Als der Keeper ihn darauf ansprach, spürte Timur, wie sich sein Magen zusammenzog und sich seltsamerweise schwertat etwas zu sagen.

»Habt ihr verloren?«, hakte Genzo nach. Er fand das Verhalten seines Freundes merkwürdig, wo er doch immerzu wie ein Wasserfall plapperte. Besonders dann, wenn es um Turniere und ähnlich aufregende Themen ging, die sie beide mochten.

Timur schüttelte schwach den Kopf. »Bin Erster geworden«, antwortete er knapp. »Lenchen... Dritte.«

Genzo war verwirrt. »Ist sie deswegen niedergeschlagen? Ein Platz auf dem Treppchen ist doch Klasse?«

»Sie ist eine gute Gewinnerin, aber eine noch bessere Verliererin«, sagte er daraufhin. »Sie stört sich nicht daran, wenn sie Erste, Dritte oder einen hinteren Platz belegt. Es ist nur die Art, wie sie an den Platz kam und ist deswegen... um es nett auszudrücken... ein kleines bisschen verstimmt«

»Ich verstehe noch immer nicht...«

»Es gab ein Geländeritt«, begann er zu erklären. »Keine große Sache eigentlich. Wir nehmen an solchen kleinen Wettbewerben teil, um die Kondition unserer Pferde zu verbessern. Also eine Art „Zusatztraining“ zum eigentlichen, aber darauf will ich nicht hinaus. Du musst wissen, dass im Geländeritt ein bestimmter Bereich rundherum abgesichert werden muss, damit kein Unbefugter in dem Zeitpunkt die Waldwege oder ähnliche Pfade betreten kann. Und da kommen wir zum Kern des Problems«

»... Jemand hat sich nicht daran gehalten«

»Und das hat Lenchen Punkte und Zeit gekostet, warum sie Dritte wurde. Sie hätte ohne Probleme den zweiten Platz belegt, aber da machte ihr ein Spaziergänger einen ordentlichen Strich durch die Rechnung. Dass sie darüber alles andere als amüsiert ist, weißt du sicher selbst.«

Und ob er das wusste. Oje, das war so ärgerlich und Elena tat ihm so furchtbar leid. Obschon der dritte Platz wirklich gut war, die Gewissheit, dass ein Unbeteiligter ihr jegliche Chancen auf einen Sieg vermasselte, würde ewig an ihr nagen.

»Sie ist dort drüben, oben am Weidenbaum, falls du fragen solltest.«

Das war der eigentliche Grund für sein Besuch auf dem Gestüt gewesen.

»Ich hab dich vorgewarnt. Sie ist gerade nicht gut drauf, also...«

»Ich passe auf mich auf. Danke Tim.«

Beide verabschiedeten sich mit brüderlichem Handschlag, dann marschierte Genzo Richtung Koppel. Federleicht schwang er über den Zaun und ließ seinen Blick über die weite Wiese schweifen. Lächelnd musste er sich an den Tag ihres Kennenlernens erinnern. Wie er unbeholfen Dilas nachjagte und dabei auch noch im Dreck landete. Elena hatte sich das alles im Stillen angesehen, bevor sie ihn ansprach. Das war vielleicht ein Tag gewesen und Rudi war, trotz seiner laschen Ausrede, unzufrieden über sein Zuspätkommen gewesen. Zum Glück war die Sache auch ganz schnell wieder vergessen und um seinen Stammplatz in der Mannschaft hatte er sich nun wirklich nicht sorgen müssen.

Genzo bemerkte zwei junge Hengste, die sich kurz rangelten. Ihm war schon von Beginn an aufgefallen, dass das Gestüt zwei große Herden getrennt voneinander hielt. Timur hatte ihn diesbezüglich aufgeklärt und der einfache Grund war, dass man eine unkontrollierte Vermehrung der Pferde verhindern wollte. Sie wählten mit Bedacht die Hengste aus, die sie zum Decken nutzten und wenn jetzt alle Pferde auf einem Fleck waren, würde die Hölle ausbrechen. Einzig Wallache durften bei den Stuten grasen.

»Es ist nicht nur die Abstammung, die unsere Pferde so teuer macht«, hatte er Timur damals sagen hören. »Die Pflege und die Ausbildung, die wir für die Tiere investieren, kommt noch dazu und ist immens.«

Jetzt wunderte sich der Keeper nicht mehr, warum einige Pferde sogar Millionen kosteten. Nicht zuletzt, weil einige zum Kauf angebotenen Pferde sich in Turnieren einen Namen machten und von Reitern aus aller Welt begehrt waren. Sogar an Fohlen, die nicht einmal geboren wurden, war man interessiert. Genzo konnte sich immer wieder darüber wundern, aber er war überrascht, als er erfuhr, dass die zweitbeliebteste Sportart in Deutschland tatsächlich das Reiten war. Allerdings bezog sich das vornehmlich auf das Pferderennen, womit man, und man musste kein Genie sein, um das zu wissen, Unsummen verdienen konnte.

Er sah den Weidenbaum, der einsam auf einem kleinen Hügel mitten auf der Koppel stand. Und er sah die zierliche Silhouette der Reiterin, die sich unter den sanft schwingenden Blättern gemütlich machte. Schnell bemerkte er, dass Elena nicht alleine war. Eine seltsam rundliche Erhebung war neben sie und lächelte mitfühlend. Selbst Dilas schien mies gelaunt zu sein und war ihr offenbar nicht von ihrer Seite gewichen. Sonst wäre er bei den anderen Hengsten, um entweder mit ihnen zu rennen, zu grasen oder zu rangeln.

Auf seinem Weg überlegte er, wie er sie am Besten ansprechen sollte, ohne gleich von ihr in Stücke gerissen zu werden und ihm fiel sogleich etwas ein.

»Hallo, Ponyhalterin«, grüßte er sie mit bekanntem schelmischem Lächeln. Er hoffte damit die Stimmung ein wenig aufzulockern, indem er mit ihren üblichen Neckereien begann, aber alles, was er als Antwort bekam, war nur ein loses »Hey«.

Kurz hielt er inne. Das liebevolle Lächeln des jungen Mannes verschwand nicht und machte sich dran neben ihr Platz zu nehmen. Sie schwiegen und sahen nur in die Ferne.

»Bin vorhin Tim begegnet«, fing er vorsichtig das Gespräch an, ohne sie dabei anzusehen. »Und Birin«

»Halt dich fern von ihr«, sagte sie tonlos und so nebensächlich, als wäre es eine nichtssagende Info, die sie ihm lustlos übermittelte.

»Oh glaub mir ich werde mich hüten in ihre Nähe zu kommen«, sagte er schnell. Sein Lächeln wirkte bei dem Thema unsicher. »Was hab ich ihr nur angetan?«

Seine lauten Gedanken wurden durch ein müdes Schnauben unterbrochen. Neugierig sah er nach links und Tatsache. Dilas hatte es sich neben Elena gemütlich gemacht und seinen schmalen Kopf auf ihrem Schoß gelegt. Ihre Hand glitt sanft über den seidigen Hals des Tieres und man konnte dem Hengst ansehen, wie sehr er diese Behandlung genoss. Das halbgeöffnete Auge und die mehr als entspannte Haltung ließen Genzo schmunzeln. Jetzt wagte er den weiteren Schritt.

»Und ich hab... das von eurem Tur –«

»Dieser miese Scheißkerl!«

Genzo war so verstört von ihrem plötzlichen Wutanfall gewesen, dass er fast den Hügel runter kullerte. Selbst Dilas schreckte auf und gab ein verwirrtes Wiehern von sich.

»Spaziert der einfach mitten im Weg und kackt mich auch noch an, ich solle gefälligst aufpassen, wo ich hin reite?! Für was wird das Gelände abgesperrt und die Hinweisschilde angebracht! „Ich lass mir meinen Morgenspaziergang nicht von irgendwelchen Leuten stören“. Allein, wenn ich an diese Kalkleiste denke, könnte ich Amok laufen!«

»E – Elena, bitte beruhige – «

Der Keeper zuckte zusammen, als die Faust gegen den Weidenstamm krachte. »Sag mir ja nicht, dass ich mich beruhigen soll.«

Ein wenig verstimmt. Genzo lachte innerlich. Äußerlich war er wie in einer Schockstarre gefangen. So wütend hatte er Elena noch nie erlebt. Nicht einmal bei ihrem ersten Aufeinandertreffen war sie so in Rage gewesen.

Sie sah weg, aber ihr Gesicht war noch immer zu einer wütenden Grimasse verformt.

»Das nächste Mal, wenn er mir über den Weg läuft«, setzte sie merklich ruhiger an, dennoch konnte Genzo den grollenden Unterton deutlich heraushören. »renn ich ihn über den Haufen... dann brat ich ihm mehrfach mit seinem Gehstock eins über...«

Genzo hätte beinahe gelacht. Es verstand sie vollkommen. Dieser ältere Herr hatte ihr das Turnier versaut und ihr wichtige Punkte genommen. Gerne würde er sie aufmuntern, doch er wusste nur nicht wie. Daher ließ er sie einfach ihren Ärger Luft machen, hörte stillschweigend zu, wenn sie etwas vor sich hin grummelte oder beobachtete, wie sie sich durchs Streicheln wieder beruhigte. Er lächelte wehmütig. Das erinnerte ihn an John, sein Samojede – Hund, den er als kleiner Junge bekam und ihm seitdem ein treuer Freund war. Immer, wenn es ihm schlecht ging oder er sich einsam fühlte, kam John und spendete ihm Trost. Als er eines Tages nach Deutschland ging, bekam Genzo ein schlechtes Gewissen seinen treuen Freund einfach in Japan zurückzulassen und nicht mitnehmen zu können, aber er wusste, dass Kamiko, die Haushälterin der Wakabayashis, sich gut um ihn kümmerte.

»Hast du dein Spiel verloren?«

Verwundert über diese Frage sah er sie perplex an.

»Du schaust so traurig. Haben euch die Bremer etwa in den Hintern getreten? Dachte ihr seid die Besten der Besten. Wie enttäuschend.«

Er lachte leise. »Sind wir auch weiterhin. 3:0 gewonnen. Die Tabellenspitze halten wir auf jeden Fall. Ich habe nur an John denken müssen«

»John?«

»Mein Hund«

»Du hast einen Hund?!« Elena spitzte angeregt die Ohren und fixierte ihn geradezu, was dem Keeper ein sanftes Kichern entlockte, als er ihre volle Aufmerksamkeit abbekam.

»...Ich hatte einen. Er ist Februar diesen Jahres gestorben«

»Oh.« Sie klang traurig. »Tut mir leid«

»Schon in Ordnung. Er war schon ein sehr alter Hund und irgendwann wäre er ohnehin gegangen. John war ein toller Hund und ich bin froh ihn als Freund gehabt zu haben.«

Bevor Elena darauf antworten konnte, hatte Genzo bereits sein Smartphone in seiner Hand und durchstöberte seine Bildergalerie. Schließlich fand er ein Foto und hielt das kleine Ding vor ihrer Nase.

»Hier«, erklärte er. »Das ist John. Das Bild habe ich letzten Sommer geschossen, als ich in Japan war, um mit den Jungs Urlaub zu machen.«

Sie nahm ihm das Smartphone ab und betrachtete das Foto – und war wie erstarrt.

»Oh... Gott.«

Sofort war all die Wut, die sie wegen diesem idiotischen Rentner hatte, wie weggeblasen. Ihr Gesicht errötete und quietschte beinahe vor sich hin, was Genzo einfach nur zum Lachen brachte. Sahen Mädchen und Frauen etwas total niedliches, drehten sie alle durch.

»Was ist das bitte für ein süßer Hund?«, rief sie aus und war schockverliebt, als sie John sah, der lächelnd in die Kamera schaute.

»Schau dir nur diese Knopfaugen an. Und... und, und diese kleinen Pfoten und dieses runde Gesicht und die Ohren, die aus dem flauschigen Fell hinausragen! Er sieht aus wie ein Stofftier, ist das süß!«

Elena presste sein Smartphone gegen ihre Brust und seufzte laut. »Ehrlich, wenn ich mir jemals einen Hund anschaffen sollte, dann ist das dieses Kerlchen hier«

»Also für kalte Wintertage war er der perfekte Kuschelfreund, das kannst du mir glauben«

»Oh, das kann ich mir bildlich vorstellen«, freute sie sich weiter. »Er sieht so weich und kuschelig aus, wie ein Plüschtier... oder eine Wolke oder Zuckerwatte«

»Ja, er war etwas ganz Besonderes.«

Nach einer Weile beruhigte sich Elena wieder und gab Genzo sein Smartphone zurück. Augen schließend lehnte sie sich gegen den Stamm und strich wieder beruhigend über Dilas' Hals.

»Geht es dir besser?«

»Hm?« Sie öffnete ihr Auge und sah ihn fragend an, dann erkannte sie, worauf er anspielte. »Oh, das. Ja... ja, es geht wieder. Hat gut getan es alles rauszulassen«

»Hab ich gemerkt«

»Tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du meinen Frust abkriegst, aber ich war einfach nur so –«

»Wütend und ich verstehe dich vollkommen. Wäre ich an deiner Stelle gewesen, hätte ich denjenigen in meiner Rage vermutlich eine reingehauen, obwohl mir mein Boxtrainer dahingehend eine Ansage gemacht hätte.«

Er lachte und bemerkte Elenas neugierigen Blick nicht, welchen sie ihm zuwarf.

»Du kannst boxen?«

»Ich bin kein Kampfsportler, wenn du das denkst«, antwortete er rasch. »Nein, ich habe damals ein Boxtraining angefangen, um meine Reflexe als Keeper zu verbessern«

»Oh«, staunte sie nicht schlecht. »Das ist wirklich clever. Unglaublich, dass dir so etwas einfällt... und das auch noch als Balljunge«

»Ja, oder? Selbst ein beschränkter Fußballer hat hin und wieder geniale Einfälle.«

Das Lachen war ansteckend. Die Sticheleien zwischen den Beiden wurde langsam zu ihrem Alltag, wodurch ihre Freundschaft sich weiter vertiefte. Elena überraschte es, dass sie sich recht schnell mit ihm verstand. Nicht zuletzt, weil ihr Bruder einen erheblichen Einfluss darauf ausübte, da Timur und Genzo oft Zeit miteinander verbrachten. Um ehrlich zu sein wunderte sie sich, dass Genzo auffallend oft im Gestüt zu sehen war. Nicht, dass es ihr etwas ausmachte. Sie war dahingehend nur etwas verwundert, da die Fußballer sich nie die Mühe machten das Gestüt zu besuchen.

»Darf ich eigentlich nach dem Grund deines Besuches fragen?«, kam sie schnell zur Sache.

»Oh, ich wusste, dass ihr euer Turnier hattet und heute nach Hause kommt. Und da ich morgen nach Bremen abreise, wollte ich mal schnell nach dem Rechten sehen«

»Oh, wie überaus nett von dir«, sagte sie frech. »Ich kann dir versichern das Gestüt wird auch heile an Ort und Stelle stehen, wenn du wieder in München bist. Ist ja nicht so, dass diese Anlage seit gut hundert Jahren hier steht, um die Tekes im Westen bekannter zu machen«

»So lange gibt es das Gestüt schon?«

»Das schon, aber meine Familie gibt es ein klein wenig länger. Meine Familiengeschichte reicht weit in die Vergangenheit, die unter anderem auch dazu beitrug, dass die Akhal – Teke überhaupt noch existieren«

»Und... wie weit ist weit?«, wollte Genzo fasziniert erfahren.

»Knapp dreitausend Jahre«, war ihre kurze, aber prägnante Antwort und sah lächelnd auf die grüne Koppel vor sich.

»Dreitausend Jahre?!«, fragte er perplex. »Dein... Familienstammbaum reicht dreitausend Jahre zurück?«

Sie lächelte warm. »Na ja, du musst wissen wir sind keine gewöhnlichen Pferdemenschen, die einfach mal ein Gestüt aufgemacht haben, weil wir gerne Pferde züchten wollen. Meine Vorfahren gehörten einem Reiterclan an, die durch die Wüsten Turkmenistans und anderorts gereist sind. Der Reitsport ist daher mehr für uns als das, was es heute ist. Das Reiten und das Pferd selbst ist ein Teil von uns und ist in unserer Kultur fest verankert. Die Zeiten, wo wir als Nomadenvolk durch die Ländereien streiften oder gegen unsere Feinde mit Schwert und Bogen kämpften, sind zwar vorbei, nichtsdestotrotz macht es mich stolz ein Teil dieser Kultur zu sein und erfüllt einem in gewisser Weise auch mit Ehrfurcht. Zumindest sehe ich das, oder was meinst du?«

Genzo hing förmlich an ihren Lippen, während sie weitere Dinge über sich preisgab. Dann zuckte er kurz zusammen, als Elena ihn erwartungsvoll ansah. Er antwortete ihr nicht und schnell fiel ihr auf, dass er sie nicht richtig zuhörte und einfach weiter Löcher in die Luft starrte und nicht wusste, was er sagen sollte.

»Was denn hat es dir die Sprache verschlagen?«, pikste sie ihn am Bizeps und entlockte aus ihm nur ein eintöniges »äh was?«. Sie rollte belustigt mit den Augen und sah wieder weg, Dilas dabei weiter seelenruhig neben ihr schlummernd.

»Ist schon gut, ich habe nicht erwartet, dass du meine Familienherkunft total aufregend findest«

»Im Gegenteil, ich finde sie sehr aufregend«, antwortete er ihr aufrichtig. Elena blinzelte verwundert. Meinte er das ernst?

»Wirklich?«, fragte sie nach.

»Ja, wirklich. Erzähl mir mal jemandem, der nicht so eine interessante Familiengeschichte hat. Dagegen wirkt ja meine Familie wie ein Witz, obwohl ich sie sehr liebe«

»Sicher nicht«, sagte sie ehrlich, wendete ihren Blick dann wieder zu den weidenden Pferden. »Es gibt nicht viele, die es cool finden. Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich nur meine Mädels, die meinen Sport nicht ins Lächerliche ziehen. „Reiten ist doch kein Sport.“ „Reitende Jungs sind schwul und nur was für Mädchen“«, äffte sie einige der unzähligen Kommentare nach, die sie mehr als oft zu hören bekam. »Die haben doch keine Ahnung, was sie sagen und wenn ich versuche es ihnen zu erklären, hören sie nicht zu«

»Tut mir leid.« Genzo erinnerte sich an seine Sprüche, die er Lenchen an den Kopf knallte und spürte plötzlich ein schwaches Ziehen in der Magengegend. »Bin auch nicht wirklich besser, wie die...«

Elena kicherte flüchtig. »Ach bei dir habe ich gemerkt, dass du mir von Anfang an Probleme machst und habe mir schon gedacht, dass du mir solche Sprüche reindrückst. Aber ich habe es auch provoziert, also... trage ich eine gewisse Teilschuld.«

Ein kurzes Schulterzucken und sie widmete sich wieder ihrem geliebten Pferd neben sich, der sich genüsslich die Streicheleinheiten über sich ergehen ließ und dabei ausgiebig seine kräftigen Beine streckte.

»Man, du verwöhnst Dilas ja richtig«, lachte er, während er sich den entspannten Hengst ansah.

»Aber sicher tue ich das«, erwiderte sie darauf. »Immerhin ist er mein Baby und ich verwöhne immer meine Babys und ganz besonders meinen Dilly.«

Sie stand auf und begann intensiv seinen kugelrunden Bauch zu kraulen. Genzo beobachtete die ganze Szenerie aufmerksam und konnte sich das breite Grinsen einfach nicht verkneifen. Die himmelblauen Augen des Hengstes erfassten die des Keepers und beinahe hatten sie begonnen ein Starr – Wettbewerb auszutragen.

»Nur zu. Streichle ihm unters Kinn. Das mag er sehr«

»Wirklich?«, sah er abwechselnd zu Elena und Dilas. Als sie nickte und ihm erlaubte ihn wirklich zu streicheln, rutschte er näher zum Pferdekopf und begann ihn sanft unter besagter Stelle zu kraulen.

»Und du findest meine Familiengeschichte... wirklich interessant?«

»Sehr sogar«, antwortete er ehrlich. »Es macht mir Spaß was Neues über meine Freunde zu erfahren, um sie so besser kennen zu lernen«

Freunde? Sie sah ihn verwundert an. Sah er in ihr wirklich einen Freund? Nun, zumindest kam es ihm offenbar vor – und ihr ehrlicherweise auch. Sie hatte nach der Trennung von Jens mit dem Fußball abgeschworen und sie hätte niemals gedacht mal mit Fußballprofis in Kontakt zu kommen.

»Na, wenn wir uns jetzt so nahestehen werde ich auch sicher was über deine Familie erfahren, nehme ich an?«

Das Lächeln des Keepers war Antwort genug und auch Elena schien gespannt mehr über ihn herauszufinden.

»Klar«, sagte er daraufhin und sah ihr in die Augen. »Was möchtest du wissen?«

Vertrauen

Es war bewölkt, als der rotburger Mannschaftsbus vor knapp zwei Stunden München verließ und nun auf dem Weg Richtung Bremen war. Dass während ihrer rund achtstündigen Fahrt etwas runterkam, war bloß eine Frage der Zeit. Die Jungs jedoch störten sich nicht am grauen Wetter. Viel mehr waren sie damit beschäftigt gewesen ihre Zeit während der Fahrt irgendwie nutzen zu können. Manche taten sich in Grüppchen zusammen und unterhielten sich, andere sahen sich auf ihren Monitoren entweder einen Film oder eine Serie an. Manche wiederum schliefen seelenruhig ein und es hätte ein Presslufthammer gebraucht, um sie aufzuwecken. Sho war der einzige, der scheinbar gedankenverloren den Sitz vor sich starrte und nicht dabei eine Miene verzog. Karl, der auf der anderen Seite des Ganges saß, beobachtete den Chinesen stillschweigend.

»Denkst du noch immer über das von neulich nach?«

Er beachtete ihn nicht, seine braunen Augen starrten unentwegt auf den Sitz.

»Hör mal, Elena hat dir auf eine nette, wenn auch direkte Art gesagt, dass sie zurzeit kein Interesse an einer Beziehung oder Dates hat und das musst du akzeptieren«

»Ich weiß«, murmelte er tonlos. »aber darum geht es mir nicht«

»Und um was dann?«, mischte sich Levin ins Gespräch ein.

»Mir will einfach nicht aus dem Kopf, was Lenchen sagte. „Vielleicht könnte ich –“. Dann hat sie mitten im Satz aufgehört zu sprechen und meinte ich soll's vergessen«

»Stimmt, jetzt wo du es sagst? Sie hat da was angedeutet, aber wollte einfach nicht mit der Sprache rausrücken, egal, wie oft wir sie gefragt haben. Dann hat sie auch noch vor sich hin gekichert, als habe sie etwas witziges gehört. Merkwürdig.«

Sho und Levin grübelten und waren über Elenas Verhalten mehr als verwundert. Karl erging es nicht anders, dachte jedoch merklich ruhiger darüber nach und sah dann beiläufig zu Genzo, der lächelnd etwas auf seinem Smartphone zu suchen schien und dabei Ohrstöpsel trug. Er musterte ihn genau.

»Er weiß etwas«, hörten Stefan Levin und Sho ihn plötzlich sagen. »Er hat auch hin und wieder zu kichern begonnen, als wir uns unterhalten haben und hat sich immer mal wieder entschuldigt, weil er nicht zugehört hat«

»Du meinst also...«

»Ganz genau, Levin.« Karl stand auf und nahm ganz selbstverständlich neben dem Japaner Platz. Dieser bemerkte seinen besten Freund und warf sowohl ihm als auch Sho und Levin einen verwunderten Blick zu.

»Ja...?«, fragte er zögerlich und fühlte sich, als wäre er gerade bei einer Straftat ertappt worden.

»Du hast dich privat mit Elena unterhalten, während wir alle im Talk waren.«

Genzo schwieg bei Karls Aussage.

»Sag schon. Worüber habt ihr gesprochen, was ihr uns verheimlicht?«

»Lenchen und ich verheimlichen euch nichts«

»Dann hast du sicher nichts dagegen, wenn du uns verrätst, worüber ihr euch unterhalten habt. Ich hab das Tastaturgeklimper gehört, also leugnen ist zwecklos, Kumpel.«

Genzo rückte ein wenig zurück, als Karl näher zu seinem Sitz rutschte. Dicht gefolgt von Levin und Sho, wobei letzterer verdächtig oft vom Keeper angestarrt und zunehmend misstrauischer wurde.

»Es hat was mit mir zu tun, Gen«, kam es vom Mittelfeldspieler. »Also hör auf dir alles aus der Nase zu ziehen und sag uns, was Sache ist.«

Verdammt, dachte sich Genzo. Eigentlich wollte er es nicht sofort verraten, sondern ging auf Elenas Vorschlag ihn zappeln zu lassen, ein, aber das nützte nichts. Ihre private und intensive Chatunterhaltung hatte für mehr Aufsehen erregt, als ihm lieb war. Andererseits musste er selber ein kleines Lächeln entbehren und wieder den Abend im Geiste abspielen, welchen er mit seinen Jungs und auch Elena online verbrachte.

Sho hatte unterschwellig den Versuch unternommen von der Reiterin ein Date zu ergattern, aber die kecke, junge Frau durchschaute ihn sofort und blitzte ihn eiskalt ab. Die Jungs lachten, Sho war mehr als bestürzt, nahm es dann aber gelassen hin. Jeder von ihnen verstand, warum sie gerade keine Lust auf Männer hatte. Sie wussten bereits von Timur, dass sie eine unschöne Trennung hinter sich hatte und diese noch ganz frisch war. Sho mochte sie sehr, aber er war ein Mann, der ein „nein“ akzeptierte und niemanden, besonders keine Frau, zu etwas nötigte, was sie nicht wollte. Keiner wusste den genauen Grund ihrer Trennung. Keiner – außer Genzo. Und genau da fing ihre private Unterhaltung an.
 

Das mit Jens tut mir leid.

...lass mich raten. Timur hat wiedereinmal nicht die Klappe gehalten -_-'

Sei ihm bitte nicht böse. Es ist meine Schuld. Ich war zu neugierig und habe ihn in gewisser Weise dazu genötigt ^^'

Schon gut. Ehrlich gesagt hätte ich das sicher auch während unseres Gesprächs auf dem Hügel erwähnt. Ich kann fast schon behaupten, dass ich ab diesem Punkt anfange dir zu vertrauen :)

Echt? Welch eine Ehre für mich, dass Elena, die größte aller Ponyhalterinnen, mir vertraut!
 

Das erste leise Kichern der Beiden ging um, doch zum Glück fiel das nicht großartig auf, da die Jungs untereinander Witze rissen und die private Unterhaltung gar nicht mitbekamen.
 

Oh Gott, warum sag ich das? (lacht) Bild dir ja nix drauf ein, du blöder Balljunge ;D

„Eine hübsche Verpackung hat noch lange keinen schmackhaften Inhalt“. Ich erinnere mich, dass du das gleich darauf gesagt hast.

Daran erinnerst du dich noch? Ich weiß gar nicht mehr, was ich an dem Tag gefrühstückt habe und du erinnerst dich an Dinge, die ich gesagt habe?

Ich kann mir verdammt gut Sachen merken, die einprägend sind ;)

So ein oller Angeber ;D

Aber mal was anderes, was hast du denn vorhin mit deiner Aussage gemeint? Was könntest du denn vielleicht?
 

Dieses Mal ließ sich Elena Zeit für eine Antwort. Die Jungs blendeten die Beiden weiterhin aus, während Genzo sah, dass die junge Frau ihm etwas schrieb. Dann, nach Minuten des Textens, kam die Nachricht.
 

Na schön. Ich verrate es dir, aber reib es den Quatschköpfen nicht sofort unter die Nase. Besonders Sho nicht, ok? ;D

Jetzt machst du mich aber neugierig :)

Eine meiner Mädels hat einen totalen Crush auf ihn!
 

Genzo hätte beinahe laut aufgeschrien und die Aufmerksamkeit seiner Kollegen wäre ihm gewiss. Stattdessen sog er etwas Luft ein und konnte einfach nicht glauben, was Elena ihm schrieb.
 

Du verarschst mich doch!

Ach komm, als ob ihr Jungs keine Fangirls hättet, die euch anschmachten und bejubeln... oder euch zurufen, dass sie unbedingt ein Kind von euch wollen ;D Aber es ist wahr. Kamina hat ein Auge auf Sho geworfen. Sie streitet das natürlich ab, aber ich kann es ihr ansehen, dass sie ihn insgeheim sehr gern hat und es wirklich keine Schwärmerei von ihr ist.

Unglaublich. Da meint ein Mädchen es offenbar ernst mit ihm.

Ist das denn so abwegig? Er sieht gut aus, ist nett, süß, witzig. Ein Sunnyboy eben. Dinge, die Frauen an Männer toll finden.

Na ja... –
 

»Wir warten, Gen!«

Aus seinen Gedanken gerissen hatte er noch immer die Gesichter von Karl, Sho und Stefan vor sich. Sie rückten ihm immer weiter auf die Pelle und Genzo fühlte sich zunehmend eingeengt.

»Ist ja gut, ist ja gut! Jetzt macht mir hier mal Platz, sonst bekomme ich keine Luft, bei all den Körpern, die mich erdrücken.«

Tatsächlich vergrößerte sich der Abstand zwischen den Jungs und beäugten jede noch so kleinste Regung des Keepers genau. Er tippte etwas in seinem Smartphone herum, ehe er dann zu Sho rüber sah und ihm bedeutete auf sein eigenes kleines Telefon zu blicken.

»Hab dir was geschickt«, meinte er lasch. »Ich wollte es eigentlich noch etwas länger für mich behalten, unter anderem, weil ich es Lenchen versprochen habe, aber ihr geht mir alle so dermaßen auf den Sack, da komm ich gleich zur Sache.«

Das ließ sich Sho nicht zwei Mal sagen und starrte sofort auf das Display. Die Nachricht hatte er schnell aufgerufen und als er auf den Link drückte, kam ihm ein Instaprofil entgegen und erstarrte fast.

»Das ist Kamina Myrell und designt mit ihrer Schwester ziemlich ausgefallene Klamotten, die sie dann auf ihrer Seite vorstellen«, erklärte Genzo, während er auf das fasziniert dreinblickende Gesicht des Mittelstürmers mit schmalem Grinsen blickte. »Eine von Elenas Freundinnen und sie sagte mir, dass sie ein großer Fan von dir ist«

»Oha. Die ist ja echt heiß«, merkte Levin an und sah mit großem Interesse auch auf das Display. Auch Karl platzte beinahe vor Neugier und sah sich die junge Frau an.

»Ja, sie ist sehr hübsch, keine Frage«, stimmte Genzo seinen Jungs zu. »Wirkt für mich persönlich etwas zu elitär, aber Lenchen meinte, dass das nur eine Fassade ist und sie in Wahrheit ganz nett sein soll«

»Ja, sie würde tatsächlich nicht wirklich zu dir passen«, sagte Karl Arme verschränkend. »Wo ich doch ganz genau weiß, auf welchen Typ Frau du besonders abfährst«

»W – was?!«

»Du weißt genau, was ich meine. Aschblondes, seidiges Haar. Braune, warme Augen. Schmale und doch sinnliche Lippen, die dir flotte Sprüche entgegenschleudern«

»Nicht zu vergessen ihre reiterlichen Fähigkeiten, die sie ihm sicher auch gerne... privat unter Beweis stellen würde.«

Bei Levins Bemerkung musste Karl so laut lachen, dass sich einige der Rotburger wunderten, was die Männergruppe so aufregendes zu besprechen hatte. Es dauerte nicht lange, da waren einige ihrer Kollegen schnell im Bilde und zogen den Japaner mit seiner vermeintlichen „Eroberung“ auf.

»Ihr spinnt doch alle!«, verteidigte sich Genzo, die Schamesröte verbarg er geschickt unter seine Kappe.

»Ich bin nicht von vorgestern, Alter. Ich habe doch die Blicke gesehen, die du Elena zugeworfen hast. Du magst sie«

»Natürlich mag ich sie«, sah er Karl eingehend an. »Nur nicht, wie du es dir vorstellst. Sie ist nur eine Freundin, mehr auch nicht«

»Sicher doch.«
 

Bremen. Die Rotburger bezogen ihre Quartiere des Hotels. Heute ruhten sie sich nach der langen Busfahrt aus, denn morgen früh begann das Training, bevor sie in wenigen Tagen gegen Bremen spielten. Manche Rotburger saßen im Wohnbereich des Hotelzimmers von Genzo und Karl und sahen sich das Spiel Stuttgart gegen Grünwald an.

»Oh wow, Kaltz legt ja richtig los«, kam es begeisternd von Minba und auch seine Jungs waren Feuer und Flamme auf ihr Spiel gegen Grünwald, sollten sie gegen Stuttgart gewinnen, aber Zweifel hegte da keiner.

»Ja, ich möchte wieder gegen ihn antreten», sagte Karl lächelnd. »Er scheint sich merklich gebessert zu haben. Seine Dribblings sind stärker geworden. Hey, Genzo! Schau's dir mal an!«

Aber der Keeper antwortete ihm nicht. Seine Zimmertür stand offen und der Raum war gedimmt. Karl rief wieder nach ihm, aber auch da kam nichts zurück. Er überlegte nicht lange, stand auf und hielt auf die offenstehende Tür zu.

»Hey Genzo, schläfst du etwa?«, klopfte er sachte an, ehe er ohne Nachricht das Zimmer betrat. »Das Spiel läuft und du bist nicht da?«

Er sah ihn auf dem Bett mit seinem Notebook auf dem Schoß und bemerkte den Fußballkaiser überhaupt nicht. Er war so sehr mit Tippen beschäftigt gewesen, dass er gar nicht die sich nähernde Gestalt wahrnahm, die kurzerhand neben ihm auf dem Bett Platz nahm und neugierig auf den Monitor starrte.

»Aha«, grinste Karl und erkannte sofort, was der Keeper da trieb. »Ich hoffe ich störe euren Plausch nicht?«

Genzo erschrak sich, als er Karl plötzlich neben sich sitzen sah. »Was zum, seit wann bist du hier?!«

»Gerade eben ins Zimmer geschlichen. Ich dachte du wolltest dir das Spiel Grünwald gegen Stuttgart ansehen?«

»Was, das hat schon angefangen?! Wie spät ist es denn?«

»Gerade so viel, dass du die erste Halbzeit komplett verpasst hast. Es steht 2:1 für Grünwald, falls du fragen solltest«

»Oh man, ich hab mich mit Elena verquatscht und gar nicht mehr auf die Zeit geachtet«

»Das sehe ich«, überflog er die Nachrichten, die nicht gerade wenige waren. Neben alltäglichen Dingen kam besonders ein Name oft in ihren Gesprächen vor, was ihn stutzig machte.

»Wer ist Jens?«, fragte Karl daraufhin.

»Ihr Ex«

»Ihr unterhaltet euch über ihren Exfreund?«, hob der Stürmer seine Braue. »Das ist total schräg«

»Wir kamen plötzlich auf dieses Thema „Ex“ und bekam ein schlechtes Gewissen, weil meine Beziehung im Guten geendet ist. Sie hat es wirklich nicht verdient so behandelt zu werden«

»Wie genau... ist es denn geendet, wenn ich fragen darf?«

Genzo sah ihn lange an und überlegte ernsthaft, ob er es ihm einfach sagen sollte. Andererseits befand sich Elena auf der anderen Seite des Monitors und beschloss sie anzuschreiben, bevor er ein solch pikantes Thema einfach seinem besten Freund steckte. Er brauchte nicht lange auf eine Antwort zu warten, da bekam Genzo von ihr das „Ok“.

»Er hat sie betrogen«, rückte er sofort mit der Sprache heraus. »Nach allem, was sie für diesen undankbaren Arsch getan hat, betrügt er sie einfach.«

Karl spürte, wie die Stimmung langsam kippte. Er kannte seinen Kumpel nur zu gut. Respekt und Ehre stand für den Japaner an oberster Stelle. Dabei spielte es keine Rolle unter welchen Umständen er dies forderte und gerade in Sachen Liebesbeziehungen ließ er kaum mit sich reden, wenn es um das Thema Untreue ging. Es war einfach ein Unding jemandem auf die Art zu verletzen und es tat ihm in der Seele weh, wenn er von seinen Mannschaftskollegen von den Betrügereien ihrer Partner hörte und die Beziehungen in die Brüche gingen. War das der Grund, warum er sich, seit Ninas Trennung, auf keine weitere Partnerschaft mehr einließ? Hatte er angst sich neu zu binden, um keine Enttäuschung wie seine Freunde zu erleben?

»Ehrlich, wenn man keine Lust mehr auf eine Beziehung hat, warum nicht einfach Schluss machen?«, zuckte Kalle einfach mit den Schultern und starrte weiter auf den Bildschirm. »Immerhin hat man nichts davon, wenn man andere bescheißt, außer, dass man ein kompletter Vollarsch ist, oder wie siehst du das?«

»Hm?«, blinzelte Genzo ihn an. »Entschuldige, ich war gerade ganz woanders«

»Ist alles ok?«

»Äh Ja... ja, alles gut. Ich verabschiede mich noch schnell von Lenchen, dann schaue ich mit euch das Spiel an«

»Geht klar und bestelle Elena liebe Grüße von uns«

»Schon erledigt«, entgegnete der Keeper ihm mit einem Augenzwinkern und hielt ihm den Text vor die Nase, den die Reiterin verfasste. »Und sie wünscht uns allen viel Erfolg beim Spiel... obwohl sie unseren Sport noch immer total bescheuert findet.«

Karl grinste frech und mopste Gen sogleich dessen Notebook.

»Äh was – was hast du vor?!«

»Na was wohl? Jetzt fang ich an mich mit ihr zu unterhalten«

»Was?!«

Da hörte der Keeper das Klicken der Tastatur und starrte mit weit geöffnetem Mund auf den Monitor.
 

Hi, Elena. Hier sitzt jetzt nicht Genzo vor der Tastatur, sondern Karl. Hab jetzt gerade keine Lust dich auf meinem eigenen Acc anzuschreiben (Mache ich die Tage sicher), also wundere dich daher nicht, wenn du gerade nicht mit deinem Loverboy plauderst ;)
 

»HAST DU SIE NOCH ALLE, KARL?!«

Der Kaiser lachte laut und hielt sich schützend Genzos Notebook vors Gesicht. Eine Nachricht ploppte auf und beide sahen stillschweigend darauf.
 

Man, Kalle, warum störst du mich und Genzo, während wir gerade in Stimmung kommen wollten? Das zahl ich dir heim, du Sackgesicht ~
 

Hatte sie das gerade ernsthaft geschrieben? Die Männer wussten, dass sie auf die Art von Späßen ansprang und die Sprüche mit viel Humor nahm. Timur trällerte sie beinahe minütlich während ihrer Talkrunden vor sich hin, die fast immer für schmerzende Lachmuskeln sorgten.

»Ja, ich fiese Spaßbremse«, lachte er weiter, während Genzo weiter die Nachricht zu verarbeiten schien, die Elena schrieb.
 

Bin schon gespannt, wie du es mir heimzahlen willst, schrieb Kalle ihr fix zurück. Wie gesagt mein Angebot steht noch immer. Komm hin und wieder auf dem Bolzplatz zum Kicken vorbei. Die Jungs fangen an mich zu nerven, warum „ihre“ Elena nicht wieder auftaucht.

Ich bin doch nicht euer kleines Anhängsel, welches angerannt kommt, wenn ihr pfeift, kam es von ihr. Schlimm genug, dass ich beinahe jeden Abend mit euch im Talk plaudere und ich mich immer zu euren Blödeleien hinreißen lasse.

Ach komm, wir sind doch schwer in Ordnung, oder magst du uns etwa nicht mehr?
 

Die Männer sahen angeregt den weiß eingeblendeten Text, der ihnen signalisierte, dass Elena gerade am Schreiben war. Und ihre neue Nachricht ließ nicht länger auf sich warten.
 

...Ich gewöhne mich an euch. Ihr seid in Ordnung. Zumindest kann ich das im Moment beurteilen, nachdem, was ich so von euch weiß.
 

Karl und Genzo sahen sich einander an. Diese Nachricht war ungewohnt ernst und das war die Chance für den Keeper nach seinem Notebook zu greifen.

»Das Thema „Fußball“ nagt noch etwas an ihr«, meinte der Japaner daraufhin. »Ihr Exfreund hat eher Zeit mit unserem Sport verbracht als mit ihr. So kann man keine Beziehung führen, wenn man sich nicht auf das Wesentliche konzentriert. So sehe ich das zumindest« Oder ist mir dahingehend seit langem klar geworden.

»Oh. Ok, das ist ein Punkt, den ich nicht gewusst habe, dass Fußball für sie ein... rotes Tuch ist«

»Ich denke nicht, dass sie Fußball per se hasst. Elena verbindet momentan keine guten Erinnerungen daran, was ich ihr nicht verdenken kann. Immerhin stößt sie uns nicht weg und nimmt sich sogar die Zeit mit uns zu sprechen«

»Da ist was dran.« Karl beobachtete, wie Genzo weiter mit ihr schrieb und hörte schon die lautstarke Unterhaltung seiner Kollegen im Wohnbereich. »Ich glaube Grünwald hat wieder ein Tor geschossen. Eigentlich wollte ich dich zu den anderen lotsen«

»Ich weiß, tut mir leid«, entschuldigte sich Genzo schüchtern und kratzte sich am Hinterkopf. »Ich hör jetzt aber auch wirklich auf mit ihr zu schreiben und schau mit euch das restliche Spiel an«

»Nur kein Zwang«, sagte Karl und stand auf, um sich ausgiebig zu strecken. »Ist doch toll, dass du dich mit Elena blendend verstehst und du sehr viel Zeit mit ihr verbringst«

»Noch einmal ich stehe nicht auf sie.« Genzo wusste sofort, worauf Karl hinaus wollte. Das verstohlene Grinsen seines Captains war mehr als eindeutig.

»Ganz wie du meinst... Loverboy.«

Schnell suchte der junge Fußballkaiser das Weite, als ein Kissen angeflogen kam und gegen die offene Zimmertür klatschte. Die Jungs im Wohnraum fragten erst gar nicht, was die Beiden wieder angestellt hatten und sahen sich weiter das Spiel an.

»Blödmann...«, murmelte er leise, schüttelte schwach seinen Kopf und sah erneut auf dem Monitor, woraufhin sich wieder ein schmales Lächeln des jungen Keepers bildete.
 

Ich sollte für heute Schluss machen. War wirklich eine anregende Unterhaltung und... danke fürs Zuhören.
 

»Jederzeit, Elena«, sagte er leise, während ihr Profil als „abgemeldet“ angezeigt wurde. »Jederzeit.«

Erklärungsnot

Das Smartphone brummte und brummte. Die Kommode vibrierte bei dem unsäglichen Krach und ließ Elena nicht mehr schlafen. Murrend tastete sie das Möbelstück ab, ehe sie das Teil in ihrer Hand hatte und verschlafen auf die Nummer blinzelte, die ihr angezeigt wurde.

»Ich hoffe, es ist wichtig, Mina, sonst –«

»ELENA! EIN NOTFALL!«

Die Reiterin wurde hellwach. Ihr Ohr klingelte und befürchtete, dass ihr Trommelfell geplatzt sei.

»Was zum Teufel stimmt mit dir nicht?!«, hielt sie sich wieder das Ding am Ohr und kniff die Augen zusammen, als das Sonnenlicht sie blendete.

»Zieh dich an, komm um zwölf zu unserem Stammcafé und wehe du bist nicht da, sonst haben wir beide ein Problem!«

Dann legte sie auf und ließ eine verdatterte Elena zurück. Ihr leicht verstörter Blick weiter auf das kleine Gerät in ihrer Hand haftend.
 

»Also los. Raus damit. Warum wolltest du mich unbedingt an einen meiner seltenen, freien Tage sehen?« Elena klang noch immer müde, als sie von Kamina unsanft aus ihrem Schlaf gerissen wurde. Das schien ihrer Freundin herzlich egal und wirkte eher unruhig oder geradezu panisch, als sie die Kaffeetasse mit ihren manikürten Fingernägeln festkrallte.

Elena wurde zunehmend besorgter und legte behutsam ihre Hand auf ihren Arm. »Mina, was ist los?«

»Er folgt mir«, war das einzige, was die Reiterin als Antwort bekam.

»Wer folgt dir?«

»Er!«

Noch immer sah sie die aufgebrachte Frau an. »Wer ist... „er“?«

»Na er hier!« Kamina hatte ihr Smartphone in der Hand, rief ihr Profil auf und drückte es beinahe ins Gesicht der Reiterin. »Schau!«

Elena blinzelte und starrte auf den User, dessen Icon ihr verdächtig bekannt vorkam.

»Warte, ist das etwa Sho?«

»Ja!«

»Unser Shunko Sho? Der Shunko Sho aus der rotburger Mannschaft?!«

»Ja! Ich weiß gar nicht, warum er auf meine Postings reagiert und mir sogar folgt!«

Sie antwortete daraufhin nichts, sondern ließ ihre Freundin weiter ihrer unnötigen Panik freien Lauf.

»Hast du was damit zu tun?«

Elena verschluckte sich leicht an ihrem Kaffee und hustete einige Male, bevor sie ihr einen fragenden Blick zuwarf. »Was... soll ich denn großartig gemacht haben?«

»Du hast auffallend oft Kontakt zu den Fußballern.« Ihr Blick war eisern, beinahe glich Kamina einer strengen Lehrerin, die ihren Schülern gerade eine Strafarbeit aufbrummte.

»...Ja schon«, stammelte Elena. »a – aber ich habe nie angesprochen, dass du ihn toll findest«

»Wer sagt denn, dass ich ihn toll finde?!«

Das war nicht ihr ernst, dachte sich Elena und lachte leise, während sie ihren Kopf schüttelte. »Du reitest dich immer weiter rein, meine Liebe. Jeder sieht doch, dass du Augen für ihn hast und ganz ehrlich, verdenken kann ich es dir sicher nicht. Er schaut schon sehr süß aus und er ist wirklich ein Schatz. Ich muss es wissen. Ich rede oft mit den Jungs und er ist bei den Gesprächen nahezu immer dabei.«

Kaminas Brust zog sich seltsamerweise ein wenig zusammen. Sie sagte immer wieder, dass ihr dieser Fußballer egal war. Warum also störte es sie, wenn Elena sich offenbar gut mit ihm verstand?

»Ich rede mal mit den Jungs«, kam es plötzlich von der Reiterin und kam sich vor, als hätte ihre beste Freundin sie durchschaut.

»Die Jungs?«

»Ob du ihrem Server beitreten kannst. Dann kannst du dich auch mit ihnen unterhalten – und besonders mit Sho«

»Nein danke, aber ich habe kein Interesse daran rund um die Uhr über Fußball zu sprechen«

»Was?«, fragte Elena mit schiefem Grinsen. »Ich dachte du magst Fußball und schaust dir gerne die Spiele an?«

»Das heißt aber nicht, dass ich mich 24/7 damit beschäftigen muss«

»Wir reden nicht nur über Fußball«, erklärte sie sich. »Ehrlich gesagt, wenn ich dabei bin, wird so gut wie nie über Fußball gesprochen. Was die Jungs unter sich machen, ist mir egal. Wenn ich dabei bin, wird über alles mögliche gesprochen.«

Kamina hörte ihr schweigend zu und bemerkte nicht, wie die Kellnerin ihre Apfeltasche brachte.

»Ich kann mir denken, dass Sho dich gerne kennen lernen will und dir deshalb Kommentare auf deine Postings geschrieben hat. Oder hat er dich direkt angeschrieben?«

»Nein!«, schnappte sie. »Nein... nein, hat er nicht...«

»Du klingst dabei sehr enttäuscht«, sagte Elena mit einem leisen Kichern.

»Bin ich nicht«, rümpfte sie ihre feine Nase und begann die Apfeltasche mit einer Kuchengabel zu zerkleinern. »Soll er machen, was er will. Er interessiert mich nicht«

»Und warum bin ich dann hier, wenn dir Sho so egal ist?«

Kamina hatte bereits zu einer Antwort ansetzen wollen, doch sie stoppte plötzlich und nicht ein einziges Wort brachte sie über ihre Lippen.

»Ehrlich, Mina, warum sträubst du dich dagegen ihn kennen zu lernen? Er ist wirklich nett und ich kann mir vorstellen, dass ihr euch versteht«

»Du weißt doch. Mein strenger Zeitplan lässt das nicht zu«

»...Du sitzt hier mit mir in einem Café und jammerst mich hier voll, weil Sho dir auf Instagram folgt.«

So langsam war Elena das Theater leid. Sie wusste um Kaminas Macken Bescheid. Sie war kein Kind von Traurigkeit und hatte bis jetzt nie eine feste Beziehung gehabt. Das hieß jedoch nicht, dass sie unerfahren war. Ganz im Gegenteil. Die junge Frau nahm sich einfach das, was sie brauchte und war bis dahin rundum zufrieden damit. Männer waren, wie die Schneiderin sie immerzu nannte, eine „Entspannung von ihrem stressigen Arbeitstag“ oder, wie Elena es treffender formulierte: „Sie waren ein guter Fick und ein guter Fick schadet niemandem“.

Tatsächlich hatten sich einige ihrer Eroberungen Hoffnungen gemacht es könnte doch etwas ernstes als ein One Night Stand werden, aber sie ließ sich nicht erweichen. „Warum sich in eine Beziehung stürzen, wenn es ohnehin nicht funktioniert“ war ihr Motto und danach lebte sie – bis Sho kam und ihren Lebensstil komplett durcheinander brachte.

»Es ist so unerträglich, dass dieser Schwachkopf mir nicht aus dem Kopf geht!«, hörte Elena sie meckern und horchte aufmerksam weiter. Dabei genüsslich ihren Kaffee trinkend.

»Wenn er spielt, ist das noch in Ordnung. Ich achte auf die Mannschaft, schaue mir das Spiel an und wenn es vorbei ist, ist er aus meinen Gedanken verschwunden, bis sie wieder gegen wen antreten«, rechtfertigte sie sich noch immer. »Aber jetzt, nachdem ich weiß, dass er mir folgt, kann ich an nichts anderes mehr denken!«

»Oh nein, du armes Ding«

»...Was soll ich jetzt machen?!«

»Nehme Kontakt auf«, war die einfache, aber logischste Antwort auf diesen Kindergarten. »Es reicht schon aus, wenn du dich bei ihm bedankst und dich freust, dass er dir folgt. Von mir aus antworte auf seine Kommentare, die er vermutlich auf deinen Postings hinterlässt. Das tust du doch oft, warum also nicht bei Sho?«

»Weil... es nun mal Sho ist«, nuschelte sie und sah dabei befangen auf die Apfeltasche. »und nicht irgendwer«

»Dachte schon, du würdest ihn mal sehr gerne für deine „entspannten Tage“ nutzen?«, hörte Kamina Elenas eindeutige Botschaft heraus. »Ich mein ein Fußballer wäre doch auch mal was feines, oder nicht? Und er scheint deinem Beuteschema sehr zu entsprechen. Du magst ja gerne sportliche Männer«

»Ich sagte doch er ist nicht wie die anderen Typen, die ich sonst abschleppe«, korrigierte sie Elena fix, wobei der Gedanke ein wenig verlockend war die Nacht mit einem Profifußballer zu verbringen.

»Aber abgeneigt bist du davon auch nicht.«

Kamina schwieg abermals und dieses Mal länger als üblich. Elena wusste, dass sie von ihrer besten Freundin keine vernünftigen Argumente bekäme, die gegen ein mögliches Kennenlernen waren.

»Kamina«, fing sie stattdessen an mit ihr in einem bestimmendem Tonfall zu sprechen und stellte dabei achtsam ihre Kaffeetasse auf die weiße, blumenförmige Untertasse. »Ich weiß, dass du ein gewisses... Bindungsproblem hast und du Männer nur als Ablenkung benutzt, aber findest du nicht, dass du eventuell eine einmalige Chance entgehen lässt, wenn du nicht über deinen eigenen Schatten springst und zumindest einmal auf Shos Nachrichten reagierst? Du musst ihm nicht gleich einen Ring in den Finger stecken. Ein paar kleine Worte reichen doch für den Moment aus und wenn es gut läuft, dann läuft es und wenn nicht, dann eben nicht. Was hast du denn schon zu verlieren, außer deine verlorene Zeit, die du für einen Moment an ihn investiert hast?«

Genau deswegen war Elena der perfekte Ansprechpartner für solche Themen. Kamina konnte sich immer auf sie verlassen, wollte sie sich ihren Kummer von der Seele reden oder unbedingt eine Lösung für ihre Probleme finden. Sie wusste nicht warum, aber die Reiterin hatte für so etwas immer einen siebten Sinn. Sie war so verflucht aufmerksam und behielt gerade bei ernsten Gesprächen einen kühlen Kopf auf die Situation. Und auch bei diesem Gespräch bewies sie ein gutes Gespür für Kaminas derzeitiges Dilemma und begann ernsthaft über ihre Worte nachzudenken. Sie hatte doch recht. Was hatte sie schon zu verlieren? Einen Versuch war es doch allemal wert, oder nicht? Auch, wenn sie über all ihre aufgestellten Prinzipien ging und diese schließlich über Bord warf.

»Wie du bereits sagtest, Mina«, setzte Elena nach und legte das Geld neben ihre Kaffeetasse. Sie deutete ihre Freundin damit an gehen zu wollen, blieb jedoch für eine letzte Unterhaltung sitzen und sah sie aufmerksam an. »Sho ist nicht irgendwer und glaub mir du wirst es nicht bereuen, wenn du ihn anschreibst. Er ist es wirklich wert.«
 

Genzo hörte plötzlich das Vibrieren seines Smartphones, welches auf der hölzernen Kommode rumorte. Seine strubbeligen Haare waren noch feucht, als er nur mit einem Handtuch bekleidet aus dem Bad kam und fix das kleine Gerät in seiner Hand hatte. Sofort bildete sich ein weites Lächeln auf seinem Gesicht, als er Elenas Namen auf dem Display las und den Anruf entgegennahm.

»Hey, Elena! Das ist vielleicht eine Überraschung.« Genzos Stimme hellte sich plötzlich auf, was allerdings unbemerkt blieb. »Was verschafft mir die Ehre deines Anrufs?«

»Ach, weißt du, mein lieber Balljunge, ich habe heute einen freien Tag und dachte mir ich ruf dich mal an und frage, wie es dir geht und wie das Training so ist?«

Charmant wie eh und je, dachte sich Genzo und beantwortete jede Frage, die sie ihm stellte. Gleichzeitig hatte der Keeper ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend und glaubte, dass Elena ihn eventuell wegen etwas anderem anrief.

»Oh, das ist gut, dass es bei euch soweit alles klappt, ehrlich!« Das meinte sie wirklich ernst und hoffte, dass Genzo das verstand. »Ich erwarte von euch, dass ihr die Bremer fertig macht«

»Aye Aye, Chef«

»Und da wir gerade von Bremen sprechen«, kam es beinahe summend aus ihr. »kannst du dort gleich eine neue Bleibe suchen, denn wenn du je wieder ein Fuß nach München setzt, bring. Ich. Dich. Um!«

Da war es. Das unangenehme Gefühl in der Magengegend, welches sich immer weiter ausbreitete... und aus irgendeinem unerklärlichen Grund konnte er nur erahnen, was sie damit meinte. Jedoch blieb er unwissend und weitete nur irritiert seine Augen, angesichts der Todesdrohung, die Elena aussprach.

»W... was?«

»Du mieser, kleiner Balljunge!«

Plötzlich schallte es am Smartphone und sofort klingelte sein armes Ohr.

»Da bitte ich dich nur um einen einzigen Gefallen und du kriegst es nicht auf die Reihe deine dämliche Klappe zu halten?! Deinetwegen hatte ich ein sehr anregendes Gespräch mit Kamina führen müssen, weil Sho auf sie aufmerksam wurde! Sie hat mich mit ihrer Panikmache total mürbe gemacht, nur weil du geplappert hast!«

»Drei gegen Eins ist schon unfair!«, versuchte Genzo sich zu rechtfertigen.

»Drei?«

»Sho, Levin und Karl haben was von unserer Privatunterhaltung mitbekommen und mich ausgequetscht. Ich hatte keine Chance, ehrlich!«

»Du bist so ein Schwächling, Balljunge«

»Jetzt wirst du aber gemein«

»„Jetzt wirst du aber gemein“«, äffte sie ihn nach. »Wieso verflucht konntest du nicht still sein?«

»Was hätte ich denn machen sollen? Sie haben mich überrumpelt und war total chancenlos. Sie haben mir keine Wahl gelassen«

»Du hättest standhaft bleiben sollen. Deinen Mann stehen müssen. Eier bewiesen und... ach wem erzähl ich das überhaupt? Ihr Fußballer seid doch eh totale Weicheier«

»Das nehm' ich jetzt aber persönlich, Lenchen.«

Sie stockte plötzlich und antwortete ihm nicht. Fragend hob er seine Braue und sah ein paar Mal aufs Display. Er dachte schon sie hätte bereits aufgelegt, aber sie war noch dran.

»Elena?«

»... Es ist so komisch, dass du mich „Lenchen“ nennst«, sagte sie tonlos. »Sonst nennen mich nur mein Bruder, meine Mädels und meine Eltern so – und... auch mein Ex, aber bei ihm klang das so... unehrlich«

»...Wenn, wenn es dich stört, dann –«

»Nein!«, kam es lauter als gewollt aus ihr heraus. »Nein, ist... ist schon ok. Ist mir nur aufgefallen, weiter nichts. Ist auch nicht so wichtig...«

»Ok«, meinte er dann. »Wenn du es sagst«

»Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich mal wieder sauer auf dich bin.«

Da war sie wieder. Die angenehme Spannung zwischen ihnen, die die unangenehme Situation mit einem Wink wegfegte.

»Aber ist es denn so schlimm, dass Sho davon Wind bekam?«

Sie seufzte in den Hörer. »Eigentlich nicht.« Etwas knirschte und raschelte bei Elena, doch bevor der Keeper sie danach fragen konnte, fuhr die Reiterin fort. »Ich sagte ihr auch, dass das nicht schlimm ist und das es sogar eine großartige Gelegenheit ist mit ihm in Kontakt zu treten. Alles andere liegt bei ihr«

»Ja.«

Und wieder hörte er dieses merkwürdige Rauschen auf der anderen Leitung.

»Sag mal, was ist das da bei dir, was so raschelt?«

»Oh!« Sie sah sich um. »Ich liege auf einem Strohhaufen«

»Wie bitte? Auf Stroh?« Er musste schmunzeln.

»Ja, wir haben eine neue Ladung von unseren Landwirten bekommen und halte mich dort gerade auf. Es ist so toooooll.«

Genzo konnte ihre Begeisterung heraushören, aber auch das Bild, wo er sich Elena mit Strohresten im Haar vorstellte, amüsierte ihn.

»Probier das auch mal aus. Ist wirklich gemütlich«

»Na das Angebot nehme ich doch gerne an.«

Es vergingen weitere Minuten, ehe Genzo wieder das Wort ergriff. »Bist du mir noch böse, weil ich nicht still halten konnte?«

»Wie ich neulich sagte. Ich werde immer böse auf dich sein, selbst, wenn wir uns verstehen.«

Er konnte nicht anders als zu lachen. Solch eine burschikose Frau war ihm bis jetzt noch nie begegnet – nun ja. Zumindest nicht in Deutschland. An eine ähnlich lebhafte Persönlichkeit konnte er sich sehr gut erinnern: Maki Akamine, Hyugas Freundin. Sie war wie er ein richtiges Temperamentsbündel und konnte nicht nur einstecken, sondern auch ordentlich austeilen. Unglaublich, dass es jemandem gelang den wilden Tiger, unter dem Namen Kojiro Hyuga mittlerweile bekannt war, zu zähmen. Er glaubte fast, dass Elena sich wunderbar mit ihr verstehen würde. Er war sich sogar ziemlich sicher, dass das der Fall wäre.

»...wie auch immer, ich muss Schluss machen.«

Genzo hörte den abgehackten Satz gerade noch und als sie sich von ihm verabschiedete und kurz davor war aufzulegen, hielt er sie mit einem »Warte!« auf.

»Was ist denn noch?«, wollte sie wissen.

»Bist du mir wirklich nicht mehr böse?«, wollte er noch einmal ganz genau wissen und es schien ihm wirklich leid zu tun geplaudert zu haben.

Sie schwieg, begann dann aber doch zu lächeln. »Ist schon in Ordnung, Genzo. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass sich da endlich mal was bewegt«

»Tatsächlich?«, fragte er nach und ignorierte die Tatsache, dass Elena ihn bei seinem echten Namen ansprach.

»Na ja, ich sagte ja, dass sie ein kleines bisschen in ihn verliebt ist und dass Sho sich dazu entschlossen hat sie anzuschreiben, lässt mich auf ein Wunder hoffen. Wie hat er überhaupt reagiert, als er sie sah?«

»Als wir auf dem Weg nach Bremen war, habe ich ihm ein paar Bilder von Kamina gezeigt. Er hat seit dem nicht mehr sein Smartphone weggelegt, so fasziniert hat er darauf gestarrt.«

Ein leises, unterdrücktes Quietschen konnte Genzo am anderen Ende der Leitung hören und kicherte schwach.

»Er mag sie tatsächlich. Das ist toll!«, freute sie sich wie ein Honigkuchenpferd. »Jetzt muss sich nur noch zwischen den Beiden etwas entwickeln und dann hat dieses nervende Leugnen endlich ein Ende«

»Ich verstehe«, kommentierte der Keeper spitzbübisch. »Bei der ganzen Sache geht es in erster Linie um dich. So selbstsüchtig, kleine Ponyhalterin. Schäm dich«

»Halt die Klappe, Balljunge«, richtete sie sich auf, woraufhin Genzo wieder das bekannte Rascheln von Stroh vernahm. »Du hast ja keine Ahnung, wie unglaublich nervenaufreibend diese Gespräche waren, die ich mit Mina führen musste. Kimmy und ich haben ihr immer wieder zugeredet Sho mal anzuschreiben, aber sie blieb einfach stur. Das ist so anstrengend«

»Warum sträubt sie sich so sehr gegen ihre Gefühle? Was ist denn so schlimm daran sich zu verlieben?«

»Es ist... kompliziert.«

Das war es eigentlich nicht, aber Genzo brauchte Kaminas Hintergründe nicht zu erfahren – zumindest nicht von Elena.

»Das ist es doch immer«, seufzte er. »Also... da wir das jetzt geklärt haben... verspürst du keinen Drang mehr mich noch umbringen zu wollen?«

Sie lächelte erneut. »Nur, wenn du mir wieder auf die Nerven gehst und ich fürchte, dass wird ganz bald wieder der Fall sein«

»Du denkst immer nur das Schlechte von mir, Lenchen«

»Bei dir weiß man es nie, mein lieber Balljunge.«

Sie verloren sich abermals in angenehmes Gelächter, ehe Genzo kurz auf die Uhr sah und bemerkte, dass es spät wurde. Er hatte sich noch mit den Jungs zum Essen verabredet und wollten die bremer Straßen unsicher machen, wie Sho es nennen würde. Wenn er ehrlich war wollte er diese Unternehmung streichen lassen und weiter mit Elena quatschen. Es fühlte sich gut an, wenn sie sich unterhielten und er hatte das Gefühl, dass er ihr alles anvertrauen konnte. Er hatte in ihr einen guten Freund gefunden und umso erleichterter war er, dass auch seine Jungs sie mochten. Selbst die blöden Bemerkungen, die Elena über den Fußball machte, nahmen sie mittlerweile mit Humor. Und was Elena konnte, konnten die Jungs erst recht. Gerne zogen sie sie mit ihrem Beruf als Reiterin auf, doch einmal war die Diskussion besonders hitzig gewesen. »Es gibt einen Unterschied zwischen Pferdemädchen und Reitern!«, hatte sie mal gesagt und klang dabei sehr streng. »Pferdemädchen sehen nur hübsch aus. Echte Reiter machen sich jederzeit die Hände schmutzig und sind stolz drauf, wenn sie nach Mist stinken, merkt euch das!«

Ja, Elena konnte sehr überzeugend sein, was das Reiten anging. Und spätestens beim Thema „Pferdemädchen“ sollte man aufpassen, nicht in ein Hornissennest zu stechen, wenn sie dabei war.

Kaum machten seine Gedanken der Realität wieder Platz, da wollte er zu einem weiteren Gespräch ansetzen, als die Zimmertür sich öffnete und ein verdatterter Karl den in Handtuch bekleideten Keeper entdeckte.

»Du bist ja noch nicht angezogen. Ich dachte du wärst schon längst fertig. Wir wollten doch um die Häuser ziehen, oder hast du das etwa vergessen?«

»Wie, was?«, drehte sich Genzo zur Tür, dabei noch immer sein Smartphone am Ohr haltend. »Karl?«

»Der bin ich«, verschränkte er seine Arme und zog dabei eine Braue hoch. Als er das kleine Ding in seiner Hand bemerkte, begann er sofort zu grinsen. »Was denn, hab ich euch gestört?«

»Äh...« Genzo war noch immer verwirrt über Karls plötzliches Auftauchen gewesen und wollte darauf etwas erwidern, als auch noch Sho und Levin ihre Köpfe neugierig ins Zimmer streckten und ihren Kumpel im Bett liegend sahen.

»Kleiner Plausch mit einer gewissen Reiterin, wie?«, lachte der Kaiser und sofort wussten die Jungs hinter ihm, was er meinte. »Und er ist auch noch dabei nackt!«

Den letzten Satz sprach er bewusst so laut aus, dass es für Elena unmöglich war, das zu überhören. Und sie hörte Karl – mehr als deutlich und musste erst einmal verarbeiten, was er da gerade von sich gab.

»KARL!«

»Und so wie es aussieht, freut er sich sehr deine engelsgleiche Stimme zu hören, Lenchen!«, rief er weiter munter aus.

»KARL, ICH SCHWÖRE BEI ALLEM, WAS MIR HEILIG IST! HALT. DEINE. KLAPPE!«

Ehe Elena etwas erwidern konnte, wurde das Telefonat abrupt beendet. Offenbar hatte Genzo versehentlich aufgelegt und so wie er seine Stimme erhob, musste sich Karl auf etwas gefasst machen. Stumm sah sie auf ihr kleines Smartphone und ließ das Gespräch Revue passieren.

»Dieser Spinner«, murmelte sie und ließ sich wieder auf den gemütlichen Strohhaufen nieder. Sie hatte sich seit langem nicht mehr so wohl bei einem Jungen gefühlt, der nicht ihr Bruder war. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, ob sie dieses Gefühl auch bei Jens hatte. Vor ihrer Beziehung mit Sicherheit, doch als sie dann zusammenkamen, begannen nach einiger Zeit die ersten Probleme und die Sicherheit, die sie zuvor bei ihm spürte, schwand immer mehr. Die rotburger Mannschaft gab ihr diese Sicherheit zurück. Verrückt, dachte sie sich. Sie wollte nach der Sache mit Jens nie wieder etwas mit Fußball zu tun haben. Jetzt hatte sie sich ausgerechnet mit ein paar Fußballprofis angefreundet. Für sie noch immer eine ungewohnte Situation, obwohl mittlerweile Wochen vergangen waren, als sie sich begegneten. Sie waren dümmlich, chaotisch, blödelten rum und hatten nichts außer ihren doofen Ball im Kopf. Männer. Schwachsinnige Idioten allesamt, dachte sie. Und doch mochte sie die Jungs und wollte sie nicht mehr in ihrem Leben missen.

»Viel Glück euch«, murmelte sie, während sie mit einem warmen Lächeln auf die Decke des Lagers starrte. »Besiegt die Bremer und kommt gut nach Hause zurück.«

Ein unerwartetes Ärgernis

Das Quartett hatte sich in eine stadtbekannte Disco niedergelassen und ließen den Tag so richtig ausklinken. Es sprach sich schnell herum, dass die rotburger Jungs sich in Bremen aufhielten und erhofften sich einen kurzen Blick auf sie aus nächster Nähe zu erhaschen. Damit die Spieler ihre Ruhe hatten, wurden sie in eine private Lounge geführt, doch selbst dort waren sie vom Gekreische der überwiegend weiblichen Gästen, nicht sicher.

»Hätte nie gedacht, dass wir so beliebt sind, obwohl wir „die Feinde“ sind«, lachte Sho und gönnte sich seinen Drink.

»Ich will dir diese Vorfreude nicht nehmen, aber ich denke nicht, dass sie wegen uns so einen Aufstand machen.« Levin deutete mit einem Kopfnicken auf eine Gruppe junger Männer, wo einer von ihnen von Frauen beinahe belagert wurde.

»Das hätte ich mir denken können, dass Schester wieder von seinen Mädels umschwärmt wird.« Sho hob dabei seine Augenbraue, während er sich die Szenerie von der Lounge aus beobachtete.

»Ist da wer neidisch, weil jemand bei den Mädels besser ankommt als du?«

»Stimmt gar nicht«, empörte sich Sho und starrte dabei den kichernden Levin an. »Ehrlich, ich würde komplett durchdrehen, wenn mich die Mädels andauernd belagern würden. Es genügt schon, wenn sie nach uns rufen, sobald wir aus unserem Bus aussteigen und ins Stadion gehen.«

Genzo lehnte sich kommentarlos am schwarzen Ledersessel und trank dabei sein Drink.

»Seine Freundin tut mir jetzt schon leid, die das vielleicht ständig sehen muss«

»Ach, hat er wieder eine Neue?«, kam es überrascht von Levin.

»Weiß ich nicht«, zuckte Sho mit den Schultern. »Würde mich aber nicht wundern, wenn er sich ganz schnell eine anlacht.«

Franz Schester. Er war Bremens Starspieler, der für seine genialen Taktiken als Spielmacher bekannt war. Und er war nicht nur wegen seiner Fußballtalenten beliebt. Auch sein sonniges Gemüt und sein gutes Aussehen ließen Fanherzen höher schlagen.

Während die Jungs munter weiter über die Szenerie sprachen, blieb Karl ungewohnt still. Selbst sein Glas war noch voll und starrte Löcher in die Luft. Das blieb einem nicht lange verborgen.

»Alles in Ordnung, Karl?«, kam es von Genzo und rutschte näher zu ihm.

»Ich müsste mal mit dir sprechen«, kam er direkt zur Sache und stand auf. Sein Blick war warm, aber auch ernst. Er deutete mit einem Kopfnicken zu einem Nebenraum, den der Fußballkaiser sogleich betrat. Genzo kam Sekunden danach und schloss die Tür.

»Worüber willst du mit mir sprechen?«

»Du hast sicher die Gerüchte mitbekommen, dass wir vielleicht einen neuen Spieler haben werden«

»Seit Wochen zerreißen wir uns das Maul darüber, wen der Verein verpflichten will«

»Ich habe Vater ausgefragt.«

Genzo stand neben seinem Freund, der hinaus auf die funkelnde Stadt schaute.

»Nicht als Spieler, sondern als Sohn. Er hielt sich zunächst etwas bedeckt, dann aber gab er nach. Noch ist nichts entschieden, also kann es sein, dass wir doch keinen neuen Spieler bekommen, klar?«

»Nun spann mich nicht länger auf die Folter. Wer ist das jetzt?«

Karl lächelte bei Genzos Ungeduld – und bei dem Gedanken, wen Rotburg vielleicht aufnehmen würde.

»Kaltz«

»Was?!« Der Keeper glaubte sich verhört zu haben. Sein Verein beriet sich, ob sie Hermann Kaltz zu sich holten?

»Scheiße Mann, ist dir klar, was das heißt?«

»Na und ob ich das weiß, Wakabayashi. Das deutsche Trio wäre wieder komplett.«

Wenn das unter Dach und Fach ginge, Rotburg wäre Deutschlands unbezwingbarer Verein. Der Gedanke, wieder mit Kaltz in einer Mannschaft zu spielen, entfachte in ihn eine unglaubliche Freude, die er nur mit größter Anstrengung zurückhielt. Er wäre wie ein wilder Flummi durch die Gegend gesprungen und hätte pausenlos Jubelschreie von sich gegeben. Karl sah ihn an, dass es ihm gefallen würde und er hoffte auch, dass der Transfer gelang.

»Aber... aber warum eigentlich?«

Nicht, dass es ihm etwas ausmachte. Es war wie immer seine Neugier, die sich mal wieder bei ihm zeigte.

Karl zuckte unwissend mit den Schultern. Offenbar kannte er die Gründe für den möglichen Wechsel nicht und selbst Rudi, so erzählte er, schwieg eisern darüber.

»Man kann nur vermuten. Ansonsten müssten wir Kaltz selbst fragen, sollten wir ihn begegnen – und gegen die Grünwälder spielen. Wobei hast du eigentlich schon was von ihm gehört? Du hast ja mal erzählt, dass du dich mit ihm kurz nach deinem Wechsel zu uns unterhalten hast«

»Ja, das stimmt«, erinnerte er sich lächelnd daran. »Er war ziemlich geknickt, als ich dem Verein mitteilte, dass ich Hamburg verlasse und nach München ziehe. Kaltz nahm das recht mit, aber er verstand die Entscheidung und ich bin froh, dass auch die anderen mich dafür nicht verurteilten... zumindest einige von ihnen«

»Ich weiß genau, wen du meinst.«

Die Konfrontation zwischen Genzo und Hans war auch dem Kaiser nicht entgangen. Dem Keeper passte es nicht, dass er in den Anfangszeiten mit dem Japaner zusätzlich trainierte, doch Karl war seine Meinung völlig egal gewesen. Ihm war nur daran gelegen Grünwald stärker zu machen und hatte in Genzo eine großartige Verstärkung gesehen. Dank dem einstigen deutschen Trio konnte Grünwald in der Tabelle immer weiter aufsteigen. Einzig Rotburg war die Mannschaft, die sie nie vom Thron stoßen konnten.

»Meine Anfänge in Hamburg waren alles andere als leicht«, gab Genzo schmunzelnd von sich. »Nicht nur im Verein, sprachlich war es bei mir auch nicht leicht«

»Oh Gott erinnere mich bloß nicht daran«, musste Karl lachen. »Deine Deutschkenntnisse waren... wie soll ich es sagen, ohne gemein zu klingen...«

»Beschissen«, übernahm Genzo die Qual der Wahl. »Unterirdisch und absolut peinlich«

»Wärst du Chinese, hättest du mit Hilfe eines Wörterbuchs nach einer Stunde fließend Deutsch gesprochen«

»Damit würdest du sogar recht haben.«

Sie schwiegen wieder, während die dumpfe Musik hinter ihnen dröhnte.

»Grünwald geht es nicht gut.«

Der Keeper sah stumm seinen Captain an.

»Seit meinem Wechsel habe ich das Gefühl, dass sich der Verein gewandelt hat... aber nicht zum Besseren.«

Genzo teilte also den selben Gedanken wie sein Freund. Der Kaiser bemerkte den bedrückten Ausdruck des Japaners und warf ihm für einen Moment einen Seitenblick zu. »Zeemann hat es dir wirklich nicht leicht gemacht, hm?«

»Nein«, antwortete er kurz und knapp. Dabei nahm Karl den knurrenden Unterton in seiner Stimme wahr und sah weg.

»Unsere Telefonate drehten sich fast ausschließlich darum«

»Er hat mir den Verein kaputt gemacht.« Der Keeper betrachtete sein schwach durchschimmerndes Spiegelbild auf der Fensterscheibe. »Die Streitereien mit ihm wurden immer mehr. Ich saß mehr auf der Bank, anstatt ich vor dem Tor stehe«

»An die Spiele danach kann ich mich erinnern. Dich dort sitzen zu sehen, war beschämend. Du gehörst nicht außerhalb des Rasens, sondern mittendrin«

»Ich habe es so gehasst!«, grollte Genzo und sein ohnehin schon angespanntes Gesicht verfinsterte sich zunehmend. »Ich weiß, dass ich manchmal meinen eigenen Kopf nutzte und seine Entscheidungen infrage stellte. Zeemann hat mich deutlich spüren lassen, dass ich nicht mehr zu Grünwald gehöre und als der Verein neue Spieler aus dem Ausland holten, war es das endgültig für mich gewesen«

»Genzo«

»Ich habe dem Verein so vieles zu verdanken, dass ich da gar nicht mehr weg wollte«

»Das verstehe ich, aber –«

»Ich würde heute noch für sie spielen, wären diese Probleme nicht gewesen«

»Aber dann wärst du Elena nicht begegnet«

»Grünwald war alles für mich«, wirbelte Genzo herum. Seine Mimik glich einer wütenden Maske. »Und wenn es eine Möglichkeit gäbe wieder nach Hamburg zu ziehen, würde ich es tun und da würde sie nichts dran ändern. Sie spielt für mich keine Rolle, klar?!«

Dem jungen Fußballkaiser stockte der Atem und auch Genzo schien rechtzeitig bemerkt zu haben, was er da von sich gab und war von dem, was er gerade sagte, selbst erschrocken.

»Bitte...«, sagte der Japaner leiser und deutlich versöhnlicher. »Bitte sag Lenchen nichts davon. Sie... kann für all das ja schließlich nichts«

»Schon gut«, winkte Karl lässig ab. »Du bist aufgebracht und man sagt in solchen Situationen Dinge, die man nicht so gemeint hat«

»Ich hätte es trotzdem nicht sagen sollen.«

Karl hatte recht, dennoch zog sich seine Brust enger zusammen, als er wieder an seinen kleinen Ausbruch dachte.

»Ich will mir gar nicht ausmalen, was sie dann von mir hält«

»So wie wir sie kennen hätte sie wiedereinmal gemeine Worte für dich übrig gehabt... und vermutlich mich auch noch mit reingezogen. Du weißt doch, wie sie über uns Fußballer denkt. Wir sind allesamt Bälle tretende Schwachköpfe, die für was anderes nicht zu gebrauchen sind.«

Ja, das käme tatsächlich nach ihr. Genzo fühlte sich besser und auch die Stimmung lockerte sich zunehmend.

»Wäre cool, wenn Kaltz wirklich zu uns käme«

»Ja«, antwortete Genzo lächelnd. »Das wäre es wirklich.«
 

»Ok, ich hoffe wir haben alles beisammen für den Abend.« Timur ließ prüfend den reich gedeckten Wohnzimmertisch gleiten, denn heute begann das Rückspiel Bremen gegen Rotburg. Besuch stand an, um das heutige Spiel mit Spannung zu verfolgen.

»Schätzchen, wir haben alles, was wir brauchen. Jetzt mach nicht so ein Wind um die Snacks.« Kamina hatte ihre Beine übereinander gelegt und nippte entspannt an ihrer Bierflasche.

»Da musch isch ihr Rescht geben«, kam es von Kimmy, während sie zeitgleich ein paar Chips in den Mund stopfte. Sofort hielt sie sich ihre Hand vor dem Mund nach dem bösen Blick, den die adrette Schwarzhaarige ihr zuwarf. Alex und Benji lachten unverhohlen. Angestellte und Freunde des Goldsteingestüts, die gemeinsam mit Timur das Chaoten-Trio des Hofs bildeten.

»Eine Frage hätte ich. Warum bin ich hier?«

Die Gruppe sah zu Elena, die etwas abseits auf einem Barhocker saß und gelangweilt in eine rote Schüssel griff und gesalzene Popcorn pickte.

»Weil ich nicht will, dass du ganz alleine Daheim herumlungerst, während bei mir die Party steigt«, antwortete Timur bestimmend und nahm ihr prompt die Schüssel ab. »Abgesehen davon spielen heute unsere rotburger Jungs und du bist doch mit denen so vertraut«

»Du offenbar mehr, Bruderherz«, streckte sich Elena und gähnte einmal ausgiebig. Stumm klopfte Alex auf den freien Platz neben sich und bedeutete die Reiterin sich zu setzen. Alex, oder kurz Lexy, war in Timurs Alter. Die strohblonden Locken waren nach hinten gegelt. Lediglich ein paar Strähnen hingen ihm seitlich am markanten und hübschen Gesicht. Stahlblaue Augen musterten interessiert die junge Frau. Er war, wie viele Angestellte im Goldstein – Gestüt auch, Pferdewirt und wenn Alex ehrlich zu sich war, hätte er sich gar nicht vorstellen können hier zu arbeiten. Er war ein Problemkind und geriet schon früh in schiefe Bahnen, bis er letztendlich von den Behörden geschnappt und zu Sozialarbeiten verdonnert wurde. Ätzend, dachte er sich damals, bis er zu den Goldsteins kam... und bis heute blieb. Die Arbeit mit den Pferden gab ihm ein Ventil und wirkte wie eine Therapie, um sich zu entspannen. Oft wunderte er sich, warum die Familie ihn trotz seiner kriminellen Vergangenheit im Gestüt arbeiten ließ und die einzige Antwort, die er von Alexandr, dem Oberhaupt der Goldsteins, bekam, war: Ich erkenne einen guten Menschen sofort und du bist einer, dem ich bereit bin zu vertrauen.

Alex tat sich anfangs schwer mit der Pflege und den Pflichten im Gestüt, doch mit Hilfe der Geschwister bekam er endlich das, wonach er sich so lange sehnte und dachte es nie zu bekommen: Akzeptanz.

»Na, willst du dich wieder bei ihr einschleimen, Lexy?«, lachte Benji, während er einen ordentlichen Hieb auf seinem Arm zu spüren bekam. Benji hatte, verglichen mit den meisten Menschen im Wohnzimmer, einen rötlich-braunen Teint und wie Kamina seidige, rabenschwarze Haare. Ein Maori – Tattoo lugte aus dem hochgekrempelten, dunklen Ärmel hervor, welches seinen gestählten Arm vollständig zierte.

»Halt die Klappe, Benji«, brummte Alex und warf ihm einen nicht ernst gemeinten, giftigen Blick zu. Elena hatte sich tatsächlich neben den blonden Draufgänger gesetzt. Lässig hatte er seinen Arm auf die Couch gelegt und hielt ein kühles Bier in der anderen Hand. Auf den ersten Blick konnte man meinen, dass Alex etwas von Elena wollte und das Interesse vermutlich auf Gegenseitigkeit beruhte. Das war jedoch nicht der Fall gewesen. Sie benahmen sich eher wie Geschwister als ein Paar und wenn Timur nicht in ihrer Nähe war, übernahm prompt Alex die Rolle des Beschützers und „großen Bruders“.

»Hier schleimt niemand herum«, merkte Elena an und öffnete sich eine Bierflasche. »Ich bin einfach viel zu nett und sage zu jeden „Ja“ und „Amen“, wenn mich jemand um etwas bittet«

»Dann willst du für übermorgen doch meine Schicht übernehmen, während ich auf dem Sprung bin?«, scherzte Benji.

Elena lachte leise und gönnte sich einen Schluck. Zugegeben sie hatte darüber nachgedacht ein Teil seiner Arbeiten zu übernehmen, denn so wie er es andeutete, musste er wohl wirklich früher los und keiner möchte gerne Aufgaben unerledigt lassen.

»Ich denke Timur würde dir eher unter die Arme greifen«, entgegnete sie ihm dann. »Immerhin bist du Hufschmied und habe damit nicht viel am Hut«

»Tim?«

»Ich hab doch schon „Ja“ gesagt, also nerv' mich nicht wieder.«

Prompt ließ er sich auf einen nahen Sessel fallen und starrte auf den großen Flachbildschirm, der gerade diverse Werbespots einblendete, bevor das eigentliche Spiel begann.

Benjis Leben war in letzter Zeit turbulent gewesen – und bedauerlicherweise nicht zum Guten. Sein Onkel besaß einige Immobilien und Wohnungen, die er vermietete und es gab eine Familie, die unentwegt Ärger machte. Es stellte sich heraus, dass er sich Mietnomaden anlachte und partout nicht aus der Wohnung gingen. Selbst mit Androhung der Polizei wollten sie nicht verschwinden. Da kam das Gericht; die Räumungsklage stand bevor und sein Onkel bat Benji um Mithilfe. Die Goldsteins kannten ihn und vertrauten ihm blind. Kein Wunder, denn immerhin waren er und Timur seit Kindertagen die besten Freunde gewesen. Auch war er der einzige Junge, der nichts gegen das Reiten hatte und war auch der einzige, der diesen Sport aus einer anderen Sicht wahrnahm als nur eine beliebte Freizeitaktivität für überwiegend Mädchen.

»Ich hoffe ihr werdet diese kriminellen Schmarotzer endlich los«, sagte Kamina schließlich. »Ich hätte sie höchstpersönlich im hohen Bogen rausgeschmissen«

»Aber sicher doch, Madamchen Minchen«, eckte Alex grinsend an. »Mit deiner gewohnt zickigen Art und den langen Krallen, die du mit dir herumschleppst, würden sie freiwillig die Drachenhöhle verlassen«

»Ich könnte dich ja vorschicken«, kam ihr plötzlich die Idee und schlug ihre Beine elegant übereinander. »Für einen kleinen Giftzwerg wie du wäre das doch ein Kinderspiel! Warum hast du ihn nicht schon eher darum gebeten, Benji?«

»Damit meine Akte um eine weitere Straftat erweitert wird? Danke, aber ich hänge an meinem Job und die Zeiten, wo ich ernsten Mist gebaut habe, sind außerdem vorbei«

»Gute Entscheidung, Alex«, sagte Elena und gab dem blondem Draufgänger eine innige Umarmung. Sofort ruhte sein Arm auf ihre Schulter und legte seinen Kopf auf ihren.

»Das letzte Mal, als du mich so umarmt hast, waren wir Kinder«, begann Timur zu schmollen.

»Ich weiß«, lächelte sie ihn zuckersüß an.

»Und warum jetzt nicht mehr?«

»Welchen Grund bietest du mir dich auch wie Lexy zu umarmen?«

»Ich bin dein Bruder«

»Und da haben wir das Problem«, streckte sie ihm prompt die Zunge heraus. »Lexy mag ich. Und du bist nervig«

»Na danke auch.«

Die Gruppe lachte. Typisch für die Goldsteingeschwister. Es gab kaum einen Moment, wo sie sich nicht ärgerten. Dann begann endlich das Spiel Rotburg gegen Werder Bremen. Dieses Mal jedoch hatte Bremen jemand Besonderen im Team.

»Moment Mal«, erklang es aufgeregt von Timur und lehnte sich vor, um die Person auf dem großen Monitor besser sehen zu können. »Ist das... Franz Schester?!«

»Der spielt dieses Mal mit?«, kam es von Kim.

»Er war krankgeschrieben und ist wieder genesen«, erklärte Benji. »Die Mannschaft ist mit Schester komplett anders. Wir dürfen gespannt sein, wie sich die Rotburger schlagen.«

Die Gruppe verfolgte aufmerksam das Spiel. Beide Mannschaften kämpften förmlich um den Ball und schnell gelang es Rotburg ihn zu ergattern. Sho dribbelte gekonnt an die Gegner vorbei und passte direkt zu Schneider. Jeden außer Elena hielt es kaum in ihren Sitzen; ein Eröffnungstor der Rotburger schien fast schon in Stein gemeißelt. Sie erschraken sich, als plötzlich Schester auftauchte und sich ein hitziges Duell mit dem Fußballkaiser lieferte, den er, zur Überraschung aller, für sich entschied.

»Oh wow der ist echt schnell!«, kam es begeistert von Timur.

»Bremen spielt durch Franz jetzt komplett anders als davor«, sagte Benji und schnellte gerade noch seine Hand zurück, als er sich im letzten Moment umentschied seine Bierflasche zu halten.

»Man merkt gut, wie motiviert die Bremer sind, nachdem Schester wieder mitmacht«, entgegnete Alex und klaute sich ein paar Popcorn von Elenas Schüssel, die sich nicht sonderlich daran störte.

Wieder galt ihre Aufmerksamkeit dem Spiel und auch Genzo selbst, der den blitzschnellen Ball vor dem Tor fing und galant auf den grünen Rasen landete.

»Sauber gehalten, Gen!«, freute sich Timur und rasch zogen die anderen nach. Nur Elena nicht. Sie starrte weiter gelangweilt auf den Monitor und gönnte sich einen weiteren Schluck Bier.

»Ach Lenchen, jetzt freu dich doch mal mit«, rückte Kim näher an sie heran, stellte zügig ihre Flasche auf den Glastisch und hob mit ihren Fingern die Mundwinkel für ein Lächeln an.

»Lasch dasch epfälligst!«, begann sie mit den Armen zu wedeln. Erst, als Elena begann sie an ihre Seite zu kitzeln, ließ die kichernde Kim von ihr ab und verfolgten weiter das Spiel. Schester setzte mehrmals zu gefährlichen Schüssen an, doch Genzo hielt eisern seinen Kasten sauber. Schnell merkten sie, dass der Keeper ernsthafte Probleme hatte die Angriffe von Bremers Topspieler standzuhalten.

»Wow, Genzo kommt ja richtig ins Schwitzen«, stellte Timud erstaunt fest. »Unglaublich, dass es noch andere Spieler gibt, die ihm was entgegenzusetzen haben«

»Der kleine Wicht ist wirklich talentiert«, sinnierte Kamina und tippte gedanklich mit dem Zeigefinger auf ihr spitzes Kinn. »Er ist doch auch unter einem anderen Namen bekannt, richtig?«

»“Bremens Computer“ wird er auch genannt, da er ein genialer Taktiker ist und punktgenau vorausplanen kann, von wo der Ball kommt«, kam schließlich Alex' nüchterne Beschreibung zu Schester.

»Er kann so viel taktieren, wie er lustig ist. An unseren Genzo kommt selbst er nicht an.«

Es waren nur noch knapp zehn Minuten bis zum Halbzeitpfiff. Kein Tor wurde bis jetzt erzielt. Dann bekam Schneider den Ball und preschte los. Die Bremer hatten keine Chance ihn aufzuhalten. Selbst Schester bemerkte, dass Karl so langsam ernst machte und versuchte alles, um ihm den Ball abzunehmen. Es gelang ihm nicht. Karls Eifer ein Tor vor der zweiten Halbzeit zu machen, loderte wie eine wütende Flamme. Und vor dem gegnerischen Strafraum setzte er seinen berüchtigten Feuerschuss ein – und der Ball drückte sich förmlich gegen das Netz, sodass man fürchtete es würde jeden Moment reißen. Das Stadion jubelte. Endlich ein Punkt für Rotburg! Auch die Gruppe im Wohnzimmer konnte sich gar nicht mehr auf ihren Sitzen halten und schrien vor Freude auf. Nur Elena hielt sich mit ihrer überschwänglichen Freude zurück. Einzig ein kleines Lächeln bildete sich auf ihrem Gesicht.

»Gut gemacht, Karl«, sagte sie leise, was keiner wegen der euphorischen Stimmung hörte. Dann aber wurde sie doch etwas lauter, als Alex versehentlich ein bisschen von ihrem Bier auf die Bluse schüttete und der junge Mann sich schützend ein weiches Kissen hielt und wie in Dauerschleife um Entschuldigung bat.

»Leute, Leute, es geht weiter!«, wedelte Kim hastig mit ihrer Hand und ihre braunen Augen klebten förmlich am Flachbildschirm, als die Bremer den Anstoß hatten und auf die rotburger Spielfeldseite rannte. Schester hatte den Ball angenommen und jagte förmlich über den Platz. Er wollte unbedingt den Ausgleich schaffen, bevor die zweite Spielhälfte begann. Die Rotburger kamen kaum hinterher. Franz spielte jeden mit unglaublichem Geschick aus, als hinge sein Leben davon ab. Sogar Karl – Heinz war dem flinken Mittelfeldspieler in diesem Moment kaum gewachsen. Plötzlich kam der Schuss. Die Verteidiger waren machtlos. Der Ball rauschte wie ein Blitz an ihnen vorbei. Genzo sah ihn kommen und hechtete schnell zur rechten Torecke. Das Timing stimmte gerade so. Noch in der Luft hatte der Japaner den Ball gehalten, bevor er die Torlinie überschritt.

»Sauber gehalten, Genzo!«, rief Timur aus. Dann überkam jeden die Panik. Der Keeper knallte mit der Schulter gegen den Pfosten. Ein unerträgliches Brennen strömte durch seinen Körper; Spieler und Sanitäter eilten zu ihm. Ein schwerer Unfall ereilte Genzo. Seine linke Schulter stieß mit dem Pfosten zusammen und er konnte seinen Arm nicht mehr bewegen. Das war ein schwerer Schlag für die Rotburger. Genzo konnte sich nicht gegen die Behandlungen der Ärzte wehren. Dafür schmerzte seine Schulter zu sehr.

»Oh Gott, Genzo.«

Die eben noch ausgelassene Stimmung war völlig ausgestorben. Keiner konnte auch nur einen weiteren Ton von sich geben. Eines war für die Gruppe und auch für die Menschen im Stadion sonnenklar. Das Torwartgenie Genzo Wakabayashi fiel die nächsten Spiele aus.

Reue und Ehrfurcht

Da war er wieder. In München in seiner Wohnung. Im Bett liegend und starrte mit leerem Ausdruck zum Fenster hinaus. Die Worte des Arztes hallten noch immer in seinem Schädel. Schulterverstauchung und es dauerte mindestens acht Wochen, bis er wieder spielen konnte. Das Match konnte er sich noch auf der Bank ansehen und Rotburg gewann knapp das Ding. 2 : 1 stand es. Drener hielt sich wirklich wacker und niemand nahm es ihm übel, dass er ein Tor von Schester kassierte. Bremen mit ihrem Captain war ein sehr starker Gegner, doch Rotburg wollte unbedingt an der Spitze bleiben. Und dafür würde Genzo sorgen, komme was da wolle.
 

Der Japaner hatte am nächsten Morgen seine weiße Bettdecke über den Kopf gezogen, als sich ein Sonnenstrahl zwischen den Seidengardinen zwängte und begann seine Nase zu kitzeln. Leise murmelnd versuchte er wieder zu schlafen. Die Müdigkeit kehrte langsam zurück, den Träumen ganz nah – dann vernahmen seine Ohren seltsame Geräusche in seiner Wohnung. Sofort riss er die Augen auf, warf die Decke zur Seite und setzte sich ruckartig aufrecht. Er horchte auf, aber da war nichts. Hatte er sich das nur eingebildet? Genzo hörte nichts mehr, also legte er sich wieder hin und schloss seine Augen.

Klirr! Da war es wieder. Der seltsame, hohle Klang von Glas, der ihm vom Bett springen und aus dem Zimmer stürmen ließ.

»Wer ist da?!«, rief Genzo aufgeregt, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob es sich vermutlich um Einbrecher handelte. »Wer auch immer da ist, hau ab!«

Als er wütend die offene Küche betrat, traute er seinen Augen kaum.

»Moin, moin, Gen!«, stellte ein grinsender Timur Geschirr und Besteck auf die Kücheninsel und sah belustigt zum verwirrten Keeper herüber. »Gut geschlafen?«

»Timur?!« Genzo blinzelte ungläubig den Reiter an und rieb sich mit seinem gesunden Arm die Augen. Er dachte, dass er träumte, aber das tat er nicht. Timur stand tatsächlich vor ihm und hatte Frühstück zubereitet.

»Was machst du hier?!«

»Wie „was mach ich hier“? Du hast mich doch neulich gebeten auf deine Bude aufzupassen, solange du in Bremen bist. Hast du das etwa vergessen?«

»Jetzt lass ihn doch erst einmal wach werden«, hörte Genzo eine ihm wohlbekannte, sanft klingende Stimme im Wohnzimmer. »Gib dem armen Kerl etwas Kaffee. Er scheint mir gerade nicht aufnahmefähig zu sein«

»Elena?!«

Sie grüßte ihn mit einem losen Kopfnicken und sah sich weiter die eingerahmten Fotos seiner Jugend an.

»Lenchen hat recht«, drückte Timur Genzo daraufhin eine schöne, heiße Tasse Kaffee in die Hand. »Trink das, dann bist du wieder hellwach«

»Danke, aber ich würde mich vorher noch anziehen, dann erklärt ihr mir noch einmal, warum ihr hier seid.«

Lange mussten sie nicht auf den Japaner warten. Frisch geduscht und in Sportklamotten gekleidet setzte er sich auf eines der Hocker, die vor der Kücheninsel standen.

»Also wie gesagt. Du hast mich neulich darum gebeten auf deine schicke Wohnung aufzupassen, während du weg bist«, erklärte Timur, was Genzo dieses Mal eher wahrnahm als zu Beginn. »Wir haben das Spiel gestern gesehen und ich hab dir eine Nachricht geschickt und...«

»Ja, ich weiß. Ich hab sie gelesen«, seufzte er schwach und sah niedergeschlagen auf sein belegtes Käsebrötchen. »Tut mir leid, dass ich nicht geantwortet habe«

»Ach, schon in Ordnung, Kumpel. Du wolltest ja lieber für dich sein. Wie... geht es dir?«

»Wie soll es mir schon gehen?«, fragte er grimmig. »Beschissen geht’s mir. Ich kann die nächsten acht Wochen nicht spielen und die Jungs unterstützen!«

»Die Bundesliga dauert ja noch«, versuchte Elena beruhigend auf ihn einzuwirken. Auch hoffte sie ihn damit auf diese Weise besänftigen zu können. »Und bis dahin bist du wieder längst einsatzbereit. Die Rotburger sind auch ohne ihren schnöseligen Balljungen stark, also hab ein bisschen mehr Vertrauen in sie«

»Daran liegt das nicht, Elena!« , antwortete er lauter als beabsichtigt. »Ich gehöre auf den Rasen und nicht auf die Bank. Und jetzt kann ich das nicht, weil ich krankgeschrieben bin!«

»Genzo, davon geht doch die Welt nicht unter.« Elena merkte schnell, wie sich das Ganze allmählich hochkochte. »Ich weiß, dass du gerade wütend bist, weil du dich verletzt hast. Ich verstehe das, ehrlich. Ich weiß, was du gerade durch –«

»Du weißt nicht, was ich durchmache«, unterbrach er sie forsch. »Du weißt nicht, wie es ist unter Anspannung zu stehen und immer darauf zu achten, dass der Ball nicht ins Tor landet!«

»Du hast recht«, entgegnete sie ihm mit völliger Ruhe weiter. »Ich kann mir nicht im Ansatz vorstellen, was du als Torwart für eine Verantwortung trägst«

»Wie auch, wenn du, verglichen mit mir, nur auf dem Sattel sitzt und Dilas die meiste Arbeit macht!«

»Es reicht!«

Wütend schlug Timur mit seinen Händen auf die schwarze Marmoroberfläche und stand ruckartig auf. Es war selten, dass der Reiter aufbrausend wurde und wenn das der Fall war, dann war es ernst. Genzo beruhigte sich wieder und fühlte sich beim lauten Ton seines Freundes beinahe eingeschüchtert. Er ohrfeigte sich selbst für seine taktlose Ader. Eine schlechte Angewohnheit, die der Keeper so lange ablegen wollte, aber es gelang ihm nicht wirklich. Wann immer dieser schlecht gelaunt war, wurde er ungehalten und, wie auch in diesem Fall, etwas zu persönlich.

»Elena, ich –«

»Ich warte draußen.« Sie stand auf und ohne auch ein weiteres Wort zu verlieren oder auf ein weiteren Ton des Keepers zu reagieren, ging sie zur Haustür.

»Elena, bitte warte!«, versuchte Genzo sie aufzuhalten, aber da sah er schon die Tür zuschlagen.

»Großartig, Genzo«, rieb sich der Japaner das Gesicht und fuhr danach durch sein schwarzes Haar. Timur verfolgte die Handlung im Stillen weiter.

»Na los. Nur zu. Drück's mir ruhig rein.«

Der Reiter lächelte nur und schien sofort zu wissen, was der Fußballer meinte.

»Ich glaube das ist nicht mehr nötig. Allein der enttäuschende Blick meiner Schwester hat dich so erschüttert, dass du dich innerlich zusammenziehst und am liebsten ins hinterste Loch verkriechen willst«

»Sie hasst mich jetzt«

»Nein, Genzo. Tut sie nicht«, stand er auf und begann den Tisch abzuräumen. »Ganz im Gegenteil sie ist auch traurig, dass du für eine Weile nicht spielen kannst.«

Jetzt musste er aufschauen. Der verwirrte Ausdruck auf seinem Gesicht brachte Timur fast zum Lachen.

»Ja, Lenchen macht sich einen Spaß daraus dich und die anderen wegen eurer Leidenschaft aufzuziehen. Wegen der Sache mit Jens ist sie momentan nicht der größte Fan von Fußball und glaub mir, wenn ich sage, dass sie noch weniger wert auf diesen Sport läge, wäre das für euch nur eine Freizeitbeschäftigung. Daher weiß sie ganz genau, dass das für euch nicht nur ein Zeitvertreib ist. Es ist eure Arbeit und das erkennt sie an. Daher hat sie auch großen Respekt vor das, was ihr tagtäglich tut. Sie zeigt es nur auf ihre Art, oder hast du sie schon einmal erlebt, wie geringschätzig sie euch behandelte oder euch sogar als minderwertig erachtet, weil ihr Fußball spielt?«

Genzo dachte ernsthaft über seine Worte nach. Sie machte sich immer über sie lustig und erst jetzt fiel ihm auf, dass Elena dabei nie über die Strenge schlug. Sie respektierte die Jungs, trotz ihrer offenen Abneigung dem Fußball gegenüber. Sein Magen schnürte sich so eng zusammen, dass die Schulter nicht mehr das einzige war, was schmerzte.

»Alles klar bei dir?«

»Nein«, antwortete Genzo bedrückt. Sofort ging Timur auf ihn zu und legte behutsam seine Hand auf den Rücken.

»Nein, mir ist nicht schlecht oder so«, beruhigte Genzo schnell den Reiter, als dieser ernsthaft besorgt um ihn wurde. »Ich habe nur darüber nachdenken müssen, was du gerade gesagt hast. Und ich habe mich ihr gegenüber so unfair verhalten, dass ich mich fast schon nicht mehr traue ihr unter die Augen zu treten«

»Ja, du siehst echt gerade aus, wie ein geprügelter Hund«, begann Timur zu lachen, aber Genzo war in dem Moment nicht nach Scherzen zumute.

»Jetzt hör schon auf Trübsal zu blasen. So nachtragend ist unsere Lenchen nicht. Sie hat nur wieder einen Grund gefunden dich aufzuziehen«

»Na danke auch«, nuschelte er und musste doch darüber ein wenig schmunzeln.

»Nun gut, ich räum hier mal die Küche auf, während du deine Sachen packst.«

Genzo spitzte die Ohren. »Ich soll was?«

»Glaubst du wirklich, wir lassen dich ganze acht Wochen allein in der Wohnung versauern? Das kannst du glatt vergessen, Kumpel«

»A... aber«

»Nichts aber. Du packst ein paar Sachen und dann ziehst du solange bei uns ein, bis du wieder gesund bist, ist doch klar.« Timur wartete auf keine Antwort, sondern machte sich dran das Geschirr zu säubern. »Außerdem fördert die Landluft dein Heilungsprozess und stehst, wenn's gut läuft, wieder ruckzuck auf dem Platz.«

Genzo merke schon an Timurs Sturheit käme er nicht heran. Er hatte bis dahin keine Ahnung gehabt, dass er so dickköpfig wie er sein konnte. Er seufzte schwach und gab nach.

»Na gut, aber nur, wenn es wirklich in Ordnung ist«

»Ich hab dich eingeladen, also ist es in Ordnung.«

Dann ging er wieder zu seinem Schlafzimmer und holte seine große Sporttasche aus dem Schrank. Eigentlich hatte Timur ja recht damit. Er hätte wirklich acht Wochen lang allein in seinem Appartement verbracht und wäre, wenn überhaupt, nur aus dem Haus gegangen, um entweder beim Arzt aufzukreuzen oder um ein paar Runden zu drehen. Ein bisschen Gesellschaft war sicher nicht verkehrt und dass sie von den Goldsteins kam, war ihm das recht.
 

Die Autofahrt zum Gestüt verlief schweigend. Elena hatte sich nicht die Mühe gemacht mit Genzo zu sprechen. Und als sich der Keeper wegen seines taktlosen Benehmens bei ihr entschuldigte, nahm sie das relativ belanglos hin. Das Magenziehen hatte sich verschlimmert. Er hasste es sich mit Elena zu streiten. Eigentlich stritten sie sich immer, aber es war nie was ernstes gewesen. Wenn es richtig krachte, so wie jetzt, war das eine Qual und das nicht nur für ihn.

»Da wären wir.«

Wortlos stieg Elena aus dem Wagen und ließ die Beifahrertür hinter sich zufallen.

»Lenchen«

»Zeig Genzo, wo er schlafen kann«, sagte sie rasch und hatte keine große Lust länger bei den Jungs zu bleiben. »Ich muss das Futter für die Pferde vorbereiten.«

Dann war sie weg.

»Nicht nachtragend, hm?«

»Sie beruhigt sich schon wieder. Kannst ja später nach ihr sehen. Sie wird sich vermutlich die meiste Zeit bei den Ställen aufhalten und wenn sie dort nicht ist, dann entweder in unserer Reithalle oder im Hauptgebäude«, deutete Timur mit einem Kopfnicken zum imposantem Bauwerk daneben. »Ich werde mich dann gleich zur Schmiede aufmachen. Benji kann die ganze Arbeit ja schlecht alleine stemmen«

»Benji?«

»Ein Kollege und lieber Freund von mir. Er ist Hufschmied, sowie ich«, grinste er stolz und trat mit Genzo ins Haus. Wie bei Elena war auch die Innenarchitektur ähnlich gehalten. Die selben warmen Farben an den Wänden, die selben dunklen Holzmöbel, die mit vielen edlen Stücken der Reiterfamilie verziert waren. Genzos Heim wirkte dagegen unpersönlich und trist, obwohl er sich eine schicke Eigentumswohnung in einem guten münchner Stadtteil gekauft hatte. Alles bereits möbliert und mit seinen eigenen wenigen persönlichen Dingen dekoriert. Elena war nicht das erste Mal in seiner Wohnung gewesen und hatte kein Geheimnis drum gemacht, diese runter zu machen. Grässlich und kalt hatte sie es genannt, was Genzo überrascht und amüsiert gleichermaßen zurückließ. Auf die Frage hin, warum sie seine Wohnung nicht mochte, war die Antwort, sie ähnelte eher „einem Wartezimmer einer großen Anwaltskanzlei oder eines Unternehmens, die der Welt unnötigen Schnickschnack für teures Geld andrehen wollte“. Lachen musste darüber nicht nur der Keeper. Ein bisschen recht hatte sie allerdings schon. Sein Appartement wirkte für Leute, die dort nicht wohnten, etwas zu unpersönlich, aber er kaufte sie auch eher für den praktischen Nutzen. Sie war in einer guten Gegend und sein Verein war nicht weit entfernt, sodass er gar zu Fuß nur knapp eine viertel Stunde bis zum Platz bräuchte. Vom Gestüt aus hätte er die doppelte Zeit gebraucht oder vielleicht sogar länger.

»Das Haus hat mehrere Gästezimmer, die ich dir zeige. Dann kannst du dir aussuchen, welches du nutzen möchtest«

»Ich weiß bereits, welches Zimmer ich beziehen werde«, sagte Genzo und stand auch schon vor besagter Tür. Mit seiner freien Hand drückte er die schwungvoll vergoldete Klinke runter und betrat das luxuriöse Zimmer. Direkt vor der kastanienbraunen Wand stand ein großes Bett mit dazu farblich abgestimmten Bezug aus Schwarz und Creme. Ein heller Teppichfußboden hatte sich im gesamten Zimmer gelegt und endete an der Türschwelle des benachbarten Bades. Ein üppiger Wandschrank, stand neben der Zimmertür und nahm, trotz seiner Masse, kaum Platz ein. Wie im Rest des Hauses konnte man auch im Gästezimmer einige Pferdedekorationen in Form von kleinen Statuetten oder Büsten ausmachen.

Genzo warf seine prallgefüllte Sporttasche aufs Bett und legte sich hin. Sekunden danach sank er leicht in die schwarze Bettdecke ein.

»Als würde man auf einer Wolke schlafen«

»Ja, stimmt. Passender Vergleich«, lachte Timur auf, als er am Türrahmen lehnend seinen Freund ansah. »Dann lass ich dich mal allein. Solltest du was brauchen, ruf einfach nach uns«

»Mach ich«

»Und falls du hunger hast, du weißt, wo der Kühlschrank steht. Plünder ihn ruhig, wenn dir danach ist«

»Na, für wen hältst du mich denn?«

»Für einen ganz feinen Kerl, der jederzeit meinen Kühlschrank leer futtern darf.«

Und mit diesen Worten verabschiedete sich Timur von Genzo. Da war er nun. Acht ganze Wochen blieb der Keeper bei den Goldsteins. Es war noch immer eine ungewohnte Situation, aber beschweren brauchte er sich wirklich nicht. Er war, wenn er mal nicht mit seinen Jungs irgendwo unterwegs war, gerne im Gestüt und hatte Elena bei ihren Tätigkeiten oft beobachtet. Besonders, als sie die Pferde trainierte, die dann an ihre neuen Besitzer gingen, fand er spannend anzusehen. Bei manchen Trainingsmethoden, wenn zum Beispiel nicht an verschiedenen Gangarten geübt wurde, hatte er sich zu Beginn gefragt, ob das dem Tier gut tat, wenn es plötzlich über laut knirschende Planen drüber steigen musste oder wie aus dem Nichts ein mit Blätter geschmückter Ast vor die Nüstern geriet. Solche Methoden dienen dazu das Pferd an die Umwelt und an deren Einflüsse zu gewöhnen, hatte Elena mal erklärt. Ein Pferd, das scheut, ist eine ernsthafte Bedrohung für Mensch und Tier gleichermaßen und mit solchen Übungen und intensivem Training beugte man Reitunfällen vor.

Genzo hatte lange darüber nachgedacht. Eigentlich machte das Sinn. Beim Schmökern diverser Sportartikel, und natürlich stand beim Schmökern Fußball an oberster Stelle, stachen ihm hin und wieder News über den Reitsport ins Auge und neugierig, wie er war, las er diese durch.

Ja. Der Reitsport war gefährlich. Von Reitunfällen auf Turnieren und in der Freizeit waren die Rede. Reiter fielen vom Pferd, landeten auf den Boden oder gar auf Hindernisse und trugen schwere Verletzungen davon. Manchmal gab es sogar furchtbare Todesfälle, die ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken jagten.

Timur hatte über seine Unfälle gewitzelt, dass das meist nicht so tragisch sei wie es auf dem ersten Blick schien. Einmal erzählte er, dass Elena während ihres Trainings mit Dilas vom Pferd fiel und mit ihrem ganzen Körper an einem Barren hängenblieb. Sie schlüpfte raus, klopfte sich den Staub von ihrer Kleidung und tat so, als wäre nie etwas gewesen. Sie hatte sich sogleich wieder auf den Sattel geschwungen und das Training fortgesetzt. Drei Tage danach ging sie zum Arzt, da sie über unangenehme Schmerzen an der Seite klagte. Entsetzt stellte der Arzt fest, dass zwei ihrer Rippen angebrochen waren und fragte sie fast schon wütend, warum sie nicht sofort zu ihm gegangen sei. Sie zuckte unbeeindruckt mit den Schultern und dachte einfach, dass sie furchtbaren Muskelkater hatte. Als Timur damals Genzos geschockten Ausdruck sah, hatte er laut auflachen müssen. »Wir Reiter sind verdammt hart im Nehmen, wenn es drauf ankommt«, sagte er mit breitem Sonnenscheingrinsen. »Verglichen mit euch Fußballern heulen wir nicht jedes Mal rum, wenn wir einen kleinen Fußknicks haben.«

Das war gemein, hatte sich Genzo gedacht, musste sich aber dennoch eingestehen, dass viele Profifußballer etwas zu sehr auf die Tränendrüse drückten, wenn sie sich während des Spiels oder beim Training verletzten. Wehwehchens, wo sie dachten, sie würden sterben, wurden meist mit Eisbeuteln und ein wenig Ruhe wie durch ein Wunder kuriert.

Er ging zum Fenster und zog sacht die helle Gardine beiseite. Vor ihm erstreckte sich ein Panorama einer riesigen Koppel. Hinter der Einzäunung fand sich ein Waldstreifen, ein paar Felder und schließlich München selbst. Eine Aussicht, die sich durchaus sehen ließ. Das würden acht interessante Wochen werden.

Genzo streckte sich ausgiebig. Dabei achtete er darauf seine Schulter nicht zu belasten und trat aus dem Zimmer. Er wollte Elena sehen und zwar jetzt. Auch, wenn sie momentan beschäftigt war, wollte er die Sache von heute Morgen bereinigen. Was sagte Timur noch gleich? Entweder sie war bei den Ställen, in der Reithalle oder im Hauptgebäude. Also schaute er zuerst bei den Ställen vorbei.

Die Pferde machten sich bereits über das Futter her, doch eine Elena sah er nicht. Dafür aber einen blonden Jungen, dessen Erscheinung Genzo erst einmal irritierte. Er wirkte rebellisch und wild. Einer, der gerne Ärger machte und... wenn er ehrlich war, nicht ganz zum sonst vornehmen und edlen Gestüt passte. Der Eindruck täuschte sicher und voreingenommen wollte er gewiss nicht sein.

»Verzeihung?«, räusperte sich Genzo lautstark und hatte schnell die Aufmerksamkeit des jungen Mannes sicher.

»Hm?«, war seine brummige Gegenfrage, schaute aber genauer hin, als er bemerkte, wer vor ihm stand. »Das gibt’s nicht. Timur hat echt ernst gemacht«

»Äh... was meinst du damit?«

»Faselte davon, dass er dich bei sich wohnen lässt, solange du verletzt bist«, grinste der Blonde und lehnte die Heugabel an einem offenen Stall. »Hätte ich mir eigentlich denken können. Passt auch zu ihm. Er hat einfach ein zu großes Herz«

»Du kennst mich offenbar«

»Ja natürlich kenn' ich dich!«, schnappte dieser laut auf, als wäre er über diese Äußerung empört gewesen. »Genzo Wakabayashi. Der Top – Keeper, der seit ein paar Monaten für Rotburg spielt. Ich bin Alex, falls du fragen solltest. Freunde nennen mich Lexy«

»Angenehm«, lächelte dieser und reichte ihm die Hand, die sogleich mit einem kräftigen Händedruck erwidert wurde.

»Du bist sicher nicht hier, um Smaltalk zu betreiben, richtig? Also wie kann ich helfen?«

»Nein, aber die Tage sicher, Alex. Ich suche Len... Elena, aber ich finde sie hier nicht«

»Lenchen hast du knapp verpasst.« Er deutete mit seinem Zeigefinger auf das Haus hinter Genzo. »Ist eigentlich das Elternhaus der Goldsteins, wird aber auch als Bürogebäude benutzt, wo Angestellte hingehen können, sollte was sein. Du kannst ruhig rein«

»Okay. Danke, Alex«

»Eins noch der linke Flügel ist tabu. Da sind die privaten Räume der Eigentümer, also geh da ja nicht hin, wenn du keinen Stress haben willst«

»Danke für den Hinweis.«

Sie verabschiedeten sich und Genzo marschierte Richtung Haus. Er stand vor einem beeindruckenden Türeingang und öffnete sie.

»Elena?«, rief er und seine Stimme hallte gegen die imposante Eingangshalle. Neugierig sah er sich um. Zwei geschwungene Treppen führten in die obere Etage und über seinen Kopf hing ein glänzender Kronleuchter. Als er weiter die Einrichtung beäugte, traute er sich gar nicht sie anzufassen. Die Angst etwas kaputt zu machen, war riesig.

»Elena?«, rief er erneut ihren Namen, aber wie beim ersten Mal bekam er keine Antwort. Er seufzte schwach, dann fiel ihm ein Korridor auf, der ihn magisch anzuziehen schien. Er folgte diesen und betrachtete interessiert die großen Fotoleinwände von Pferden und Reitern. Nicht wenige waren schwarzweiß bedruckt und eines davon hatte es ihm besonders angetan. Auf eines der Leinwände war ein großes Foto von Elena bedruckt, die mit Dilas während eines Turniers über einen mit Blumen verzierten Barren sprang. Im Hintergrund waren wirre weiße Flecken, die Blitzlichter muteten, zu sehen und der Keeper beinahe glaubte geblendet zu werden. Genzo begann sofort zu lächeln, als er das Motiv weiter ansah. Er konnte nicht anders, als anzuerkennen, dass sie toll auf dem Foto aussah.

»Man merkt echt, dass die Beiden darin Spaß haben«, murmelte er, dann setzte er seinen Weg durch den Gang fort, bis er einen Raum erreichte, bei dem ihm beinahe die Luft weg blieb. Pokale und Bänder so weit das Auge reichte. Allesamt in unzähligen Vitrinen für jeden namhaften Reiter ausgestellt. Sogar bronzene Pferdebüsten waren ausgestellt, in deren Goldschildchen die Namen, der Geburts- und Todestag sowie der Name seines Reiters und deren Leistungen eingraviert waren. Genzo ließ seinen Blick im Trophäenraum schweifen und konnte knapp zwanzig solcher Büsten ausmachen.

Eine lebensgroße Pferdestatue stand am Endes des Raums, die von allen Seiten von Sonnenstrahlen angeleuchtet wurde. Wie die Statue vor der Villa hatte auch dieses Pferd sich majestätisch auf seinen Hinterbeinen aufgerichtet und Genzo sich in der matten Spiegelung der Statue beinahe verlor.

»Das war Kadrash«, klang hinter ihm Elena und wirbelte herum. Der Schreck saß ihm bis auf die Knochen, als er in das ernste Gesicht der jungen Frau starrte und die Reiterin sich entschied langsam neben ihn zu treten.

»Dilas stammt aus seiner Blutlinie. Er war der Hengst meines Urgroßvaters, der das Gestüt damals gebaut hat. Dilas hat sein Sprungtalent definitiv von ihm«

»Verstehe.« Genzo ertappte sich dabei, wie er sich abermals im Raum umsah.

»So ein Anblick ist dir doch bekannt«, sagte sie und beobachtete Genzo durch die Spiegelung der Bronzestatue. »Euer Verein hat doch auch ein Trophäenschrank im Flur stehen oder etwa nicht?«

»Doch, auf jeden Fall!«, antwortete er rasch. »Ich meine, ich bin wahnsinnig stolz für die Rotburger spielen zu dürfen und die Erfolge können sich echt sehen lassen.«

Sie nickte schweigend und horchte weiter.

»Dann sehe ich das alles hier. Es ist unglaublich, was deine Familie geleistet hat, ehrlich.«

Elena schwieg ihn nur an. Sie konnte hören, dass Genzos Worte ernst gemeint waren und er nicht einfach nur beschwichtigen wollte.

»Ich hätte es nicht sagen sollen«, setzte der Keeper an und schien anhand ihres Blickes sofort zu wissen, woran sie gerade dachte. »Manchmal bin ich so ein Ekel, dass ich für einen Moment nicht nachdenke, was ich von mir gebe. Das ist eine Angewohnheit, die ich von mir hasse. Elena, es tut mir so leid, was ich gesagt habe. Das musst du mir glauben«

»Hat dir Timur etwa ins Gewissen geredet?«

»Na ja...«, gab er zögerlich an. »Ein bisschen...«

Sie hob ihren Mundwinkel an. »Sieht ihm ähnlich«

»Verzeih mir bitte, Elena«

»Genzo, ich bin dir nicht böse und ich sehe auch, dass es dir leid tut«, lächelte sie, aber darin lag keine echte Freude. »Vergessen wir die Sache einfach und sehen wir zu, dass du dich die nächsten Wochen erholst.«

Genzo sah, wie Elena dabei war den Raum zu verlassen. Sie erstarrte, als plötzlich zwei starke Arme sich um ihren Körper schlangen und ihr Rücken gegen den Keeper drückte.

»Ich sehe es dir an, dass ich dir damit weh getan habe und das wollte ich niemals.« Er ignorierte den stechenden Schmerz an der Schulter. Nachdem er einmal tief einatmete, fuhr er fort: »Ich weiß, dass du solche Bemerkungen mit einem müden Lächeln wegsteckst, aber das von vorhin. Das kannst du nicht wegstecken. Ich bin ein Idiot«

»Das bist du«, sagte sie leise und legte behutsam ihre Hand auf seinen linken Arm. »Und ja, ich sehe über solche Dinge hinweg. Keine Ahnung, warum mich das trifft«

»Vielleicht, aber nur vielleicht, liegt es daran, weil du mich magst?«

Genzo stieß etwas Luft aus, als Elena ihm einen Schlag mit ihrem Ellenbogen direkt in die Magengegend verpasste. Prompt schlüpfte sie aus seinen Fängen und zupfte ihre Kleidung zurecht.

»Ein dümmlicher und begriffsstutziger Balltreter bist du für mich. Mehr auch nicht.« Sie streckte ihm die Zunge raus. Genzo lachte sanft.

»Tut mir dennoch leid, was passiert ist«

»Wenn ich deine Entschuldigung annehme, wirst du dann endlich damit aufhören?«

»Vielleicht?«

Sie seufzte schwach. »Wieso nur musstest du dich an der Schulter verletzen? Es war so schön, als du nicht da warst. Jetzt hat dich Timur bei sich aufgenommen, anstatt dich in ein Tierheim zu stecken«

»Okay, also das trifft mich jetzt.«

»Dann sind wir quitt«, zwinkerte sie ihm zu und setzte wieder ihr Lächeln auf. Dieses Mal konnte er die Freude darin erkennen und das machte auch ihn glücklich.

»Eigentlich... trifft es sich gut, dich zu sehen, Genzo. Ich wollte mit dir über etwas sprechen«

»Klar. Schieß los«

»Ich habe mich mit Timur unterhalten und habe vor Birin zu „therapieren“. Ich möchte wissen, warum sie auf dich so aggressiv reagiert und da du für einige Zeit bei uns leben wirst, könnte ich deine Hilfe gut gebrauchen. Bist du dabei?«



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Milan1896
2024-04-17T20:28:35+00:00 17.04.2024 22:28
Ich muss sagen das mir deine Beschreibungen der Umgebung echt gut gefallen, man bekommt eine gute Vorstellung wie es aussieht.
Das Verhältnis zwischen Lenchen und Genzo ist echt interessant und man merkt das sie sich mögen.

Jetzt bin ich gespannt wieso die Stute von Timur so auf Genzo reagiert ^^
Von:  Milan1896
2024-04-08T10:47:23+00:00 08.04.2024 12:47
Hallo^^
Ich habe deine Story gestern entdeckt und direkt durchgesuchtet ☺️
Du hast eine schöne Art zu schreiben und ich bin gespannt wie es jetzt mit Genzos Verletzung weitergeht…ob er da gepflegt wird🫣
Antwort von:  Ba-chan
15.04.2024 21:53
Ah entschuldige für die späte Antwort! Ich war seit einer Weile nicht mehr auf Animexx und ehrlich gesagt war ich nicht ganz sicher, ob jemand hier überhaupt diese Story liest. Umso mehr freut es mich, dass es zumindest einen hier auf Mexx gefällt!

Und vielen Dank, dass dir mein Schreibstil gefällt! Das motiviert einem weiter an der Story dranzubleiben :D
Antwort von:  Milan1896
16.04.2024 11:39
Gerne^^
Ich kenne es, da ich auch selbst hier schreibe das es mit den Kommentaren nicht oft und viel ist.
Meist sind es immer die gleichen.

Aber ich finde es wichtig auch mal Feedback zu geben/bekommen.

Also, mach weiter so 👍


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