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Walpurgismacht

Fragmente eines Todesserlebens
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier erwartet euch keine schöne Geschichte, geschweige denn eine perfekte Liebesgeschichte – oder überhaupt die Geschichte eines guten Menschen. Dies ist eine Geschichte voller Angst, falschem Stolz, Wut, Trauer und daraus entstehenden Fehlern. Tödlichen Fehlern. Menschlichen Fehlern. Und genau deshalb hat trotz allem auch die Liebe ihren – schmerzlichen – Platz. Denn was wäre ein Leben ohne all diese Empfindungen?

Bevor ihr euch in diese Geschichte stürzt, seid bitte dennoch gewarnt, dass neben dem allgemein düsteren Todesser-Schwerpunkt folgende Themen explizit behandelt werden:

Häusliche Gewalt | Alkoholmissbrauch | Gaslighting | Misshandlung/Tötung von Tieren/magischen Lebewesen | Tod/Mord | Vergangener, sexueller Missbrauch einer Nebenfigur [nur erwähnt; nicht beschrieben] | Fehl- bzw. Stillgeburt(en) | Suizidgedanken | Selbstverletzendes Verhalten | Depressionen/Trauma | Verlustängste

Zudem handelt es sich bei dieser Geschichte um eine Sidestory bzw. Vorgeschichte zu meinem Kriminaldrama „Stichflamme“, die im selben (canongetreuen) Headcanon-Universum spielt und eine wichtige Wendung des Krimis vorausnimmt. Solltet ihr also vorhaben, „Stichflamme“ noch zu lesen, dann empfiehlt es sich, dort mindestens bis Kapitel 40 zu lesen, bevor diese Geschichte begonnen wird.
Andernfalls lässt sich diese Geschichte aber auch komplett unabhängig lesen und verstehen! Komplett anzeigen

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Angst

Angst gehörte zu Alston Mulcibers Leben wie die Magie, mit der er – zum Glück – geboren worden war. Er erinnerte nicht, wann er sich das erste Mal gefürchtet hatte oder weshalb, er wusste nur, dass es so war. Die Furcht lauerte immer ihn ihm, ein steter Begleiter. Mal Freund, noch häufiger Feind.

Vielleicht gehörte sie schon zu seinem Leben, seit er in den frühen Morgenstunden des 11. Novembers 1926 als erstes, einziges und perfekt reinblütiges Kind von Aloysius Mulciber und Evgenia Fawley in Chiltern Hall nahe High Wycombe zur Welt gekommen war. Bei der Realität handelte es sich immerhin um ein harsches, kaltes Erlebnis, das bisher noch jeden Säugling verschreckt hatte. Besonders, wenn man keine zehn Minuten alt war und schon mit der ersten familiären Enttäuschung konfrontiert wurde.

»Für einen Jungen ist er ziemlich schmächtig. Hoffentlich kein Schwächling ...« Das waren die ersten Worte, mit denen Aloysius seinen Nachwuchs bedacht hatte – und für lange Zeit würden es auch die einzigen bleiben. Evgenias weiche Arme, die sich bei ihrem Klang enger um Alston geschlungen hatten, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihren Sohn keine bedingungslose Wärme empfing, ganz gleich, wie gemütlich die Einrichtung des Anwesens anmutete.

Von einem Dramatiker wäre der Situation wohl ein Gewitter angedacht worden, aber das Wetter hatte sich nicht zu einer derart klischeehaften Laune hinreißen lassen. Stattdessen wurde der Herbstmorgen in absolut durchschnittliche Nebelschwaden gehüllt, die niemand als böses Omen sah. Doch da selbst solch lichter Nebel zuweilen Dementoren gebar, beschenkte er den Jungen an jenem Tag trotzdem mit etwas Dunkelheit – die im Schatten von Angst selbstredend prächtig gedieh.

Dabei war Alston Mulciber natürlich kein Feigling (und entgegen allen Befürchtungen Aloysius’ ebenso wenig ein Schwächling). Im Gegenteil! Er liebte es, auf dem Besen über den Wald hinter seinem Elternhaus zu jagen, immer eine Stiellänge vor seinen Freunden (einem kleinen Beschleunigungszauber der Hauselfe zum Dank). Er hatte auch keine Angst, durch den See zwischen eben jenen Bäumen zu schwimmen, als Lewis Avery ihn dazu herausforderte. Obwohl darin ein Kelpie leben sollte (den er nie sah, obgleich er anderes behauptete). Genauso wenig fürchtete er sich davor, des Nachts im Dunkel durch das Zaubertranklabor von Gideon Rosiers Vater zu schleichen. Oder gar einen Tropfen von dessen selbstgebrautem Felix Felicis zu entwenden (weil er genau wusste, welche Fallen Rosier senior ausgelegt hatte – und wie man sie umging).

Nein, im Alter von elf Jahren war Alston Mulciber groß gewachsen, mit dem aristokratischen Äußeren seines Vaters gesegnet, insbesondere dem schwarzen Haar und dessen kantigen Gesichtszügen, und er bewies ebenso viel Schläue wie Gerissenheit. Trotzdem lebte die Angst tief in seinem Herzen versteckt, ein kleines Monster so nachtschwarz wie die Tinte, mit der er gewissenhaft die Hausarbeiten für seinen Privatlehrer erledigte. Immer, wenn er zu viel gelacht hatte; zu lange vergessen hatte, dann streckte sie ihre Fangarme aus und drückte zu, dass es sich anfühlte, als würden seine eigenen Rippen sich zusammenziehen, um ihn zu ersticken.

(So wie jetzt.)

»Was machst du hier, Junge? Starr nicht so blödsinnig! Du solltest oben sein, bei deinen Rechenaufgaben! Oder willst du als Versager enden, der nicht mal seine Sickel in Galleonen umrechnen kann? Der alte Burke würde dich ausnehmen wie Wilderer einen Diricawl!«

Alston drückte den Pergamentumschlag in seinen Händen fester. Das schwere Material wurde schon ganz wellig, so sehr schwitzte er. Und der oberste Knopf seines Hemdes schien plötzlich viel zu eng (enger als sonst zumindest). Er musste sich zusammenreißen, damit das kleine Metallstück nicht in einem Ausbruch spontaner Magie abriss und seinen Vater wie ein Miniaturklatscher zwischen die Augen traf. (Am besten mitten auf jene steile Falte, die schon seit Jahren nicht mehr verschwand, sondern sich nur tiefer und tiefer in dessen Stirn grub; Schluck für Schluck, Streit für Streit (Fluch für Fluch).)

»Verzeih, Vater ...«, hörte Alston sich durch den Nebel in seinem Kopf murmeln, während er mit den Augen seine auf Hochglanz polierten Schuhspitzen suchte.

Sprich bloß nicht so leise, hämmerte im selben Moment ein verzerrtes Echo durch seine Gedanken. Du bist ein Mann, besser noch – ein blutreiner Mulciber! Verhalte dich auch so! Brust raus, Stimme fest, lass die ganze Welt deinen Stolz sehen!

Er trat einen Schritt vorwärts, in den großen Salon und dessen Kühle hinein. »Ich muss dir etwas zeigen –«

»Ach ja?«, fuhr sein Vater ihm dazwischen. Das ohnehin gerötete Gesicht unter dessen streng zurückgekämmten Haaren verdunkelte sich. (Ein bisschen wirkte es für Alston, als würde der steife Kragen seines Umhangs ihm ebenfalls die Luft abschnüren. Aber in diesem Fall wusste er es besser. Er sah das gehässige Funkeln in den Augen seines Vaters, lange bevor dessen Worte zuschlugen.) »Wer sagt denn, dass ich deinen Kram überhaupt sehen will, Junge?«, zischte Aloysius Mulciber da auch schon.

Und prompt erinnerte Alston sich an den Rest seines Mantras. Immer Stolz zeigen, aber niemals Hochmut; keine Arschkriecherei oder Frechheiten von sich geben; stets im richtigen Moment nicken und dabei nie feige wirken – alles, um Vater bloß nicht zu verärgern.

»Also, kommt da auch noch was Sinnvolles?«, grollte dieser bereits wieder. Der Zauberstab in seiner Hand schnallte mit dem Klang einer Peitsche gegen seinen Oberschenkel. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«

Alston erstarrte, der Mund so trocken, dass die nächsten Worte wie Staub zwischen seinen Zähnen hängen blieben. Er hatte alles falsch gemacht. Das sprichwörtliche Erumpent war gekitzelt. Deshalb zog es die Mundwinkel seines Vaters gen Erde, während diese eine besondere Ader an seiner Schläfe gefährlich pulsierte, als wäre sie die kurze Lunte eines Filibuster-Feuerwerksknallers.

Mehr und mehr gleißende weiße Blitze jagten mitten durch Alstons Augäpfel in seinen Kopf hinein, je fester er die Zähne zusammenbiss. Denk!, schrie ihn seine innere Stimme an, denk verflucht noch mal schneller! Was will er jetzt von dir hören? Wie kannst du die Situation retten?

Oh, wenn er nur Gedanken lesen könnte! Doch bevor er überhaupt die Zähne auseinanderbekam, schnalzte sein Vater schon mit der Zunge. Er wandte den Kopf ab, seine glasigen Augen gen Boden gerichtet. »Ganz dein Sohn, Evgenia«, spie er aus. »Kann sich einfach nicht vernünftig ausdrücken. Faselt wie ein dumm geficktes Weib!«

In Alstons Nacken knackte ein Wirbel, aber er weigerte sich, dem Blick seines Vaters zu folgen. Oder überhaupt woanders hinzusehen als auf dessen pulsierende Stirnader. Was er nicht sah, existierte nicht. Was er nicht sah, konnte nicht sein. Was er nicht sah, würde ihn nicht in den Schlaf verfolgen.

»Ich wollte dich nicht verärgern, Vater«, versuchte er es erneut, obgleich seine Stimme verräterisch schwankte. Der Situation entkommen konnte er nicht mehr, so viel wusste er. Wenn er jetzt ging, würde er erst recht bereuen. »Ich dachte nur –«

»Ich dachte nur«, äffte sein Vater ihn nach. Er riss den Kopf wieder hoch und Speicheltröpfchen flogen, als er ein verächtliches Geräusch von sich gab. »Denkst du nur oder hast du auch mal was Sinnvolles zu sagen?«

Pergament knirschte, so fest grub Alston seine Finger in den Umschlag. Für einen Augenblick starrte er geradewegs in die dunklen Augen seines Vaters und die Blitze am Rande seines Gesichtsfeldes zogen sich zu einem heißen Ball in seiner Brust zusammen. »Mein Hogwartsbrief ist gekommen«, stieß er gepresst hervor. »Du hast letzte Woche gesagt, ich solle dich sofort darüber informieren.«

»Hah«. Anstatt etwas zu sagen, schnaubte Aloysius Mulciber bloß.

»Das sind wirklich wunderbare Neuigkeiten, Liebling«, kam dafür eine dünne, matte Stimme von weiter unten, aus Richtung des mit teuren Teppichen ausgelegten Salonbodens.

Alston sah immer noch nicht hin. »Danke, Ma- Mutter.« (Mama war für Babys und Weicheier, warum konnte er das nicht endlich begreifen? In seiner Position war diese Schwäche untragbar!)

Er hörte es rascheln. Stoff glitt über anderen Stoff, Knöpfe fanden zurück in ihre Löcher. Und sein Vater stand nur daneben und langte nach einem Whiskeyglas auf dem Kaffeetisch, den Zauberstab immer noch in der rechten Hand.

Nun starr nicht so, hallte es wieder durch Alstons Kopf, sein Schädel ist schließlich nicht explodiert und deine Blicke werden das nicht ändern. Du kannst glotzen, so viel du willst, wenn er es eines Tages von alleine schafft, dass man sein Hirn von der Decke kratzen muss. Oder hast du etwa vor, hier und jetzt nachhelfen?

Hastig riss er die Augen los – zumindest versuchte er es. Ihm war, als würde ein Dauerklebefluch ihn gefangen halten und er kämpfte dagegen an wie eine Fliege im Honig, der ihre Flügel beschwerte. Träge. Sollte er aus den Salonfenstern in den sommergrünen Garten sehen? Oder vielleicht zu dem großen Kamin, in dem nur kalte Asche lag? Schlussendlich entschied er sich für den mit Blumen gemusterten Sessel, auf dem er im Winter am liebsten saß und sich bei heißer Schokolade von seiner Mutter vorlesen ließ. Zumindest war das früher mal so gewesen. Bevor er Lesen gelernt hatte. Jetzt lag der letzte Vorleseabend Ewigkeiten zurück, schließlich zahlte sein Vater laut eigener Aussage nicht umsonst ein kleines Vermögen für den Privatlehrer, der ihm alles beibrachte, was in Hogwarts vorausgesetzt wurde.

Kalte Finger legten sich auf Alstons Handgelenk und rissen ihn zurück in die Wirklichkeit. »Zeig mal her, Liebling«, sagte seiner Mutter in einer festen Stimme, um die er sie nur bewundern konnte. Das Zittern in ihren Gliedern hatte keinen Platz darin, wie immer sie das schaffte. Wehrlos ließ er zu, dass sie ihm den dicken Pergamentumschlag entzog. »Du hast ihn ja noch gar nicht geöffnet.«

»Falls Vater sich die Ehre geben will.«

Der Zauberstab in dessen Hand zuckte verräterisch.

»Verzeih«, flüsterte Alston, bevor er den Mund aufmachen konnte. »Ich meinte nur – falls es ihm ... wichtig ist, es selber zu sehen ...?«

Erneut bekam er nur ein Schnauben zu hören. Doch er wusste, dass seine Worte mal wieder nicht weise gewählt waren. Erst zu frech; dann zu kriecherisch. Nie war es richtig. Warum strengte er sich überhaupt an?

»Jetzt mach schon auf, Evgenia!«, knurrte sein Vater. »Nicht, dass es nachher doch eine Absage ist.«

»Das wird es nicht sein.«

Erst jetzt traute Alston sich, seine Mutter anzusehen, die ihm den Briefumschlag wieder entgegenhielt. Ein Lächeln zierte ihr Gesicht, aber der Lippenstift darauf war verschmiert. Nur ein bisschen, sodass es aussah, als hinge ihr linker Mundwinkel hinab. Oder ...

Alstons Herz verwandelte sich in einen Eisblock. Es war kein Lippenstift, der dort klebte – aber genauso rot. Er entriss seiner Ma-, nein – Mutter den Umschlag.

Ihm zitterten nicht vor Aufregung die Finger, auch wenn es jetzt so aussah, während er das wächserne Siegel vom Pergament löste. Dass er nach Hogwarts kommen würde, stand schließlich schon lange fest (und er war ganz sicher kein dreckiger Squib, das fühlte er im Kribbeln seiner Fingerspitzen, wann immer er an Zauberei dachte!). Seinen ersten Magieausbruch erinnerte Alston zwar nicht, doch an den guten Tagen wurde sein Vater nicht müde davon zu erzählen, wie er im Alter von drei Jahren sein Lieblingsbilderbuch verändert hatte. Jedes Mal, wenn seine Mutter es aufgeschlagen hatte, waren neue Seite hinzugekommen, gefüllt mit anderen Geschichten. Und seit diesem Mal hatte es unzählige weitere Beispiele gegeben, bei denen seine Magie Alston wie eine warme Decke umschlungen und glücklich gemacht hatte. (Hin und wieder sogar seinen Vater, wenn nicht gerade dessen beste Whiskeyflasche explodierte.)

Ohne etwas zu fühlen, riss Alston die Seiten des Briefes nun auseinander und überflog den Text. Wir freuen uns, Sie an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei begrüßen zu dürfen ... Die Zeilen enthielten keine Überraschungen. Besen waren für Erstklässler verboten, eine Liste benötigter Bücher und dergleichen folgte, alles signiert vom stellvertretenden Schulleiter Albus Dumbledore – irgendwo in Alstons Magen kribbelte es doch ein bisschen, aber die tintenschwarzen Fangarme um seinen Brustkorb zerdrückten das Gefühl sogleich wieder.

»Hier.« Er hielt die Blätter seiner Mutter hin, die sie mit gesenktem Kopf an seinen Vater weiterreichte.

Jetzt (endlich) nickte dieser. Wohlwollend? Zumindest nicht wütend. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen glättete sich. »Wunderbar«, sagte er, bevor er doch glatt seine Zähne in einem Grinsen zeigte. Man könnte meinen, er lächelte (aber diese Zeiten waren lange vorbei, spätestens seit aus dem Wein am Abend ein Whiskey am Morgen geworden war). Großen Schrittes kam er herüber und klopfte mit der Zauberstabhand auf Alstons Schulter, als wäre er ein besonders tüchtiger Abraxaner. »Endlich darf mein Junge seinen Zauberstab bekommen! War ja auch lange überfällig. Verfluchte Gesetze zur Verhinderung jugendlicher Magie. Alles nur Kokolores! Du könntest schon so viel weiter sein, wenn es diesen Schwachsinn nicht gäbe.«

Alston atmete tief ein und hielt die Luft in seinen Lungen.

Sein Vater erinnerte sich offenbar wieder an den Whiskey in seinem Glas, denn ungerührt nahm er einen großzügigen Schluck. »Ahhh, aber jetzt – jetzt wirst du der ganzen Welt zeigen, was in einem Mulciber steckt, Sohn!«, rief er. »Diese eingebildeten Fatzkes vom Reinblüterverzeichnis werden es noch bereuen, in ihrem elenden neuen Buch zu behaupten, dass unsere Familie nicht des allerreinsten Blutes ist! Also, welchem Haus wirst du dich wohl anschließen? Schon große Träume?«

Aufgeregt leckte Alston sich über die Lippen. Obwohl er sie nicht ansehen wollte, zuckte sein Blick zurück zu seiner Mutter, die sich mit einem Spitzentaschentuch den Mund abtupfte. Sie hielt ihren Bauch und er sah kaum schnell genug fort, um nicht zu bemerken, dass auch der Teppich zu ihren Füßen rostrote Spuren trug.

»Ich bin sicher, er würde einen wunderbaren Ravenclaw abgeben«, errettete sie ihn aus seiner Sprachlosigkeit. »Oder, Liebling? So wie schon dein Großvater.« (Nicht ‚wie ich', obwohl das ebenso wahr wäre.)

Alston nickte vage. »Aber wenn der Hut fragt – werde ich natürlich um Slytherin bitten.«

Das entlockte Aloysius Mulciber ein bellendes Lachen. »Gut so. Aber bitte nicht, fordere es! Schließlich hab ich keinen jämmerlichen Hufflepuff erzogen.«

Nun konnte auch Alston sich ein Grinsen entringen. »Nur über meine Leiche setze ich einen Fuß in den stinkenden Dachsbau.«

»Weise Worte, weise Worte.« Sein Vater stürzte den letzten Rest Whiskey in einem Zug hinunter. »Na komm, Evgenia, wir müssen unseren Jungen feiern gehen! Immerhin hast du ihn mit deinem Weibergewäsch doch noch nicht ruiniert.«

Vergessen schien jeder Zorn, jede Versuchung von eben. Alles war gut, in bester Ordnung. Evgenia Mulciber schwang ihren Zauberstab und der Teppich sah wieder aus wie neu. Es war nie etwas passiert, redete Alston sich ein, und langsam, ganz langsam, verschwand der Druck auf seiner Brust.

»Freust du dich schon auf Hogwarts?«, fragte seine Mutter.

»Sehr! Vor allem auf den Zaubertrankunterricht! Die anderen können bestimmt noch nicht mal eine Abschwelllösung brauen. Aber ich bekomme dann hoffentlich ein paar Spezialaufgaben vom Professor, weil ich schon so weit bin!«

Sie lachte und dieses Mal konnte er mit einstimmen. Endlich würde er richtige Zaubertrankzutaten zur Verfügung haben, nicht nur jene jämmerlichen Kräuter und Pulver, die in dem Spielset für Kinder waren, das er zu seinem achten Geburtstag bekommen hatte. Vielleicht würde er es dann schaffen, einen vernünftigen Trank zu erfinden und nicht bloß bunte Funkenlösung oder harmlose Kleinigkeiten herzustellen.

Vorsichtig linste Alston zu seinem Vater. Dieser schenkte sich ein weiteres Glas Whiskey ein, das er in einem Zug leerte. Obwohl sein Kopf roter als ein Erumpenthorn vor der Explosion wurde, schwand die pochende Ader an seiner Schläfe. »Den Ehrgeiz lobe ich mir«, verkündete er. »Nur so wird etwas aus einem Mann. Und du hast schließlich der ganzen Welt etwas zu beweisen. Also los, Evgenia, wo ist das Flohpulver? Wir müssen in die Winkelgasse! Ich werde nicht einen Moment länger damit warten, meinem Sohn den Zauberstab zu kaufen, der ihm zusteht!«

»Hier ist es«, erwiderte Alstons Mutter hastig und entzündete im gleichen Atemzug ein Feuer im großen Kamin.

Immer noch mit einem Grinsen im Gesicht legte sein Vater ihr einen Arm um die Taille und zog sie mit sich darauf zu. Er flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr und sie lächelte sofort, wie im Zauberstabumdrehen.

Erst jetzt ließ Alston die Luft in seinen Lungen los. Er hatte es geschafft. Alle waren zufrieden. Niemand schrie, niemand weinte (niemand spürte, wie sich ein Fluch durch die Haut fraß). Und wenn er erstmal seinen Zauberstab in der Hand hielt, würde alles noch so viel besser werden. Endlich würde er Macht haben.

Nein, Alston Mulciber war wahrlich kein Feigling. Aber er fürchtete sich vor dem alkoholgeschwängerten Atem seines Vaters. Oder den Nebelschleiern, die sich immer dann über die Augen seiner Mutter legten, wenn dessen Glas leer war. Er zitterte vor Worten, die tief schnitten und deren Wunden keine Magie heilten (im Gegensatz zu Knochenbrüchen, Verbrennungen und Fluchmalen).

Er wollte nie, dass seine Eltern stritten oder ... Schlimmeres. Das Geschirr sollte nicht fliegen, egal wie oft es repariert werden konnte. Und ganz bestimmt sollte seine Anwesenheit sie nicht weiter an den Rand treiben. Er wollte nur ein guter – perfekter! – Sohn sein. Sie stolz machen. Alle beide.

Und manchmal (ganz selten, wenn er es nicht mehr aushielt) dachte er doch daran, fortzulaufen. An Tagen, wo das Geschehen einen anderen Weg einschlug als heute. In diesen Momenten stellte er sich vor, auf seinen Besen zu steigen und über die Grenzen von Chiltern Hall und seinen Gärten hinwegzufliegen; weit, weit weg, so weit er konnte.

Aber immer wenn dieser Gedanke aufkam, meldete sich eine ganz andere Angst zu Wort. Sobald er nur den Besenstiel ergriff, wurden seine Handflächen rutschig und die Füße schwer wie Blei. Es war das eine, mit seinen Freunden zu wetteifern, wer schneller durch den Wald fliegen konnte. Ihnen seine Stärke zu beweisen war ein Klacks. Doch wirklich ... gehen? Alleine?

Da draußen erwartete ihn eine Welt, die er nicht kannte. In die er nicht gehörte, nicht gehören wollte. Sein Reich, das war das Stadthaus seiner Familie in London, natürlich ihr Anwesen Chiltern Hall nahe High Wycombe, die Winkelgasse und die viele Meilen entfernten Wohnsitze seiner Freunde, sowie eine Handvoll berühmter magischer Restaurants, die überall in Großbritannien verstreut waren. Vielleicht noch der Drachenschwanzboulevard in Edinburgh. Hinter den Grenzzaubern um sein Zuhause erstreckte sich jedoch eine fremde Welt. Dort lebten die Muggel.

Manchmal, wenn die Schutzbanne am Waldrand schwächelten, verirrte sich einer der nicht-magischen Menschen auf das Gelände. Alston würde sich bis in alle Ewigkeit lebhaft an den Tag erinnern, den so ein unglücklicher Tor versucht hatte, mit dem Gewehr Jagd auf ihre Jobberknolls zu machen. Da hatte er zum ersten Mal die Wut seines Vaters verstanden, denn die bunten Vögel waren die Lieblingstiere seiner Mutter. Dass die Schüsse ihn auf dem Besen nur knapp verfehlt hatten, war ein ganz anderes Thema.

Zum Glück hatten die sonst so lästigen Bowtruckles in den Bäumen den Muggel mit ihren spitzen Krallen bestraft und somit dafür gesorgt, dass er das letzte Mal den Wald hinter den Zaubern gesehen hatte. »Geschieht dem Bastard recht«, hatte Aloysius Mulciber daraufhin verkündet. »Die Viecher kann man immerhin nicht für ihre Verbrechen nach Askaban schicken. Hat's mir gespart, den Zauberstab an dem Kerl zu beschmutzen.«

Alston beschlich das Gefühl, dass er es dennoch getan hatte – aber selbst wenn, der Muggel konnte das nicht mehr wissen, da nicht nur seine Ignoranz dafür sorgte, dass seine Augen fortan für immer vor der Magie verschlossen blieben. (Und vielleicht fürchtete Alston seither auch Bowtruckles.)

In eine Welt voll mit diesen Menschen wollte er jedenfalls nicht flüchten. Da wäre er kaum besser dran. Es reichte schon, dass sein Magen jedes Mal einen Salto machte, wenn er wieder auf seinem Besen flog und einen Knall hörte. Dann dachte er daran, wie grob die Schüsse an jenem Tag den Himmel zerrissen hatten. Kein bisschen so elegant wie Magie, sondern laut und hässlich und ungenau. Den letzten, langen Schrei des Jobberknolls, dessen Körper eine Kugel aufgerissen hatte, trug er immer noch im Herzen.

Und so wählte er doch jedes Mal wieder die schwarzen Schlingen um seine Brust anstatt die Flucht. Eines Tages, so redete er sich ein, würde er schon lernen, was er sagen musste, damit sein Vater nicht zornig sein brauchte. Er würde herausfinden, was es verlangte, um seine Mutter ohne schlechtes Gewissen umarmen zu können. Und dann würden sie wieder eine Familie sein. Denn egal was kam – er wollte nicht alleine sein. Ja, er sehnte sich sogar nach dem Zucken um die Mundwinkel seines Vaters, wenn bei einem seiner Experimente mit dem Zaubertrankkasten für Kinder tatsächlich etwas Funktionstüchtiges herauskam.

Der Moment der Reue kam trotzdem. Zumeist schneller als gedacht. Immer dann, wenn die familieneigene Hauselfe in seinem Zimmer landete und ihn anflehte, dass der junge Meister nicht in den Salon gehen sollte, obwohl das Gebrüll durch alle Wände drang. Wann immer Alston mit geballten Fäusten den frischen roten Flecken unter den Füßen der Elfe beim Trocknen zusehen musste, fragte er sich, ob seine Hoffnungen ihn nicht belogen und es keinen Ausweg gab. Wenn er schließlich die Abdrücke seiner eigenen Fingernägel noch Stunden später in den Handballen sah, überkam ihn die Versuchung, die Sorgen in mehr von diesem Schmerz zu ertränken. Es war so einfach, fester zuzudrücken, bis die Blutergüsse sich violett färbten ...

Dann kamen allerdings wieder Tage und Wochen – manchmal sogar Monate – in denen nichts geschah. Plötzlich wichen die Schleier in den Augen seiner Mutter der Sonne und sie unternahmen Ausflüge. Sein Vater erfüllte ihm in der Winkelgasse alle Wünsche, während der Whiskey ihn bloß lustig werden ließ. In diesen Zeiten schnurrte die Angst leise wie ein Kätzchen, fast vergessen. So wie jetzt, als Alston das Flohpulver nahm, in den Kamin streute und laut »Winkelgasse« rief.

Aber weg, das war sie nie. Und weder zum ersten noch letzten Mal fragte sich Alston tief im Herzen, ob er nicht einfach mit Magie einen Weg finden konnte, den nächsten Stimmungsumschwung seines Vaters zu verhindern. Dann müsste er nie wieder Angst vor seinen eigenen Worten haben. Alles würde sofort besser werden. Für immer.

Vielleicht war er ganz nah dran an der Erlösung. Würde er sie in Hogwarts finden? Ach was, bestimmt sogar! Welches Problem konnte man schließlich nicht mit etwas Zauberei lösen? Das war doch das Gute daran, kein Squib zu sein!

Ouroboros [Beginn]


 

»Some legends are told, some turn to dust or to gold

But you will remember me, remember me for centuries

And just one mistake is all it will take

We’ll go down in history«

[Centuries – Fall Out Boy]

 

02 | O U R O B O R O S

[Beginn]

 

─♦─

 

Alston konnte nicht sagen, wann er ihn das erste Mal bemerkte. Am Gleis 9 ¾ sicher nicht, da war er viel zu beschäftigt damit, nach seinen Freunden Ausschau zu halten (und es zu vermeiden, seine Mutter anzusehen. Ihre rot geschminkten Lippen hatten das größte Lächeln seit langem geformt und sie hatte sogar seinen Handrücken gestreichelt, als sie gemeinsam nach King’s Cross appariert waren. Dieses Bild wollte er in die Schule mitnehmen, alles andere durfte in der Ankunftshalle voller Muggel zurückbleiben).

Nachdem er seine künftigen Schlafsaalgefährten teils seit Wochen nicht mehr gesehen hatte, weil die üblichen Teerunden, Dinner und Gesellschaftsvergnügen der magischen Oberschicht im Sommer wie immer rar gesät gewesen waren, gab es so viel zu besprechen! Was interessierten ihn da die anderen Kinder, die zum ersten Mal mit dem Hogwartsexpress fuhren? Immerhin wusste er längst, mit wem er die nächsten sieben Jahre teilen würde. Er brauchte nicht in letzter Sekunde neue Freundschaften schließen oder sich gar mit Unbekannten in ein Abteil setzen, die schwitzigen Hände unter den Oberschenkeln verborgen.

Merlin sei dank hatte er seinen besten Freund Gideon (Rosier), den er bereits seit dem Musikkurs für junge Zauberer kannte, zu dem seine Mutter ihn im Alter von fünf Jahren verdonnert hatte (obwohl er das Klavier blöd fand, aber sie hatte darauf bestanden, dass ein Junge aus gutem Hause nicht nur in der Zauberei sein Können beweisen musste – also freute er sich lieber, nicht wie Gideon die Geige erwischt zu haben). Dann gab es Lewis (Avery), mit dessen Eltern sein Vater irgendwelche komplizierten Verträge unterhielt, weshalb sie öfters zum Abendessen eingeladen wurden (die geteilte Langeweile an diesen Abenden mochte kein guter, aber ein passabler Grund für Freundschaft sein). Und schließlich blieb (der manchmal zugegeben unerträgliche) Everard (Nott), der ... eines Tages einfach Teil der Gruppe geworden war (und bei dem sein Vater ihn regelmäßig erinnerte, dass er ein ‚wichtiger Kontakt‘ sei).

Andere Kinder hätten vielleicht gefürchtet, dass es sie in unterschiedliche Häuser verschlug – doch allesamt waren die drei Söhne angesehener Familien, auf Leistung gedrillt, und noch dazu mit reinem Blut gesegnet. So rein, dass ihre Namen im Reinblutverzeichnis standen. Natürlich würden sie nach Slytherin kommen. Das war (neben dem Willen seines Vaters) ein wunderbarer Grund für Alston, den Sprechenden Hut um dieselbe Zuteilung zu bitten (oder eher, diese zu fordern). Was er an makelloser Herkunft (angeblich) vermisste, würde er mit doppelt so viel Ehrgeiz ausgleichen.

An nichts anderes dachte Alston an diesem Morgen auf dem Bahnsteig (für die Vorstellung seines Versagens durfte kein Raum bleiben!). Zum Glück ließen die vornehmen Familien nie lange auf sich warten – es galt schließlich, einen guten Eindruck beim Rest der Gesellschaft zu hinterlassen (nur deshalb hatte Vater überhaupt einen Arm um Mutters Taille gelegt). Nacheinander apparierten seine Freunde an den Händen ihrer Eltern in den markierten Ankunftsbereich und sobald sie vollständig waren, wurden die übrigen Erstklässler erst recht unsichtbar.

Mit einem Grinsen sah Alston in die Runde. Ebenso strahlend nickten die anderen zurück. Endlich!

»Seid ihr auch bei Ollivanders gewesen?«, platzte es aus Gideon hervor.

»Na klar!« Everard langte in die Innentasche seiner Reiserobe aus dunkelbraunem Tweed und zückte einen reich mit Schnitzereien verzierten Zauberstab. »Ulme«, erklärte er mit vorgestreckter Brust. »12 Zoll und außergewöhnlich fest, wie Mr Ollivander sagte.«

Gideon lachte. »Bei mir ist’s Walnussholz. Angeblich großartig für besonders clevere Zauberer, die gerne Grenzen sprengen.« Er holte seinen eigenen, hellbraun gemaserten Stab heraus und schwenkte ihn im Kreis über ihren Köpfen. Orange Funken schossen kitzelnd in Alstons Nacken.

Lewis schnaubte. »Ich bin mit Papa extra nach Deutschland gereist. Er sagt, Mr Gregorovitch erschafft viel haltbarere Stäbe, die weniger ... pompös und dafür persönlicher sind. Ich meine – Ollivander nimmt den Mund sehr voll, wenn er behauptet, dass es nur drei gute Kerne gibt. Will ich etwa das haben, was die breite Masse verwendet?«

Mit einem Achselzucken (das auf Alston einigermaßen einstudiert wirkte) präsentierte er einen ungewöhnlich dünnen Zauberstab, dessen dunkles Holz beinahe schwarz war. Und er hatte recht – im Vergleich zu Gideons und Everards Stäben wirkte seiner ziemlich langweilig. Nicht mal der Griff war farblich abgesetzt oder wurde von eingeritzten Runen geziert.

»Der Kern ist die Feder eines Donnervogels, das ist, was wirklich zählt«, beeilte Lewis sich zu sagen und Alston konnte schwören, dass er gerade um fünf Zentimeter wuchs, obwohl er mit Abstand der Kleinste ihrer Gruppe war, selbst nach Everard. »Was habt ihr bekommen?«

Gideon und Everard tauschten einen nahezu vorsichtigen Blick. »Einhornhaar«, murmelten sie gleichzeitig.

(Der schwächste Kern. »Grad genug für Frauen und ihre putzigen Haushaltszauber!« wie Aloysius Mulciber zu behaupten pflegte.)

Wärme breitete sich in Alstons Brust aus. Rasch langte er in seinen neuen, dunkelblauen Reiseumhang (ein überraschendes Geschenk seines Vaters) und zog den eigenen Zauberstab hervor. Andächtig balancierte er das glattpolierte Holz auf seinen Handflächen. »Drachenherzfaser«, verkündete er, wobei seine Stimme einige Oktaven tiefer rutschte. »Wenn man Mr Ollivander glauben darf, von einem der letzten Schwarzen Hebriden.« Wie schon bei seinem Vater, weiteten sich auch Gideons und Everards Augen. »Und Eibe«, setzte er rasch hinzu, »10 ¼ Zoll, leicht biegsam.«

»Nicht schlecht.« Lewis nickte langsam. »Aber diese Metallbeschläge am Griff würden mich stören. Ein guter Zauberstab braucht keine Verzierungen, er muss funktionieren.«

Alston zog die Augenbrauen zusammen. Die Wärme in seiner Brust schmolz zu einem heißen Knoten in seinem Magen. Er mochte, wie sein Stab aussah! Schon von dem Moment an, als Mr Ollivander ihn von dessen Samtkissen gehoben hatte. Die schmalen Silberringe wirkten edel, das hatte sogar sein Vater zugeben müssen. (»Jetzt, wo dich so ein großartiger Zauberstab erwählt hat, bin ich sicher, dass du mir Ehre machen wirst, Sohn«, hatte er gar glatt verkündet.)

»Ach, das ist doch alles nur halb so wichtig!«, rief Gideon derweil und winkte lässig ab. »In Wirklichkeit ist ein Zauberstab nur so gut wie sein Zauberer. Ich mein, Salazar Slytherin selber hatte nicht so eine hochwertige Auswahl wie wir heute und er ist trotzdem noch der wohl größte Zauberer, der je gelebt hat!«

»Genau!« Everard vollführte mit seinem Zauberstab einen peitschenden Schlag, dass es knallte. Ein paar Zweitklässlerinnen in der Nähe zuckten erschrocken zusammen. Er lachte und Lewis fiel mit ein.

»Wir schaffen das alle schon. Wir sind ja schließlich keine Dummköpfe! Nicht so wie andere.« Verschwörerisch sah Lewis zu beiden Seiten, ehe er seine Stimme etwas senkte. »Denkt zum Beispiel mal an den jüngsten Weasley. Habt ihr schon gehört, dass seine Familie vor Kurzem ihr halbes Vermögen an seine Spekulationen verloren hat? Er dachte wohl wirklich, dass sich das Geschäft mit verzauberter Muggeltechnologie lohnen würde.«

Hämisches Kichern machte sich in der Runde breit. Den Blick immer noch auf seinen Zauberstab geheftet, erlaubte Alston es sich, einzustimmen. Er entsann sich an die gute Stimmung, in welche diese Nachricht seinen Vater versetzt hatte. »Jetzt nützt es ihnen bald alles nichts mehr, im Reinblutzverzeichnis zu stehen. Der Name ist ruiniert!«, hatte er jubiliert.

»Dann wissen wir wohl, warum es bei Weasley nur für einen einzigen UTZ in Zauberkunst gereicht hat«, verkündete Alston, was er sich gegenüber seinem Vater trotz allem lieber verkniffen hatte. Die anderen nickten zustimmend. Entschlossen ballte er die Fäuste um seinen Zauberstab und fügte hinzu: »Gut für ihn, einen Abspülzauber wird er brauchen, wenn’s vom Millionär zum Tellerwäscher geht.«

Gideon und Everard wieherten wie Abraxaner, während Lewis sein Kichern hinter vorgehaltener Hand verbarg. Das Gelächter war so laut, dass sogar die Zweitklässlerinnen sich erneut zu ihnen umdrehten. Zufriedenheit wärmte Alstons Wangen. Vielleicht würde er das seinem Vater gegenüber doch mal bei Gelegenheit erwähnen. Wenn er wieder solch gute Laune hätte wie die letzten Tage, wären die ersten Ferien gerettet. Immerhin hatte sein Vater sich dieses Mal sogar bereiterklärt, ihn einen ganzen Tag in seine Bibliothek zu lassen, damit er sich ein Buch für die Zeit in Hogwarts aussuchen durfte. (Eine Auswahl, die er nicht verschwendet hatte. Geheime Sehnsüchte und andere Widrigkeiten des gegnerischen Geistes – eine Anleitung zur Legilimentik steckte wohlbehütet im Umschlag des Lexikons der hundert nützlichsten Alchemiezauber in seinem Koffer.)

»Andere Frage«, warf Everard in diesem Moment ein, »ihr habt doch bestimmt auch in den Schulbüchern gelesen? Ist euch ein Spruch gelungen?«

»Na ja ...« Schon schwand das Lachen wieder, als sie allesamt verlegen ihre Zauberstäbe durch die Finger drehten.

»Also ein wenig hat es geleuchtet, als ich den Lumos probiert habe«, sagte Lewis nach einem Moment des Räusperns und Schuhspitzenbetrachens.

»Das kriegt ja wohl jeder hin!« Gideon schüttelte seinen Stab, bis an dessen Spitze ein bläuliches Leuchten flackerte. »Siehste?«

»... und ich habe es immerhin geschafft, dass meine Schreibfeder sich bewegt hat, als ich den Schwebezauber ausprobiert habe.« Mit verschränkten Armen hob Lewis sein Kinn ein Stück höher.

»Is’ ja gut, du Streber«, beschwichtigte Everard ihn und versetzte ihm einen Klaps auf die Schulter. »Was’n mit dir, Al?«

»Mein Vater hat mich die ersten Lektionen mit meinem Lehrer durcharbeiten lassen.«

»Oho, der große Mr Mulciber ist also direkt bereit für die zweite Klasse?« Gideon stieß Alston lachend eine Faust in die Seite. »Kannst ruhig zugeben, dass dir nicht alles gelingt, weißte?«

Alston schluckte. Mit einem Mal fühlte es sich an, als würden scharfkantige Eiswürfel seine Kehle hinabgleiten. »Also ...« Er leckte sich über die Lippen. Dachte daran, wie er vor seinem Vater gestanden und ihm brav all die Zauber vorgeführt hatte, die dieser essentiell genannt hatte. Spürte den Stolz in seiner Brust anschwellen und mit dem Eis ringen. (Übertreib es nicht mit dem frechen Grinsen, hörte er seinen Vater schon mahnen. Sonst werden dich die richtigen Menschen nie mögen.) »Ich hab nur gesagt, dass ich alles durchgegangen bin. Den Rest hast du dir gedacht, Gid. Außerdem finde ich das Zaubertränkebuch viel spannender. Ich meine – der Trank der lebenden Toten? Ich wünschte, wir würden mit solchen Dingen anfangen und nicht mit einer Anti-Furunkel-Lösung oder so. Das bekomme ich auch mit dem Experimentierkasten zuhause hin.«

Das Grinsen auf Gideons Gesicht gewann an Hinterlist. »Ja, der Anfängerkram ist langweilig. Deshalb hab ich auch gleich einen vieeel besseren Zauber geübt!« Er drehte sich ein Stück zur Seite, sodass sein Zauberstab nun auf das Grüppchen Zweitklässlerinnen wies. »Hufflepuff«, raunte er mit Blick auf ihre gelb-schwarzen Schals, »wie passend für einen Testlauf. Passt auf! Tarantallegra!«

Das Mädchen zuvorderst quiekte leise auf. Als ihre Freundinnen besorgt fragten, was los sei, meinte sie allerdings nur, dass sie wohl ein Insekt gebissen habe. Sie rieb sich die Kniekehle, sonst geschah rein gar nichts. Dafür wuchs auf Gideons Stirn eine Falte heran. Ungeduldig schnippte er gegen seinen Zauberstab, doch das Holz reagierte nicht.

»Spektakulär«, murmelte Alston mit unterdrückter Stimme und fing sich erneut Everards und Lewis’ Kichern ein. (Lehn dich nur nicht zu weit aus dem Fenster, mahnte ein leises Flüstern ihn. Er kannte sich schließlich bestens mit Stirnfalten aus.)

Zu seiner Erleichterung stopfte Gideon den Zauberstab grob zurück in seinen Umhang. »Na, ist auch egal«, überspielte er sein Versagen, »ich will auf jeden Fall schon vor der dritten Klasse in den Duellierclub, um mehr zu lernen, und ihr?«

 

Die Vorstellungen von all den heldenhaften Siegen, die sie im Duellierclub erringen könnten, trugen Alston und seine Freunde einen Großteil der Fahrt bis hoch nach Schottland. Pause machten sie nur, um sich beim Süßigkeitenwagen mit einem erquicklichen Vorrat an Bertie Botts Bohnen einzudecken. Es war geradezu ein Wettbewerb, wer von ihnen die ekligste Bohne finden konnte. Gewinner wurde Lewis, dessen braune Bohne wirklich äußerst unappetitlich roch (obwohl Alston Zweifel hegte, ob sie genauso ... beschissen schmeckte, denn dafür sah sein Freund ihm eindeutig zu glücklich aus, als er seine zwei Galleonen Preisgeld einstrich).

Bemerken tat er ihn jedenfalls weiterhin nicht. Aber das war nicht weiter verwunderlich, immerhin saß er nicht in ihrem Abteil. Und bei ihrer Ankunft in Hogsmeade war das Gedränge so dicht, dass man unmöglich auf irgendwen außer den besten Freunden neben einem achten konnte. Vor allem, wenn man sichergehen wollte, dass man gemeinsam in ein Boot kam, um den legendenumwobenen Schwarzen See zu überqueren. Höchstens rammte Alston ihm auf dem Weg ans Ufer einen Ellenbogen in die Seite – aber das taten alle anderen auch.

Einmal im Boot sitzend, hatte Alston dann nur noch Augen für das hellerleuchtete Schloss, das sich vor ihm auf den Felsen ausbreitete wie ein Sternenmeer auf Erden. Er hörte nicht mal mehr Lewis’ Gebrabbel über andere Zauberschulen im Nachbarboot oder Gideons leises Pfeifen. Seine ganze Aufmerksamkeit galt den gewaltigen Mauern und Türmen, die so viel größer als in seiner Vorstellung waren. So viel mächtiger.

Seine Finger am Bootsrand zitterten, aber nicht vor Kälte. Den eisigen Wind hatte er längst vergessen. Stattdessen stellte er sich vor, was er in diesen Hallen alles erringen könnte. Nein – würde! Was waren schon ein paar Siege im Duellierclub im Vergleich zu all dem Wissen, das ihm jetzt offenstand? Er würde Preise gewinnen, unbekannte Magie erforschen, aufsehenerregende Aufsätze schreiben ...

Sobald sie die lange Treppe vom Bootshaus zur großen Halle erklommen, schwor er sich, gleich morgen die Bibliothek aufzusuchen. Er war zwar ziemlich sicher, dass Bücher vom Kaliber wie jenes, welches er aus dem Privatbestand seines Vaters mitgenommen hatte, hier nicht einfach im Regal standen, aber schaden konnte es nicht, sich einen Überblick zu verschaffen.

Alstons Gedanken wurden erst abgelenkt, als ein hochgewachsener Zauberer ihnen in der Eingangshalle gegenübertrat und sie mit ausgebreiteten Armen empfing. »Das ist Albus Dumbledore, der stellvertretende Schulleiter«, flüsterte Lewis aufgeregt. »Es heißt, er sei ein heißer Anwärter auf eine eigene Schokofroschkarte!«

Gideon gluckste. »Mein Vater sagt, er sei ein Spinner, und wenn ich mir diese lila Robe so ansehe, hat er recht. Wann war das zuletzt Mode? 1780?«

»Ugh, schrecklich«, pflichtete Everard ihm bei.

»Na, Dippet ist schlimmer drauf und hat weniger erreicht im Leben, egal welche Roben er trägt«, gab Alston zurück. Er hatte den Schulleiter zwar nie zuvor gesehen, doch sein Vater hatte daheim genug geschimpft über die ‚sanfte Ader‘ des Mannes und seinen Wankelmut bei der Führung der Schule. (Albus Dumbledore strahlte seiner Meinung nach zudem eine gewisse Würde aus – trotz seiner bunt bestickten Robe, die sich mit dem langsam ergrauenden roten Haar und Bart biss. Vielleicht gerade deswegen. Und er hatte die Wirkarten von Drachenblut erforscht, das war ein Meilenstein der Magiegeschichte!)

Doch auch diese Gedanken schmolzen ins Nichts, als sie Professor Dumbledore in die Große Halle folgten. Dort, ganz vorne, hinter den vier Haustischen, wartete der Sprechende Hut auf Alston wie das Schafott. Nicht mal der hübsche Sternenhimmel im Gewölbe über seinem Kopf lenkte ihn von der Angst ab, die plötzlich wieder Besitz von ihm ergriff.

Der Kragen seiner Schuluniform, die er im Zug angezogen hatte, schien zu schrumpfen und ein schrilles Pfeifen jagte durch seine Ohren. Wie hypnotisiert starrte er die Namensliste an, die der stellvertretende Schulleiter entrollte. Mit jeder Sekunde länger hasste er es, wie weit unten er stand, während Lewis gleich als Erstes zu einem Slytherin werden durfte. Und sobald sein Name durch die Große Halle klang, wünschte er sich trotzdem mehr Zeit.

Er hatte noch gar nicht genug überzeugende Argumente für den Sprechenden Hut gesammelt! Verdammte Bohnen, Zauberstäbe und Albereien, die ihn abgelenkt hatten! Alston schämte sich, doch er konnte nichts gegen das Zittern seiner Knie tun. Egal wie fest er auch die Fäuste ballte oder seine Zähne aufeinanderpresste, sein Körper betrog ihn. Kaum dass er endlich auf dem kleinen Holzschemel saß, tanzten schwarze Flecken durch sein Sichtfeld.

Dann senkte sich die breite Hutkrempe über seine Augen und er wartete. Lauschte. Hoffte.

»Ich sehe, du kommst vorbereitet«, flüsterte ihm eine knarzige Stimme ins Ohr. »Oh ja, dein Kopf ist so voller Gedanken, da wird einem schwindelig.« Kichern. »Ein Glück, dass einem Hut nicht übel werden kann.«

Alston biss sich auf die Unterlippe.

»Also klug bist du, das steht fest. Hast viel von deiner Mutter. Eine starke Frau ...«

Er schmeckte Blut.

»Ja ... aber da ist mehr. So viel Drang, sich zu beweisen, sieht man selten in einem so jungen Kopf.«

Konnte ein Hut traurig klingen? Es kam Alston so vor. Doch was hatte sein Vater gesagt? Er sollte fordern

»Oh, das brauchst du nicht, mein Junge. Ich sehe längst, was dein Herz verbirgt. Meine Wahl steht fest. Aber vergiss nie – dein Geist allein ist Grund für die Entscheidung. Genauso ist es deine Wahl, wie du diesen Weg beschreitest.« Und bevor Alston etwas einwenden konnte, riss die Hutkrempe zu einem lauten Schrei auf.

»Slytherin!«

Im Nachhinein konnte Alston nicht sagen, wie er zu seinem Haustisch gekommen war. Er musste wohl geschwebt sein wie ein Geist. Im nächsten Moment wusste er nur, dass er vor einem gewaltigen Festmahl saß, eingequetscht zwischen Lewis und Everard und noch nie in seinem Leben so hungrig gewesen war.

Obwohl er ihm hier bereits ganz nahe war, konnte er nicht sagen, dass er Augen für irgendetwas außer den turmhoch aufgestapelten Shepherd Pies hatte. Höchstens die drei Mädchen auf der anderen Tischseite schafften es noch in seine Wahrnehmung, weil er sie darum bitten musste, ihm einen Krug Kürbissaft zu reichen. Und mit halbem Ohr hörte er, wie die Blonde von ihnen stolz erzählte, dass sie am Loch Ness zuhause war, wo ihre Familie den legendären Kelpie Niseag, auf Englisch auch Nessie genannt, pflegte.

»Schon seit zehn Generationen sind wir Urquarts Wächter von Loch Ness und sorgen dafür, dass kein Muggel Niseag jagt«, erklärte sie. Dabei verschluckte sie bestimmt die Hälfte aller Worte, als hätte sie eine heiße Kartoffel auf der Zunge. »Wir haben als Dank sogar unseren eigenen, magischen Tartan gewoben bekommen.«

Als Gideon fragte, ob sie das mit leerem Mund wiederholen könnte, färbten sich ihre Wangen kirschrot. Aber ihr Kinn behielt sie oben und sie schenkte ihnen allen der Reihe nach einen spitzen Blick. Alston fand zwar auch, dass sich der breite schottische Akzent furchtbar anhörte, erwiderte den stummen Vorwurf allerdings nur mit einem entschuldigenden Schulterzucken. Er hatte nicht vor, sich am ersten Tag jemanden zum Feind zu machen. Wer wusste schon, ob Elladora Urquart nicht eines Tages auch ein ‚wichtiger Kontakt‘ wäre.

Angestachelt durch ihre Erzählungen ergab sich im Folgenden eine angeberische Runde unter den übrigen Schülern, in der alle versuchten, einander mit den haarsträubendsten Geschichten über ihre Familien zu übertreffen. An diesem Punkt war Alston ganz sicher, dass er ihn mangels Beteiligung gar nicht hätte bemerken können. Zumal Abraxas Malfoy aus der dritten Klasse sehr laut redete. Und so kam es, dass er den fünften Slytherin im Bunde erst wahrnahm, als dieser hinter ihm den Schlafsaal betrat und wie selbstverständlich ein Bett neben dem bodentiefen Fenster in Beschlag nahm.

»Hey!«, rief Gideon sofort und drängelte sich an Alston vorbei. »Wer hat gesagt, dass dir der beste Platz gehört, hm?«

Das blasse, feingeschnittene Gesicht des Jungen zeigte keine Regung. Er legte nur den Kopf leicht schief, während er seinen Koffer mit einem Wink des Zauberstabs auf das erwählte Bett zitierte. »Es wäre mir neu, dass die Betten reserviert sind. Oder, um es in deiner Sprache zu sagen: Wer zuerst zaubert, fängt den Schatz.«

»Meinst du vielleicht Schnatz?«

»Natürlich hab ich das gesagt.« (Kam es Alston nur so vor, oder presste der andere Junge die Kiefer etwas zu fest aufeinander, als er sich abwandte, um seine Zahnbürste auf den Nachtschrank zu legen?) »Du wirst mir also zustimmen müssen, dass ich zuerst da war und demnach nichts Unrechtes getan habe.«

»Ach ja?« Schnaubend wies Gideon mit dem Daumen erst auf sich und dann sie andere. »Hier sind vier von uns und wir kennen dich nicht mal. Also husch, husch« – er unterlegte seine Worte mit einer wedelnden Handbewegung – »wir entscheiden das vernünftig. Mit einer Runde Zauberschnippschnapp.«

Alston langte schon nach dem eigenen Zauberstab, da sah er, wie der fremde Junge seine Augenbraue hob. Nur eine wohlgemerkt. (Wie gerne könnte er das auch!)

»Du willst also dem Zufall überlassen, welches dein Bett wird? Triffst du all deine Entscheidungen so schlecht?«

»Äh ... was?« Die kleine Falte auf Gideons Stirn wich Runzeln. Er tauschte einen langen Blick mit Everard, der nur die Achseln zuckte. »Hör zu, Zauberschnippschnapp ist sowas von fair, da gibt’s nichts zu diskutieren.«

»Ich diskutiere nicht. Ich habe nur festgestellt, dass der zufällige Ausgang eines Spiels dir nicht unbedingt ein gutes Bett sichern wird.« Noch immer wirkte der fremde Junge vollkommen unbekümmert. Statt Gideon eines Blicks zu würdigen, packte er das Bisschen, was sich in seinem lädierten Lederkoffer befand (und das war wirklich sehr wenig), feinsäuberlich in den Schrank neben seinem Bett.

Es war nicht zu überhören, wie Gideon tief Luft holte. Ehe er sich weiter aufregte, schlüpfte Alston an ihm vorbei. Unbemerkt huschte er zu dem äußeren Bett ganz links, flankiert von einem kleinen Schreibtisch. Wer brauchte schon ein Fenster, durch das man ohnehin nur das grünliche Wasser des – oh Ironie! – Schwarzen Sees sah? Hauptsache, sein Bett lag nicht neben dem Eingang zum Bad.

So leise wie möglich schlüpfte er aus dem Schulumhang und legte ihn auf die dicke grüne Steppdecke. Andächtig strich er mit den Fingern über das silberne Emblem mit der Schlange, das nach seiner Zuteilung von Zauberhand auf der Kleidung erschienen war. Jetzt durfte Gideon den Moment nur nicht kaputt machen.

Über die Schulter hinweg sah er zu seinem besten Freund, der mit verschränkten Armen dastand und sich nicht geregt hatte. »Er hat doch nicht unrecht, Gid«, sagte er rasch und stellte sich vor, wie ihm die Worte auf einem Stück Butter die Kehle runterrutschten (das half immer seine Stimme zu beruhigen, wenn er mit seinem Vater sprach). »Verlierst du bei Zauberschnippschnapp, bekommst du auf jeden Fall das Bett neben dem Bad, anstatt das andere neben dem Fenster.«

Everard lachte leise. »Das Bett neben der Tür zum Bad ist doch das Beste! Der kürzeste Weg, um Nachts was zum Trinken zu holen!« Bevor jemand etwas sagen konnte, warf er sich rücklings darauf, dass die Federn quietschten.

Ohne ein Wort zu verlieren, packte auch Lewis seinen Koffer und schleppte ihn zu dem Platz neben Alstons. »So, Problem gelöst.«

Mit diesem Ausgang schien Gideon nicht gerechnet zu haben, doch glücklich wirkte er dennoch nicht. Seine Stirn war nach wie vor zerfurcht und anstatt seine neue Schlafstätte zu beziehen, verharrte er an Ort und Stelle. »Wir kennen dich trotzdem nicht«, schnarrte er an den Unbekannten gewandt.

»Dann frag mich doch, was du wissen möchstest – Gideon Rosier.« Der fremde Junge zeigte etwas, das wohl ein extrem schmallippiges Lächeln war. »Da wir die nächsten sieben Jahre ständig zusammen sein werden, gebe ich dir recht, dass wir uns richtig kennenlernen sollten.« Er sah in die Runde und widmete jedem von ihnen ein knappes Nicken. »Alston, Lewis, Everard – Ich bin Tom.«

»Tom also«, wiederholte Gideon gedehnt. »Und weiter?«

»Riddle.«

»Nie gehört.« Fragend sah Gideon in die Runde, doch sie anderen schüttelten ebenfalls ratlos den Kopf.

Eines war klar – dieser Name stand nicht im Reinblutverzeichnis. Auch sonst hatte Alston seinen Vater nie von dieser Familie reden gehört, obwohl er doch so viel Wert darauf legte, stets mit allen wichtigen Menschen gut zu stehen. Das ließ nur eine Schlussfolgerung zu –

»Aber du bist kein ... kein Schlammblut, oder?«, bohrte Gideon da auch schon argwöhnisch nach.

Tom stieß ein kleines Schnauben aus. »Wäre ich nicht würdig, hätte der Hut mich wohl kaum in dieses Haus geschickt.« Mit demselben Nachdruck wie in seinen Worten zog er die Manschetten seines Hemdes gerade.

Gideon lachte. »Auch wieder wahr.« Endlich löste er sich aus seiner starren Haltung und schritt zu der letzten freien Schlafstätte hinüber. Im Gehen schlüpfte er aus seinen Lederschuhen und trat sie unter das Bett. »Wollen wir hoffen, dass die Matratze hier mit zuhause mithalten kann!«

Damit schien für ihn alles geklärt zu sein, doch Alston mochte sich nicht genauso sorglos in die frischen Kissen fallen lassen. Sein Blick klebte an Tom, der wie bestellt und nicht abgeholt neben dessen Bett stand. Auch weiterhin verriet nichts auf seinem Gesicht die Gedanken, die ihm zweifellos durch den Kopf gingen – seine unruhig durch den Raum wandernden Augen und die zusammengeballte linke Hand zeigten allerdings genug.

Ob seine Freunde wohl alle in einem anderen Haus gelandet waren? Dann könnte Alston verstehen, dass er nicht gerade glücklich aussah. Vorsichtig räusperte er sich. »Wo kommst du denn her, Tom?«

Offenbar überrascht flatterten die Lider des Jungen. Der Moment verging jedoch so schnell, wie er gekommen war, und als Tom antwortete, klang seine Stimme so fest wie zuvor. »London«, sagte er knapp.

»Ach, sieh an«, mischte Everard sich ein. »Meine Eltern haben auch ein Haus in Mayfair. Eigentlich leben wir aber an der Küste. Wo is’n euer Familienanwesen?«

Dieses Mal war Alston sicher, dass ihn die Schatten nicht täuschten. Tom verzog das Gesicht. Zumindest tauchten kleine Grübchen um die Mundwinkel auf, die vorher nicht sichtbar gewesen waren.

»Ich habe keine Familie mehr.«

In dem Schweigen, das sich nun senkte, hörte man plötzlich nur noch das ferne Gelächter aus dem Gemeinschaftsraum weiter unten. Alston zog die Schultern hoch. Ihm war, als hätte er ein unfreiwilliges Bad im Schwarzen See genommen. War es eben auch schon so kalt hier drinnen gewesen? Besorgt sah er zu dem großen Fenster, gegen das bestimmt tausende eisige Liter Seewasser drückten. Doch das war unversehrt und der Kohleofen in der Raummitte glühte ebenfalls.

Sein Blick wanderte wieder zu Tom. Und der starrte mit so frostigen Augen zurück, dass der Temperaturabfall kein Wunder war.

»Oh«, hörte er sich unisono mit den anderen drei murmeln.

Tom hob das Kinn höher. Fast als wolle er ihnen beweisen, dass er ihr Mitleid brauchte (in den seltenen Momenten, wenn der Trotz gegenüber seinem Vater gewann, tat Alston zumindest exakt dasselbe).

»Nun, jetzt bist du in Slytherin. Das heißt, wir sind ...« Nervös linste Alston zu Gideon hinüber – und bekam ein Grinsen zur Antwort. Erleichtert hob er ebenfalls die Mundwinkel. Obwohl er glaubte, sich um das Lächeln bemühen zu müssen, merkte er, wie es sich zu einem beinah schmerzhaften Strahlen verselbstständigte. »Das heißt, wir sind ab sofort auch eine Familie.«

Einen Augenblick lang schienen Toms Gesichtszüge versteinert. Nicht mal blinzeln tat er. Dann zuckten auch seine Lippen.

»Genau!«, stimmte Lewis ein. »In Slytherin schützt man einander den Rücken! Wir halten jetzt zusammen, komme, was wolle. Das würde Salazar selber von uns erwarten.«

Der Kälteknoten in Alstons Brust begann angesichts der neuen Wärme, die sich breitmachte, zu tropfen. Er konnte es gar nicht fassen. Er war wirklich und wahrhaftig in Slytherin. Mit seinen Freunden. Und Tom, dem Rätsel. Aber das Allerbeste: Sein Vater war meilenweit entfernt!

Er strahlte, als nun auch Gideon und Everard beteuerten, dass kein Schulhaus so zusammenhielt wie Slytherin. »Und wenn die ganze Welt gegen einen ist, in Slytherin wird man immer wahre Freunde haben.«

Wie sie einander so ansahen, hatte es beinahe etwas Feierliches. Zumindest war Alston danach, den Zauberstab emporzustrecken und sein Licht scheinen zu lassen.

Tom schien ähnlich zu denken, denn mit einem Mal holte er tief Luft und straffte seine Schultern. »Stellt euch mal vor, wie stolz Salazar Slytherin wäre, wenn wir uns diesen Zusammenhalt schwören.« Er leckte sich über die Lippen. »So richtig, meine ich.«

»Und wie das bitte?« Gideon stand wieder auf und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen einen Bettpfosten.

»Wir könnten ... einen Zauber ausprobieren, den ich auf der Fahrt hierher entdeckt habe.« Seine Stimme hatte nichts an Überzeugung eingebüßt, doch Alston sah, wie Tom geistesabwesend die Finger aneinander rieb. »Ihr wollt doch auch nicht irgendwelche Erstklässler sein, nicht wahr? Ich habe euch am Bahnhof reden gehört. Ihr alle wollt eure Namen in den Annalen der Schule verewigen.«

Toms Blick glitt wieder durch die Runde und dieses Mal waren sie es, die allesamt nickten. Vor lauter Anspannung rutschte Alston an die Kante seines Bettes. Wie immer er sich den ersten Abend im Schloss vorgestellt hatte – so interessant ganz sicher nicht.

»Ich habe es gleich gewusst«, fuhr Tom fort. »Ihr seid nicht wie die Kinder, die sich nur auf das Festessen und die Geisterschau freuen. Ihr wollt mehr. Ihr wollt große Zauberer sein.«

»Schon aber ...« Everard blinzelte verwirrt. Bevor aus seinem aufgeklappten Mund allerdings noch etwas Dämliches kam, war Tom bereits in die Mitte des Raumes zum Kohleofen geschritten und hatte ein kleines, fadenscheiniges Büchlein aus der Innentasche seiner Robe gezogen.

»Also, sollen wir Salazar Slytherin stolz machen?«, fragte er. »Wollen wir einander immer helfen, unsere Ziele zu erreichen? Keine Geheimnisse, keine Lügen. Kein Streit?«

Das war genug. Alston glitt vom Bett und zog in derselben Bewegung seinen Zauberstab. Das Grinsen auf seinem Gesicht fühlte sich an, als würde es nie wieder schwinden, so tief hatte es sich in seine Wangen eingegraben. Seine Hand zitterte sogar voller Aufregung, während er den Stab in Richtung Tom ausstreckte und doch war ihm dieses vermeintliche Anzeichen von Schwäche egal. Er schob die Brust vor.

»Ich will.«

Tom lächelte. So wahrhaftig, dass selbst seine Augen funkelten. Der Anblick sorgte dafür, dass Alstons Mund ganz trocken war, und gleichzeitig hatte er das Gefühl, zu viel Speichel schlucken zu müssen.

»Dann komm her.«

Ehe Alston Tom erreichte, überholten ihn von hinten andere Schritte. Gideons. Der hielt seinen Zauberstab ebenfalls bereit, auch wenn das Misstrauen in seinen Augen flackerte. »Bist du dir denn sicher, dass du so nen Zauber überhaupt hinkriegst? Ich mein, wir sind alle nicht doof, aber das ist gar nicht so einfach und –«

Obwohl Gideon einen halben Kopf größer war als Tom, wirkte dieser kein bisschen eingeschüchtert. Im Gegenteil, er zog seinen schlanken Zauberstab und richtete ihn ohne mit der Wimper zu zucken auf ihn. »Wie war das noch? Ach ja ... Tarantallegra.«

Gideon quiekte. Nicht kurz und spitz wie das Mädchen am Bahnsteig, sondern wie die Gartengnome, die Alstons Vater gerne mit schwarzen Flüchen von den heimischen Ländereien vertrieb. Gleichzeitig vollführten seine Beine einen wilden Tanz. Die Kniescheiben zuckten nach innen, seine Hacken nach außen und sämtliche Knochen dazwischen schienen Wackelpudding zu sein.

Im ersten Moment schrak Alston zurück. Dann kitzelte ihn das Lachen im Bauch. Wo immer Tom herkommen mochte, welch Geheimnisse er auch verbarg – er hatte sich seinen Platz in diesem Schlafsaal wahrlich verdient. Das mussten Everard und Lewis ebenfalls so empfinden, denn sie wieherten beide lautstark los.

»Ich wusste gar nicht, dass du Tänzer im Trollballett bist, Gid«, traute Alston sich zu kommentieren. Das Gelächter schwoll an und mit ihm auch der Mut (Leichtsinn. Sein Vater würde es Leichtsinn nennen). »Oder liegt das etwa an dem Zauber? Kann der doch mehr, als in der Kniekehle kitzeln?«

Röte kroch von Gideons Hals in dessen Wangen vor. »Haha«, fauchte er. »Sorg lieber dafür, dass es aufhört!«

»Finite.« Tom schnippte einmal mit dem Zauberstab und das Schauspiel war vorbei. Nur Everards Glucksen hielt an.

Alston schluckte und wich Gideons Blick aus. Noch schlimmer als das Zornrot war die Bleiche, die danach eintrat, das wusste er. Schon tat es ihm leid, seinen besten Freund verärgert zu haben.

»Natürlich mache ich das nicht mit wahren Freunden«, sagte Tom indes an Gideon gewandt. »Denen zeige ich, wie sie den Zauberstab richtig bewegen.«

So schnell, wie Alston es sonst nur von seinem Vater kannte, glitt das Grinsen zurück auf Gideons Züge. »Abgemacht.«

Was immer in Lewis und Everard vorgehen mochte – mit diesem Zugeständnis an Tom standen auch sie auf und kamen in die Mitte. »Wie geht der Zauber? Was müssen wir tun?«

Tom blätterte in seinem kleinen Büchlein, das nicht mal einen Titel trug. »Es ist eigentlich ganz einfach. Wir piksen uns alle in den Zeigefinger –«

»Was?« Lewis erbleichte. »Aber Blut ... mein Papa sagt, Blut verdirbt Magie.«

»Unsinn. Man muss es nur richtig einsetzen«, hielt Gideon umgehend dagegen.

Everard nickte. »Drachenblut wird schließlich auch ständig für Tränke genommen. Außerdem ist es doch nur ein harmloser kleiner Schwur, kein Fluch, was soll da schon passieren?«

»Nichts, solange man ihn nicht bricht.« Tom sah nicht einmal auf, als er das sagte. »Aber das hattet ihr ja eh nicht vor.«

Entschlossen schüttelten sie alle ihre Köpfe. Gryffindors mochten diejenigen voller Mut sein, aber das hieß nicht, dass Slytherins sich vor den Konsequenzen ihrer Taten scheuten.

»Also«, fuhr Tom ruhig fort, »wir nehmen einen Tropfen Blut von jedem und ziehen damit einen Kreis in die Mitte. Dann sage ich diese Zauberformel hier auf, während wir alle unsere Zauberstäbe in die Mitte des Kreises richten.«

»Und sonst?«, fragte Alston vorsichtig. »Müssen wir auch noch einen Zauber wirken?«

»Nur diese letzten Worte sprechen, wenn ich fertig bin. Ipsi committimus. Nicht besonders schwer, oder?«

Nein, das war es in der Tat nicht. Es belegte nur ihre Ernsthaftigkeit als wahre Schüler Slytherins. Sie tauschten einen stummen Blick, gefolgt von einem bekräftigenden Nicken. Was zählte es schon, dass sie Tom kaum kannten? Ab hier begann eine neue Zeitrechnung!

Alston reckte den Zauberstab. Verschwunden waren die Kälte, die Angst, die Sorgen. Er war Teil von etwas Größerem.



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