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Fading Light

Jenseits aller Grenzen
von

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Prolog

Noah konnte lächeln.

Er wusste nicht genau wie, aber es gelang ihm. Möglich, dass es an dem Mann lag, der mit leicht geneigtem Kopf vor ihm stand. Noah versuchte, zu atmen. Passierte das wirklich oder schlief er noch? Er hatte nicht geglaubt, dass er diese Person jemals kennenlernen würde. Den Protagonisten in den vielen Geschichten seiner Mutter. Wenn sie von diesem Menschen erzählte, klang sie wie ein großer Fan. Und es wirkte immer ein bisschen übertrieben. Als er noch ein Kind gewesen war, hatte er an die Märchen geglaubt. Heute nicht mehr. Aber er hörte gerne zu. Weil ihre Geschichten so lebendig waren, riss sie ihren Sohn mit sich - in eine Welt voller Abenteuer.

Zögernd hob Noah den Kopf, sein Blick suchte den seines Gesprächspartners. Natürlich hatte sie übertrieben. Das nahm er jedenfalls an. Denn dieser Mensch wirkte auf den ersten Blick ganz normal. Beim zweiten entdeckte er weiße Hörner, die zwischen silbernen Haaren saßen. Er schluckte. Flügel glitzernd wie Obsidian mischten sich mit der Farbe von Lapislazuli. Durch ihre Größe streiften sie beim Laufen über den Boden.

Noah hämmerte das Herz gegen die Rippen. Der Hals trocknete ihm aus. Vor allem waren es diese Augen, die ihn faszinierten. Sie brachen sich wie eine Seifenblase im Licht. Das war für ihn nicht so ungewöhnlich. Jedenfalls nicht in dieser Welt - nicht bei einem himmlischen Wesen. Doch an diesem Mann war irgendwas anders.

„Noah, ich möchte dir Nathaniel vorstellen.“, sagte Hailey erfreut. „Nathaniel, das ist mein Sohn.“

Der Mann deutete ein Nicken an. „Freut mich“, erwiderte er eintönig.

Er war groß und schlank und der weiße Stoff des Hemdes spannte sich über einen sehnigen Oberkörper. Das einseitige, etwas schiefe Lächeln, betonte seine aparten Züge. Noah nahm die Geste an, auch wenn er nicht wusste, wie er mit Nathaniel umgehen sollte. Die Person, von der seine Mutter immer erzählte, wirkte lebensfroh, ehrlich und gefühlvoll. Nicht wie dieser Mann.

„Ganz meinerseits“, erwiderte Noah höflich.

Nathaniel nickte. Dann drehte er sich um und steuerte das Klavier an. Hailey sah ihm mit einem Gesichtsausdruck nach, den Noah schwer deuten konnte. Ihre Augen waren umwölkt.

Sie schüttelte den Kopf. „Himmel, Naddy. Was ist mit dir los?“

Mit den Händen in den Taschen wippte Noah auf den Füßen. Warum nannte sie diesen Mann Naddy? Er stutzte. Seit sie sich hier aufhielten, benutzte sie den Namen. War das so etwas wie eine Abkürzung? Noah hatte dabei ein anderes Bild vor Augen. Ungewollt musste er bei der Vorstellung grinsen. Naddy, ein kleiner, zierlicher Junge, dem die viel zu große Brille ständig von der Nase rutschte.

„Mom, ist das der Mann, von dem du mir so oft erzählt hast? Kann es sein, dass du ein bisschen übertreibst?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Aber irgendwas scheint ihn zu beschäftigen.“ Hailey rang die Hände ineinander. „Er ist ... nun ... normalerweise redet er mehr.“

Noah drehte sich um. Seine Augen glitten über die Köpfe der Anwesenden, bis er das Klavier erreichte. Nathaniel hatte sich gegen den Flügel gelehnt, sah sich um und hielt in der Hand eine Sektflöte.

Tief seufzend, ließ sich Noah auf einen Stuhl fallen. In diesem Moment saß er seine Zeit auf einer Hochzeit ab - wenn das so genannt werden konnte. Luzifer und Mammon hatten geheiratet. Sie waren zwei von den sieben Todsünden. Sie feierten in einem Gebäude, das an eine Kirche erinnerte und sich im Jenseits befand.

Die Luft aus den Lungen stoßend, trat Noah zum Buffet. Weil die angebotenen Gerichte sein Misstrauen weckten, hatte er bis jetzt noch nichts gegessen. Doch zu seinem Leidwesen schien sein Magen andere Pläne zu haben. Die Zutaten stammten alle aus dem Jenseits. Er kannte nichts davon. Skeptisch ließ er seine Augen über die Speisen fliegen. Dann fasste er mutig nach einer Frucht, die ihn an eine Birne erinnerte. Sie verströmte einen süßlichen Duft.

„Du warst noch nie im Jenseits, oder?“, erklang eine amüsierte Stimme, eine Hand fasste nach der Frucht. „In dem Fall solltest du vorsichtig sein.“

Noah drehte sich um. Direkt hinter ihm stand Nathaniel. In seinen Augen lag ein verschlagenes Funkeln. Um seine Mundwinkel spielte ein nicht mehr ganz so emotionsloses Lächeln. Was hatte die Persönlichkeit dieses Mannes ins Gegenteil verkehrt?

„Ich ... bin in der Welt der Menschen aufgewachsen“, beantwortete Noah die Frage, seine Hände begannen zu kribbeln. „Ich bin das erste Mal hier.“

„In dem Fall solltest du niemandem trauen.“ Nathaniel biss in die Frucht - seine Eckzähne waren seltsam spitz - und daraufhin wurde der lockende Duft noch intensiver. „Wie alt bist du jetzt?“

Noah schien das Herz aus der Brust zu springen. Seine Knie zitterten. Dieser Engel hatte eine unglaublich weiche, melodiöse Stimme, seine Ausstrahlung glich plötzlich dem Mann aus den vielen Geschichten. Sein Geruch stellte den der Frucht in den Schatten.

„Ich wurde im letzten Monat 15“, erwiderte Noah, tastete hinter sich und hielt sich fast hilfesuchend an der Kante des Tisches fest. Er brauchte irgendeine Stütze. „Und wie alt bist du?“

Auf die Frage folgte leises Lachen. Nathaniel streckte die Hand aus, dann zog er sie zurück. Er wirkte unschlüssig. Innerlich wurde Noah wieder zu einem Kind. Ein Kind, das begeistert den Geschichten seiner Mutter lauschte. Und auf einmal wusste er, dass er sich voller Inbrunst danach gesehnt hatte, diesen Engel endlich zu treffen.

„Viel zu alt, um darauf zu antworten … und zu alt für Groupies.“

„Du weißt nicht, was du verpasst.“

Nathaniel wirkte verwirrt, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. „Willst du mein Ehrgefühl auf die Probe stellen?“, fragte er mit einem Lächeln.

„Vielleicht.“

Hastig drehte sich Noah um. Er fasste nach einem Glas und wollte im überfüllten Ballsaal verschwinden, als er diesen Engel etwas murmeln hörte, was sein Herz ins Stocken brachte.

„Naja, wenn sie wie du die richtige Größe haben…“

Noah atmete tief durch und drehte sich wieder um, nur um festzustellen, dass dieser Engel viel zu dicht vor ihm stand. Diese Nähe war ein Angriff auf seine Selbstbeherrschung.

„Gut zu wissen“, deutete er mit belegter Stimme an und senkte aus einer nicht erklärbaren Verlegenheit heraus den Kopf. „Ich werde mich bemühen, nicht mehr zu wachsen.“

Noah stieg die Hitze in die Wangen. Das war sein erster, richtiger Flirt. Er war so unglaublich nervös. Seine Hände schwitzten. Wenn er zuvor nicht gewusst hatte, wie er mit Nathaniel umgehen sollte, stellte er sich jetzt die Frage: Wohin mit all den Gefühlen, die in ihm brodelten?

„Sieh‘ mich an“, drang es geflüstert bis zu ihm vor.

Er hob zögernd den Kopf. „Du bist heiß“, sprudelte es aus Noah heraus, bevor er die Worte zurückhalten konnte.

Die Hitze in seinem Gesicht breitete sich bis zu seinen Ohren aus. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, wünschte er sich, im Erdboden zu versinken. Dieser Mann brachte ihn vollkommen durcheinander.

Nathaniel verzog die Lippen. „Danke. Ich gebe das Kompliment zurück“, hauchte er belustigt. Sein Mund war nur Zentimeter weit entfernt. „Wenn du erwachsen bist, wirst du viele Herzen brechen.“

Das war der Moment, als etwas zwischen ihnen erblühte. Noch zu flüchtig, um ein Wort dafür zu finden. Zu klein, um es zu erfassen. Aber das spielte keine Rolle. Zumindest nicht jetzt.

Noah hatte das Gefühl, wie eine Sternschnuppe zu verglühen. „Vielleicht will ich dein Herz brechen.“

„Du hast Selbstvertrauen.“ Nathaniel ließ seinen Blick über das Gesicht des Jüngeren schweifen. „Das ist gut und gesund für dein Alter.“

„Ich wirke nur so. Eigentlich bin ich total unsicher.“

„Dafür hast du keinen Grund“, erklärte der Engel, richtete sich auf und biss abermals in die birnenähnliche Frucht. „Du darfst ruhig ein bisschen stolz sein. Hailey ist der schönste Engel des Jenseits und dein Vater ein Höllenprinz. Du hast von beiden Seiten nur das Beste bekommen.“

Dem Jüngeren schnürte sich die Kehle zu. Er war dabei sich zu verlieben. Oder vielleicht schwärmte er auch nur für den Mann, in dessen Armen er sich zu liegen wünschte. In seinem Inneren herrschte reinste Anarchie. Noah konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er streckte die Hand aus, berührte etwas Weiches und hörte ein Stöhnen, das ihm den Boden unter den Füßen wegzog.

„Ver ... Verzeihung“, stammelte er, nachdem ihm bewusst wurde, dass Federn zwischen seinen Fingern lagen. „Tut ... tut das weh?“

Darauf ging Nathaniel nicht ein. „Jake und Hailey“, sagte er und in seiner Stimme lag ein ebenmäßiges Lachen. „Das hatte ich wirklich nicht erwartet.“

Noah stieß die Luft aus seinen Lungen. „Ich glaube, damit hat kaum jemand gerechnet“, erwiderte er, mit den Gedanken bei seiner Mutter.

Sie hatte ihrem Sohn einmal erzählt, wie viele gegen die Hochzeit waren. Hailey hatte alles aufs Spiel gesetzt, um mit der Liebe ihres Lebens zusammen zu sein.

„Ich wollte, dass sie glücklich ist. Mit wem interessiert mich nicht“, sagte Nathaniel und sein Blick streifte Hailey, die mit gerafften Röcken den Rand der Tanzfläche umrundete. „Was soll daran falsch sein? Warum muss die Vernunft über den Gefühlen stehen?“

Noah sah überrascht auf. „In der Liebe gibt es kein richtig und falsch.“

Ihre Blicke trafen sich. „Stimmt“, erwiderte Nathaniel. „Vergiss‘ das nie.“

„Werde ich nicht.“

Zitternd wich Noah einen Schritt zurück. Ihm flatterte das Herz und er ertappte sich bei dem Gedanken, dass er Nathaniel wiedersehen wollte. In der Welt der Menschen, seiner Realität. Doch ein Wesen des Jenseits nach der Schein-Identität zu fragen war ein absolutes No-Go. Es gehörte zu den Verboten, über die niemand redete.

Noah rutschte in eine Zwickmühle. Sollte er gegen die Regel verstoßen, brachte er sich und seine Eltern in Verruf. Er biss sich auf die Lippe. Zudem bestand die Möglichkeit, dass er Nathaniel damit vor den Kopf stieß. Wenn er sich an die Regel hielt, sah er diesen Engel vermutlich nie wieder.

„Bis später“, erklang die Stimme des Größeren. „Ein paar Freunde sind gerade eingetroffen.“

Das Kerngehäuse der birnenähnlichen Frucht lag auf einem Teller. Nathaniel ging zu einer Frau, die nicht sehr freundlich wirkte. Noah seufzte auf und scharte mit dem rechten Fuß. Er kannte sie gut. Sie war auch ein Engel. Ein besonderer. Denn im Gegensatz zum Rest der Gäste konnte sie ihr wahres Naturell verstecken. Hailey hatte ihm erzählt, dass es sich bei dieser Frau um seine Tante handelte, die ihn Korea geboren wurde. Ihr Name lautete Seo Yong Kim.

Noah sank wieder auf einen Stuhl und begann zu kippeln. Das Jenseits existierte außerhalb von Zeit und Raum. Und doch bewegten sich die Zeiger auf der Wanduhr über das Ziffernblatt. Das Fest neigte sich langsam dem Ende zu - für diesen Tag. Das Brautpaar hatte zu Beginn angekündigt, dass sich die Feierlichkeiten über eine ganze Woche erstreckten. Eine Hand klopfte ihm auf die Schulter und weil er sich erschreckte, verlor er die Balance. Die Stuhlbeine rutschten. Bevor er auf unliebsame Weise nähere Bekanntschaft mit dem Boden schloss, hielt ihn sein Vater am Ellenbogen fest und half ihm auf die Füße.

„Wir gehen jetzt nach Hause“, sagte Jake amüsiert.

Noah hielt die Augen abgewandt. „Ich hole nur meine Jacke.“

Ein Rascheln erklang. „In der Zwischenzeit versuche ich, deine Mutter zu finden. Sie ist verschwunden.“

Schritte, die sich entfernten, dann mischte sich die Aura seines Vaters mit denen anderer Dämonen. Noah verkrampfte die Hände in seiner Hose, atmete tief durch und hob den Kopf. Er konnte seinem Vater nicht ins Gesicht sehen. Nur dann, wenn sich Jake hinter einer menschlichen Fassade verbarg.

„So furchtbar?“, fragte eine Stimme neben ihm.

Noah drehte sich um. „Nein. Nein, es ist nicht furchtbar, es ist mehr, ich …“, wollte er seine Gefühle erklären, bevor er hilflos die Schultern zuckte. „Gehst du jetzt?“

Nathaniel schien der unerwartete Themenwechsel nicht zu stören. „Ich bin nur hier, weil ich dich treffen wollte“, grinste er mit zuckenden Mundwinkeln. „Du hast meine Erwartungen nicht enttäuscht.“

„Letzte Chance“, flüsterte Noah, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Lächelnd wandte sich ihm der Engel zu, seine Augen schimmerten im Licht der Kerzen. „Über dein Angebot unterhalten wir uns, wenn du etwas älter bist“, gab Nathaniel zurück und streckte die Hand aus, um Noah im Nacken näher zu ziehen. „Und … bis dahin …“

Er ließ den Satz offen, lehnte sich vor und schloss die Augen. Noah hämmerte das Herz so hart in der Brust, dass er befürchtete, es könnte ihm herausspringen. Seine innere Stimme schrie. Er war verliebt. Er war definitiv verliebt. Doch bevor ihm Nathaniel seinen ersten Kuss stehlen konnte, tauchte Hailey auf. Und sie war betrunken.

In einer Wolke aus rosa Spitze warf sie sich ihrem Sohn in die Arme. „Noah, es geht mir gar nicht gut“, lallte sie und ließ sich schwer auf ihn fallen. „Bring‘ mich nach Hause.“

Nathaniel schmunzelte bei dem Anblick. „Kümmere dich um deine Mutter.“

Noah blieb der Mund offen stehen. „Aber …“

„Gute Nacht.“

Wie ein Schatten schien Nathaniel mit den Lichtern im Ballsaal zu verschmelzen. Noah zitterte. Seine Lippen kribbelten. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an das Versprechen. Er schwor sich, dass er diesen Engel wiedersehen würde, selbst wenn es eine Ewigkeit dauern sollte.

Der versteinerte Prinz

 

Vor langer Zeit, in einem weit entfernten Königreich, das jenseits von Mond und Sternen lag, wurde ein versteinerter Prinz geboren, mit Haaren Silbern wie das Mondlicht und Augen, glänzend wie ein Regenbogen.

Obwohl er bekam, was auch immer das Herz eines Kindes jemals begehren konnte, war der versteinerte Prinz in den Augen seines selbstsüchtigen Vaters wertlos.

So wuchs der versteinerte Prinz verhasst und verstoßen, im Schloss seiner Mutter auf.

Unfähig ein Gefühl der Zuneigung oder Güte zu empfinden, wurde das Herz des versteinerten Prinzen ebenfalls zu Stein.

Und während der versteinerte Prinz alles um sich herum still beobachtete, trat sein Vater das erste Mal auf ihn zu.

Der König brachte seinen Sohn in eine Welt, die sich von ihrer unterschied.

Und dort erhielt er eine Aufgabe, die zu bewältigen einem Kind nicht möglich war.

So ließ der König seinen Sohn dort zurück.

Der versteinerte Prinz wusste, er musste den Anordnungen seines Vaters folgen.

Aber wie sollte er das schaffen?

Ein Krieg entbrannte in dieser Welt und der versteinerte Prinz wurde mit weiteren Kindern an einen fremden Ort gebracht.

Eingesperrt in ein unterirdisches Verlies, fristete der versteinerte Prinz ohne Klagen sein Dasein.

Ohne jemals Hoffnung zu erfahren, Vertrauen, ignorierte der versteinerte Prinz alles und jeden um sich herum.

Doch zu einer Zeit, in der ihm das Atmen immer schwerer fiel, wurde der versteinerte Prinz von einer jungen Frau in einen großen, dunklen Wald geführt.

Der versteinerte Prinz konnte nicht verstehen, warum sie ihn gerettet hatte, und es interessierte ihn auch nicht.

Und dann erkannte er, dass sie ihm dabei helfen würde, die Aufgabe seines Vaters zu erfüllen.

Außerhalb des Gefängnisses, im saftigen Grün der Hügel, kam für den versteinerten Prinz, der nie zu lieben gelernt hatte, jede Hilfe zu spät.

Ein Gewitter brauste über die Welt hinweg, als sich die Hände der jungen Frau um den Hals des Prinzen legten.

Blitze zogen über den Himmel, Donner krachte, während der versteinerte Prinz seinen letzten, quälenden Atemzug tat.

Sie versprach ihm, das er in einer anderen Welt irgendwann jemanden begegnen würde, der sein Herz wieder zum Schlagen brachte.

Zum ersten Mal lächelte der versteinerte Prinz.

Kapitel: 01

 

England; London

12. April 2020

 

Connor hatte Nachrichten bekommen - viele Nachrichten.

Und wie an jedem Anfang stand ein einseitiger Monolog. Leere, höfliche Phrasen. Worte, die zu einer Unterhaltung führen sollten.

[Noah: März 2017, 16:03 Uhr] Hey, wie geht es dir?

[Noah: März 2017, 12:03 Uhr] Wie ist das Wetter bei dir?

[Noah: April 2018, 09:20 Uhr] Ich habe schon lange nichts mehr von dir gehört.

Ein Bild oder eine Webadresse ohne Worte.

Über seine Lippen perlte ein Fluch. Es war nicht seine Absicht gewesen, die Nachrichten drei Jahre unbeantwortet zu lassen. Dort, wo er sich aufhalten musste, funktionierte Technik nicht. Darum hatte er auch sein Smartphone zuhause gelassen. Verflucht. Seine Stirn sank auf das Display. Warum hatte ausgerechnet er diese Telefonnummer? Conner wollte nicht, dass ihn jemand kontaktierte. Er hatte seine Pläne gekannt und nur darum hatte er behauptet, dass er Elektronik nicht sonderlich mochte. Wer schrieb in Zeiten wie diesen noch Briefe?

Conner fluchte ein weiteres Mal. Gott im Himmel. Weil sich sein Partner um alles gekümmert hatte, hatte er gesagt, das er nur über die Adresse seiner Arbeitsstelle erreicht werden konnte. Wieso musste das passieren? Weil er nicht antworten konnte, wurde sein Smartphone wohl zu einem Tagebuch. Zumindest ließen die Texte darauf schließen.

Nachdenklich las er weiter. Es gab Nachrichten, die ihn beunruhigten. Und er verstand nicht wieso. Denn Conner hatte keine Kinder. Darum konnte er nicht sagen, was davon bedenklich war. Von Erziehung wusste er genauso viel wie ein Neugeborenes von Brandstiftung - wenn es um den Part der Eltern ging. Pädagogisch besaß er ein bisschen Erfahrung. Vor zehn Jahren hatte er beschlossen, zu studieren, um Lehrer zu werden. Sein Job hatte ihn gelangweilt. Daraus wurde dann doch nichts. Als er den Abschluss hinter sich gebracht hatte, musste er sich um die Firma kümmern.

Connor verschob seine Überlegungen, als er auf eine Nachricht stieß, die ihn den Magen umdrehte. Unschlüssig lehnte er sich zurück. Sollte er darauf reagieren? Oder besser nicht? Vermutlich würde das nach drei Jahren ziemlich seltsam wirken.

[Noah: Juni 2019, 12:21 Uhr] Ich habe jemanden kennengelernt. Ich weiß nicht, ob ich mich mit ihm Treffen sollte. Er ist älter und verheiratet.

Er hatte nicht erwartet, dass ihn diese drei Sätze wie ein Schlag unter die Gürtellinie trafen. Leise seufzend ließ er sich zur Seite fallen und sank in die Kissen der Couch.

[Noah: September 2019, 18:05 Uhr] Ich kann mir fast bildlich vorstellen, was du über mich denken wirst. Aber ich muss es einfach irgendjemandem sagen und ich wünschte, ich könnte mit dir darüber reden. Ich glaube, dass ich mich verliebt habe. Ausgerechnet in den Kerl, für den ich nie mehr sein kann als eine Affäre. Das ist ziemlich dämlich, oder? Und wenn meine Mutter jemals davon erfährt, wird sie mich umbringen.

Conner legte das Smartphone auf seine Brust. Seine Augen lagen auf dem Deckenventilator, der mit einem gedämpften Surren seine Runden drehte. Er wusste nicht genau, was er fühlen sollte. Nur, dass ihm die Nachrichten den Magen verknoteten. Im Grunde ging es ihn nichts an und doch hallten die Worte wie ein Echo in seinem Geist wider.

Mit zuckenden Mundwinkeln rollte er sich auf den Rücken. Also hatte sich der Junge verliebt. Conner schloss die Augen. Warum interessierte ihn das? Er kannte die Antwort auf seine Fragen, selbst, wenn er sich vom Gegenteil überzeugen wollte. Und diese Antwort begann immer mit den gleichen Worten.

Connor konnte nur lachen. Das war so jämmerlich. Er müsste es besser wissen. Er war erwachsen. Doch mit jeder Mitteilung war ein Bild in ihm gewachsen, eine Vorstellung von der Person, die sich hinter den Worten auf seinem Smartphone verbarg. Nichts davon spiegelte die Realität wider. Das war ihm bewusst.

Er sah zu der Kaffeetasse, die auf dem Couchtisch stand. Er hatte schon vor längerem beschlossen, dass er Hailey einmal besuchen wollte. Doch seine Verpflichtungen banden ihn an London. Er kam hier einfach nicht weg. Nach der heutigen Nachricht fand er es umso wichtiger, dass er sie sah und mit ihr redete. Doch kaum war er zurückgekehrt, wurde er mit Arbeit überschüttet.

Connor stieß die Luft aus seinen Lungen, setzte sich auf und fasste nach der Aktentasche, die neben ihm auf dem Boden stand. Sein Kalender quoll über vor Terminen. Er hatte keine Zeit, um die Stadt zu verlassen. Nicht einmal für einen Tagesurlaub. Und Alabama lag nicht gerade um die Ecke. Ein Flugzeug benötigte für die Route ein paar Stunden, ein Auto noch länger. Er grub die Zähne in seinen Daumen. Er wurde von seinen Sorgen fast aufgefressen. Er musste mit Hailey reden. Doch seine Arbeit als Geschäftsführer in einer Bank ließ ihm keinen Freiraum.

In den folgenden Monaten suchte er verzweifelt nach Zerstreuung. Seine Pflichten nahmen seine ganze Zeit in Anspruch. Doch das unvernünftige Verhalten von diesem Bengel ging ihm nicht aus dem Kopf. Erst im nächsten Jahr, Ende April, schaffte es Connor, seine Pflichten erneut auf seinen Partner zu übertragen. Und weil es ihm nicht lag, untätig zu sein, suchte er sich eine Anstellung als Lehrer. Er wollte es einmal ausprobieren.

Er konnte keine Erfahrung vorweisen, darum bekam er auch nicht gleich eine Zusage. Erst ein paar Tage später. Die örtliche Highschool in Georgtown, die etwa 30 Minuten mit dem Auto und Bus von Eufaula entfernt lag, lud ihn zu einem Vorstellungsgespräch ein. Zwei Tage später wurde er von Hailey und Jake am Flughafen in Empfang genommen. Ihr Sohn übernachtete am Wochenende immer bei Freunden. Er kam nie vor Sonntagabend nach Hause.

Connor lächelte. Das traf sich gut. Zu einem saß ihm der Jetlag so tief in den Knochen, dass er kaum die Augen offenhalten konnte, zum anderen wollte er nicht auftauchen und sofort schlechte Nachrichten überbringen. Zudem schlief er ein, kaum dass er im Auto auf der Rückbank saß. Das Wochenende verbrachte er fast nur im Bett. Hailey und Jake besaßen im gleichen Ort eine Immobilie, die aus sechs Wohnungen bestand. Eine davon hatte sie ihm überlassen.

Sonntagabend ging er mit seinen Gastgebern in einem Restaurant essen. Hailey erzählte von ihrem Sohn. Ihre Augen strahlten. Wie sehr sie Noah liebte, war deutlich zu erkennen. Connor lag der Grund seines Besuches schwer im Magen. Er konnte ihr nicht sagen, warum er den weiten Weg auf sich genommen hatte. Ihm lag nichts ferner, als ihre Vorstellungen zu zerstören.

Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Und während er gezwungen lächelnd ihren Geschichten lauschte, fragte er sich, ob er nicht vielleicht ein bisschen überzogen reagiert hatte? Durfte er sich einmischen? Was würde er damit anrichten? Erneut sagte er sich, dass ihn die Situation im Grunde nichts anging. Wie sollte er Hailey denn davon erzählen? Welche Auswirkungen könnte die Affäre schon haben? Warum kümmerte ihn das überhaupt? Ihr Sohn war noch jung. Ein Teenager. Er wurde vor zwei Wochen erst 18 Jahre alt. Im besten Fall lernte er aus seinen Fehlern. Im schlechtesten behielt er dieses Verhalten bei - genau wie sein Vater.

Connor sah auf, als sich Hailey beschämt auf die Toilette entschuldigte. Sie wollte sich schnell die Nase pudern. In Gedanken versunken, sah er ihr nach und stellte sich die Frage, was er überhaupt in Alabama verloren hatte. Nur einen Lidschlag später wandte sich ihm schon Jake zu. Der Mechaniker wirkte ungewöhnlich ernst. Das Kinn legte er auf seine Hände.

„Wirst du es ihr sagen ...?“, fragte er mit ruhiger Stimme. Das Funkeln in seinen blauen Augen strafte seinen friedlichen Tonfall lüge. „... Federvieh.“

Connor verstand nicht sofort. Es dauerte einen Moment, bis ihm die Erkenntnis dämmerte und damit einen Berg an Fragen ins Rollen brachte. Woher wusste dieser verdammte Kerl, mit wem sein Sohn in Verbindung stand oder was er für Nachrichten verschickte?

Connor legte die Gabel zur Seite, mit der er in seinem Salat gestochert hatte. „Woher weißt du davon?“

Lachen ertönte. „Bitte. Du vergisst, wer ich bin“, erklärte Jake, der die Türen des Waschraumes im Blick behielt. Vermutlich um sicherzustellen, dass Hailey nichts von der Unterhaltung mitbekam. „Also …?“

„Muss ich befürchten, dass du mich auch stalkst?“

Der Mechaniker sah ihm geheimnisvoll entgegen. „Das überlasse ich deiner Fantasie.“

Conner hatte sich entschieden. Seine Gedanken ließen ihm keine Ruhe. Er wollte Hailey nicht verletzen. Sie war wie ein zartes Pflänzchen. Vielleicht bekam er die Chance, die Situation erstmal nur zu beobachten. Zu einem späteren Zeitpunkt konnte er sich einmischen. Oder eben nicht.

Er runzelte die Stirn. „Ich nehme an, dass du schon länger davon weißt“, begann er, fasste nach dem Wasserglas und setzte es an seine Lippen. „Warum hast du deinem Sohn noch nicht die Leviten gelesen?“

Jake lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Hände in seinen Hosentaschen. „Noah muss seine eigenen Erfahrungen machen“, antwortete er. „Er kann auf sich aufpassen und solange ihn dieser Kerl zu nichts zwingt, mische ich mich auch nicht ein.“

„Seltsam erwachsen für jemanden wie dich.“

Der Mechaniker schien Lachen zu wollen. „Und das sagst ausgerechnet du, du Federvieh?“

Bevor Connor zurückfeuern konnte, tauchte Hailey auf. Und als sie sich hingesetzt hatte, kehrte sie zum ersten Thema zurück. Oder zumindest ging es in diese Richtung. Sie erzählte ein weiteres Mal von ihrem Sohn. Nur das sie diesmal nicht ganz so begeistert zu sein schien. Offenbar hatte sich das Verhalten von Noah in den letzten drei Jahren verändert. Sehr zum Negativen.

Hailey senkte den Blick auf ihren Teller. Seit er die Highschool besuchte, fiel er in der Schule unangenehm auf. Sie hatte schon Anrufe bekommen, in deren Verlauf sie zum Direktor zitiert wurde. Zu einem großen Teil wegen Drogen, Schlägereien und Alkoholmissbrauch.

Auch die Noten ihres Sohnes hatten sich drastisch verschlechtert. Vor ein paar Monaten wurde Noah für eine längere Zeit suspendiert. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Selbst der Therapeut, den sie konsultiert hatte, kannte keine Antworten. Hailey verzweifelte daran. Sie fühlte sich so hilflos. Für eine Mutter gab es nichts Schlimmeres auf der Welt.

Connor lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hörte aufmerksam zu. Das deckte sich ungefähr mit dem Zeitrahmen, als er von Noah die Nachricht mit dem verheirateten Mann erhielt. Dabei hatte er ihren Sohn für sehr vernünftig gehalten. Es war ein merkwürdiges Gefühl, dass er sich scheinbar geirrt hatte.

Viele Mitteilungen wirkten zwar bedenklich, doch Noah hatte es immer geschafft, den besten Weg zu finden. Und daran ließ er die Person, die nicht antworten konnte teilhaben.

Sein Smartphone vibrierte.

An dieser Stelle brach Hailey den Abend vorzeitig ab, womit Connor einverstanden war. Sie wollte nach Hause. Offenbar fiel es ihr schwer, über diese Dinge zu reden. Sie fühlte sich wie eine schlechte Mutter. Verständlicherweise. Jake erfüllte den Wunsch seiner Frau. Im Anschluss wollte er sich in die Werkstatt begeben, die er seit 25 Jahren in Eufaula führte. Angeblich hatte er Papierkram liegen lassen, den er bis morgen durchgehen musste.

Connor ging allein zum Apartmentkomplex zurück. Es gab Dinge, die ihn beschäftigten und die frische Luft würde ihm dabei helfen, einen klaren Kopf zu bekommen. Oder zu behalten.

Es war still um diese Zeit. Auf der Straße hielten sich nur wenige Menschen auf, leise in Gespräche vertieft. Die Geschäfte waren schon geschlossen. Doch die Lichter der bunten Reklameschilder, die an den Außenfassaden der Häuser hingen, konkurrierten mit der Dunkelheit. In der Luft lag Musik und das Plätschern von Wasser aus dem nahegelegenen Brunnen. Der Wind strich raschelnd durch die Kronen der Bäume.

Connor ließ seinen Blick schweifen. Eufaula war wirklich eine gottverlassene Kleinstadt. Bei näherer Betrachtung hatte er das Gefühl, die Moderne hätte dieses Fleckchen Erde noch nicht erreicht. Aber das lag vermutlich nur daran, dass er London gewöhnt war.

Er nahm sein Smartphone zur Hand.

[Noah: April 2020, 21:12 Uhr] Eyyy Ssteve komm euber unnf brinh mwehr Alkohol mit ¡

[Noah: April 2020, 21:12 Uhr] Die jüngst ve miysen dich

[Noah: April 2020, 21:12 Uhr] Oh fucck Falschgeld nummer sorrx

Connor hob die Augenbrauen. Er las die Nachrichten wieder. Dann noch einmal. Es blieben die gleichen Sätze. Eine Grimasse schneidend, starrte er auf die schwarzen Buchstaben. Kurz und bündig. Kein Roman. Und diesmal bekam er tatsächlich die Chance, auf die Nachrichten zu reagieren.

[Connor: April 2020, 22:01 Uhr] ... Bist du betrunken?

Connor blieb neben einem Automaten stehen. Er wollte sich eine Packung Zigaretten kaufen. Im selben Augenblick erreichte ihn die nächste Nachricht.

[Noah: April 2020, 22:05 Uhr] Ein Burschen

[Noah: April 2020, 22:05 Uhr] *bisschen

Dem folgte ein verschwommenes Foto, das wohl ein Selfie darstellen sollte. Noah hatte scheinbar die falsche Kamera dafür benutzt.

[Noah: April 2020, 22:05 Uhr] Warte shit su schreibts???

[Connor: April 2020, 22:07 Uhr] Du scheinst ja wirklich Spaß zu haben.

[Noah: April 2020, 22:08 Uhr] Jhaaa,, aber die Müsli ist Jacke

[Noah: April 2020, 22:08 Uhr] Kommm auch hier!

Connor bekam noch ein Foto, das wohl eine andere Person aufgenommen hatte. Darauf war Noah zu sehen, der vermutlich mit Freunden bunte Cocktails trank und zu der schlechten Musik tanzte.

[Connor: April 2020, 22:09 Uhr] Für solche, sagen wir, Veranstaltungen bin ich zu alt. Tut mir leid. Mit mir hättest du keinen Spaß.

[Noah: April 2020, 22:09 Uhr] Aktes isz besser, wemn du fabei bost!

[Connor: April 2020, 22:10 Uhr] Ist das so?

[Noah: April 2020, 22:10 Uhr] Aif jeden freak!

[Noah: April 2020, 22:11 Uhr] *Fakl

[Noah: April 2020, 22:12 Uhr] *Gall

[Noah: April 2020, 22:12 Uhr] *F A L L

[Connor: April 2020, 22:13 Uhr] Wenn ich mir das so ansehe, wäre es wahrscheinlich besser, ich würde nicht mit feiern, sondern dich nach Hause bringen.

[Noah: April 2020, 22:13 Uhr] Zu die oder mit?

[Noah: April 2020, 22:14 Uhr] Ojh uf jeden Fakt zu dur!

[Noah: April 2020, 22:14 Uhr] Warze dass wat meine Nachrixht

[Noah: April 2020, 22:15 Uhr] Trotzwm!!!

[Connor: April 2020, 22:17 Uhr] Denk‘ dran, Wasser zu trinken, und pass‘ auf dich auf. Schreib‘ mir, wenn du ausgenüchtert bist.

[Noah: April 2020, 22:18 Uhr] Okk aber sehe du antwirtwst nicht!

Connor hob die Hand, um eine Zigarettenmarke auszuwählen. Doch dazu kam er nicht. Plötzlich rempelte ihn ein Passant an, sodass er zur Seite stolperte und dabei fast über seine eigenen Füße fiel. Im letzten Moment bekam er die Lehne einer Parkbank zu fassen. Innerlich fluchend wandte er sich der Person zu, die jetzt anstelle von ihm auf dem Asphalt saß.

Das war ja noch ein Kind!

Jedenfalls auf den ersten Blick. Beim zweiten fielen die feinen Bartstoppeln an Wangen und Kinn auf. Der Junge hob den Kopf. Er war betrunken und stank wie eine Kneipe zur Happy Hour. In der Luft lag eine Mischung aus Alkohol, Zigaretten und schwitzender Haut. Connor griff nach der Hand des Fremden und zog ihn schwungvoll auf die Füße - er war ungewöhnlich leicht und klein für einen Mann.

„Scheiße Sorry“, lallte der Junge dümmlich lachend und wankte bedrohlich zur Seite. „Alles in Ordnung?“

Und dann wurde Connor etwas bewusst, was er zuvor nicht bemerkt hatte. „Das fragst du mich, Noah?“

Hatte er nicht erst vor wenigen Minuten noch mit ihm geschrieben? Scheinbar war die Party schon vorbei gewesen und Noah längst auf dem Heimweg. Ob er in dem Zustand auch in seinem Elternhaus ankam, blieb fraglich.

Der Junge blinzelte und lehnte sich vor. „Alter Leo, bist du das?“

„Ich muss dich enttäuschen. Mein Name ist Connor.“

„Cool ... meine Eltern bekommen bald Besuch von so ‘nem Connor“, rief Noah fast ein wenig zu enthusiastisch und schlang dem Größeren den Arm um die Schultern - vermutlich in erster Linie, um nicht wieder zu fallen. „Wäre echt scheiße, wenn du das wärst.“

Connor atmete tief durch. Mund. Nicht Nase. Der Junge war sternhagelvoll. „Wahrscheinlich.“

Ein schwarzer Audi a3 fuhr an ihnen vorbei, hielt mit quietschenden Reifen mitten auf der Straße an und setzte langsam einen halben Meter zurück. Als der Motor erstarb, stieg Jake aus dem Wagen. In seinem Gesicht lag Resignation und etwas, das an elterliche Strenge erinnerte. Offenbar war das nicht der erste Abend, an dem er seinen Sohn von der Straße sammeln musste.

Lauter als nötig schlug er die Tür hinter sich zu. Conners Mundwinkel zuckten. Also hatte es sich bei dem ominösen Papierkram um die Suche nach seinem Kind gehandelt.  Jake seufzte und bugsierte den Jugendlichen auf der Rückbank des Autos.

Conner nutzte die Zeit, um endlich eine Packung Zigaretten aus dem Auffangschacht des Automaten zu fischen.

„Hätte nicht erwartet, dass jemand wie du raucht“, sagte Jake zwar in einer amüsierten Tonlage, doch seine Gedanken schienen diesen Ort längst verlassen zu haben. „Sorry, wenn er dir Schwierigkeiten gemacht hat.“

Connor zuckte die Schultern, schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete das vordere Ende an. „Ich verstehe nichts von Erziehung, aber er sollte nicht so viel trinken“, gab er zurück, seine Augen hafteten auf dem Wagen mit den dunkel getönten Scheiben. „Ist die Hölle eingefroren oder warum entschuldigst du dich bei mir?“

Jake warf einen schnellen Blick auf das Display seines Smartphones. „Das war die erste und letzte.“ Er schloss die Tür des Wagens. „Wie war dein Urlaub?“

„Als wenn du mit mir Smalltalk machen willst ... hau‘ endlich ab.“

Der Mechaniker fuhr langsam. Sehr vorsichtig. Damit sich Noah nicht auf die Sitze erbrach, vermutete Conner. Er zuckte die Schultern, drehte sich auf dem Asphalt um und setzte seinen Weg fort. Für den Bruchteil einer Sekunde, als ihm dieses Kind buchstäblich in die Arme gefallen war, schien sich die Form der Welt zu verändern, zu verzerren.

Vertieft betrachtete er den verhangenen Horizont. Wenn seine Umgebung zuvor grau, fast schon schwarz wirkte, hatte sie mit dem Auftauchen von Noah an Farbe gewonnen. Durch Farben erwachte diese Welt pulsierend zum Leben. Schillernd und leuchtend wie der Regenbogen. Warm, freundlich, lockend. Das Herz dieses Planeten begann zu schlagen.

Seine Gefühle mussten eine enorme Intensität besitzen. Faszinierend.

Connor glaubte, in dieser warmen Freundlichkeit der Farben zu ertrinken. Und dann war es vorbei gewesen und ließ nichts als leere Dunkelheit zurück. Die Welt verblasste. Gedankenverloren sah er die Straße entlang. Das Licht der Laternen glitzerte auf dem Asphalt wie Schneekristalle. Durch einzelne Lücken in der Wolkenfront fiel das Mondlicht.

Das waren also die Schüler, die Connor unterrichten sollte.

Er blätterte eine Seite im Klassenbuch um. Das dürfte interessant werden.

Auch wenn seine schiere Gegenwart auf Ablehnung stieß, so hatte die Ansprache doch etwas bewirkt. Der Rest des Tages verlief recht entspannt. Mit mäßiger Beteiligung nahmen die Schüler am Unterricht teil. Connor nutzte den ersten Tag, um Ordnung und Struktur in die Klassengemeinschaft zu bringen. Er hatte schnell erkannt, was die Jugendlichen am meisten brauchten. Und das war Stabilität.

Er hatte damit gerechnet, dass er von dem Großteil der Klasse ignoriert wurde. Viele klebten mit den Augen auf den Bildschirmen ihrer Smartphones. Das ständige Klimpern zehrte an seinen Nerven. Connor atmete tief durch. Obwohl er das Recht besaß, die Telefone zu konfiszieren, räumte er den Jugendlichen eine Frist von einer Woche ein. Er drang nur zu seinen Schülern durch, wenn er ihnen entgegenkam. Elektronik gehörte in den Spind. Nicht in den Unterricht.

Und bis zum Ende der Woche konnten sie sich an die Umstellung gewöhnen. Wer sich dann noch immer nicht daran hielt, gab sein Telefon ab und sorgte dafür, dass die ganze Klasse nachsitzen musste. Jeglicher Besitz konnte nach Schulschluss bei der Direktorin abgeholt werden.

Als die Glocke das Ende des Unterrichts einläutete, schwemmten seine Schüler wie eine Welle aus dem Zimmer. Nur Noah schien es nicht sonderlich eilig zu haben, dem schlechten Einfluss des neuen Lehrers zu entkommen. Er trat gemütlich auf den überfüllten Gang hinaus und sprach mit einem Mädchen. Dann verschwand er in Richtung der Cafeteria.

Connor putzte schnell die Tafel, bevor er sich auf den Weg zum Lehrerzimmer machte. Seine Gedanken schweiften ab. Sollte er Jake auf die Eskapaden seines Sohnes ansprechen? Dass Noah mit den Lehrern nicht zurechtkam, war eine maßlose Untertreibung. Zumal die Lehrer nicht das Problem zu sein schienen.

Was hatte dieses ausgeglichene, ruhige Kind aus der Bahn geworfen? Es gab viele mögliche Gründe. Von einem einschneidenden Erlebnis bis zu Mobbing und Drogen. Was könnte vor drei Jahren geschehen sein, damit sich sein Verhalten so radikal verändert hatte? Connor wusste, dass er Noah helfen musste. Dass er das wollte. Nicht, weil er sich als Pädagoge verantwortlich fühlte. Seine Stirn legte sich in Falten. Der Himmel mochte ihm beistehen. Natürlich wusste er warum.

Mit den Händen in den Hosentaschen sank er im Lehrerzimmer auf seinen Stuhl. Das Klassenbuch warf er auf den Tisch. Noah brauchte Hilfe, damit er das Halbjahr überstand, ohne erneut suspendiert zu werden. Nach dem, was heute Morgen passiert war, dürfte das nicht ganz einfach werden. Unzufrieden nahm Connor einen Kugelschreiber zur Hand. Was war geschehen? Er wollte gerade den Inhalt des Unterrichts eintragen, als die Direktorin zu ihm trat.

„Harter Tag?“, fragte sie und stellte einen Becher mit dampfendem Kaffee auf den Tisch. „Sie sind strenger als ich angenommen habe, Mr. Edwards. Heute Morgen standen schon zwei Schüler vor meiner Tür.“

Connor setzte den Stift auf das Papier. „Mr. Ruiz und Mr. Flyers haben sich geprügelt“, erklärte er und schrieb die Namen der beiden mit einem Vermerk auf den Seitenrand. „Ich weiß nicht, wer angefangen hat und es ist mir auch egal.“

Der Stuhl links neben ihm drehte sich. Der Lehrer der Parallelklasse stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Respekt. Es gibt hier nicht viele, die die beiden Streithähne unter Kontrolle bekommen“, sagte er und wippte mit dem Bein. „Und das am ersten Tag. Betrachten Sie es als Ihre Feuertaufe.“

Eine ältere Frau trat zu ihnen. „Ich finde das gar nicht lustig“, steuerte sie dem Gespräch bei. „Diese Klasse ist der reinste Horror.“

Dem stimmten alle versammelten Lehrer zu, bevor eine hitzige Debatte entbrannte. Connor schlug das Buch zu und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er hielt sich aus dem Gespräch raus. Nichts von dem, was in diesem Raum gesagt wurde, fand er irgendwie amüsant. Nicht, wenn es um die Zukunft junger Menschen ging.

Die Erwachsenen hatten sich eine Meinung gebildet und die Schüler als Dummköpfe abgeschrieben. Das sportliche Talent mancher Cheerleader oder Footballer mochte ihnen ein Stipendium fürs College einbringen, was den Zeitpunkt ihres offensichtlichen Versagens aber nur hinausschob. Am Ende, vielleicht nach einer kurzen Phase des Ruhms und verschwendetem Reichtum, würden sie sich zu den anderen in ihren Aushilfsjobs oder als Drogenjunkies in der Gosse gesellen.

Natürlich wurde nicht alles so deutlich ausgesprochen, aber Connor verstand die Zwischentöne und spöttischen Anmerkungen. Er neigte den Kopf und tippte sich mit dem Ende des Kugelschreibers gegen die Unterlippe. Hatte Noah schon über ein College nachgedacht? Auch wenn er durch sein Verhalten einen Besuch bei der Direktorin verschuldet hatte, war sein Potenzial offensichtlich. Das hatte Connor innerhalb von fünf Minuten erkannt.

Er stand auf, fasste nach seiner Aktentasche und nahm den Kaffee mit. Was immer in den vergangenen drei Jahren passiert war, es hatte nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun. Noah wirkte mehr wie ein rebellierendes Kind, das um sich schlug. Gleichzeitig schien es etwas zu geben, das ihn beschäftigte - das ihn belastete.

Vielleicht der Kerl, in den er sich verliebt hatte? Zeitlich gesehen passte es.

Connor stieß die Luft aus den Lungen und sah auf das Display seines Smartphones. Er hatte sich noch immer nicht gemeldet. Er schob das Telefon wieder in seine Hosentaschen und trat an den Drucker heran. Sein Blick wanderte zu seinen Kollegen. Mittlerweile führten sie alle Katastrophen ins Feld, die sie in den letzten drei Jahren miterlebt hatten. Noah und Mr. Ruiz gehörten zu den Hauptverdächtigen. Auch in Falle von Mr. Finley.

Es klingelte. Doch die Lehrer dieser Schule schienen es nicht eilig zu haben.

Connor erging es gleich. Ungerührt kopierte er Seiten aus einem Mathematikbuch für die erste Klasse. Er ging nicht davon aus, dass seine Nachsitzer auftauchen würden. Mr. Ruiz zog das Footballtraining vermutlich vor und Noah hatte sich bestimmt schon auf den Heimweg gemacht. Dass sie sich dafür eine weitere Strafe einfangen würden, war ihnen wohl bewusst. Und egal.

Connor seufzte auf. Er ignorierte das Gespräch seiner Kollegen und begab sich zum Klassenraum 303 im dritten Stock. Die Flure der Schule waren um diese Zeit leer. So still, dass er den Fall einer Stecknadel gehört hätte. Das Gebäude verströmte eine seltsame Atmosphäre, wenn der Unterricht beendet und sich der Großteil aller Schüler auf dem Heimweg befand. Irgendwie beklemmend. Fast gespenstig.

Als er den Raum erreicht hatte, war er ehrlich erstaunt. In der geöffneten Tür stand Noah. Unschlüssig, wie es schien. Nachdem er sich umgesehen und niemanden entdeckt hatte, wollte er wohl wieder gehen. Doch Connor schob ihn nachdrücklich in die Klasse. Es musste nicht sein, dass er unverschuldet am nächsten Tag eine weitere Strafe bekam.

Connor trat ans Lehrerpult, stellte seine Tasche auf den Tisch und reichte die Zettel, die er kopiert hatte, an Noah weiter. Jedes Blatt besaß eine Vorder- und Rückseite. Die Aufgaben waren einfach - sollten sie zumindest für einen 18-Jährigen sein - aber an der Menge hatte er nicht gespart.

„Das wird Ihre Beschäftigung sein“, erklärte Connor und warf einen Blick auf die Uhr. „Sie haben zwei Stunden.“

Noah prüfte die Zettel. „Das … sind Aufgaben für Erstklässler“, kommentierte er den Arbeitsauftrag.

„Dann sollten Sie keine Schwierigkeiten haben.“ Connor ging zurück zum Lehrerpult, setzte sich auf den Stuhl und während er ein Buch aus seiner Tasche nahm, hob er die Füße auf den Tisch. „Sie können schon anfangen. Mr. Ruiz ist beim Football-Training.“

Der Jüngere hob eine Augenbraue. „Wenn Sie das wissen, warum holen Sie ihn dann nicht, Professor Edwards?“

Connor schenkte Noah einen rätselhaften Blick, bevor er auf die Seiten seines Buchs sah. Wenn er Ricardo Ruiz nachlief, wo blieb dann der Spaß? Zumal er durch so ein Verhalten seine eigene Autorität untergrub. Nichts lag ihm ferner. Natürlich ärgerte er sich über die Abwesenheit seines Schülers. Ricardo gehörte scheinbar nicht zu den Menschen, die sich an Regeln hielten. Warum sollte er auch? Bis vor kurzem hatte er noch uneingeschränkte Narrenfreiheit genossen. Und das nur, weil er zum Footballteam gehört.

Darum nahm sich Connor vor, diesen Kindern ein bisschen Verstand einzuhämmern. Selbst wenn er dafür zu unkonventionellen Mitteln griff. Jeder von ihnen hatte eine Zukunft vor sich. Sie mussten nur mutig sein und danach greifen.

Er senkte ein bisschen das Buch und beobachtete Noah über den Rand hinweg. Wieder wurde der Jüngere von diesen Farben umgeben, die wie eine Welle durch den ganzen Raum schwappten. Hell und strahlend. Intensiv und schön wie eine erwachende Wildblume.

Das bedeutete, er befand sich in einem emotionalen Aufruhr. Welcher Art, das konnte Connor leider nicht sagen. Aber er verlor sich in dem Anblick. Als Noah aufstand und die Zettel auf das Lehrerpult legte, wurde Connor aus seinen Überlegungen gerissen. Überrascht sah er auf die Uhr. Sein Schüler hatte gerade mal 73 Minuten gebraucht.

„Sehr gut“, lobte er, setzte sich auf und nahm die Zettel an sich. „Dann können Sie den Rest der Zeit für Ihre Hausaufgaben nutzen.“

Noah schnaufte, bevor er an seinen Platz zurückkehrte. Connor hob die Beine ein weiteres Mal auf den Tisch, schlug sie an den Fußknöcheln übereinander und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Das Rascheln von Papier erklang und er warf Noah aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Seine Beteiligung in den ersten Stunden fiel eher spärlich aus. Er hatte auf gestellte Fragen reagiert, sich jedoch nicht aktiv am Unterricht beteiligt.

Vertieft zwang Connor seine Augen wieder auf die Seite des Buches zurück. Von ihrer ersten Begegnung bis zu diesem Moment fiel seine Meinung weder gut noch schlecht aus. Hailey hatte voller Begeisterung von ihrem Sohn berichtet - wie es eine Mutter sollte. Aber sie sah auch die Fehler.

Durch die Nachrichten auf seinem Smartphone hatte sich Connor jemand Genügsamen vorgestellt. Eine Person, die beständig einen Fuß vor den anderen setzte. Die Zukunft fest im Blick. Er seufzte und blätterte die Seite in seinem Buch um. Er kam aber nicht weit, denn in genau diesem Augenblick entschied Noah, dass ihn die Stille störte.

„Was ist das für ein Buch?“, wollte er wissen.

Für den Bruchteil einer Sekunde erwog Connor, nicht zu antworten. Dann gab er nach. „Der Geist in der Despotie: Versuche über die moralischen Möglichkeiten des Intellektuellen in der totalitären Gesellschaft“, erklärte er. „Das Buch ist interessant.“

Stille, dann lachte Noah skeptisch, aber irgendwie auch amüsiert. Eine normale, menschliche Reaktion, die etwas in Connor auslöste, was er seit seinem Erwachen im Kindesalter nicht mehr gefühlt hatte. Es brach sich wie eine Welle an den klüftigen Felsen. In seiner Brust erschallte ein dumpfes Pochen. Klein, unscheinbar, ruhig.

„Klingt sehr kompliziert“, lehnte Noah höflich ab, nachdem er seine Erheiterung unter Kontrolle bekommen hatte. „Was werden Sie mit Mr. Ruiz machen, Professor Edwards?“

Angespannt erhob sich Connor auf die Füße, ging zum Fenster und ließ seinen Blick zum Footballfeld wandern. Er beäugte den Spieler, der sich wohl lieber die Knochen brach, als den Ball zu verlieren. Und der in diesem Zimmer sitzen und Aufgaben lösen sollte.

Connor wurde aus seinen Überlegungen gerissen. Das Rascheln von Papier und Stoff erklang. Er sah weiter aus dem Fenster, sog die Luft in seine Lungen und konzentrierte sich auf die Spieler, die über das Feld rannten.

„A cada cerdo le llega el San Martín“, erwiderte er versunken. „Das ist ein spanisches Sprichwort und bedeutet sinngemäß, dass jeder seine gerechte Strafe erhält.“

Noah neigte den Kopf zur Seite. „Ich wusste gar nicht, dass Sie Spanisch sprechen“, sagte er und klang mit der Information ein wenig überfordert.

„Mir war langweilig“, erklärte der Ältere und sah weiter aus dem Fenster.

Lachen folgte auf die Erklärung. „Ist Ihnen oft langweilig?“

„Du darfst jetzt gehen. Pass‘ auf dem Heimweg auf.“

Noah ging zur Tür, warf einen Blick über die Schulter und setzte ein Lächeln auf, das nicht unbedingt ehrlich wirkte. Mehr einsam. Dann war er weg.

Connor ließ sich auf dem Fenstersims nieder und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand. Fragen trieben durch seinen Geist. Was war das für ein Pochen gewesen? Er hatte es schon so lange nicht mehr gespürt. Vertieft hob er die Hand an seine Brust. Sein Herz schlug. Rhythmisch und ruhig. Doch in der Gegenwart von Noah begann es zu rasen.

Mit zuckenden Mundwinkeln ließ er den Kopf hängen. Noah hatte gelacht. Dieses Lachen hatte etwas ausgelöst. Es war klein, besaß aber eine erstaunliche Wirkung.

Connor hob den Kopf und öffnete die Augen. Zu seiner Verwunderung stand Noah vor ihm. In seinem Gesicht lag Staunen. Wie bei einem Kind, das zum ersten Mal einen Weihnachtsmann im Kaufhaus erblickte. Wann war er ins Klassenzimmer zurückgekehrt?

„Alles in Ordnung?“

Noah trat einen Schritt näher. „Ein Engel“, flüsterte er und schien zwischen Verwirrung und Furcht zu wanken.

Er klang so verblüfft, dass der Ältere von seinem Platz aufstand und sich umsah. „Sie haben einen Engel gesehen?“, fragte er und trat auf seinen Schüler zu.

„Verzeihung“, rief Noah, als ihm klar zu werden schien, was genau er gesagt hatte. Rot bis zu den Ohren spielte er mit den Tragegurten seines Rucksacks. „Ähm … der nächste Bus fährt erst in einer Stunde.“

Connor war noch bei dem Engel, den Noah gesehen zu haben glaubte und zwang sich zu einem Lächeln. „In Ordnung“, erklärte er und ging zum Lehrerpult, um das Buch und die Blätter in seine Tasche zu räumen. „Ich wollte jetzt auch nach Hause. Warten Sie bitte vor dem Gebäude.“

Der Jüngere nickte und verschwand wie ein Wirbelwind auf den Fluren. Connor grub die Zähne in seine Unterlippe, über sein Gesicht zog sich ein dunkler Schatten. Einen Engel also?

Connor verließ das Klassenzimmer, streifte durch die leeren Flure der Schule und fand sich schließlich bei seinem Wagen ein. Seine Tasche warf er auf die Rückbank. Dann klemmte er sich hinter das Lenkrad und holte Noah am Vordereingang der Schule ab.

Er saß auf einer Mauer und schien Musik zu hören. Scheinbar nicht sehr laut, denn das Brummen des Motors durchdrang die Isolation der Kopfhörer. Als er auf dem Beifahrersitz saß, blieb es für fünf Minuten still. Dann versuchte er, wie am vorherigen Tag, das Schweigen mit sinnlosem Gerede zu füllen. Doch Connor nutzte die Zeit, um über den Tag nachzudenken. Darum antwortete er nicht. Jedenfalls nicht sofort. Es dauerte eine Weile, bis er den Mund öffnete und auf die gestellten Fragen reagierte. Meistens einsilbig.

„Sie leben in London. Sind Sie mit dem Wagen nach Alabama gefahren?“

„Geleast.“

Wie in den Text-Nachrichten, die er bekommen hatte, waren es nur Phrasen, die der Höflichkeit dienten und eine Unterhaltung anregen sollten. Connor hing mit seinen Gedanken bei einer bestimmten Situation in der Schule fest. Auch wenn er nicht wusste, warum es ihn beschäftigte.

Ein Engel.

Die Worte echoten durch seinen Geist. Ein Engel. Ein Engel. Konnte das tatsächlich möglich sein? Was genau hatte er gesehen? Connor war neugierig. Aber wie sollte er das Thema ansprechen, ohne ihm zu nahe zu treten? Vertieft brachte er Noah nach Hause, der sich sofort hinter der Eingangstür verbarrikadierte.

Dann machte sich Connor auf den Weg zum Apartmentkomplex.

Er musste die Angelegenheit mit dem Engel erstmal vergessen. Seufzend hielt er auf dem Parkplatz, nahm seine Aktentasche und schloss die Tür zu seiner Wohnung auf. Im Geiste ging er die Aufgaben durch, die vor ihm lagen und die ihn noch länger beschäftigen würden. Der morgige Unterricht und die Strafaufgaben. Aber zuerst wollte er duschen und etwas essen.



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