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Vendetta - Blutrache

Vorläufiger Titel
von

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Prolog

Laufen. Laufen soweit die Füße tragen. Weg von hier, nur weg von diesem Ort...

Seine Füße waren schon fast taub vom eisigen Wasser, das bei jedem Schritt in seine leichten Sommerschuhe drang. Sein Körper war übersät mit tiefen Schnitten, sein Hemd völlig zerfetzt und blutdurchtränkt. Der Gestank der in diesem engen Tunnel allgegenwärtig schien, hätte wohl ausgereicht um jeden anderen in den Wahnsinn zu treiben. Ihm war er gleichgültig. Ratten huschten im fahlen Licht davon, doch auch das interessierte ihn nicht. Er rannte einfach weiter, so schnell er konnte. Ohne Ziel und ohne zurück zu blicken, beseelt von einem einzigen Gedanken. Lauf um dein Leben. Lauf, solange du es noch kannst. Lauf, oder du stirbst.

Er rannte um die nächste Kurve und wäre fast mit voller Wucht gegen das Gitter geprallt, das den kompletten Gang versperrte. In seiner Panik rüttelte er daran und versuchte schließlich sich durch eine der Öffnungen zu zwängen. Seine Bewegungen wurden immer hektischer. Sie waren nah, so nah... Diese Wahnsinnigen, die Spaß daran hatten, andere leiden zu sehen. Denen es Vergnügen bereitete, Menschen zu quälen und schließlich langsam zu töten...

Er hatte es geschafft seinen Oberkörper durch das Loch zu schieben und empfand für einen kurzen Moment tiefe Dankbarkeit dafür, dass er sich jahrelang im Fitness-Center abgequält hatte. Mit einem Ruck zog er sich ganz auf die andere Seite und zog sich dabei weitere Schrammen an seinen Hüften zu. Einen Augenblick lang wurde ihm schwarz vor Augen und wieder hörte er die Stimme, die in seinem Kopf flüsterte, die Stimme, die überall zu sein schien und die seine Gedanken lahm legte. Sanft legte sich ihr beruhigender Klang auf seine Sinne und vernebelte seinen Geist und wieder und immer wieder hörte er die gleichen Worte: Gib auf, es hat keinen Sinn... Du weißt dass du nicht entkommen kannst, also warum weiter davon laufen... Gib einfach auf... es ist gar nicht so schwer... Bleib einfach liegen... Warum solche Schmerzen erleiden...Gib dich dem süßen Vergessen hin...

Mühsam schlug er die Augen auf und stemmte sich aus dem stinkenden Wasser hoch. Kraftlos stolperte er ein paar Schritte weiter und sank erneut auf die Knie. Er hatte zuviel Blut verloren. Jetzt kroch er auf allen vieren weiter. In seiner Phantasie hörte er schon ihre Schritte hinter sich, spürte wieder das kalte Metall, das langsam und beinahe genüsslich in sein Fleisch drang. Noch einmal kam er auf die Beine. Jetzt konnte er Licht sehen. Nicht das trübe Licht, das durch die Schächte floss wie zäher Schleim, sondern Mondlicht, das durch einen kleinen Spalt fiel und die Brühe zu seinen Füßen anmutig glitzern ließ. Eine Tür, die irgendein nachlässiger Arbeiter unverschlossen zurückgelassen hatte. Ein Weg der nach draußen führte, der rettende Ausgang zum Greifen nahe... Und mit diesem Gedanken schlug die Bewusstlosigkeit über ihm zusammen. Vielleicht hätte er es geschafft. Vielleicht wäre er entkommen. Hätte er doch nur nicht gezögert...

Seelendieb

Die laue, spätsommerliche Abendluft in Shibuya ist wie eine Achterbahn für die Sinne. Der Blick wandert durch die Menschenmenge die sich dicht gedrängt vorbeischiebt, entdeckt skurillste Gestalten neben elegant gekleideten Geschäftsleuten, kleine Kinder mit großen Augen neben alten Männern, Europäer neben Einheimischen. Die verschiedensten Gerüche mischen sich zu einem unverwechselbaren Duft, der wohl einzigartig auf der Welt ist. Stimmengewirr und die unterschiedlichsten Geräusche verbinden sich zu einem Summen das sich gleich einer Decke über dieses pulsierende Herz Tokyos legt.

In einem kleinen Café in der Nähe der Hachikô-Statue[1] herrschte eine ausgelassene Stimmung. Einer der Gäste hatte wohl etwas zu feiern und innerhalb kürzester Zeit hatten sich alle Anwesenden um ihn versammelt um ihm zu gratulieren, obwohl die wenigsten wohl wussten, wozu. Nur einer beteiligte sich nicht an dem munteren Treiben. Ein junger Mann mit europäischen Zügen und auffällig orangenem Haar saß mit ausdruckslosem Gesicht in einer Ecke und starrte aus dem Fenster. Seit er das Café vor einer etwa Stunde betreten hatte, hatte er sich kaum bewegt und beobachtete ohne Unterlass das Treiben auf der Strasse. Das Glas das vor ihm stand hatte er kaum angerührt. Er wirkte, als würde er auf etwas warten, doch irgendetwas war falsch an ihm. Die Bedienung, ein junges Mädchen das noch zur Schule ging, sah immer wieder verstohlen in seine Richtung. Sie arbeitete noch nicht lange als Kellnerin und Ausländer verirrten sich recht selten hierher. Doch obwohl sie ihre Neugier kaum zügeln konnte und der Fremde alles andere als hässlich war, wagte sie sich nicht in die Nähe dieses seltsamen Mannes. Auch die Blicke der anderen verirrten sich nun immer häufiger in die Ecke in der er saß, denn sein offensichtliches Desinteresse an ihnen war mehr als ungewöhnlich. Eine der Frauen die über weit weniger Instinkt als die junge Kellnerin zu verfügen schien, fasste sich schließlich ein Herz und trat an seinen Tisch. Der Orangehaarige wandte seinen Blick von der Strasse ab und sah sie abwesend an. Sie hatte ihn eigentlich einladen wollen, sich zu ihnen zu gesellen, aber als sich ihre Blicke trafen zögerte sie einen Moment. Da war etwas in seinen Augen, etwas, was sie noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Ein Ausdruck von bestechend klarer Intelligenz und eisiger Kälte. Es war wie ein schwarzer Abgrund, in dem sich die dunkelsten Geheimnisse der Menschheit sammelten... Gerade als sie diese bedrückenden Gedanken erfolgreich verscheucht hatte und ihr ursprüngliches Vorhaben in die Tat umsetzen wollte, schien ein Ruck durch die Wirklichkeit zu gehen. Ihre Augen wurden plötzlich glasig. Den Mund immer noch leicht geöffnet, starrte sie nun blicklos geradeaus. Ihr Gegenüber musterte sie noch einmal kurz von Kopf bis Fuß, dann drehte er sich wieder zum Fenster. Ein paar Sekunden später erwachte auch die Frau zu neuem Leben und sah sich verwirrt um. Dann ging sie wieder zu ihrer Gruppe zurück, ohne den offenbar wieder zu Stein erstarrten Mann noch eines Blickes zu würdigen.
 

* * *
 

Seine Finger hatten sich selbständig gemacht und spielten nun mit einem Schlüssel, der an einem ledernen Band um seinen Hals hing. Inzwischen war eine weitere Stunde vergangen, und in dem Café war etwas Ruhe eingekehrt. Die meisten Gäste hatten sich verabschiedet, um sich wieder in die berauschende Geschäftigkeit der Nacht zu stürzen, neuen Abenteuern entgegen. Er hing Gedanken nach, die nicht die seinen waren und registrierte beiläufig dass die Eingangstür geöffnet wurde. Er wusste, wer es war, noch bevor er ihn sah. Ein in einen langen schwarzen Mantel gehüllter großer Mann kam auf seinen Tisch zu. Aus dem Schatten unter dem breitkrempigen Hut blitzte ein vergnügtes Lächeln auf, das ebenso zu seinem Markenzeichen geworden war wie seine gelassene Stimme und seine elegante Ausdrucksweise.

"Kuroudo-san..." sagte der Orangehaarige leise, als er ihn erreicht hatte.

Das Lächeln des so Angesprochenen wurde eine Spur belustigter.

"Warum so förmlich Schuldig? Das passt nicht zu dir."

Mit einer fließenden Bewegung ließ sich Kuroudo auf den Stuhl gegenüber gleiten. Er machte keine Anstalten, den Mantel oder wenigstens den Hut abzulegen, sondern saß jetzt mit überschlagenen Beinen da und musterte Schuldigs Gesicht.

"Du bist älter geworden..." sagte er nach einer Weile.

Als Schuldig antwortete, erschien auf seinem Gesicht das erste Mal nach langer Zeit wieder sein unnachahmliches Grinsen.

"Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geguckt?"

Kuroudo, der Ältere der beiden, betastete mit behandschuhten Fingerspitzen sein Gesicht.

"Nun, die Zeit geht auch an mir nicht spurlos vorüber. Immerhin ist es jetzt nahezu auf den Tag genau drei Jahre her, seit wir uns das letzte Mal sahen..."

"Damals wolltest du mich noch töten...Die Zeit ist wie im Flug vergangen, findest du nicht?"

Kuroudo, der auch Dr. Jackal genannt wurde, schob seinen Hut ein kleines Stück nach oben und sah Schuldig mit Augen an, in denen ein kaltes Feuer brannte. Und zum ersten Mal an diesem Tag war das Lächeln von seinen Lippen verschwunden.

"Wer hat gesagt, dass ich das jetzt nicht mehr will? Du hast aus meinem Hut einen Schweizer Käse gemacht..."

Schuldigs Grinsen nahm einen sarkastischen Zug an.

"Und jetzt? Willst du mich gleich hier töten? Vor den Augen all dieser unschuldigen Menschen?"

Er wusste dass dieses Argument bei Kuroudo nicht zog. Er kannte niemanden sonst, für den nur der ,Spaß' zählte und dem alles andere um ihn herum völlig gleichgültig war. Wortlos hob Kuroudo seine rechte Hand und wie aus dem Nichts erschien ein gleißendes Skalpell darin. Schuldig schluckte schwer und sein Grinsen wurde etwas unsicher. Sich innerlich schon für einen Angriff wappnend hob er abwehrend die Hände und sagte schnell:

"Warte! Willst du nicht erst hören was ich zu sagen habe?"

"Nein." kam prompt die Antwort.

Das Skalpell befand sich jetzt gefährlich nahe vor Schuldigs Nasenspitze.

"Es ist aber wirklich wichtig! Danach kannst du mich ja immer noch töten...!"

Die nadelscharfe Spitze des chirurgischen Stahls hielt in ihrer Bewegung inne. Dann war sie genauso plötzlich verschwunden wie sie erschienen war. Kuroudo ließ langsam die Hand sinken und nach einem Augenblick kehrte das gewohnte Lächeln auf sein Gesicht zurück. Er lehnte sich zurück und sah Schuldig mit einem Blick an, der ihn aufforderte, mit seiner Geschichte zu beginnen.

Also fing Schuldig an zu sprechen. Er redete als gäbe es kein Morgen. Und Kuroudo hörte zu, hörte sich an was er zu sagen hatte, mit dem festen Vorsatz, ihn zu töten sobald er geendet hatte.
 

* * *
 

Vor etwa einem Monat wurde Kuroudo für einen Auftrag angeheuert, der ihn nach Mougenjou, dem ,Schloss ohne Grenzen' führen würde. Diese riesige, ehemalige Baustelle eines Einkaufszentrums in Shinjuku war im Laufe der Jahre zu einem der gefährlichsten Orte in ganz Japan geworden. Der Abschaum der Menschheit landete hier, diejenigen, die vor dem Gesetz oder Schlimmerem geflohen waren, jene, die sonst nirgends geduldet wurden, alle die in der ,normalen' Gesellschaft keine Überlebenschance mehr hatten. Man konnte hier sehr leicht seinen Kopf verlieren, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

Es war nicht das erste Mal, dass er sich hier aufhielt. Wenn man es genau nahm war Mougenjou sogar so etwas wie seine Heimat. Er war nicht hier geboren, aber die Abgründe der menschlichen Seelen, die sich hier auftaten, hatten ihn schon von klein auf magisch angezogen. Er überlegte flüchtig, was aus ihm geworden wäre wenn er nicht in dieser mörderischen Umgebung aufgewachsen wäre. Leider war das etwas, was er sich nicht vorstellen konnte, also kreisten seine Gedanken bald wieder um seinen Auftrag.

Er schlenderte eine verlassene schmale Strasse entlang, von der er annahm, dass sie sich irgendwo auf mittlerer Höhe des Komplexes befinden musste und die genauso heruntergekommen war wie alles andere hier. Stellenweise musste er über die Überreste eingestürzter Mauern oder über die Ausläufer meterhoher Müllberge steigen. So etwas nannte er ein ,notwendiges Übel', etwas, das gelegentlich nicht zu vermeiden war, wenn man etwas erreichen wollte. Er würde sich neue Schuhe kaufen müssen...

Schon seit er Mougenjou betreten hatte, spürte er, dass ihm jemand folgte. Dieser Jemand hatte sich jedoch während der ganzen Zeit nicht näher an ihn herangeschlichen, sondern war scheinbar darauf bedacht, eine genau bemessene Distanz einzuhalten. Bis jetzt hatte Kuroudo keinen Grund gesehen, sich näher mit dem Problem auseinanderzusetzen. Doch jetzt legte sein Verfolger es offenbar auf ein persönliches Kennenlernen an, denn er war während der letzten halben Stunde ein beträchtliches Stück näher gekommen. Als Kuroudo die nächste Kreuzung erreicht hatte, gestand er sich ein, dass er sich nicht gerade höflich verhielt, indem er ihn einfach ignorierte und beschloss, auf ihn zu warten. Als er also stehen blieb kamen die Schritte hinter ihm kurz ins Stocken. Den Moment ergriff Kuroudo, um den ersten Schritt zu unternehmen und sich nun seinerseits vorzustellen. Mit einer Bewegung, die das Auge kaum wahrzunehmen vermochte, befand er sich plötzlich hinter dem Fremden. Dieser war auf einmal wie zu Stein erstarrt. Auch als sich auf einer Seite ein paar Haare von ihm verselbstständigten und dem Boden entgegenschwebten, rührte er sich nicht. Das war nun mehr als ungewöhnlich. Im Regelfall begannen diejenigen, denen Kuroudo mit einem seiner Skalpelle einen neuen Haarschnitt verpasst hatte, unkontrolliert zu schreien und ließen sich wahlweise unter Schock zu Boden fallen oder liefen einfach weg. Das Verhalten dieses Individuums war dementsprechend ebenso merkwürdig wie interessant. Kuroudo trat näher an ihn heran um ihn aus der Nähe zu betrachten und vielleicht in seinem Gesicht einen Hinweis darauf zu finden, woher dieser Mut rührte. Was er allerdings sah, war, gelinde gesagt, eine Enttäuschung. Zum einen war der so genannte ,Mut' nicht mehr als die Erkenntnis, dass er nicht lebend aus dieser Angelegenheit herauskommen und dass jeder Fluchtversuch seinen Tod nur noch schmerzhafter gestalten würde. Zum anderen gehörte das Gesicht, in das Kuroudo blickte, zu einem Jungen, der fast noch ein Kind war und der ohne Zweifel Todesängste ausstand. Das Lächeln auf Kuroudos Lippen verwandelte sich in einen Ausdruck ungläubiger Frustration. Hier in Mougenjou, wo täglich mehr Morde begangen wurden als in ganz Tokyo in einem Jahr musste er ausgerechnet auf diesen Grünschnabel treffen. Dabei hatte ihn die Aussicht, ungestraft ein paar Lebensfäden durchtrennen zu können, bereits als er seinen Auftrag erhielt in Hochstimmung versetzt. Er stieß einen deprimierten Seufzer aus und wandte sich zum Gehen. Nach ein paar Schritten hörte er hinter sich ein unverständliches Murmeln. Obwohl es ihm widerstrebte, dreht er sich nochmals um und sah den Jungen, der jetzt wie Espenlaub zitterte, fragend an. Dieser versuchte erneut zu sprechen, brachte aber keinen Ton heraus. Er leckte sich nervös über die Lippen, und setzte dann von Neuem an:

"Wa...warum haben Sie... mich nicht..." seine Stimme versagte wieder.

Er hatte den Satz nicht zu ende geführt, trotzdem war klar, was er fragen wollte. Kuroudo wägte in Gedanken ab, ob dieser Bengel überhaupt einer Antwort wert sei, kam zu dem Schluss dass es vermutlich Zeitverschwendung war und entschied sich dann, es ihm trotzdem zu erklären.

"Warum ich dich nicht getötet habe willst du wissen?"

Der Junge nickte nur.

"Ganz einfach Kleiner. Du bist noch nicht einmal trocken hinter den Ohren und hättest wahrscheinlich nicht einmal versucht, dich zu wehren. So macht es mir keinen Spaß. Das ist alles."

Koroudo wartete auf eine Antwort, wenigstens ein bestätigendes Nicken des Jungen, dass er ihn verstanden hatte, als aber nichts kam drehte er sich auf dem Absatz um und ließ den Jungen allein zurück. Der stand noch einen Moment wie angewurzelt da und als er sich sicher war, dass der große Mann mit dem Hut wirklich gegangen war drehte er sich um und rannte, so schnell er konnte, zurück zu seinen Freunden um seine Wette einzulösen.
 

Kuroudo kam unterdessen erstaunlich gut voran. Er war seinem Ziel schon sehr nahe, der Ort an dem ihm das Objekt übergeben werden würde, für dessen Transport er hergekommen war. Transporter war zwar noch nie sein Traumberuf gewesen, doch er brachte Abwechslung in Form von gefährlichen Gegnern und blutigen Kämpfen in sein Leben, was er durchaus zu schätzen wusste.

Seit einiger Zeit sah er immer mehr Menschen auf der Strasse, was hier in den höheren Ebenen schon für sich genommen ein bemerkenswertes Ereignis wäre. Noch dazu tuschelten sie miteinander, dabei waren die Leute hier eigentlich sehr einzelgängerisch veranlagt.

Leider war kein Wort von ihren Flüstereien zu verstehen, weil sie sofort verstummten sobald Kuroudo in Hörweite kam. Es beunruhigte ihn weniger als dass es ihn neugierig machte. Nachdem er durch den Jungen etwas desillusioniert war, was die berüchtigte Gefährlichkeit des Mugen-Towers betraf, brauchte er dringend eine Aufmunterung. Allerdings ließ sich keiner der Bewohner dazu überreden, ihm irgendeine Auskunft zu geben, nicht einmal als er einem von ihnen ein neues und dauerhaftes Lächeln verpasste. Missmutig ging er also weiter und versuchte, das Getuschel zu ignorieren, was gar nicht so einfach war.

Nach einer Weile betrat er eine Art weitläufigen Raum ohne Decke, an dessen linker Seite sich ein hohes Gerüst befand. Es war keine Menschenseele zu sehen obwohl noch vor fünf Minuten die Straße nachgerade überfüllt gewesen war. Es roch förmlich nach einer Falle. Nun, vielleicht würde das seine Laune etwas heben. Als er etwa die Hälfte des Raumes durchquert hatte, vernahm er von irgendwo über ihm ein leises Geräusch, das aber unmöglich von einer Ratte oder Ähnlichem verursacht worden sein konnte. Er hatte also Recht behalten mit seiner Vermutung...

Ein leichtes Lächeln stahl sich auf seine Züge. Er blieb stehen und sagte laut in die Stille hinein:

"Wenn ihr mir schon auflauert dann habt wenigstens den Anstand und versteckt euch nicht vor mir. Das gehört sich doch nicht..."

Er wartete. Die Antwort kam etwas verzögert, anscheinend hatten die Fallensteller nicht damit gerechnet, entdeckt zu werden sondern hatten gehofft, ihn hinterrücks überfallen zu können. Auf eine offene Konfrontation waren sie nicht vorbereitet...

"Sind Sie Dr. Jackal?"

Er erkannte die Stimme sofort wieder. Eigentlich hatte er gehofft, sie nie mehr hören zu müssen. Sie schwebte über seinem Kopf und hatte für ihn einen bitteren Nachgeschmack. Es war der Junge von vorher. Kuroudo stöhnte leise.

"Was willst du? Hast du solche Sehnsucht nach dem Tod?"

"Also sind Sie es oder nicht?" drängte die Stimme.

"Oder bist du einfach nur sehr dumm?"

"Sagen Sie mir wie Sie heißen!" antwortete die Stimme ungeduldig.

"Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass es unhöflich ist, sich zu verstecken während man mit jemandem redet?" Kuroudo verlor die Geduld. Er überlegte schon, ob er den Jungen eigenhändig von dem Gerüst herunterholen sollte als er ein Klappern und Scheppern hörte, das zeigte, dass sich der Junge auf dem Weg nach unten befand.

Als er sich vor ihm aufbaute, versuchte er, seine Angst vor Kuroudo zu verbergen, was ihm nur sehr dürftig gelang. Als er antwortete, war das Zittern in seiner Stimme nicht zu überhören.

"Ich habe keine Mutter mehr. Aber das tut nichts zur Sache. Sind Sie Dr. Jackal?"

"Warum willst du das wissen?" Kuroudo wurde misstrauisch. Sein ,Künstlername' war zwar allgemein bekannt und gefürchtet aber im Regelfall blieb niemand übrig, der ihn hätte wieder erkennen können.

Der Junge entschied sich, dass es für seine Gesundheit förderlich wäre, wenn er den Grund für seine Frage preisgab.

"Wenn Sie es sind, dann wurde eine Nachricht für Sie hinterlassen."

"Eine Nachricht? Von wem?" Sein Misstrauen wuchs nun fast ins Unermessliche. Dass der Junge ihn scheinbar kannte war eine Sache. Dass Nachrichten für ihn hinterlassen wurden war eine ganz andere.

"Das weiß ich nicht... Aber ich kann Sie dorthin führen!" bot der Junge schnell an.

Kuroudo stutzte. Hinführen? Was war das für eine Nachricht die man nicht einfach übergeben bekam sondern zu der man hingebracht wurde? Er dachte kurz darüber nach und sagte sich schließlich, dass es kein Fehler wäre, sich die Sache einmal näher anzusehen.
 

Nach einem kurzen Fußmarsch erreichten sie eine weitere breite Strasse, die sich bei näherem Hinsehen als Sackgasse entpuppte. An ihrem Ende stand ein dichtgedrängter Haufen und diskutierte miteinander. Als sie Kuroudo bemerkten machten sie ihm hastig Platz, so dass sich eine Art Gasse bildete. Der Junge lief vor ihm her und sah die umstehenden Menschen mahnend an, so dass sie verstummten. Dr. Jackal verzog keine Miene. Als sie das Ende erreicht hatten sah er zuerst nur die Leiche die zusammengesackt an der Mauer lehnte, die Hände voller Blut. Er oder sie (das war aufgrund den Lichtverhältnisse nicht eindeutig zu erkennen) hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Für sich genommen also nichts, was einen derartigen Aufstand gerechtfertigt hätte. Erst als der Junge an seinem Mantelärmel zupfte und auf die Wand deutete, erkannte er die ganze Bedeutung dieser selbstzerstörerischen Tat. Mit ein paar schnellen Schritten ging er zu der Leiche. Er schob ihr seine Hand, die zum Glück in einen Handschuh gehüllt war, unter das leicht bläuliche Kinn und hob es an. Wie er es schon erwartet hatte, war ihm der Tote völlig unbekannt. Er richtete sich wieder auf und betrachtete die Schrift an der Wand. Von Nahem konnte man das Blut, mit dem die Lettern verfasst worden waren, noch glitzern sehen. Es war noch nicht ganz getrocknet. Der Tote hatte Suizid begangen um ihm diese Nachricht zukommen zu lassen, geschrieben mit seinem eigenen Blut. Diese Tat war sehr viel tiefgreifender als es sich die anderen Anwesenden vorstellen konnten. Als Kuroudo dem Toten kurz in die Augen gesehen hatte, hatte er etwas erkannt, das bewies, dass er nicht freiwillig so gehandelt hatte, obwohl nichts darauf hinwies, dass er dazu gezwungen wurde. Aber Dr. Jackal hatte auch noch etwas anderes gesehen...

Er kannte nur einen Menschen, der dazu in der Lage war, andere durch Telepathie genau das tun zu lassen was er von ihnen wollte, selbst wenn das ihren Tod oder gar Schlimmeres bedeutete. Er war vor langer Zeit einmal sein Gegner gewesen und hätte es beinahe geschafft, dass sich Dr. Jackal in sein eigenes Schwert gestürzt hätte. Damals war es bei einem Unentschieden geblieben. Beide Gegner hatten zuviel Blut verloren um weiter kämpfen zu können. Er hatte es bis heute nicht vergessen. Er gewann oder starb im Kampf, doch ein Unentschieden war bis dahin undenkbar gewesen. Deshalb hatte er sich geschworen, dass er den Telepathen irgendwann dafür töten würde. Und nun hinterließ eben jener eine Nachricht für ihn. Etwas, das ihm verriet, wo er zu einer bestimmten Zeit zu finden war...

Das Lächeln nahm wieder seinen alten Platz in Dr. Jackals Gesicht ein. Als er Mougenjou und seinem Auftrag den Rücken kehrte, begann er sogar, ein kleines Liedchen zu summen. Der Tag war besser geworden als er angenommen hatte.

Die Nachricht lautete:
 

"Dr. Jackal! Blut verbindet! Folge deiner Erinnerung..."
 

Bevor er gegangen war hatte der Junge noch gemurmelte Worte von seinen Lippen vernommen, die nicht für seine Ohren bestimmt waren. "Ich kann es kaum erwarten, Schuldig..."

Und etwa einen Monat später betrat Kuroudo Akabane alias Dr. Jackal das kleine Café in Shibuya...
 

* * *
 

Wenn man das Anwesen von außen betrachtete, würde man nie auf die Idee kommen, dass in seinem Inneren ein solches Geheimnis gehütet wurde. Die Parkanlage rings um die Villa wirkte sehr gepflegt, Lilien wuchsen im Schatten ehrwürdiger Bäume und auch ein kleiner Teich fehlte nicht. Das Haus selbst war im Stil der venezianischen Palazzos gebaut, mit hohen Decken und grossen Fenstern, die von leichter Gaze und dunkelrotem Samt geziert wurden. Es leuchtete in einem strahlenden Weiß, auf das der Schnee wohl neidisch sein würde, wenn er denn könnte. Einzig das Zwitschern einiger Vögel durchbrach die angenehme Ruhe die hier herrschte. Alles in allem wirkte alles sehr friedlich.

Wie es bei solchen Häusern üblich ist, verfügte auch dieses über einige versteckte Türen und Gänge. Einer dieser Gänge führte zu einer schmalen Treppe, die in der Tiefe des Erdreichs verschwand. Stand man am oberen Ende, bemerkte vielleicht der ein oder andere eine beinahe körperlich spürbare Kälte, die aus der Dunkelheit aufstieg. Dort unten war das Geheimnis verborgen, begraben unter Tonnen fruchtbarer Erde und ebensoviel Beton und Blei, das ein Ausspionieren unmöglich machte. Es war wie ein krankes, verdorbenes Herz, es pochte und pulsierte, drängte sich immer wieder in das Bewusstsein, das es zu verdrängen suchte...

Hinter der Tür am unteren Ende der Treppe herrschte eine Sauberkeit auf die jede Hausfrau neidisch gewesen wäre. Alles war weiß, die Wände, die Decke, der Boden, sogar die Türen die links und rechts des Ganges zu erkennen waren. Es herrschte eine Art klinischer Atmosphäre, die jedes angenehme Gefühl im Keim erstickte. Die Stille war fast unerträglich. Es war ohne Frage einer der wenigen Orte, an dem man sein eigenes Herz schlagen hören konnte. Am Ende des Ganges befand sich ein Kontrollraum, ausgestattet mit den neuesten Errungenschaften der Technik. Die Monitore tauchten den uniformierten Mann der vor ihnen saß in ein unheimliches Licht, das ihn fast wie eine Puppe erscheinen ließ. Seinen wachsamen Augen entging keine Bewegung auf den Bildschirmen. Durch einen kleinen Durchgang, den man durch diesen Raum erreichte, gelangte man auf einen weiteren weißen Gang, der diesmal aber keine Türen hatte. An seinem Ende konnte man ein Gitter erkennen, das den Weg auf ganzer Breite versperrte und von der Decke bis zum Boden reichte. Davor standen weitere zwei Wachleute in weißer Uniform. Sie erweckten den Eindruck von Pflegern, nur die Pistolen und die Funkgeräte, die an ihren Gürteln hingen, störte dieses Bild.

Hinter dem Gitter befand sich ein weiterer Raum. Auch er war, wie sollte es anders sein, weiß gestrichen und auch er bot dem Auge wenig Abwechslung. Auf der linken Seite stand ein schmales, am Boden festgeschraubtes Metallbett, daneben ein kleiner Tisch und zwei Stühle, die ebenfalls festgeschraubt waren. Auf der rechten Seite war eine Wand in den Raum gezogen worden, die den Bereich, der dahinter lag vor Blicken schützen sollte. Dort befanden sich ein Waschbecken und eine Toilette. Eine Duschkabine gab es nicht. Der Duschkopf war an der Wand festgekettet und im Boden befand sich ein Abfluss, so dass man sich auch hier nicht verstecken konnte. An der Decke hingen mehrere Videokameras, die ein beständiges Bild des Raumes an den Kontrollraum übertrugen und für die es keine toten Winkel, keine Privatsphäre gab. Man konnte sich nicht vorstellen, dass hier ein Mensch lebte. Und selbst wenn, würde er wohl schon nach kurzer Zeit wahnsinnig werden. Außer, wenn er es schon war...

Die Wachen waren speziell ausgebildetes Personal, das auf den Ernstfall vorbereitet worden war. Sie waren nie nachlässig oder unvorsichtig, denn das konnte sie ihren Kopf kosten. Außerdem waren sie zu strengster Verschwiegenheit verpflichtet und sie waren wohl die einzigen Wächter in ganz Japan, die sich strikt daran hielten. Ihr Vorgesetzter, den sie kaum zu Gesicht bekamen und über den sie so gut wie nichts wussten, außer dass er Deutscher war, hatte das sicherste Mittel eingesetzt, um ihre Lippen zu versiegeln. Angst. Angst vor dem was geschah wenn auch nur ein Wort von dem, was hier unten vor sich ging, über ihre Lippen kam.

Einer von ihnen hatte vor einiger Zeit seiner Frau hiervon erzählt, nicht viel, aber dennoch genug. Obwohl nicht einmal seine Kollegen etwas davon ahnten, schien der Deutsche am nächsten Tag bereits bestens unterrichtet zu sein. Wie er zu diesem Wissen gekommen war, war ihnen rätselhaft. Er bat ihren Kollegen und seine Frau, zu einer kleinen Unterredung zu ihm zu kommen. Danach hatte niemand von ihnen die beiden je wieder gesehen. Es ging das Gerücht, dass beide direkt danach aufgrund geistiger Umnachtung von einem Krankenwagen abgeholt worden waren und nun vermutlich ihren Lebensabend in der Irrenanstalt verbringen würden. Und sie wussten genau, dass ihnen das gleiche Schicksal drohte, wenn sie etwas erzählten. Auch wenn sie nicht in Erfahrung bringen konnten wie er es zuwege gebracht hatte.

Plötzlich drang ein ekelhaft nasses Geräusch aus einer Ecke der Zelle an ihr Ohr. Es war zwar leise, doch es genügte, um ihnen einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen. Wenig später drang aus ihren Funkgeräten die Bitte aus dem Kontrollraum, sich in die Zelle zu begeben und nach dem Insassen zu sehen.

Als sie die Zelle betraten, einer von ihnen trug einen Arztkoffer bei sich, war kein Laut zu hören. Aber sie hatten ihn schon gesehen, das ganze Gesicht blutverschmiert. Sie wussten, dass er äußerst gefährlich war, obwohl er noch nie einem von ihnen etwas angetan hatte. Dies war einer der Gründe, warum er Tag und Nacht eine speziell für ihn gefertigte Zwangsjacke und Beinriemen trug, die ihn am Laufen hinderten. Trotzdem näherten sie sich ihm nur sehr widerwillig. Er hatte sich die Zunge zerbissen. Wenn er niemanden hatte, den er verletzten konnte, dann verstümmelte er sich selbst und wies dabei erstaunlichen Einfallsreichtum auf. Sie wussten dass er den Schmerz nicht spürte, wie er niemals irgendetwas spürte...

Er litt unter einer seltenen Genmutation, die dafür sorgte, dass die Nerven in seinem Körper keinerlei Informationen an sein Hirn schickten. Sie hatten schon oft darüber gesprochen, versuchten sich vorzustellen wie es wäre wenn man nichts mehr spürt. Keinen Schmerz zwar, aber eben auch sonst nichts. Keinen Wind auf der Haut, keine freundschaftliche oder liebevolle Berührung, keine Wärme, keine Kälte, nichts...

Noch dazu bescheinigten ihm die Ärzte eine Agnosie[2], eine psychisch bedingte Krankheit, die meist infolge einer Hirnverletzung auftrat. Das hatte zur Folge, dass er, zumindest solange er die Zwangsjacke trug, erschreckend teilnahmslos war. Allerdings war er dadurch auch unempfindlich für das Leid anderer. Seine Gefühlswelt war schlicht tot. Das machte ihn aber nur umso gefährlicher.

Jemand der kein Mitleid und kein Gewissen kennt, ein Mensch, den man schwer verletzten kann, ohne dass er den Schmerz spürt... Kann man sich einen kälteren Killer vorstellen?

Und genau so einem Killer standen sie jetzt gegenüber. Er öffnete freiwillig den Mund und ließ sich ohne Gegenwehr verarzten. Er konnte einem fast leid tun, der junge irische Mann ohne Gefühle, dessen Name hier unten einem Fluch gleichkam:
 

Farfarello.
 

* * *
 

Als das Café schloss redete Schuldig immer noch. Er hatte weit ausholen müssen, um Kuroudo die ganze Tragweite der Angelegenheit begreiflich machen zu können. Dieser seinerseits hörte ihm aufmerksam zu und hatte, seit Schuldig begonnen hatte, nicht ein Wort gesagt. Er schwieg wie das sprichwörtliche Grab. Dieser Umstand trug nicht geradezu dazu bei dass sich Schuldig in seiner Gegenwart wohler fühlte. Kuroudo hatte eine Aura an sich, die er nicht ausstehen konnte. Es war die Aura eines Menschen, der Blut mochte, der Spaß daran hatte, es zu vergießen...

Als sie vor der Tür des Cafés standen, kam Schuldigs Redefluss für einen Moment ins Stocken. Er sah Kuroudo, der neben ihm stand, fragend an. Kuroudo schien seine unausgesprochene Frage verstanden zu haben und antwortete:

"Lass uns ein wenig spazieren gehen. Etwas Bewegung schadet nicht..."

Schuldig hatte zuerst vorschlagen wollen, in einen nahe gelegenen Nachtclub zu gehen um bei einem Glas Wein ihr Gespräch fortzusetzen, aber Dr. Jackals Vorschlag war durchaus reizvoll. Erstens bezweifelte er, dass er sich beim Anblick halbnackter Frauen noch ernsthaft auf seine Geschichte konzentrieren konnte (bei Kuroudo sah er in dieser Hinsicht keinen Grund zur Sorge, er war und blieb ein Eisklotz) und zweitens wagte er nicht, ihm zu widersprechen. Bei ihrem letzten Aufeinandertreffen war ihm wohl entgangen, wie groß Kuroudo tatsächlich war. Er überragte ihn um fast einen ganzen Kopf, dabei war Schuldig selber alles andere als klein. Seine Zurückhaltung gründete aber weniger in Angst als in dem Bestreben, ihn als Verbündeten zu gewinnen.

Ziellos wanderten sie durch die Strassen von Shibuya. Nachts wurde es sogar hier unangenehm kühl und Schuldig begann in seinem grünen Mantel ein wenig zu frösteln. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Kuroudo, dem der kalte Wind, der durch die Straßen pfiff aber nichts auszumachen schien. Schuldig kam wieder der Begriff ,Eisklotz' in den Sinn und er musste unwillkürlich grinsen. Kuroudo ignorierte es.

Als der Morgen graute neigte sich seine Geschichte dem Ende zu. Sie hatten inzwischen die Dogenzaka* erreicht, und Schuldig wünschte sich sehnlichst etwas Warmes zu trinken. Mittlerweile war er doch ziemlich unterkühlt. Er schloss mit den Worten:

"...und aus diesem Grund habe ich dir die Nachricht hinterlassen. Was sagst du dazu?"

Schweigen. Kuroudo war stehen geblieben und dachte nach. Schuldig widerstand mit Mühe der Versuchung, einen Blick in seine Gedankengänge zu werfen. Kuroudo hätte es vermutlich bemerkt und dann hätte er sein Vorhaben vergessen können. Als Kuroudo nach fünf Minuten immer noch nichts gesagt hatte, wurde es ihm allmählich zu bunt.

"Was ist denn jetzt? Wie hast du dich entschieden?" drängte er.

Kuroudo sah ihn lächelnd an und legte sich den behandschuhten Zeigefinger auf die Lippen. Sei still, sagte diese Geste. Schuldig hatte keine Lust auf solche Spielchen.

"Warum?" fragte er ungeduldig.

Kuroudo ließ seine Hand sinken und sah ihn mit einem Blick an, den Schuldig nur allzu gut kannte. Pure Vorfreude.

"Wir bekommen Besuch." flüsterte er.

"Was...?" Bei Schuldig schrillten die Alarmglocken, doch zu spät.

Mit einem Mal waren sie umringt. Mindestens zehn Männer in identischen dunklen Anzügen, die unbegreiflicherweise selbst zu dieser Stunde ebenso dunkle (und ebenso identische) Sonnenbrillen trugen, bildeten einen undurchdringlichen Kreis um sie herum. Schuldig hatte sich wohl zu sehr auf sein Gegenüber konzentriert und dabei alle Vorsicht über Bord geworden, denn er hatte ihre Anwesenheit erst wahrgenommen als Kuroudo ihn darauf aufmerksam gemacht hatte. Er stieß einen leisen Fluch aus.

"Besuch am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen" zitierte Kuroudo und ließ drei Skalpelle erscheinen. Als Schuldig dabei das Zucken seines Körpers sah, erinnerte er sich daran, dass Dr. Jackal diese Messer und noch weitere Waffen, insgesamt 108 um genau zu sein, in seinem Körper verbarg. Dieser Gedanke ließ ihn erschauern. Er konnte sich Angenehmeres vorstellen, als ständig mit so viel scharfem Metall im Körper herumzulaufen. Er hoffte inständig, dass Farfarello nicht auf dumme Gedanken kam, wenn die beiden sich begegneten...

Plötzlich stutzte er. Er hatte sich aus reiner Gewohnheit in die Köpfe der Männer eingeschlichen, um herauszufinden was sie wollten und wozu sie bereit waren. Nur dass da keine Gedanken waren. Nur eine große schwarze Leere, angefüllt mit absolutem Gehorsam gegenüber einem gesichtslosen Herrn und der Bereitschaft zu töten...

Er bemerkte gerade noch rechtzeitig, wie sich Kuroudos Körper spannte. Er griff blitzschnell nach seinem Arm und hielt ihn fest. Der Blick, den er sich damit einhandelte war alles andere als erfreut, aber das war ihm im Moment gleichgültig. Er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Irgendetwas stimmte mit diesen Gestalten nicht, die sich so bedrückend ähnlich sahen. Als er dann sprach, klang seine Stimme selbst in seinen eigenen Ohren fremd.

"Greif sie nicht an."

Kuroudos Blick wurde noch eine Spur eisiger, sofern das überhaupt möglich war.

"Ich kann mich nicht daran erinnern dass ich dich um deine Meinung gebeten hätte."

Er wollte Schuldigs Hand von seinem Arm nehmen, doch der hielt ihn eisern wie ein Schraubstock fest.

"Wenn du nicht selbst meine Skalpelle zu spüren bekommen willst dann lass mich sofort los."

Obwohl Kuroudos Stimme sehr leise war, war die unausgesprochene Drohung in seinen Worten unüberhörbar. Schuldig schüttelte nur widerwillig den Kopf und sagte:

"Das sind keine normalen Menschen. In ihrem Kopf herrscht nur Leere...so was hab ich noch nie erlebt..."

Er wusste nicht wie er es erklären sollte. Alles was er wusste war, dass ein Angriff die schlechteste Lösung für dieses Problem war.

"Nun, wenn sie keine normalen Menschen sind, dann ist es doch nur umso interessanter."

"Kuroudo..." begann Schuldig erneut, wurde aber sofort unterbrochen.

"Deine Geschichte versagt mir die Genugtuung, mich an dir zu rächen, aber du wirst mir nicht auch noch diesen Spaß verderben!"

Damit riss sich Kuroudo endgültig los und ging ohne einen Augenblick zu zögern zum Angriff über.

Schuldig hatte Kuroudo bereits vor drei Jahren im Kampf erlebt und selbst damals war es ihm nur unter größter Anstrengung gelungen mit Kuroudos Geschwindigkeit mitzuhalten. Ihm selbst hingegen schien seine enorme Schnelligkeit keinerlei Mühe zu bereiten und es wirkte beinahe wie ein Spiel. Schuldig hatte nicht geglaubt dass er sich noch steigern könnte. Vielleicht hatte er es auch einfach nicht wahrhaben wollen. Doch genau das sah er nun. Oder besser gesagt, er sah es nicht.

Seine Augen waren nicht imstande, Dr. Jackals Bewegungen zu folgen. Der Reihe nach kippten drei der Männer um und verloren noch im Fall verschiedene Gliedmaßen oder zerfielen gleich komplett in ihre Einzelteile. Jedem war das berüchtigte J in den Rücken geschlitzt, dem Jackal seinen Namen zu verdanken hatte. Dann stand Kuroudo auf einmal hinter den Männern auf der anderen Seite der Gasse und lächelte ihnen wie zum Abschied zu. Gleich darauf wurde die Hauswand neben ihnen um einige Blutspritzer reicher. Während der ganzen Zeit war nicht ein einziges Mal ein Skalpell zu sehen, nicht einmal das verräterische Aufblitzen des Titans.

Schuldig war so fasziniert von dem Geschehen dass er nicht bemerkte, wie sich ihm drei oder vier der Angreifer näherten. Sie hatten ihre Pistolen gezogen und legten auf ihn an.
 

Die Schüsse peitschen durch den aufziehenden Nebel und sprenkelten das Mauerwerk mit hellrotem Blut und Gewebefetzen. Kuroudo hatte innegehalten und sah sich nun nach dem Urheber des Lärms um. Einige lange Sekunden war absolut nicht zu hören, sah man einmal von den Geräuschen ab, die die Schuhe der wieder näher rückenden Männer machte. Kuroudo dachte schon darüber nach, wer wohl Schuldigs Beerdigung ausrichten würde da er, soweit er wusste, keine Verwandten hatte. Ob sein seltsamer Verein von Psychopathen (bei dem Gedanken musste er leise lachen), Schwarz hieß er, wenn er sich recht erinnerte, das wohl übernehmen würde?
 

Jackal entfuhr ein leises enttäuschtes Seufzen als rechts von ihm eine vertraute Stimme erklang, die vor Sarkasmus geradezu troff. Die Antwort auf diese Frage hätte ihn wirklich interessiert...

"Vier gegen einen, also wirklich! Habt ihr noch nie was von Fairness gehört?"

Ein ebenso sarkastisches wie breites Grinsen unterstrich die Ironie dieser Worte. Der Rauch von den Mündungen der beiden handgefertigten Waffen wurde mit einer effektvollen Bewegung weggepustet, bevor sie schwungvoll in ihre Holster am Rücken ihres Besitzers zurückgeschoben wurden. Vier der Männer waren an der Mauer zusammengesackt. Jedem von ihnen floss ein dünnes Rinnsal Blut aus der Schusswunde, die genau zwischen ihren Augen saß.

"Noch dazu war ich unbewaffnet!" fügte Schuldig mit einem vorwurfsvollen Blick auf die Leichen hinzu.

"Wie ich sehe, hütest du Hugin und Munin immer noch wie deinen Augapfel." stellte Kuroudo fest.

Er meinte damit die beiden Pistolen von Schuldig, die dieser, schon seit er sie sich kurz nach seinem Eintritt bei ,Schwarz' hatte fertigen lassen, hingebungsvoll pflegte. Sie waren speziell auf seine Bedürfnisse abgestimmt und waren absolute Einzelstücke. Irgendwann hatte sich Schuldig dazu hinreißen lassen, sich Namen für seine ,Babys' auszudenken. Nach reiflicher Überlegung hatte er sich dann für Hugin, der ,Gedanke', und Munin, das ,Gedächtnis', entschieden. Dies waren die Namen der beiden Raben von Wotan, der nach einem alten Kult der Germanen der Vater aller Götter und ganz nebenbei allwissend war. Er fand seine Wahl äußerst passend.

"Sicher. Wie oft findet man schon so treue Begleiter?" Als Schuldig das sagte tätschelte er seine beiden Unikate durch seinen Mantel hindurch.

Kuroudo, der Feuerwaffen nur anfasste wenn es sich nicht vermeiden ließ, betrachtete diese liebevolle Geste skeptisch, sagte aber nichts weiter dazu. Statt dessen blickte er sich um und suchte offenbar nach neuen Gegnern. Schuldig merkte beiläufig an, dass sie alle beseitigt hätten, was ein erneutes enttäuschtes Seufzen von Jackal zur Folge hatte. Schuldig vermutete, dass es ihm zu einfach gewesen war. Weil er es aber sinnlos fand, weiter schweigend herumzustehen, beschloss er, ihr Gespräch da fortzusetzen wo sie stehen geblieben waren, bevor sie so unhöflich unterbrochen wurden.

"Also, was sagst du? Du hast mir noch keine Antwort gegeben..."

Kuroudo musterte ihn kurz und sagte dann:

"Ich denke darüber nach. Komm in zwei Tagen an die Pforten von Mougenjou, dann werde ich dir meine Entscheidung mitteilen. Egal wie sie ausfällt..."

Schon wieder eine wortlose Drohung. Schuldig wusste, dass er sich besser auf einen Kampf vorbereiten sollte, falls Kuroudos Antwort ein ,Nein' war. Dass er ihn allerdings nicht hier und jetzt angriff, sondern darüber nachdenken wollte, war zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer, also nickte Schuldig zustimmend.

"Ich werde da sein."

Kuroudo sah noch einmal zu den Leichenteilen herab, die um ihn verstreut waren, drehte sich auf dem Absatz herum und ging ohne ein Wort des Abschieds in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren. Bevor er im immer dichter werdenden Nebel verschwand, murmelte er noch etwas, was sich wie "Zu leicht..." anhörte. Schuldig hatte also recht behalten. Irgendwie ärgerte er sich darüber, dass er, auch ohne seine Fähigkeiten anwenden zu müssen, so genau über Jackals große Leidenschaft Bescheid wusste. Er war und blieb aber dennoch undurchschaubar und unberechenbar. Er sah ihm noch eine Weile nach, auch wenn er ihn schon lange nicht mehr sehen sondern höchstens noch erahnen konnte. Er dachte über das merkwürdige Gefühl nach, das er hatte, als diese Männer aufgetaucht waren. Er glaubte, dass er nun eine passende Umschreibung gefunden hatte: Sie hatten keinerlei wahrnehmbare Aura. Als wären sie tot. Nicht einmal bei Farfarello hatte er dieses Gefühl, obwohl dieser ja nachweislich nicht in der Lage war, Emotionen zu verspüren. Und in einem Punkt musste er Jackal Recht geben. Es war zu leicht gewesen. Sie hatten nicht einmal versucht, sich zu wehren. Es war, als ob ihnen der Tod keine Angst einflösste, ja, als ob es ihnen geradezu egal war, ob sie starben oder nicht...

Er sah ein, dass er heute zu keinem Ergebnis mehr kommen würde. Er konnte noch so viel nachdenken, außer Vermutungen anzustellen konnte er nicht viel tun. Er wandte sich um und ging langsam in die entgegen gesetzte Richtung davon., nicht ohne sich noch einmal instinktiv davon zu überzeugen, dass die Männer wirklich tot waren und dass es keine Zeugen gab...
 

* * *
 

Die Straße lag verlassen da. Solche Stille wie sie nun herrschte war in Tokyo, die Stadt, der nachgesagt wird dass sie niemals schläft, nur sehr selten zu finden. Der Nebel wurde immer dichter und legte sich wie ein Leichentuch über die Überreste der Männer. Ein paar Ratten huschten durch das fahle Licht, auf der Suche nach etwas Fressbarem. In den Mülltonnen hier wurden sie schnell fündig, was man ihnen auch ansah. Nirgends in Japan gab es so wohlgenährte Ratten wie im Vergnügungsviertel Shibuya, und auf der Dogenzaka waren sie besonders fett.

Eine dieser Tiere schlich sich nun zu den blutüberströmten Leichenteilen. Frisches Fleisch war selten und der Geruch nach Blut machte sie vor Neugier fast wahnsinnig. Der Kampf, der hier noch vor weniger als einer halben Stunde getobt hatte, hatte hunderte ihrer Artgenossen angelockt. Ratten sind nun aber von Natur aus ebenso neugierig wie misstrauisch. So wagte sich auch die Späherin nur langsam an den abgerissenen Arm heran, den sie anvisiert hatte. Wenn sie von dem ,Futter' gefressen hatte, würden die anderen sie beobachten und abwarten ob es vergiftet war. Ihr war klar dass es ihren Tod bedeuten könnte, das sagten ihr ihre Instinkte. Trotzdem... als erste von dem noch warmen Fleisch fressen zu dürfen ohne sich gegen ihre Verwandten durchsetzen zu müssen...für sie war es das durchaus wert, dafür ihr Leben zu riskieren.

Der Arm lag so ruhig da wie man es von Gliedmaßen erwarten konnte, die von ihrem Körper getrennt wurden. Die Ratte näherte sich vorsichtig einem der Finger und roch daran. Sie konnte nichts Verdächtiges feststellen also entschied sie sich, das Blut das daran klebte einem Geschmackstest zu unterziehen und leckte an der Fingerkuppe. Es dauerte nicht lange und sie hatte alle Vorsicht hinter sich gelassen, saß auf der nach oben gerichteten Handfläche und schlug sich den Bauch voll. Für sie war es das Beste was sie jemals zwischen die Zähne bekommen hatte. Im Regelfall war das Fleisch, das sie fraß, bereits schwarz und stank erbärmlich. Sie konnte ja nicht ahnen dass es ihre Henkersmahlzeit werden sollte...

Als die Hand zum ersten Mal zuckte, war sie zu irritiert um zu reagieren. Beim zweiten Mal jedoch zögerte sie keinen Moment sondern brachte sich mit ein paar ausgreifenden Sprüngen in Sicherheit. Nachdem sie etwa zwei Meter Abstand zwischen sich und den Arm gebracht hatte drehte sie sich um, um herauszufinden, was die Ursache für dieses völlig ungewohnte Verhalten ihres Futters war.

Der Arm blieb nicht das einzige Körperteil, das sich bewegte. Auch alle anderen begannen nun ein merkwürdiges Eigenleben zu entwickeln, zum größten Teil noch in die Fetzen eines dunklen Anzugs oder eines weißen Hemdes gehüllt. Sie zuckten und wanden sich, manche Hände tasteten wie suchend über den Asphalt. Direkt neben der Ratte öffneten sich Augen hinter einer halb verrutschten Sonnenbrille. Die Männer die erschossen an der Wand gelehnt hatten, schienen unter schweren Krämpfen zu leiden, was eigentlich nicht sein konnte, da sie ja dummerweise tot waren.

Die Ratte begann, sich halbherzig das Blut aus ihrem Pelz zu lecken. Sie saß immer noch näher als die anderen an den bebenden Stücken, dachte aber nicht daran, sich von ihrem Logenplatz zurückzuziehen. Obwohl sie wie alle ihrer Art über außergewöhnlich scharfe Sinne verfügte, nahm sie den Schatten, der plötzlich neben ihr in die Höhe wuchs, erst wahr als es schon zu spät war. Mit festem Griff wurde sie im Nacken gepackt und hochgehoben. Die Hand drehte sich dabei so dass sie völlig bewegungsunfähig auf dem Rücken lag und zu dem Schatten aufblicken musste.

Als die Scheinwerfer eines Autos für einen Wimpernschlag die Gasse erleuchtete, blitzten zwei grüne Augen unter einem dunklen Hut auf. Die andere Hand der nun wieder nur verschwommen wahrnehmbaren Gestalt hob sich und streichelte mit einem Finger sanft über den Kopf der Ratte. Und wieder waren es ihre Instinkte, die sie davor warnten, dass diese Geste nicht so liebevoll gemeint war, wie sie sich anfühlte.

Das Letzte was sie dachte, bevor sie ihr Leben aushauchte war: , Du warst nicht sehr nett zu mir, Tokyo...' Das trockene Knacken mit dem ihr Genick brach war in der Stille wie ein Gewehrschuß. Als ob dieses Geräusch ein Startsignal wäre begann ein hektisches Gewusel als sich die übrigen Ratten blitzschnell wieder in ihre Verstecke zurückzogen. Innerhalb von Sekunden war kein einziges Tier mehr zu sehen, mit Ausnahme der Getöteten, dessen lebloser Körper nun von der schattenhaften Gestalt achtlos auf einen nahen Müllberg geworfen wurde. Ihre Aufmerksamkeit galt nun den Leichenteilen, die sich nicht so benahmen wie es gehörte.

Nach einer Weile verschwand eine Hand des Schemens in die Tasche seiner schwarzen Hose und zog etwas heraus, das entfernt an eine Taschenuhr erinnerte. Als er es aufklappte, begann es schwach violett zu glühen. Nach einem kurzen Blick in das Innere des Gebildes perlte ein einziges Wort über die Lippen des Fremden und durchdrang den Nebel:

"Tamashii."

Die Stimme war sanft, hatte einen fast melancholischen Klang, war aber definitiv männlich und offenbar befehlsgewohnt.

Kaum hatte er das Wort ausgesprochen erstarrten die Arme, Beine und was sonst noch herumlag. Stattdessen bildete sich um sie herum eine Art violett pulsierende Aura, die immer heller leuchtete bis die Straße fast taghell erstrahlte. Der Mann streckte nun das taschenuhrähnliche Gebilde in ihre Richtung und befahl:

"Setto!"

Nun kam Bewegung in das Glühen um die Körper. Das Leuchten begann zu verschwimmen, floss wie Wasser über die Konturen, die kaum noch zu erkennen waren und sammelte sich etwa eine Handbreit über den Gliedmaßen langsam zu gleißenden Sphären aus Licht. Dann schwebten sie erst gemächlich, dann immer schneller auf den Mann zu der sie gerufen hatte. Mit einem letzten Aufglühen versanken sie in der Taschenuhr, die offenbar zu vielem zu gebrauchen war, nur nicht dazu, die Zeit auf ihr abzulesen. Als die letzte Lichtkugel in ihrem Inneren verschwunden war, wurde ihr Deckel mit einem leisen Klicken geschlossen. Der Mann beäugte das pulsierende Licht und wartete. Als das Licht plötzlich von dem sanften Violett zu einem satten Blau wechselte stieß er ein Zischen aus, das halb Lachen, halb unterdrückte Enttäuschung war und schob das nunmehr silbrig blau glimmende Metallgehäuse mit einem heftigen Ruck zurück in seine Tasche.

Die abgetrennten und nun wieder unbeweglichen Körperteile waren wegen des Nebels kaum mehr zu erkennen, trotzdem schenkte er ihnen einen mehr als verächtlichen Blick und murmelte etwas, von dem nur die Worte ,synthetisch' ,spirituelle Energie' und ,zweitklassig' zu verstehen waren. Dann zog er sich den Hut tiefer ins Gesicht.

Wie von einem Windhauch berührt begann der Nebel aufzuwallen und schien sich um den ruhig dastehenden Mann, der noch immer kaum mehr als ein Schatten war zusammenzuziehen. Ein stumpfes Dröhnen stieg auf, das so tief war das man es mehr spürte als wirklich hörte. Bald schon hatte sich um ihn eine milchige Säule gebildet, die kaum noch wie Nebel sondern viel mehr wie ein leichtes Tuch wirkte. Die Luft begann vor Spannung zu vibrieren. Sie entlud sich schlagartig, als aus der Mitte der Nebelsäule ein gewaltiger Blitz lautlos gen Himmel schoss und die Dächer der Stadt in ein violettes Licht tauchte. Als sie kurz darauf in sich zusammenfiel war der Mann verschwunden...
 

Die aufgehende Sonne zerfaserte den Nebel und einzelne Strahlen verirrten sich in die verlassene Gasse. Sie tasteten sich langsam an einen ruhig daliegenden Arm heran. Als sie ihn erreichten, schienen abertausende Ameisen auf ihm zum Leben zu erwachen. Man konnte zusehen wie sich der Arm gegen die Sonne wehrte, als stecke immer noch Leben in ihm. Erst verfärbte sich die Haut nur langsam, wurde grau und brüchig. Dann begann der ganze Arm dünner und kleiner zu werden, die Finger bogen sich zu Klauen und färbten sich schwarz. Es war als ob er in einem Brennofen liegen würde, dabei strichen nur sanfte spätherbstliche Sonnenstrahlen über ihn hinweg. Schon nach kurzer Zeit erinnerten nur noch ein paar kleine Häufchen Asche an die Schlacht, die hier getobt hatte, und auch diese würden bald der Vergangenheit angehören. Der gesichtslose Mann hatte sie aus dem Gedächtnis der Welt gelöscht...
 

* * *
 

1. Kapitel: Seelendieb -> Ende

2. Kapitel: Tödliches Blut
 

[1] Hachikô-Statue: Die Statue eines Hundes am Bahnhof von Shibuya. Ein beliebter Treffpunkt. Es gibt einen Artikel bei Wikipedia darüber, und zwar hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Hachik%C5%8D

[2] Agnosie gibt es tatsächlich, allerdings anders als hier beschrieben. Im Internet findet man zahlreiche Artikel darüber.

Tödliches Blut

Das Taxi glitt lautlos durch die Morgendämmerung. Es hatte die letzten Ausläufer Tokyos längst hinter sich gelassen. Schuldig betrachtete durch das geschlossene Fenster die vorbeiziehende Landschaft, aber theoretisch hätte er auch einem Baum beim Wachsen zusehen können. Das Treffen mit Kuroudo hatte einiges in ihm aufgewühlt. Nicht dass er damit nicht gerechnet hätte, aber dennoch hatten die Erinnerungen einen bitteren Nachgeschmack. Er drückte seine Stirn gegen das kühle Glas um seine Gedanken zu zwingen sich langsamer zu bewegen.

Damals vor drei Jahren existierte die Gruppe ,Schwarz' erst seit Kurzem und stand gerade seit ein paar Monaten im Dienst von Takatori. Bis jetzt hatten er und die anderen noch nicht sonderlich viel zu tun gehabt. Nur kleinere Aufträge, die kaum Mühe machten aber eine Menge Geld brachten. Schuldig war das mehr als recht, er war schon damals alles andere als ein Workaholic.

Zu der Zeit hatte er gerade das Anwesen außerhalb von Tokyo erworben um das ihn sicher der ein oder andere seiner Kollegen beneidete. Er war momentan dabei, es zu renovieren und zerbrach sich schon seit Tagen den Kopf darüber, wie er das Problem mit Farfarello lösen sollte. Weil er von allem immer noch am besten mit ihm klar kam hatte Brad Crawford, der Kopf von ,Schwarz', vorgeschlagen, dass Schuldig ihn zu sich nahm. Jetzt mußte er eine geeignete Unterkunft in seiner neuen Villa einrichten und sich um Aufsichtspersonal kümmern, ohne dabei allzu viel Aufsehen zu erregen, was sich als schwieriger herauszustellen drohte als er zuerst angenommen hatte. Wie richtete man einen ganzen Hochsicherheitstrakt im Keller eines 200 Jahre alten Hauses ein ohne dabei Mitwisser zu produzieren? Noch dazu mußte es möglichst schnell gehen, denn Farfarello war augenblicklich im Takatori-Building im Herzen von Tokyo untergebracht und zwar in einer provisorisch hergerichteten Abstellkammer. Einige von Takatoris Leuten bewachten ihn, was eine ernst zu nehmende Gefahr darstellte weil diese Männer für ihre Schießwütigkeit bekannt waren. Nicht gerade der beste Ort für ihn...

Die Malerarbeiten in seinem neuen Wohnzimmer zu beaufsichtigen war nicht gerade spannend. Schuldig lehnte am Türrahmen und gähnte ausgiebig. Er hatte die halbe Nacht damit verbracht, in einem edlen Nachtclub ebenso edlen (und vor allem halbnackten) Frauen Geldscheine zuzustecken und sich zu betrinken. Jetzt hatte er einen ausgewachsenen Kater und ein gehöriges Schlafdefizit. Seine orangenen Haare standen in alle Richtungen ab und sein Hemd sowie sein Gesicht sahen sehr zerknittert aus. Trotzdem strahlte er über das ganze Gesicht. Er liebte es, anderen bei der Arbeit zuzusehen und selbst nichts anderes tun zu müssen als Anweisungen zu geben.

Als sein Handy klingelte und er sah wer ihn da anrief überlegte er sich ernsthaft, ob er den Anruf überhaupt entgegennahm. Er steckte es sogar wieder zurück in seine Hosentasche doch das Vibrieren des Telefons war so unangenehm dass er es ein paar Sekunden später wieder herauszog, nach einem weiteren Zögern aufklappte und es sich ans Ohr hielt.

"Schuldig."

"Ich weiß." Crawfords Antwort kam völlig trocken.

"Nein, Schwarz."

"Der ist alt."

"Nicht so alt wie du."

"Halt's Maul."

Schweigen.

"Schuldig?"

"Hm?"

"Warum sagst du nichts mehr?"

"Ich dachte ich solls Maul halten?"

Crawford stieß einen entnervten Laut aus.

"Komm bitte so schnell wie möglich her."

"Warum?"

"Es gibt Arbeit."

Schuldig verzog das Gesicht.

"Ich hab keine Zeit."

"Die Maler werden dein Haus schon nicht gleich dem Erdboden gleichmachen wenn du mal kurz nicht da bist."

"Da bin ich mir nicht so sicher..."

"Ich erwarte dich in spätestens einer Stunde."

Klack! Aufgelegt.

Schuldig seufzte. Unter normalen Umständen war er nur durch die schlimmsten Androhungen von Gewalt dazu zu bewegen, zur Arbeit zu erscheinen, besonders wenn er etwas anderes zu tun hatte. Ihm war jede Ausrede recht, auch wenn speziell bei den Malern höchstens zu befürchten war, dass sie ihre Mittagspause um fünf Minuten verlängerten wenn er nicht anwesend war. Crawford und er kannten sich nun schon sehr lange und Brad durchschaute seine Tricks inzwischen so gut, dass er genau wußte wie er Schuldig dazu bekam das zu tun was er von ihm wollte.

Er sah auf die Uhr. Eine Stunde war in Tokyo knapp bemessene Zeit wenn man irgendwo hin wollte. Alles in ihm sträubte sich dagegen, Crawfords Befehl Folge zu leisten. Er würde sogar damit durchkommen, wenn er nicht erschien. Aber in der Stimme des Engländers hatte ein Ton gelegen der mehr als alles andere deutlich gemacht hatte, dass es diesmal um eine wirklich ernste Angelegenheit handelte.

Auf dem Weg in sein provisorisch eingerichtetes Schlafzimmer im ersten Stock zündete sich Schuldig eine Zigarette an. Er beeilte sich nicht besonders damit sich anzuziehen. An der Haustür kehrte er dann nochmal um, ging in die Küche und schluckte zwei Kopfschmerztabletten auf einmal. Sollte sich der ,Job' als kompliziert herausstellen war es besser wenn er einen klaren Kopf hatte. Das Taxi wartete bereits auf ihn als er das Haus verließ. Er hatte den Handwerkern noch ein paar gutgemeinte Ratschläge und Anweisungen gegeben und hatte jetzt gerade noch eine halbe Stunde Zeit um pünktlich im Takatori-Building zu erscheinen. Dass er das nie im Leben schaffen würde war ihm völlig klar, und genauso egal. Aber er musste sich eingestehen, dass er etwas neugierig war, was ihn erwartete...
 

* * *
 

Der Taxifahrer musste ihn schon mehrmals angesprochen haben denn seine Stimme klang schon etwas ungeduldig als Schuldig endlich aus seinen Erinnerungen hoch schreckte. Sie standen vor seinem Anwesen, das von der aufgehenden Sonne effektvoll beleuchtet wurde und noch imponierender wirkte als ohnehin schon. Er kramte in seinen Manteltaschen und zog ein Geldbündel von unverschämter Größe hervor. Er zählte ein paar Scheine ab die in etwa der Summe entsprachen, die die Uhr des Taxis anzeigte und noch etwas mehr und legte sie in die wartende Hand des Fahrers. Dieser schob das enorme Trinkgeld wortlos in einen gesonderten Geldbeutel und bedeutete Schuldig, dass er nun bitte seinen Wagen verlassen möge. Schuldig würde sich nie an die Unhöflichkeit mancher Menschen gewöhnen aber er hatte gelernt dass es in manchen Situationen einfach besser war, es so gut es ging zu ignorieren.

Der Kies unter seinen Schuhen knirschte erbärmlich laut als er den Weg zu seiner Villa hochging, der ihm heute besonders lang erschien. Unerklärlicherweise war er sehr erschöpft. Er war eigentlich in ausgezeichneter körperlicher Verfassung und konnte viele Stunden ohne Schlaf auskommen und mehrere Kämpfe überstehen ohne dass seine Leistungsfähigkeit nachließ. Vielleicht hatte ihn auch einfach nur das lange Reden erschöpft...

Die schwere eisenbeschlagene Ebenholztür fiel mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss. Er ließ seinen Mantel einfach auf die Marmorfliesen fallen. Er hatte nicht mehr die Energie dazu, ihn ordnungsgemäß in den Wandschrank am anderen Ende der Eingangshalle zu hängen. Mit schweren Schritten und hängenden Schultern begab er sich in den Salon, obwohl man ihn eher ,Waffenkammer' nennen sollte. Überall standen, lagen, steckten und hingen die verschiedensten Klingen, teilweise an den unmöglichsten Orten. Er zog im Vorbeigehen einen kurzen Dolch aus dem Türrahmen und legte ihn auf einen kleinen storchenbeinigen Tisch der unter der ungewohnten Last beinahe auseinander brach.

Am Kamin angelangt, in dem ein munteres Feuer flackerte, warf er sich in einen der weichen, wenn auch etwas ramponierten Sessel und zog Hugin und Munin aus ihren Holstern. Die silbernen Intarsien fingen das warme Licht ein und warf tausende kleiner Lichtflecken an die Wände als er sie vorsichtig auf den Tisch neben dem Sessel legte. Dann griff er nach der Karaffe, die daneben stand und eine goldfarbene, erlesene Köstlichkeit enthielt, wie sie hierzulande nur schwer zu finden war.

Mit dem Whiskeyglas in der Hand starrte er in das Feuer und konnte sich nicht entscheiden, ob er lieber gleich ins Bett gehen sollte oder vorher noch seinen Bericht für Schwarz, seine Organisation, fertig stellen sollte.

Noch während er grübelte, klopfte es sachte an der offen stehenden Tür. Sein noch müde wirkendes Hausmädchen hatte ihm einen Kaffee aufgebrüht und die Kanne und einen großen Becher zusammen mit der Post auf einem silbernen Tablett drapiert. Er nahm seine Pistolen mit einer trägen Bewegung vom Tisch und legte sie auf ein Kissen am Boden damit sie es neben ihn stellen konnte. Sie sprach kein Wort mit ihm, doch was Außenstehende vielleicht als unhöflich empfinden würden gehörte hier zum Alltag. Seine Angestellten wussten um seine telepathischen Fähigkeiten, daher sprachen sie nur wenn es notwendig war.

Nachdem sie etwas Kaffee eingegossen und den Salon mit einem unterdrückten Gähnen verlassen hatte, kippte er den restlichen Inhalt seines Glases kurz entschlossen in die Tasse. Das Gebräu schmeckte so furchtbar, dass sich seine Gesichtsmuskeln unwillkürlich verkrampften. Er hoffte inständig, dass sein Hausmädchen bald lernte, einen Kaffee zu kochen dessen Konsistenz ihn weniger an Teer erinnerte. Die drei Briefe auf dem Tablett bekamen ein paar Spritzer Kaffee ab als er die Tasse energisch zurück stellte. Der Oberste hatte einen schlichten weißen Umschlag, der nicht auf seinen Inhalt schließen ließ. Wie Schuldig richtig vermutete, handelte es sich um eine Bestätigung seines letzten Auftrags von Takatori in Form eines zusammengefalteten Zeitungsberichts. Ein Mann mittleren Alters hatte sich vom Dach eines Hochhauses gestürzt, hieß es dort. Dann folgte eine ausführliche Stellungnahme eines Psychologen, der in unnötig komplizierter Ausdrucksweise erklärte, dass er keinen Grund für diese Tat feststellen konnte, da die betreffende Person Chef einer gut laufenden Firma und Vater einer kleinen harmonischen Familie war und nachweislich nicht unter Depressionen litt. Schuldig konnte sich ein leises Kichern nicht verkneifen.

Auf einem gesonderten Blatt stand noch eine kurze Nachricht von Takatoris Sekretär:
 

Auftrag erfolgreich erledigt.

Wir sind froh, Sie zu unseren Mitarbeitern zählen zu dürfen.
 

Schuldig rief sich kurz den entsetzten Ausdruck auf dem Gesicht des Toten in Erinnerung. Als er dessen Geist freigab und der Mann wieder einigermaßen klar denken konnte war es bereits zu spät um seinen Sturz vom Dach des fünfzehnstöckigen Bürogebäudes noch zu verhindern. Seine Gegenwehr gegen Schuldigs Telepathie war mehr als schwächlich gewesen.

Er lächelte als er den Brief zur Seite legte und den nächsten nahm. Diesen umgab der Duft eines einzigartigen Parfums. Schuldig wusste sofort, von wem er kam (von einer seiner Verehrerinnen) und legte ihn beiseite. Er würde ihn lesen wenn er sich etwas ausgeruht hatte.

Der dritte und letzte Brief auf dem silbernen Tablett steckte in einem gelblichen Umschlag, der sich bei genauerem Hinsehen als Vellum, sehr feines Pergament aus der Haut eines totgeborenen Kalbs, entpuppte. Schuldig rümpfte die Nase als ihm ein leichter Schwefelgeruch um ebendiese wehte.

Er war mit einer fein geschwungenen, kalligraphisch anmutenden Schrift an ihn adressiert, allerdings klebte keine Briefmarke darauf. Als er ihn umdrehte, sah Schuldig erstaunt, dass der Brief mit pechschwarzem Wachs versiegelt war.
 

[IMG]http://i22.photobucket.com/albums/b323/mangaartist/Fanfic/belialsiegel2.jpg[/IMG]
 

Die Buchstaben, die am Rand entlangliefen und offenbar einen Namen gebildet hatten waren aus irgendeinem Grund unleserlich. Neugierig geworden, wer ihm einen solch merkwürdigen Brief schickte, brach er das Siegel und zog ein eng beschriebenes Blatt (auch aus schwefeligem Vellum, wie er beiläufig bemerkte) hervor, das in der gleichen feinen Handschrift und in englischer Sprache verfasst worden war. Da stand:
 

Hochverehrter Schuldig,
 

Ich habe mir erlaubt, Ihnen einen Besuch abzustatten.

Zu meinem großen Bedauern habe ich Sie leider nicht an-

getroffen. Ich denke jedoch, dass ich Informationen von

größter Wichtigkeit angesichts der momentanen Lage für

Sie habe. Daher überlasse ich Ihrer reizenden

Haushälterin dieses Schreiben, in der Hoffnung, dass es

Sie noch rechtzeitig erreicht.

Wie Sie sicher bereits festgestellt haben, ist unsereins seines

Lebens oder wenigstens seiner wohlverdienten Ruhe

und Anonymität nicht mehr sicher. Gewisse Individuen, leicht

zu erkennen an ihrem Hang zu gleichartigen Anzügen,

beobachten uns und sollen auch zum Angriff übergegangen

sein.
 

Hier hielt er kurz inne. Woher konnte der Schreiber dieses Briefs schon nach so kurzer Zeit wissen, dass er eine Auseinandersetzung mit diesen Männern hatte? Vielleicht Zufall... Er las weiter:
 

Selbstverständlich ist dieser Zustand absolut inakzeptabel.

Ich werde Ihr Anwesen in Kürze erneut aufsuchen, in der

Hoffnung, mich mit Ihnen über dieses Problem beraten zu

können.

Des Weiteren denke ich, dass es angebracht wäre, wenn

der junge Mann, der sein Dasein ebenfalls in ihrem Haus

fristet, ebenfalls an der Unterredung teilnähme. Es dürfte

angesichts der ausnehmend wichtigen Sachlage kein

allzu großes Problem für Sie darstellen, ihm für eine kurze

Zeit den Aufenthalt in Ihren oberen Stockwerken zu

gestatten. Auch möchte ich sie bitten, ihm angemessene

Kleidung zukommen zu lassen. Es redet sich leichter, wenn

man etwas mehr Bewegungsfreiheit hat, als ihm im Moment

durch diese fürchterliche Jacke vergönnt ist.
 

Bis dahin verbleibe ich hochachtungsvoll...
 

Während des Lesens waren Schuldigs Augen immer größer geworden. Dass die Unterschrift fehlte nahm er schon nicht mehr wahr. Er war bereits aufgesprungen und auf dem Weg zum Zimmer seines Dienstmädchens.

Er klopfte zwar, wartete aber nicht bis er hereingebeten wurde sondern riss die Tür derartig gewaltsam auf, dass sie fast aus den Angeln fiel. Als er sein Dienstmädchen an den Schultern packte und auf sie einbrüllte, war sie so erschreckt, dass sie anstatt zu antworten nur abwehrend die Arme hob und die Augen fest zukniff.

Es dauerte eine Weile bis er bemerkte, dass er auf die Art nichts erreichen würde. Seine Hände lagen nur noch leicht auf ihren Schultern. Dann besann er sich auf seine Fähigkeiten, ließ langsam Gefühle der Geborgenheit und Sicherheit in ihren Geist fließen und als er sprach war seine Stimme leise und sanft:

"Also Yuko, hast du jemanden ins Haus gelassen?"

Yuko hatte nun einen leicht abwesenden Blick, doch ihr Atem ging ruhiger.

"Nein, niemanden, wie Sie es gewünscht haben..."

"Bist du dir ganz sicher? Ist vielleicht jemand im Haus gewesen ohne dass du es gemerkt hast?"

"Nein, Sir, absolut unmöglich. Die Hunde hätten angeschlagen..."

"Hast du jemandem erzählt, dass Farfarello hier lebt? Dem Fremden, der an der Pforte war?"

"Nein Sir. Welchen Fremden meinen Sie? Es war niemand da seit Sie fort gegangen sind."

Schuldig verlor die Geduld mit ihr. Er fuchtelte mit dem Brief vor Yukos Nase herum.

"Welcher Fremde Yuko?! Der, der dir diesen Brief gegeben hat! Er schreibt es sogar hier! Was ist nur los mit dir?!"

Sie betrachtete das Pergament kurz.

"Tut mir leid, Sir. Hier war niemand. Sie müssen sich irren..."

Schuldig ließ sie los und starrte sie ungläubig an. Der Fremde war hier gewesen, hatte mit ihr gesprochen. Daran bestand kein Zweifel. Aber sie konnte sich nicht daran erinnern. Was hatte er mit ihr gemacht? Und vor allem: WER war er? Eines war jedenfalls klar. Schuldig würde keine Minuten ruhen, ehe er diesen Fragen auf den Grund gegangen war.
 

* * *
 

Obwohl der Verkehr im Zentrum Tokyos an diesem strahlenden Sommermorgen vor drei Jahren nicht zäher floss als sonst, kam Schuldig fast eine ganze Stunde zu spät.

Brad bekam einen seiner gefürchteten Schreikrämpfe, als er dessen Büro betrat, und schien sich nie mehr beruhigen zu wollen.

Schuldig stellte auf Durchzug und lächelte Brad nur um Verzeihung heischend an. Brads Brüllerei war mit der Zeit zu einer Art ganz persönlichem Begrüßungs-Ritual zwischen ihnen geworden. Aus den wenigen Worten, die einigermaßen verständlich neben undefinierbaren Lauten aus Brads Mund drangen, entnahm er, dass Brad "Oracle" Crawford in einer seiner Visionen gesehen hatte, dass sich Schuldig wie so oft verspäten würde. Deshalb war er bereits in Rage, kaum dass ihr Telefonat beendet war.

Schuldig wartete gelassen und immer noch lächelnd, bis sich Crawford heiser geschrieen hatte und sich anschließend wie üblich einen Beruhigungstee kochen würde.

Soweit kam es diesmal aber nicht, denn knapp fünf Minuten nach seiner Ankunft klopfte ein brutal wirkender, riesiger Mann mit einer stark blutenden Platzwunde an der Stirn an der Bürotür und führte dann Farfarello herein.

Dieser steckte noch in seiner Zwangsjacke, warf Brad und Schuldig einen gleichgültigen Blick zu und ließ sich dann umstandslos auf dem kleinen ledernen Zweisitzer nieder, der in der hinteren Ecke des Büros stand. Brad hatte wohl beschlossen, es für heute gut sein zu lassen. Er seufzte und massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen.

"Gut, wenn wir jetzt endlich alle da sind, können wir ja mit der Besprechung beginnen, nehme ich an" sagte er nach einer kurzen Pause.

"Kommt bitte mit in den Konferenzsaal..."

"Einen Moment noch" bat Schuldig, ging zu Farfarello und befreite ihn mit schnellen, geübten Bewegungen aus seiner Zwangsjacke.
 

Der Raum, den Crawford als ,Konferenzsaal' bezeichnet hatte, war, nüchtern betrachtet, nur eine bessere Putzkammer, die fast zur Gänze von einem monströsen dunklen Eichentisch mit in der Mitte eingelassenem Overhead-Projektor eingenommen wurde.

An einem Ende saß Nagi Naoe, der Computerspezialist und einzige Japaner bei ,Schwarz', und hämmerte mit atemberaubender Geschwindigkeit auf die Tastatur des vor ihm stehenden Notebooks ein. Theoretisch hätte er seiner Finger dazu gar nicht benötigt, denn er besaß die seltene Gabe der Telekinese. Das bedeutete, dass er Gegenstände nur durch seinen Willen bewegen oder sogar zerstören konnte.

Crawford setzte sich ihm gegenüber, während Schuldig und Farfarello nebeneinander an der langen, der Tür zugewandten Seite des Tisches Platz nahmen.

Schuldig hatte dem Iren, nachdem er ihm seine Zwangsjacke abgenommen hatte, seine Messer wieder gegeben. Jetzt begann Farfarello, phantasievolle Muster ins Holz zu ritzen. Das brachte ihm einen bösen Blick von Crawford ein, der sich aber ohne entsprechenden Kommentar Nagi zuwandte.

"Können wir anfangen?"

Nagi hörte auf zu tippen, warf noch einen kurzen Blick auf seinen Monitor und nickte dann. Er klappte sein Notebook geräuschvoll zu und sah den Engländer abwartend an.

Brad räusperte sich:

"So, wie ihr ja bereits wisst, hat Takatori wieder Arbeit für uns. Tatsächlich handelt es sich dabei um den größten Auftrag, seit wir für ihn arbeiten."

Schuldig wurde hellhörig und beugte sich etwas nach vorne.

"Takatori ist im Besitz eines für ihn äußerst wertvollen Gegenstands -"

Brad drückte auf eine kleine Fernbedienung, woraufhin der Overhead-Projektor zum Leben erwachte und ein Bild auf die gegenüber liegende Leinwand projizierte. Darauf war ein filigranes, silbernes Objekt zu erkennen, das auf Schuldig den Eindruck machte, als sei es der Entwurf eines äußerst exzentrischen Uhrmachers.

Brad fuhr fort:

" - oder vielmehr WAR er in seinem Besitz. Vor zwei Tagen wurde es aus seinem Safe entwendet. Offenbar war dieser Diebstahl von langer Hand geplant und wurde von absoluten Profis durchgeführt. Wir vermuten, dass es sich dabei um einen strategischen Schachzug eines seiner politischen Gegner handelt, sicher ist hingegen nur die Tatsache, dass wir es unter allen Umständen zurückbringen müssen - "

"Warum ist ihm dieses Ding denn so verdammt wichtig?" wurde er von Schuldig unterbrochen.

"Ich meine, es sieht zwar aus als ob es nicht gerade billig war, aber Takatori schwimmt doch im Geld..."

Crawford zog die linke Augenbraue hoch, ein unverkennbares Anzeichen dafür, dass ihn die Unterbrechung verstimmt hatte.

"Er will, dass wir es wieder beschaffen, mehr brauchst du nicht zu wissen."

"Seit wann übernehmen wir denn Takatoris Botengänge?"

Brads Augenbraue zuckte gefährlich. Nagi ging vorsichtshalber schon mal in Deckung, aber das Donnerwetter, das er erwartete, brach nicht aus. Stattdessen starrte der Engländer wieder das Bild an und redete einfach weiter als sei er nie unterbrochen worden.

"Soweit wir wissen, befindet es sich momentan auf dem Weg nach Osaka, und zwar in den Händen von so genannten ,Transporting Agents'. Nagi konnte einiges über sie herausfinden. Wenn du uns bitte deine Ergebnisse mitteilen würdest?" wandte er sich an den jungen Computerspezialisten.

Auf Brads auffordernde Geste hin verband dieser seinen Laptop mit dem Projektor und klappte den PC auf. Dann gab er einige Befehle ein und auf der Leinwand erschien das Bild eines Mannes, der selbst auf dem Schwarz-Weiß-Foto riesig wirkte.

Brad nahm Platz und Nagi setze den Vortrag fort.

"Wir haben es mit drei Agents zu tun. Das hier ist der Erste, sein Name ist Ryudou ,Undead' Hishiki. Er gehörte früher zu den ,Ultimate', einer berüchtigten Gang, die den Yakuza kaum nachsteht, und hat mindestens sieben Menschen auf dem Gewissen. Trotzdem ist er nicht vorbestraft. Seinen Beinamen ,Undead' hat er nicht umsonst, denn er ist schwer zu verletzen und unmöglich endgültig loszuwerden. Im Grunde ist er ein hirnloser Schläger, aber er ist sehr nachtragend. Die beste und sicherste Strategie ist, ihn als Ersten auszuschalten und zwar, indem man ihn ins Land der Träume schickt. Zudem wäre es von Vorteil, wenn er euch dabei nicht zu Gesicht bekommt."

Nagi drückte eine Taste und das Bild von Hishiki verschwand und machte dem einer hübschen, jungen Frau mit kurzen Haaren Platz.

Schuldig stieß einen leisen, bewundernden Pfiff aus.

"Himiko ,Lady Poison' Kudou. Ihr harmloses Äußeres täuscht, sie stellt sogar eine größere Gefahr dar als Hishiki. Sie ist kein Nahkämpfer wie er sondern greift ihre Gegner aus der Ferne an. Zu diesem Zweck trägt sie sieben ihrer Spezial-Parfüms bei sich. Welche genau sie diesmal dabei hat konnte ich nicht herausfinden weil sie hunderte verschiedene besitzt. Allerdings scheint sie Favoriten zu haben. Zum einen wäre da das Feuerparfüm. Wer eine volle Dosis davon abbekommt, verbrennt innerhalb von Sekunden von innen heraus. Des Weiteren ist da noch das Retard-Parfüm, das die Degenierung des Gehirns zur Folge hat.

Ein Weiteres ist das Marionetten-Parfüm, mit dessen Hilfe sie jeden beliebigen Menschen zu ihrer Marionette machen kann, wie der Name schon sagt, und dafür sorgen, dass er sich gegen seinen Willen selbst gegen seine eigenen Verbündeten wendet.

Wenn ihr gegen sie antretet, solltet ihr also darauf achten, dass ihr nicht gegen den Wind steht und versuchen, möglichst nahe an sie heran zu kommen."

Ein weiterer Bildwechsel. Diesmal war es das verschwommene Bild einer Überwachungskamera. Es zeigte einen schlanken Mann mit schwarzem Mantel und einem breitkrempigen Hut, der zwar groß, aber nicht so riesig wie Hishiki wirkte.

"Der dritte im Bunde. Kuroudo Akabane, auch bekannt als ,Dr. Jackal'. Über ihn existieren so gut wie keine Informationen. Er kämpft vorrangig mit Skalpellen, das ist alles. Über seine sonstigen Waffen, seine Vergangenheit, seine Strategie falls er eine hat ist nichts bekannt."

Damit endete Nagis Vortrag. Beim letzten Satz hatte seine Stimme einen nörgelnden Ton angenommen. Dass er trotz seines überragenden Talents gewisse Informationen nicht beschaffen konnte empfand er als persönliche Beleidigung. Er verschränkte die Arme und schmollte vor sich hin.

Schuldigs Grinsen indes war mit jedem Wort stetig breiter geworden.

"Na, das hört sich doch nach einer Menge Spaß an" meinte er kichernd.

"Du solltest die Sache lieber ernst nehmen" sagte Brad, ohne ihn anzusehen.

"Oh, keine Sorge Brad. Ich nehme sie sogar TODernst"
 

* * *
 

Zurück in der Gegenwart erwachte Schuldig aus einem unruhigen Schlaf. Verschwommene Fetzen eines fernen Traumes trieben an seinem geistigen Auge vorbei, als er sich missmutig im Spiegel betrachtete. Er erkannte sich selbst kaum wieder, obwohl erst wenige tage seit seinem Zusammentreffen mit Akabane und dem Erhalt des beunruhigenden Briefes verstrichen waren. Zudem plagten ihn hartnäckige, drückende Kopfschmerzen, das Resultat schlafloser Nächte und ständiger, sich im Kreis drehender Gedanken.

Es war mitten in der Nacht. In etwas mehr als fünf Stunden würde er sich auf den Weg zu den Pforten von Mugenjou machen und es war sinnlos, sich bis dahin noch mal ins Bett zulegen. Er würde sowieso keinen schlaf finden. Stattdessen warf er sich seinen Morgenmantel über und ging leise in die Bibliothek hinunter. Nur weil er keinen Schlaf fand, musste er deshalb seinen Bediensteten nicht das Gleiche antun.

Um sich abzulenken begann er, längst überfällige Berichte vergangener Aufträge für ,Schwarz' endlich fertig zu stellen. Das wollte schon was heißen, denn eigentlich hasste er solchen Papierkram und drückte sich in der Regel mehr oder weniger erfolgreich davor. Konzentrieren konnte er sich nicht, dafür spukten ihm zu viele Fragen, den geheimnisvollen Briefeschreiber betreffend im Kopf herum. Bisher war er noch nicht wieder aufgetaucht und hatte auch sonst nichts verlauten lassen...
 

Der Vollmond schien durch die hohen Fenster der Bibliothek, als es an der Tür läutete. Schuldig war über seinen Berichten eingenickt und fuhr aufgrund des plötzlichen Lärms so heftig zusammen, dass einige Blätter vom Tisch gefegt wurden und zu Boden flatterten. Noch etwas orientierungslos bückte er sich, um sie wieder aufzuheben und erstarrte mitten in der Bewegung.

Wer stand um diese nachtschlafende Stunde vor seiner Tür und begehrte Einlass?

Er erwartete niemanden, soweit er wusste...

Er hörte, wie Yuko, vom Läuten geweckt, ihrer Pflicht nachkam und die Tür öffnete. Dann vernahm er ihre Stimme, wusste, dass sie nach dem begehr des Besuchers fragte. Die Tür zur Bibliothek lag nahe am Eingang und war nicht völlig geschlossen, trotzdem konnte er nicht verstehen, was der Besucher antwortete.

Langsam richtete er sich wieder auf und lauschte weiter, aber nun war nicht einmal mehr Yukos Stimme zu hören. Er wollte schon aufstehen und nach dem Rechten sehen als es klopfte und sein Dienstmädchen kurz drauf die Tür aufzog.

"Sir, ein Gast ist eingetroffen. Er wünscht, Sie zu sprechen."

Irgendwas stimmte mit ihr nicht. Sie sah Schuldig zwar geradewegs in die Augen, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass sie in Wirklichkeit durch ihn hindurch sah.

"Wer ist es?" fragte er misstrauisch.

Bevor sie antworten konnte, legte sich aus dem Schatten hinter ihr eine weiß behandschuhte Hand auf ihre Schulter. Eine samtig weiche Stimme sagte:

"Es ist gut, ich danke dir. Geh jetzt schlafen."

Auf Yukos Stirn leuchtete für den Bruchteil einer Sekunde etwas auf, gerade lang genug um das Siegel wieder erkennen zu können, aber zu kurz, um die Buchstaben zu entziffern, die es umgaben.

Dann drehte sie sich um und kehrte ohne ein weiteres Wort zu verlieren in ihr Zimmer zurück. Schuldig zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass sie sich wieder in ihr Bett gelegt hatte.

Im Türrahmen lehnte die seltsamste Gestalt, die Schuldig je gesehen hatte (mit Ausnahme einiger weniger in Shibuya).

Im ersten Moment hielt er sie für eine Frau, dann erinnerte er sich an die Stimme und schloss daraus, dass es sich wohl doch um einen Mann handeln musste.

Unter dem pechschwarzen Hut leuchteten feuerrote Haare, die sich bis zum Kinn wellten. Weil der Mann seinen Kopf nach vorn geneigt hatte, war vom Gesicht kaum mehr als der Mund zu erkennen, aber Schuldig fiel dennoch die ungewöhnlich blasse Farbe seiner Haut auf. Mit einer Hand stütze er sich auf einen langen, schwarzen Gehstock mit silbernem Knauf und ebensolcher Spitze. Unter einer schwarzen Weste trug er ein weißes Hemd mit weiten, an den Handgelenken geschnürten Ärmeln, das irgendwie antiquiert anmutete. Dazu eine schlichte schwarze Hose und geschnürte Schuhe. Alles in allem machte er einen sehr eleganten Eindruck.

Nach und nach dämmerte es Schuldig, dass es sich um denselben Mann handeln musste, der auch den fraglichen Brief verfasst hatte.

Er war so darin vertieft, sein Gegenüber ausgiebig zu mustern, dass er gar nicht auf die Idee kam, etwas zu sagen geschweige denn, seinen Gast zu begrüßen oder nach seinem Namen zu fragen.

"Willst du mich denn nicht herein bitten?" fragte der Fremde mit einer Freundlichkeit in der Stimme, die ebenso falsch klang wie eine Katze, die zu bellen versuchte.

Schuldig blinzelte und sagte einen weiteren Augenblick gar nichts. Dann wurde ihm langsam bewusst, wer da in seiner Bibliothek stand. Nach einem weiteren Moment stand er auf.

"Mit wem habe ich das Vergnügen?" Das war natürlich nur eine rein rhetorische Frage. Er tastete heimlich nach seinen beiden Waffen, die neben den Berichts-Formularen auf dem Tisch lagen. Der Andere stieß sich vom Türrahmen ab und kam zwei Schritte näher.

"Oh, verzeih. Wir wurden einander noch nicht vorgestellt."

Er zog schwungvoll seinen Hut, der bis jetzt sein Gesicht verdeckt hatte und verbeugte sich in der gleichen Bewegung.

"Mein Name ist Mad Hatter. Ich komme direkt aus She-ôl."

Als er sich wieder aufrichtete und den Hut wieder auf seine flammenden Haare setzte, verdeckte er sein Gesicht nicht mehr. Schuldig war erneut sprachlos.

Sein Gegenüber, der sich als ,Mad Hatter' vorgestellt hatte, war geschminkt wie ein Pierrot: Das Gesicht weiß, mit Ausnahme der Augen, die schwarz umrandet und darunter auf der linken Seite eine Träne und auf der rechten Seite dünne Strahlen gemalt worden waren. Skurril war gar kein Ausdruck...

"Was zur Hölle ist She-ôl?!" fragte Schuldig barsch, als er die Sprache wieder gefunden hatte. Langsam begann er zu glauben, dass es sich um einen schlechten Scherz handle.

"Genau das mein Freund..." sagte Mad Hatter, ging aber nicht näher darauf ein sondern fragte:

"Willst mich immer noch nicht herein bitten?"

Schuldig machte eine vage Geste in Richtung der Sitzgruppe. Der Gast aber ging geradewegs zum Kamin und stellte sich dicht vor das flackernde Feuer.

"Also, was willst du von mir?" Schuldig war nur selten in seinem Leben so misstrauisch gewesen wie jetzt.

"Hast du denn meine Nachricht nicht erhalten?" fragte Mad Hatter über seine Schulter hinweg.

"Sag, was du zu sagen hast, Mad Hatter! Und dann verschwinde wieder dahin wo du hergekommen bist!"

"Sag doch bitte Mad zu mir. Wir wollen die ganze Sachen nicht komplizierter machen, als sie es ohnehin schon ist."

Mad sah sich kurz um, bevor er weiter sprach:

"Ich würde mein Anliegen ungern doppelt erklären. Könntet du bitte zuerst deinen weißhaarigen Freund herbringen lassen?"

Schuldigs Gesicht brannte als er fragte:

"Woher weißt du von ihm?"

"Ich habe gute Quellen. Alles Weitere soll vorerst mein Geheimnis bleiben."

Mad lächelte und klopfte mit der Spitze seines Stocks gegen seinen zylinderähnlichen Hut.

Schuldig schnaubte, sah aber ein, dass eine weitere Diskussion zwecklos wäre und ging zur Haussprechanlage neben der Tür. Über einen Code, der eine spezielle, abhörsichere Frequenz freischaltete, bat er die diensthabenden Pfleger, Farfarello umzuziehen und ihn zu ihm zu bringen. Sie waren nicht gerade begeistert, dennoch versprachen sie, sich zu beeilen.

Mad ging währenddessen langsam an den Regalen entlang, strich mit den Fingerspitzen über die Buchrücken, zog hier und da eines heraus und blätterte darin, bevor er es wieder zurückstellte. Dabei summte er leise vor sich hin.

Schuldig beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und fragte sich insgeheim, wie lange Farfarello wohl brauchen würde, um aus dem fragil wirkenden Mad Hatter mit bloßen Händen Hackfleisch zu machen.
 

* * *
 

"Halt dir wenigstens die Hand vor den Mund" nörgelte Crawford.

Schuldig saß auf einem Stein und gähnte gerade ausgiebig. Nagi saß auf dem Rücksitz der geräumigen, schwarzen Limousine und spielte irgendein Computerspiel. Auf einem Baum in der Nähe saß Farfarello in einer Astgabel, ließ die Beine baumeln und beobachtete die Straße, die an den Felsen vorbeiführte, hinter dem sie sich versteckt hielten.

An dieser Stelle wollten sie den Truck der Transporting Agents abfangen.

"Wie lange müssen wir denn noch warten?" gähnte Schuldig und machte ein paar Dehnübungen, um die müden Glieder zu lockern.

"Können wir ihnen nicht entgegen fahren?"

Bevor Crawford einen neuerlichen Anfall bekommen konnte, meldete sich eine Stimme über ihren Köpfen.

"Sie kommen" war alles, was Farfarello sagte. Seine gleichgültige Feststellung der Ereignisse auf der Straße wäre fast ungehört geblieben, aber Nagi reagierte, etwas verspätet, und hackte sich in das GPS-System des Trucks. Nach einer weiteren Kontrolle nickte er.

"Er hat Recht. Das sind sie."

"Natürlich hat er Recht, er ist doch nicht blind!" ereiferte sich Schuldig.

"Nur halb" ergänzte der einäugige Farfarello ausdruckslos.

Crawford sparte sich jeglichen Kommentar.

"Du weißt ja, was zu tun ist, Nagi" sagte er stattdessen.

"Klar!" kam umgehend die Bestätigung und schon war Nagi flink wie ein Wiesel auf einen größeren Stein geklettert, von dem aus er die Felswand im Blick hatte, die die Straße auf der anderen Seite begrenzte. Dann schloss er die Augen und konzentrierte sich. Als der Truck nahe genug heran war, ließ er seine angesammelte telekinetische Energie frei und sprengte so einige Felsbrocken aus der Wand heraus, die die Straße auf voller Breite blockierten.

Der Truck bremste, kam ins Schlingern und prallte gegen einen der großen Steine. Beißender Rauch kringelte sich aus der Motorhaube.

Phase eins ihres Plans war geglückt. Nun wurde es kritisch.

Inzwischen stand ,Schwarz' gut sichtbar auf der anderen Seite und wartete darauf, dass die Insassen des Trucks aussteigen und ihnen entgegentreten würden.

Nichts geschah.

Nach einer Weile wurde Schuldig des Wartens überdrüssig.

"Na gut, wenn die so schüchtern sind, dann machen eben wir den ersten Schritt."

Zusammen mit Farfarello und Nagi ging er auf die Fahrertür zu.
 

Crawford blieb nachdenklich zurück. Er traute der Sache nicht. Es war zu einfach gewesen...

Gerade, als er seine Bedenken mit einem Kopfschütteln abtun und sich in Bewegung setzen wollte, um den anderen zu folgen, überkam ihn eine seiner Visionen.
 

Farfarello streckte gerade die Hand nach dem Türgriff aus, in der anderen Hand ein zum Angriff erhobenes Messer. Schuldig und Nagi standen hinter ihm und schauten ihm gespannt über die Schulter.
 

Crawfords Gesicht nahm einen panischen Ausdruck an. Er erkannte ihren Fehler, aber noch war sein Geist in der Vision gefangen.
 

Die Tür öffnete sich, Farfarello hob sein Messer, Schuldig seine Pistole.
 

Der Bann löste sich und Crawford begann, laut und hektisch nach den dreien zu rufen, versuchte, sie zu warnen.
 

Schuldig und Nagi sahen zu ihm hin und versuchten, zu enträtseln, was er von ihnen wollte. Farfarello hatte es inzwischen geschafft, die klemmende Tür des Trucks ganz aufzuziehen und nun starrte er das Ding an, das da statt des erwarteten Fahrers auf dem Sitz lag.

"Scheiße."

Die beiden anderen fuhren herum und endlich verstanden sie, was Brad von ihnen gewollt hatte.

Es war eine große, kompliziert aussehende Bombe und auf ihrem roten Display lief gerade der Countdown ab.
 

00:03
 

"Den Roten oder den Blauen?" fragte Farfarello lakonisch.
 

00:02
 

Schuldig erwachte aus seiner Starre und packte Farfarello am Arm ,um ihn herumzuzerren.
 

00:01
 

Crawford wandte den Blick ab.
 

00:00
 

Die Welt versank in einem Meer aus Flammen und umherzischenden Metallteilen.
 

Etwa eine Meile entfernt, oberhalb der Felswand, ließ Hishiki das Fernglas sinken. In den Gläsern seiner dunklen Sonnenbrille spiegelte sich der gewaltige Feuerball, der über dem explodierenden Truck aufstieg. Eine Sekunde später drang der alles übertönende Knall an sein Ohr und ließ den dunklen Jeep, an dessen Steuern er saß, erzittern. Hinter ihm erklang ein hocherfreutes Kichern, gefolgt von einem leisen, metallischen Klappern.

"Das wars dann wohl." meinte er.

"Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Du weißt, mit wem wir es zu tun haben." wies ihn Himiko zurecht, die neben ihm saß.

"Es wäre doch auch schade, wenn sie nicht mehr zu bieten hätten." kicherte Jackal aus dem hinteren Teil des Wagens.

"Dieses Vergnügen würde ich mir nur ungern entgehen lassen."

Dann spielte er weiter mit seinen Skalpellen.

Dem war nichts hinzuzufügen.

Der Jeep setzte sich in Bewegung und fuhr oberhalb des brennenden Trümmerhaufens, der einmal ein Truck gewesen war, in Richtung Osaka davon.
 

Brad starrte das brennende Wrack fassungslos an. So eine Explosion konnte niemand überlebt haben, das war ihm klar. Trotzdem weigerte sich sein Verstand, diese Tatsache zu akzeptieren. Er taumelte benommen über die Straße und machte sich heftige Vorwürfe. Hätte er doch nur die Vision früher gehabt, dann würden seine Freunde vielleicht noch leben...

Plötzlich sah er etwas auf der Straße liegen. Seine Hände verkrampften sich, als er das ehemals weiße, jetzt mit Blut durchtränkte Stirnband aufhob, das Schuldig so sehr geliebt hatte.

Crawford spürte, wie seine Augen zu brennen begannen und presste das zerfetzte Stück Stoff gegen seine Lippen. Auch wenn er es nie zugeben würde, so waren Schuldig, Farfarello und Nagi doch mit der Zeit so etwas wie eine Familie für ihn geworden.

Weder brachte er es über sich, nach ihren zerschmetterten Körpern zu suchen, noch konnte er den Anblick des brennenden Haufen Schrotts länger ertragen. Er wandte sich um und ging mit unsicheren Schritten zurück in Richtung der Limousine. Sein Kopf war wie leergefegt.

Er hörte hinter sich, wie die Wrackteile ein Stück in sich zusammenrutschten, und das Geräusch jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Er ignorierte es, so gut es ging, und wankte weiter.

Dann wiederholte sich das Zusammenrutschen.

Bevor Crawford es als Zufall abtun konnte, kam immer mehr Bewegung in das heiße Metall. Er blieb wie angewurzelt stehen.

Bestimmt nur Einbildung, sagte er sich. Geboren aus dem Wunsch, die Zeit zurückdrehen und seine Freunde retten zu können.

Um sich davon zu überzeugen, atmete er tief ein und drehte sich ein letztes Mal um.
 

Genau in dem gleichen Moment tauchte ein Hand unter einem Metallteil auf, das vielleicht ehemals eine Radkappe gewesen sein mochte und drückte es beiseite. Dann folgte ein wirrer, orangener Haarschopf und gleich danach ein äußerst ungehalten dreinblickendes Gesicht, dessen Stirn ein stark blutender, aber nicht sehr tiefer Kratzer zierte.

Kaum hatte sich Schuldig lautstark fluchend bis zur Hüfte aus den Trümmern hervorgearbeitet, als links von ihm Farfarellos Augenklappe mit dem zugehörigen Körper hinter dem Truck auftauchte. Der Weißhaarige ließ sich auf einem verkohlten Reifen nieder und klopfte mit der linken Hand seine verrußte und zerrissene Hose ab. Sein rechter Arm war am Ellbogen in einem absurden Winkel verdreht und war somit für diese Arbeit im Moment unbrauchbar, was ihn aber anscheinend nicht weiter störte.

Unterhalb von Schuldig, der sich inzwischen ganz befreit hatte, kroch Nagi aus einer Art Höhle, die er sich wohl mithilfe eines telekinetischen Schutzschildes erschaffen hatte. Er hatte, zumindest soweit Crawford das beurteilen konnte, keine sichtbaren Blessuren davongetragen.

Schulidg hatte sich den Trümmerberg hinuntergearbeitet und kam nun schnurstraks auf Crawford zu. Unterwegs löschte er mit der flachen Hand ein kleines Flämmchen, das an seinen Haarspitzen züngelte.

Bei Brad angekommen, rupfte er ihm das Stirnband aus der Hand. Nach einer eingehenden Inspektion warf er es zu Boden und fluchte noch lauter. Als er begann, vor Wut kochend darauf herumzutrampeln, mischte sich Farfarello ein, indem er von seinem Reifen aus rief:

" Du führst dich auf wie Rumpelstilzchen auf Speed..."

Schuldig schnaubte, fuhr herum, zog seine Pistole und legte auf ihn an.

"Sag das noch mal!"

"Ich denk nicht dran."

Crawford hatte seine Starre endlich überwunden und fiel Schuldig von hinten um den Hals.

"Gott sei dank, ihr lebt..." murmelte er.

Eine Sekunde später bohrte sich der Lauf von Hugin in seine Wange.

"Finger weg, du perverser alter Sack!" fauchte Schuldig.

Brad hob langsam die Hände aber er steckte die Waffen schon wieder in ihr sehr in Mitleidenschaft gezogenes Holster. Dann marschierte der Deutsche zu Farfarello, ohne Brad noch weitere Beachtung zu schenken, und machte sich daran, dessen Arm wieder in seine eigentliche Stellung zurück zu biegen und anschließend zu schienen.

"Aua." machte Farfarello ohne den Hauch von Schmerz.

Schuldig zuckte zusammen, verpasste dem schmerzunempfindlichen Iren aber gleich darauf eine Kopfnuss, obwohl das natürlich sinnlos war.

Nagi hatte sich währenddessen unbemerkt an Crawford vorbeigeschlichen, saß schon wieder in der Limousine und bearbeitete die Tastatur seines PCs.

"Das werden sie mir büßen!" schrie Schuldig gerade und betitelte Akabane, Himiko und Hishiki mit nicht druckreifen Ausdrücken.

Alles wieder beim Alten, dachte Brad erleichtert.
 

* * *



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Hakura-chan
2005-10-14T19:29:49+00:00 14.10.2005 21:29
awwwww......gefällt mir w,irklich.. *_* spannend....


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