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Bird On A Wire

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo zusammen!

ja... mich gibt es noch... *hust* Komme mir echt blöd vor, euch immer so lange warten zu lassen...

Nicht nur, dass das letzte Kapitel nun schon gute 10 Monate her ist, sondern auch, dass ich euch so über eine wichtige Sache in meinem Leben gar nicht informieren konnte. Zwar wusste ich es vor 10 Monaten schon, wollte aber noch nichts sagen, weil es noch relativ "frisch" war. Und - schwupps - sind 10 Monate rum und unser Sohn Kilian ist bereits 2 1/2 Monate alt. Schande über mein Haupt!

Da ich eine so treulose Tomate gegenüber euch bin und ihr dennoch so fantastisch mir die Treue haltet (ich bin euch unendlich dankbar!), habe ich euch diesmal ein etwas längeres Kapitel mitgebracht. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, endlich wieder hinter der Tastatur zu klemmen. Ich hoffe, dass ich das jetzt langsam wieder öfter schaffe.

Liebe Grüße und bleibt gesund!
eure yezz Komplett anzeigen

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Der Flug

Während Victor wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Wohnung lief und noch alle möglichen Dinge in seinen Koffer warf, saß Yūri entspannt auf dem Sofa in Victors und Yurios geräumigem Wohnzimmer. Makkachin hatte seinen Kopf auf seine Beine gebettet, als wäre ihm schon klar, dass bald der Zeitpunkt des Abschieds gekommen war. Etwas früher am Morgen war Yūri losgezogen und hat seinen Koffer und Phichits Hamster geholt, der während ihrer Reise auch von Yurio versorgt werden sollte. Dieser hatte zwar ein bisschen gegrummelt, dass er sich gleich um zwei Tiere kümmern sollte, aber gegen das Versprechen, etwas „Cooles“ aus Japan mitzubringen, hatte er sich dann theatralisch dazu bereit erklärt. Yūri hatte aber eh schon lange die Vermutung, dass Yurio bei solchen Dingen nur die Fassade des genervten Teenagers aufrechterhalten wollte. Allerdings fragte er sich seitdem ernsthaft, was etwas „Cooles“ sein sollte. Da setzte er aber seine Hoffnung in Victor. Immerhin kannte der seinen Bruder doch gut genug. Hoffentlich.
 

Yūri pausierte das Youtube-Video eines wissenschaftlichen Kanals, in dem erklärt wurde, was passiert, wenn man in ein schwarzes Loch fallen würde und blickte sich nach Victor um. „Vitya? Kann ich dir nicht doch irgendwie helfen? Wir müssen in einer halben Stunde los“, rief er, ohne seinen Partner sehen zu können. Von irgendwoher kam ein lautes Rumsen und ein leiser Fluch. Seufzend stand Yūri auf und ließ sein Handy mitsamt den Kopfhörern auf dem Sofa liegen. „Vitya? Alles ok?“, versuchte er es nochmal und ging langsam in Richtung des begehbaren Kleiderschranks. Durch Victors Schlafzimmer zog sich eine Spur der Verwüstung, die ihren Höhepunkt in eben jenem Kleiderschrank fand. Victor stand vor einem der großen Schränke mit den maßgeschneiderten Anzügen und rieb sich den Kopf. Kurz überlegte Yūri, einen Witz zu reißen, dass man die Beule sogar durch die lichter werdenden Haare auf Victors Kopf sehen würde. Doch diese ganze Situation wirkte so untypisch für Victor, dass er den Scherz lieber hinunterschluckte.
 

„Vitya? Alles in Ordnung?“, fragte er deshalb etwas besorgt und legte seine Hand auf dessen Schulter. Victor zuckte zusammen, als habe er gar nicht bemerkt, dass Yūri sich genähert hatte. „Ich weiß nicht, was ich anziehen soll“, gestand er dann seufzend. Yūri musste aufgrund des überraschenden und wunderlichen Geständnisses blinzeln. Victor wusste nicht, was er anziehen sollte? Sein Victor? Das konnte doch nicht sein! „Warum weißt du nicht, was du anziehen sollst?“, fragte er daher etwas dümmlich. Er selbst hatte sich für eine Jogginghose, T-Shirt und Zip-Hoodie entschieden. Immerhin saßen sie etwas mehr als 14 Stunden im Flugzeug. „Meinst du, ein Anzug wäre übertrieben?“, fragte Victor nun und ging nicht auf Yūris Frage ein. Yūri riss die Augen auf. „Anzug? Bist du irre? Zieh dir lieber was Bequemes an!“ Dabei deutete Yūri auf sich und sein Outfit. Doch Victor schüttelte den Kopf. „Nein, Любимый. Das geht auf gar keinen Fall“, damit wandte er sich wieder seinem Kleiderschrank zu. Yūri holte tief Luft und stellte sich nun vor Victor. „Ach ja, warum nicht? Wir haben einen echt langen Flug vor uns“, Yūri versuchte ruhig zu klingen, aber fürchtete, dass seine Verwirrung über die Szene langsam überhandnahm.
 

Doch plötzlich ging ihm ein Licht auf. Nicht zuletzt dadurch, dass Victor doch ein bisschen verlegen wirkte und sogar etwas rot geworden war. „Meine Familie wird dich eher komisch anschauen, wenn du im maßgeschneiderten Anzug ankommst, als im Jogginganzug. Wenn es also darum geht, brauchst du dir keine Sorgen zu machen“, er legte seine Hand beschwichtigend an seine Brust und trat einen Schritt näher an ihn heran. „Ich möchte einen guten Eindruck machen“, gestand Victor untypisch kleinlaut und schaute dabei auf das petrolfarbene Hemd in seiner Hand. Yūri liebte diese und ähnliche Farben an Victor. „Keine Sorge, Vitya“, begann er nun. „Das hast du schon. Meine Familie sieht, dass ich glücklicher bin, seit wir uns kennen. Diesen Eindruck kann kein Jogginganzug der Welt zunichtemachen.“ Dann fügte er lächelnd hinzu: „Außerdem haben wir dann noch ein paar Tage, um den guten Eindruck noch weiter auszubauen. Also mach dir keine Gedanken. Sie wissen, dass ich dich liebe und dass du mir guttust. Mehr Anforderungen an einen Partner stellen sie nicht.“
 


 

Victor blickte in Yūris braune Augen und fühlte die Wärme in ihm aufsteigen. Über die letzte Stunde hinweg hatte er sich wegen diverser Outfits verrückt gemacht und mindestens drei Mal geschaut, dass er nichts an benötigte Hygieneartikel vergessen hatte. Normalerweise war er organisiert bis in die Haarspitzen. Er war bereits so oft geflogen, dass er das Kofferpacken zugunsten der Essensvorbereitungen verschoben hatte. So ein Koffer war für ihn schnell gepackt. Normalerweise. Doch sobald seine Überlegungen angefangen hatten, in diesem Teufelskreis zu rotieren, war jegliche Vernunft und sein gesamtes Organisationstalent der Sorge gewichen, wie Yūris Eltern auf ihn reagieren würden. Yūri hatte zwar schon angedeutet, dass sie überhaupt keine Probleme hatten, dass er ein Mann war… Aber mal ehrlich, so einfach konnte es doch nicht sein, oder? Das Bild seiner Tante flackerte kurz vor seinem inneren Auge auf. Nach seinen Erfahrungen nicht. Aber es gab eben auch Menschen, die weitaus fortgeschrittener waren, als sie. Haufenweise Menschen. Genau genommen waren eher Menschen wie sie in der Unterzahl.
 

Victor holte einmal tief Luft und nickte dann. „Du hast recht, Любимый“, sagte er und beugte sich vor, um Yūri zu küssen. Eigentlich sollte es ein kurzer, dankbarer Kuss sein, doch es fiel Victor immer schwerer, sich bei Yūri zurückzuhalten. Bald hatten seine Hände Yūris Hüfte gefunden, die er forsch an sich drückte. Das Hemd, das eben noch in seiner Hand war, lag vergessen zu seinen Füßen. Doch nach einem kurzen Augenblick – oder war es doch länger gewesen? Victor hatte sich völlig im Gefühl von Yūris weichen Lippen und seinem warmen Körper an seinem verloren – drückte sich Yūri sanft aber bestimmt von Victor weg. „Vitya, wir müssen gleich los. Sonst verpassen wir den Flug“, tadelte er mit Belustigung in der Stimme. Victor wollte schmollen wie ein kleines Kind, wusste aber, dass sein Partner recht hatte. Oder sollte er ihm anbieten, den Flug auf später einfach umzubuchen? Aber Yūri freute sich sicherlich darauf, seine Familie wieder zu sehen und für solche Dinge hatten sie jede Menge Zeit. Wenn es gut lief, bis an das Ende ihres Lebens. Der Gedanke gefiel ihm.
 

„Vitya?“, fragte Yūri mit zusammengezogenen Augenbrauen und holte ihn damit zurück aus seinen Gedanken. „Ja, Любимый?“, fragte er. „Warum grinst du auf einmal so eigenartig?“ Yūri sah immer noch sehr verwirrt aus. Einen Ausdruck, den Victor sehr entzückend und niedlich fand. „Ich möchte einfach nur alt und runzelig mit dir werden, Любимый“, erklärte er. Dann gab er ihm noch einen kurzen Kuss und angelte dann nach seinem Hemd auf dem Boden. Es hatte ein paar Falten, aber im Flieger würden noch ein paar dazu kommen. Oder sollte er wirklich…? „Weißt du was? Du hast recht“, er blickte durch sein Ankleidezimmer. „Ah, da ist er.“ Mit zwei Schritten war er am entsprechenden Regal angekommen und zog einen rot-weißen Trainingsanzug heraus. Er trug ihn gerne, das Material war weich und atmungsaktiv, aber er trug ihn einfach nicht oft. Daher sah er auch nach Jahren noch ziemlich neu aus. Dann nahm er sich noch ein einfaches, schwarzes Baumwollshirt und zog sich so schnell es ging an.
 

Als er wieder zu Yūri sah, machte dieser ein merkwürdiges Gesicht. Victor legte den Kopf schief. „Stimmt etwas nicht?“, fragte er leicht besorgt. „N-nein. Gar nichts“, stotterte Yūri und räusperte sich dann. „Das ist nur ein völlig ungewohnter Anblick.“ Er grinste etwas verlegen. „Ungewohnt gut oder ungewohnt schlecht?“, hakte Victor nach, etwas besorgt, dass dieses Outfit doch nicht das Wahre war. „Ungewohnt gut, Vitya. Mit dir ist alles gut“, Yūri lächelte ihn strahlend an, dass Victor meinte, die Sonne aufgehen zu sehen. Wie er diesen Mann liebte… Er konnte es einfach nicht in Worte fassen. Doch wenn es Yūri von ihm verlange, würde er ihm die Welt zu Füßen legen. Und Mond, Sonne und gleich dazu sämtliche Sterne, Meteoriten, Planeten, Monde und was es alles sonst noch so in dieser Galaxie gab. Mit Yūri würde er keine halben Sachen machen. „Gut, dann kann es losgehen“, grinste Victor zurück, nahm Yūri an die Hand und zog ihn aus seinem Ankleidezimmer heraus. „Yuriooooooo! Dein Lieblingsbruder und seine bessere Hälfte machen sich jetzt auf den Weg!“ Er konnte sich nicht helfen, aber mit einem Mal war seine Laune hervorragend.
 

Die Laune seines Bruders hingegen schien wie immer mehr in Richtung pubertär-mürrisch zu gehen. War er in seiner Jugend auch so gewesen? Er glaube nicht. Allerdings war er in der Beziehung auch voreingenommen und könnte es sich vielleicht auch schönreden. Vielleicht sollte er dazu mal Yakov ausfragen. „Pass mir ja gut auf Makkachin auf! Und die Hamster…“, mahnte er. Die Hamster von Yūris Mitbewohner fielen ihm erst wieder ein, als er Makkachins Namen gesagt hatte und es wäre ihm falsch vorgekommen, sie nicht zu erwähnen. Phichit war durch seine Projektarbeit aktuell ja mehr oder weniger unsichtbar für Victor. Doch er wusste, dass Yūri und Phichit sich täglich schrieben und auch wenn Yūri nichts sagte, er seinen besten Freund vermisste.
 

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Bruder. „Ich habe noch einmal eingekauft. Im Kühlschrank und im Tiefkühlfach ist vermutlich genug Essen für den nächsten Monat. Außerdem ist im Portemonnaie in der Schublade noch Geld, falls du was brauchst oder möchtest. Du musst aber nicht alles ausgeben“, fügte er dann doch noch mahnend hinzu. Allerdings war er sich sicher, dass er von den 300 Dollar nichts mehr sehen würde. Yurio würde ihn bluten lassen, das war ihm schon beim Buchen der Reise klar gewesen. Doch das war für Victor ein fairer Preis dafür, dass Makkachin gut versorgt war. Denn das wäre der Fall, das wusste er einfach. Yurio war zwar gerne grummelig, liebte Makkachin aber ebenfalls. Dann verabschiedeten sie sich und Victor war ganz tapfer, als er sich seinem geliebten Hund noch einmal durch das Fell ging und ihn knuddelte.
 


 

Yūri hatte noch nie so einen theatralischen Abschied erlebt. Nicht von Yurio, natürlich nicht. Das war schnell erledigt. Aber als es dann zu Makkachin ging… Man hätte fast meinen können, dass Victor niemals wiederkam. Es war auf der einen Seite ja schon etwas süß, aber es zeigte wieder einmal deutlich den Hang von Victor, zu übertreiben. Seine eigene Verabschiedung von Makkachin fiel natürlich viel kürzer aus. Auch wenn er meinte, Yurio etwas wie „Das ist nicht euer verdammtes Baby, also benehmt euch endlich wie Erwachsene“ brummen gehört zu haben.
 

Ehe er sich versah, saßen sie dann aber samt Gepäck in Victors Auto und fuhren Richtung Flughafen. Sein ganzer Körper prickelte vor Aufregung und Vorfreude. Endlich würde er seine Familie wiedersehen. Er freute sich wirklich enorm darauf und war Victor unglaublich dankbar, dass er ihm das möglich gemacht hatte. Auch wenn es ihm immer noch unangenehm war, so ein großes Geschenk anzunehmen. Doch ihm half der Gedanke, dass auch Victor seine Familie und seine Heimat kennenlernen wollte. Wäre die Situation andersherum, hätte er vermutlich dasselbe getan.
 

Yūri blickte zu Victor, der konzentriert auf die Straße schaute, aber eine Hand auf Yūris Bein gelegt hatte. Er spürte die Wärme durch den Stoff seiner Hose und schloss kurz genießerisch die Augen. Manchmal war das Leben schon verrückt. Vor einigen Monaten hätte Yūri jeden ausgelacht, wenn dieser behauptet hätte, dass er noch im gleichen Jahr eine so tiefgreifende Beziehung führen würde. Und doch war ihm genau das passiert. Normalerweise war er etwas reservierter. Egal, was für eine Art Beziehung er zu einem anderen Menschen aufbaute, er war vorsichtig und sprang nicht einfach kopfüber ins Wasser. Doch die Beziehung mit Victor war völlig anders. Er hatte sich freudig vom 10-Meter-Brett gestürzt, ohne zu wissen, ob Wasser im Becken war. Doch er hatte nichts bereut. Natürlich hatten sie bisher auch nicht so gute Momente gehabt. Aber auch diese hatten jetzt zu diesem Moment geführt. Es kann nicht immer harmonisch sein, denn auch Streit gehörte zum Kennenlernen und Begreifen der Persönlichkeit des jeweils anderen dazu. Auch, wenn es in diesem Moment wehtut.
 

„Woran denkst du, Любимый?“, fragte Victor und holte ihn damit zurück ins Hier und Jetzt. „Daran, dass ich mich auf meine Familie freue und wie dankbar ich bin, dich an meiner Seite zu haben“, sagte Yūri und legte all die Liebe in seine Worte, die er gerade warm in seiner Brust spürte. Er sah, wie eine leichte Röte auf Victors Wangen erschien und spürte, wie er kurz sein Bein drückte. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf beide Gesichter.
 


 

Jedes Mal, wenn Victor am Flughafen war, machte sich eine leichte Unruhe in ihm breit. Und im Laufe des Check-Ins und des Boardings wurde es nicht besser. Er ist schon oft geflogen. Natürlich. Musste es wegen seiner Arbeit. Messen fanden im ganzen Land statt und manchmal traf er sich mit geschätzten Autoren bei ihnen vor Ort oder sie trafen sich irgendwo in der Mitte. Denn hin und wieder war es gut, sich auch mal persönlich zu treffen und nicht nur zu telefonieren oder sich über Videochats auszutauschen. Er hat auch schon ein oder zwei Mal Druckereien besucht, wobei sie für die Produktion eigene Mitarbeiter hatten, die sich mit den Druckereien austauschen. Doch wenn man in diesem Job arbeitet, sollte man auch mal alle Schritte gesehen haben, die so ein Buch durchläuft, bis es fertig in den Regalen der Buchläden steht. Oder im Lager eines Versandhandels, auch wenn ihm die andere Option persönlich sehr viel lieber war.
 

Er mochte fliegen nicht besonders. Im Auto konnte er selbst entscheiden. Machte er einen Fehler, war er selbst schuld. Im Flugzeug konnte er nichts tun, außer zu warten. Natürlich war das Personal des Fliegers besonders geschult und nicht jeder konnte diesen Job machen, aber ein mulmiges Gefühl hatte er trotzdem immer. Das würde er vermutlich auch niemals loswerden. Außerdem war da immer noch der Umweltaspekt. Auch wenn er natürlich wusste, dass er durchs Fliegen alleine weder etwas kaputt machte noch durch den Verzicht alles retten konnte. Aber so war das eben. Manchmal war er einfach nicht rational. Man konnte ja auch nicht immer vernünftig sein.
 

Doch dieses Mal gab es noch einen weiteren Punkt, der seinen Körper aufgeregt kribbeln ließ. Der dafür sorgte, dass er Flugzeuge im Bauch hatte. Er musste selbst über seinen Gedanken schmunzeln. Bald würde er Yūris Familie kennenlernen. Ein Gedanke, den er bisher immer wieder versucht hatte, so weit wie möglich aus seinem Kopf zu drängen. Aber langsam klappte das nicht mehr. Immerhin war es bald soweit. In etwas mehr als 14 Stunden würden sie in Japan sein und Yūris Eltern und Schwester gegenüberstehen. Er würde sehen, wo Yūri aufgewachsen war. Ob alles gut laufen wird? Oder machte er sich zu viele Gedanken? Yūris Familie würde ihn mögen. Er war gut in so etwas. Alle Leute mochten ihn. Außerdem sagte Yūri ja schon, dass seine Familie wusste, wie glücklich er ihn machte. Er atmete tief durch und stieg in den Flieger.
 


 

Außer, dass er gar nicht so sicher war, ob er das wirklich konnte. Was, wenn sie ihn doch nicht mochten. Es gab Liebe auf den ersten Blick, dann gab es sicher auch Hass auf den ersten Blick, oder? Auf dem ganzen Flug nach Japan wurde Victor bewusst, warum es ‚kalte Füße bekommen‘ hieß. Mittlerweile hatte er am ganzen Körper Gänsehaut und ihm war schlecht. Er hatte sich noch im Buchladen ein Buch für den Flug gekauft – von der Konkurrenz, wenn man sie so nennen durfte. Doch er hat Keigo Higashinos ‚The Miracles oft he Namiya General Store‘ noch nicht mal angerührt, nur sein Lesezeichen hineingesteckt. Die Beschreibung des Buches klang verlockend, aber er hatte sich nicht dazu bringen können, die Ruhe zum Lesen zu finden.
 

Yūri hingegen hatte total gelassen gewirkt. Irgendwann war er für eine Weile sogar eingeschlafen. Victor beneidete ihn ein wenig darum. Und nun – während alle anderen Passagiere um sie herum standen und darauf warteten, endlich aus dem Flieger zu kommen - saß Yūri immer noch ruhig auf seinem Platz und wartete. Victor fand diese Sorte von Menschen schon immer sehr bewundernswert. Er wusste selbst, dass es nichts brachte und man am Ende nur noch länger auf sein Gepäck wartete, doch auch er gehörte zu den Leuten, die lieber früher als später dem Rumpf des Flugzeugs entkommen wollten. Andererseits… was erwartete ihn da draußen? Den Weg nach Hasetsu mussten sie selbst antreten und trafen dort erst auf Yūris Familie. Yūri hatte auch erzählt, dass eine ungewöhnliche Kältefront über Japan sein Unwesen getrieben hatte und auch dort Schnee lag, wo es selten schneite. Kurz hatten sie Sorge gehabt, ob das mit dem Flug überhaupt so funktionieren würde. Aber auch die Landung war reibungslos verlaufen. Wenigstens etwas Gutes für Victors arg gebeuteltes Nervenkostüm.
 

Er schluckte und versuchte eine Atemübung. Tief mit der Nase ein- und dann langsam aus dem Mund wieder ausatmen. Nach der fünften Wiederholung war Victor etwas schwindelig. Das half ihm nun nicht wirklich. Mit einer Mischung aus Grauen und Erleichterung sah er, wie nun auch Yūri aufstand. Er tat es ihm gleich und Griff nach ihrem Reisegepäck, das in den Fächern über ihren Köpfen verstaut gewesen war. Wie ein Mantra wiederholte er dabei immer wieder ‚Es wird alles gut laufen. Es wird alles gut laufen‘. Doch so wirklich überzeugend klang das selbst in seinem Kopf auch wieder nicht.
 

Wie im Autopilot lief er hinter Yūri her, angelte ihr Gepäck vom Gepäckband und versuchte sich auf dem riesigen Flughafen mit all den fremden Eindrücken und Bezeichnungen in japanischen Schriftzeichen zu orientieren. Natürlich stand auch alles auf Englisch an den Tafeln, aber sein überfordertes Gehirn brauchte eine Weile, um das zu realisieren. Zum Glück fand Yūri den Stand der Autovermietung, wo sie schon vorab ein geräumiges Fahrzeug gemietet hatten. Nach einer kleinen Warnung wegen dem Wetter und einigem Papierkram, den allesamt Yūri übernahm, da er den japanischen Straßenverkehr und auch die Formalitäten besser kannte, bekamen sie den Parkplatz genannt und den Autoschlüssel übergeben. Es konnte endlich losgehen, bald würden sie in Hasetsu sein. In Yūris Heimatstadt, wo er aufgewachsen war. Wo seine Familie lebte. Genau die Familie, die er in Kürze kennenlernen würde. Frau Katsuki und Herr Katsuki. Und Schwester Katsuki. Also die gesamte Familie Katsuki. Bei der Victor für die nächsten Tage leben würde. Unter einem Dach. Victor hätte sich beinahe vor Nervosität mitten auf dem Flughafen übergeben. Das Ganze würde eine Katastrophe werden. Mindestens.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Lexischlumpf183
2023-07-06T11:55:52+00:00 06.07.2023 13:55
oh Göttin, das warten hat sich gelohnt 😂😂😂 Viktors Nervosität is zum kaputt lachen, Schwester Katsuki 🤣 ich lieg am Boden.


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