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Psycho-Pass | Ω

Wrath of the Wraith
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Es reicht wohl kaum mehr zu sagen, dass ich untröstlich bin, so lange gebraucht zu haben. Ich will gar keine Ausreden aufzählen. Diejenigen, welche ich durch die lange Wartezeit verprellt haben sollte, bitte ich, mir eine letzte Chance zu geben. Ich hoffe, dieses bisher längste Kapitel entschädigt für die lange Wartezeit und macht genug Lust auf mehr. Dieses Mehr wird denn auch garantiert rascher kommen.
Nun aber möglichst viel Vergnügen und teilt mir eure Meinung mit, wenn ihr mögt. Komplett anzeigen

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Prometheus

10. November 2118

Chiba - Kanto Region
 

Das Alltägliche an der Szenerie machte sie noch erschreckender.

Komissa-Drohnen riegelten das abseits gelegene Haus ab und wirkten auf Akane wie eine Horrorclown-Kolonne.

Sicherheitsdrohnen surrten mit flirrenden Lichtern zwischen dem Streifenwagen von Einheit 3 und dem schweren Panzerwagen der Vollstrecker umher.

Akanes Wagen hielt. Erst beim Aussteigen fiel ihr auf wie fest sie die Hände um das Lenkrad gekrallt hatte.

Zum Glück ragte der neue Inspektor, Kojirou Mitsuba, deutlich über die kleinen Japaner vor Ort hinaus.

Sie stürmte derart energisch auf ihn zu, dass alle anderen Beamten sicherheitshalber zur Seite wichen.

“Was geht hier vor? Wo sind meine Eltern”, fuhr sie ihn an als sei er persönlich Schuld an diesem Schauplatz.

“Keine Sorge, Inspektorin, es geht ihnen gut”, beschwichtigte Mitsuba mit erhobenen Händen, “Das hier ist eine reine Sicherheitsvorkehrung. Ich hatte Sie deswegen rufen lassen, weil es zum Einen um Ihre Eltern geht und wir zum Anderen annehmen müssen, dass Wraith in diese Sache verwickelt ist.“

Das kam unerwartet.

“Wiederholen Sie das”, bat Akane.

“Hier” - Mitsuba hielt ihr einen Umschlag hin - “Dies kam heute bei Ihren Eltern an. Kein Kurier, kein aktiver Scanner, nichts. Niemand hat etwas gesehen. Wir hielten es aber für besser, Ihre Eltern in eine Sicherheitseinrichtung zu bringen.”

Akane zog eine kleine, stabile Karte aus dem Umschlag. Nur eine Seite davon war in dunkelgrüner Schrift mit erneut westlichen Buchstaben beschriftet.

“Et tu, Brute”, las sie vor.

“Das ist alles, mehr nicht. Wir dachten, vielleicht können Sie uns sagen, was das bedeutet.“

“Es ist Latein”, antwortete Akane und hielt die Karte noch immer fest im Blick, “und wieder ist es Shakespeare. Das Stück Julius Cäsar. Et tu, Brute bedeutet ‘Auch du, Brutus’. Es bezieht sich auf die Szene, in der Cäsar bei seiner Ermordung in den Reihen seiner Verräter auch seinen treuesten Mann, Brutus, entdeckt. Er fragt ihn dies, weil er nicht glauben will, dass einer der Seinen ihn verraten hat.”

“Wissen Sie, was Wraith damit sagen will?“

Akane schüttelte den Kopf.

“Nein, leider weiß ich das nicht. Noch nicht. Das sind jetzt drei Botschaften, mit denen ich noch nichts anfangen kann: Erstens das Bibelzitat, dass der Maskierte in die Luft geschrieben hat. Zweitens das Shakespeare-Zitat aus Othello, das die Puppe in der Hand hielt. Und drittens jetzt diese Nachricht. Langsam frage ich mich, ob Sie mir tatsächlich etwas sagen oder einfach nur ihre Spuren vernebeln wollen.”

“Wir haben hier alles im Griff. Kommen Sie, Tsunemori-san. Fahren wir zu dem Sicherheitszentrum, in dem man Ihre Eltern untergebracht hat. Vielleicht möchten Sie sich vergewissern, dass sie wohlauf sind.“

Er fuhr sich durch das kohlschwarze kurze Haar, das fast so ordentlich gekämmt war wie das von Vollstrecker Teppei, doch in der Stirn waren bei Mitsuba immer einige Strähnen, die stur abstanden.

“Ja, das möchte ich sehr gern. Fahren Sie voraus, Mitsuba-san.”
 

Hikaru no Yuu - Correctional & Safety Center
 

Beim Anblick dieses Gebäudes war Akane unangenehm an die Internierungseinrichtungen für latente Verbrecher erinnert, die sie bereits gesehen hatte.

Der Besucherraum war überfüllt mit Menschen, die vor etwas Zuflucht suchten, ihren getrübten Farbton therapieren oder einfach einer Trübung vorbeugen wollten.

Akane suchte noch die Menge nach ihren Eltern ab, als-

“A-chan!”

Sie blickte in die Richtung, um gerade noch jemanden auf sich zustürmen zu sehen und schon wurde sie von zwei Armen umklammert und hatte einen urvertrauten Geruch von Lavendel in der Nase.

“Ma-Mama.”

Sie presste es hervor, da sie sich auf das Atmen konzentrieren musste. Obwohl Akiko Tsunemori einen ähnlich filigranen Körperbau wie ihre Tochter hatte, verfügte sie über erstaunliche Kräfte.

Insbesondere dann, wenn sie sich um ihre Tochter sorgte.

“Ach, Akane-chan, wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht. Geht es dir gut?“

Das brachte Akane zum Schmunzeln.

“Du fragst, ob es mir gut geht? Wie ist es mit euch?“

“Wie soll es uns schon gehen? Es ist bloß ein einzelner Brief gewesen, dieses ganze Aufhebens um unsere Sicherheit ist doch vollkommen unnötig”, wetterte jemand aus dem Hintergrund.

Papa… wie er leibt und lebt, dachte Akane.

Shoichi Tsunemori bahnte sich einen Weg durch die Menge an die Seite seiner Frau.

Die Menschen, die ihn sahen, wichen ihm bereitwillig aus.

Zum Einen war ein blonder Japaner etwas sehr Seltenes, zum Anderen strahlten seine Augen - trotz der leichten Falten um sie herum - von enormer Klugheit.

Eine Klugheit, die andere Menschen einschüchtern konnte.
 

“Es tut mir ausgesprochen leid für die Unannehmlichkeiten”, entschuldigte sich Mitsuba mit einer tiefen Verbeugung, “Wir dachten, dass Wraith Ihre Frau und Sie selbst als Köder für Akane würde benutzen wollen.“

“Glauben Sie”, fragte Akanes Vater, “Nach allem, was ich von ihnen gelesen und gehört habe, denke ich nicht, dass Wraith Köder auslegen oder Geiseln nehmen würde, um jemandem zu schaden - auch dann nicht, wenn dieser jemand ihr erklärter Gegner ist.“

Das denke ich auch nicht, pflichtete Akane ihrem Vater im Stillen bei.

“Die Ermittlungen in dieser Sache werden sicher nicht lange dauern. Ich gehe davon aus, dass Sie in etwa zwei Wochen spätestens in Ihr Haus zurückkehren können”, erklärte Mitsuba, “Ich lasse Sie jetzt mit ihrer Tochter allein, es gibt noch einige Formalitäten zu klären.“

Damit entfernte er sich bereits und Akane - die gerade von ihrer Mutter zu einem der Tische geschleift wurde - blickte ihm fast flehend nach - denn sie wusste, was nun kam:

Eine nicht enden wollende Flut von Fragen über ihre körperliche und psychische Gesundheit, über Bestand und Sauberkeit ihrer Wäsche, bis zu Fragen, ob sie auch genug esse und schlafe - das wirke nämlich beides nicht so - und ob sie auch genug Freunde unter ihren Kollegen hätte.

Akane konnte ein wenig mitfühlen wie es einem latenten Verbrecher im Polizeiverhör erging.

Und immer wenn sie ihren Vater - um Hilfe bittend - anblickte, bekam sie von ihm, wie früher schon, diesen entschuldigenden Blick, der sagte:

‘Was soll ich machen? Wenn ich sie stoppe, dann wird sie wieder sauer und wirft mir vor, ich kümmerte mich zu wenig um unsere Tochter.’

Das alles begleitet von einem mentalen Schulterzucken.

Als ihre Mutter endlich pausierte, um Luft zu holen, ergriff Shoichi Tsunemori das Wort.

“Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten.”

Akane unterdrückte den Drang, vor Lachen zu prusten, als ihre Mutter ihren Mann dafür bitterböse anfunkelte.

“Du musst nicht Rousseau zitieren, um vom Thema abzulenken”, warnte sie.

“Machen deine Ermittlungen zu dieser Bande denn Fortschritte“, erkundigte sich ihr Vater und lenkte damit erfolgreich die Aufmerksamkeit seiner Frau auf etwas Anderes als das Wohlergehen ihrer Tochter.

“Bisher bin ich noch nicht weiter gekommen. Sie haben eine weitere Flasche geschickt und ein Shakespeare-Zitat beigelegt, aber-”

“Shakespeare? Ist denn dann die Botschaft, die wir bekommen haben, nicht auch von Wraith”, fragte Akanes Mutter.

“Ja, davon gehen wir aus. Ich habe diese Zeichen und Spuren alle vor mir und trotzdem weiß ich nichts damit anzufangen. Ich kann nicht sagen, ob sie mich mit diesen Hinweisen zu einem bestimmten Ziel oder doch bloß in die Irre führen wollen.”

“Das erinnert mich doch schwer an deinen alten Freund Kintaro.”

Akane sah ihren Vater fragend an.

“Sag bloß, du hast den seltsamen Jungen schon vergessen, den du damals eine Weile besucht hast, als du gerade einmal zehn warst.“

Erkenntnis flammte in Akanes Augen auf.

“Du meinst Taro. Ich habe ihn nie bei seinem vollen Vornamen genannt, deshalb war ich verwirrt. Und wieso nennst du ihn seltsam? Doch nicht nur, weil er an Albinismus litt.“

“Nein, deshalb gar nicht”, antwortete Akanes Vater, “Seltsam, weil niemand wusste, wo er herkam und was mit seinen Eltern passiert war. Seltsam, weil er bereits in so jungen Jahren ein latenter Verbrecher gewesen war.”

“MIr hatte er erzählt, dass seine Eltern von Scannern als latente Verbrecher erkannt worden waren und man sie ihm danach weg genommen hat. Er selbst kam danach in die Internierungseinrichtung, in der wir ihn dann besucht hatten.”

“Worauf ich hinaus wollte: Hatte er dir früher nicht auch immer Geheimcodes und Schatzkarten geschrieben? Und du solltest anhand der Hinweise dann entscheiden, ob dich etwas Gutes oder Schlechtes erwartet.”

“Ja, jetzt, wo du es sagst. Du willst aber nicht mutmaßen, er könne hinter Wraith stecken. Nach dem, was ihr mir erzählt habt, ist Taro nicht mehr am Leben.”

“Nun, wir wissen, dass er an Bord eines Schleppers ging, der Sibyl-Flüchtlinge nach Südkorea bringen sollte.

Das Schiff kenterte aber während der Überfahrt. NIemand überlebte”, wiederholte ihr Vater seine Erkenntnisse.

“Wir dachten, dass jemand bei Wraith deinen Freund Taro gekannt haben könnte”, erklärte Akanes Mutter.

“Möglich”, stimmte Akane zu und lächelte ihre Eltern an, “Erst einmal bleibt mir wohl nichts anderes übrig als die Spuren von Wraith zu entschlüsseln und zu sehen, wohin sie mich führen.”
 

Inspektor Kojirou Mitsuba sprach währenddessen mit einem Mann an der Essensausgabe.

“Dieser Ort gilt als sicher. Ich möchte, dass ihr diese Sicherheit pflegt, ihr aber nicht allzu sehr vertraut. Wenn also irgendetwas Verdächtiges geschehen sollte, wollen wir vom Ministerium unverzüglich darüber informiert werden.”

Er reichte dem Mann über die Theke hinweg seine Karte.

Der Bedienstete konnte beim Entgegennehmen der Karte zwei an deren Unterseite befestigte, ovale Objekte erfühlen - Pillen.

“Hör zu”, befahl Mitsuba so leise, dass nur der Mann ihn hören konnte, “Sorge dafür, dass dieses Pulver in das Essen der zwei gelangt. Und gib mir Bescheid, wenn das getan ist.”

Der Mann nickte und steckte die Karte ein, so dass die zwei daran befestigten Pillen auf den Bildern der Kameras nicht auftauchten.

“So, wir können dann wieder zurück”, erklärte Akane, als sie an Mitsubas Seite kam.

“In Ordnung. Ich werde mich vorerst zurück zum Haus Ihrer Eltern begeben und die Spurensicherung unterstützen, wenn das für Sie in Ordnung geht.“

“Ja, das wäre sehr nett von Ihnen. Haben Sie vielen Dank für die Hilfe, Mitsuba-san.”

Akane hatte sich gerade von ihren Eltern verabschiedet (und ihrer Mutter einige tausend Male versichert, dass sie auf sich aufpassen würde) und war wieder bei ihrem Wagen angelangt, als sich über ihren Communicator Kunizuka meldete und nur drei Wörter sagte, die Akane alles verrieten, was sie wissen musste:

“Ich habe ihn.“
 

~
 

Yayoi Kunizuka starrte auf ihren Monitor und die Stadtkarte, die dort angezeigt wurde. Ihr Blick war auf das kleine gelbe Warndreieck geheftet, das eine Fehlermedlung bei einem kymatischen Scan anzeigte.

Sie wusste, woher diese Fehlermeldung kam. In diesem Gebiet hatte sie sich früher aufgehalten, als sie noch keine Vollstreckerin gewesen war.
 

Tokyos Hotspot für die Underground Rave-Szene war immer schon ein lärmendes Pflaster, auf das sich Menschen für gewöhnlich nur dann trauten, wenn sie ohnehin bereits Rebellen waren oder sich einmal ganz besonders rebellisch fühlen wollten.

Im Untergrund herrschte ein selbst für die an Menschenfülle gewöhnten Japaner erdrückendes Korsett aus hunderten enthemmten Menschen, zuckenden Lichtern, heißer, feuchter Luft und den immer wieder in Mark und Bein rammenden Bässen.

Rina Takizaki betrat den kleinen Aufenthaltsraum hinter der Bühne und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

“Also, wenn ich nicht wüsste, dass es für die Leute ist: Ich würde mir diese Hitze nicht freiwillig antun.”

Sie blickte auf, weil niemand ihr antwortete und fand ihre Assistentin, Ayame, starr vor Schreck.

“Aya, was ist los?“

“Rina, ich glaube, wir haben ein Problem”, presste sie hervor und deutete auf den kleinen Innenraum-Balkon, auf dessen Geländer ein junger Mann lehnte, der eine Maske mit einem breiten, grinsenden Mund trug.

“Wie unhöflich”, schalt er wenig ernsthaft, “Wolltest du nicht eher sagen ‘Wir haben Besuch’?”

“Ihr seid Wraith”, stellte Rina fest und blickte zu dem jungen Mann mit der grinsenden Maske.

“Was wollt ihr?“

“Jemand möchte mit euch reden”, informierte der grinsende Geist, als noch ein Zweiter durch einen bis eben noch veschlossenen Durchgang kam:

Ein Mann in schwarzem Biker-Anzug mit roten Flammen und passendem Helm.

“Wie… wie seid ihr hier herein gekommen?“ Ayame bemühte sich darum, das Zittern ihrer Stimme zu verbergen.

“Zum Glück”, erklärte der Mann mit dem Helm, als er sich ein Glas aus einer auf dem Tisch stehenden Karaffe einschenkte, “seid ihr nicht die einzigen, die geheime Orte im Untergrund kennen.“

Er schwenkte den Inhalt seines Glases.

“Ihr wisst schon, dass das, was ihr hier trinkt, ebenso gut als Kanalreiniger verwendet werden könnte.“

“Das ist Bourbon”, protestierte Rina.

“Ja, aus Hyper-oats gepanschter Bourbon. Wir haben euch ein Angebot zu machen. Sollten wir erfolgreich sein, könnte es in diesem Land schon bald wieder richtigen Bourbon geben.”

“Ihr wollt Sibyl zerstören, das ist nichts Neues”, spottete Rina, “Glaubt ihr vielleicht, ihr seid die ersten, die das System zerstören wollen? Das haben schon viele vor euch versucht, aber es ist nicht zu schaffen.”

“Nein, jedenfalls nicht, indem man Molotow-Cocktails auf Straßenscanner wirft.”

“Das machen wir nicht mehr. Wir wollen keinen Ärger mehr mit dem System, sondern nur noch Musik machen. Wir werden euch also nicht helfen. Ihr vergeudet eure Zeit.”

Der Maskierte wandte sich von Rina und Ayame ab und betrachtete ein holografisches Fenster, das eine unberührte Graslandschaft zeigte.

“Einige Ereignisse scheinen euch entgangen zu sein. Wusstet ihr, dass die Zahl der an völliger Apathie Erkrankten sich in den letzten zwei Jahren verdreifacht hat? Das Sibyl System leugnet die Existenz des Eustress-Defizit-Syndroms, aber es existiert. Durch die permanente Reizarmut entwickelt sich der Mensch emotional so weit zurück, dass sich irgendwann sein eigener Körper nicht mehr selbst am Leben erhalten kann.

Dazu kommt, dass das Sibyl System vor einer Revolution steht. Bald schon könnte ein kollektiver Psycho-Pass eingeführt werden. Demnach könnten sogar Individuen, die einen hellen Farbton haben, als Mitglieder einer fragwürdigen Gruppe wie latente Verbrecher vollstreckt werden.

Damit hätte Sibyl das Mittel in der Hand, alle schädlichen oder bloß zweifelhaften Elemente aus der Gesellschaft zu tilgen, weil niemand mehr sicher sein könnte.”

“Dann solltet ihr euch wohl eher Sorgen um eure eigene Haut machen”, entgegnete Rina, ehe sie das Glas Hyper-oats-Bourbon in einem Zug leerte.

“Stimmt, zunächst wird Sibyl es auf solche Gruppen wie uns abgesehen haben. Aber fragt euch wie lange es wohl dauert, bis auch ihr, die ihr unautorisierte Musik verbreitet, zum Ziel werdet. Das Sibyl-System wird erst zufrieden sein, wenn es alles vollkommen kontrollieren kann - sogar das Auftreten und Verschwinden aller, die die Gesellschaftsordnung stören oder zerstören wollen.“

Rina legte nachdenklich die Faust gegen ihr Kinn.

“Wir werden nicht für euch den Kopf hinhalten”, stellte sie klar.

“Das verlangt auch niemand”, erklärte der Maskierte, “Wir haben ein größeres Projekt in Planung und brauchen Personen mit euren Fähigkeiten. Personen, die einen Zugang zum Internet herstellen können, den Sibyl nicht überwachen kann. Personen, die sich noch mit analoger Verbindungstechnik auskennen und - mit dem richtigen Material - Kabel verlegen und Generatoren anzapfen können.”

“Und ihr habt das Material, das dafür nötig wäre, nehme ich an.“

“Haben wir. Eine freundliche Spende aus Sibyls letztem Material-Konvoi. Wir stellen die Ausrüstung, ihr sorgt für die Umsetzung. Was sagt ihr?“

“Rina, nein”, flehte Ayame, “Wir wandern alle in Isolationshaft, wenn wir erwischt werden.“

“Wenn es stimmt, was er sagt”, meinte Rina, “könnte das früher oder später sowieso auf uns alle zukommen. Ich habe es satt, mich wie eine Ratte im Untergrund verstecken zu müssen, Ayame. Aber sagt mal” - sie wandte sich wieder dem Anführer zu - “Was macht ihr gegen das Amt für öffentliche Sicherheit? Denkt ihr, die wissen nicht, dass ihr euch gerade hier aufhaltet?“

“Natürlich wissen sie das und das sollen sie auch”, gab der Mann durch den Stimmverzerrer zurück, “Sie werden aber nicht zugreifen - noch nicht. Da sie unbedingt wissen wollen, was wir vorhaben, würde ihnen ein Zugriff nichts bringen. Sie werden beobachten, wohin wir gehen und daraus ein Muster abzuleiten versuchen. Wir haben sie einmal ausgespielt. Das werden wir bald wiederholen. Die Frage ist: seid ihr dabei?“

Rina setzte sich an den Tisch und schenkte nach. Dann winkte sie den Mann mit dem Finger zu sich.

“Also, was genau ist das für ein Projekt?”
 

~
 

MWPSB - Einheit 1
 

“Kunizuka-san”, grüßte Akane, als sie in das Büro kam. Mit einem Blick sah sie an der angespannten Haltung der Vollstreckerin, dass diese nur zu gern los schlagen würde.

Yayoi deutete auf das Warnsymbol.

“Sie halten sich dort schon eine halbe Stunde auf. Vielleicht nicht nur der Mann mit dem Helm, sondern auch die anderen beiden. Wir waren doch schon einmal dort. Das wäre die Gelegenheit, Inspektorin.“

“Steckt dahinter wirklich nur der Wunsch, Wraith zu fassen oder auch der, alte Rechnungen zu begleichen”, fragte Akane und Yayoi wandte den Kopf ab, um ihr Erröten zu verbergen.

“Verzeihen Sie, wenn ich zu direkt war. Aber ich halte es für zu früh. Wenn wir auch alle drei festnehmen können, ist Wraith doch so gut organisiert, dass sie auch ohne Anführer handlungsfähig bleiben. Ich möchte lieber weiter beobachten, wohin er geht, welche Orte er aufsucht. Selbst eine Festnahme würde uns nicht verraten, was ihr nächstes Ziel sein wird. Nicht einmal ein Memory Scoop würde da helfen, weil er nur die Erinnerungen eines Menschen visualisiert, aber nicht seine Absichten.”

“Sie haben Recht. Verzeihen Sie, dass ich zunächst anderer Ansicht war, Inspektorin.”

“Das muss Ihnen nicht unangenehm sein, Kunizuka-san. Wenn irgendjemand - egal ob Inspektor oder Vollstrecker - eine Idee hat, die er für besser hält, als meine: nur raus damit. Ich wäre doch dumm, wenn ich nicht bereit wäre, von denjenigen zu lernen, die schon länger hier sind als ich.“

Yayoi wandte den Blick vom Bildschirm ab und betrachtete die Lebenslinien ihrer rechten Handfläche.

“Ich weiß schon gar nicht mehr, ob ich überhaupt noch so würde abdrücken können wie damals, sollte ich sie noch einmal wiedersehen”, sagte sie mehr zu sich selbst.

“Man kann nicht für immer von seinem Wunsch nach Vergeltung leben. Das hat Kogami-san einmal gesagt. Und er wird es festgestellt haben, nachdem er Makishima getötet hatte.”

“Ja, das passt zu ihm. Gibt es denn schon Neuigkeiten zu dem Mann, den er jagt?”

Das fragte Yayoi mit vorgehaltener Hand. Nach ihrem Geständnis an Mika hatte Akane die Ereignisse im Safe House den anderen Mitgliedern von Einheit 1 erzählt, jedoch unter der Bedingung, dass sie dieses Wissen vertraulich behandeln mögen.

“Bisher noch nicht. Ich werde versuchen, ihn bald zu kontaktieren. ”

“Unglaublich, dass es jemanden gibt, der in der Lage war, Cyborg-Klone von sich selbst herzustellen. Wir hatten in dem Glauben gelebt, dass mit der Entstehung des Sibyl-Systems Cyber-Kriminalität der Vergangenheit angehören würde - wie naiv.”

“Wer immer dieser Subadachan auch in Wirklichkeit ist, er hat einiges geleistet, wenn nicht einmal mehr Sibyl sagen kann, wer das Original ist und wer die Fälschung. Kunizuka-san, erstellen Sie doch bitte schon einmal ein vorläufiges Raster, wo der Mann von Wraith bereits überall war.”

“Wird erledigt, Inspektorin.”
 

~
 

“Kann ich mich darauf verlassen?”

Ginozas Frage hallte von den Wänden des schmalen Ganges wider. Er und Teppei lehnten an gegenüberliegenden Wänden in identischen Posen - die Arme verschränkt.

“Was meinst du?“

“Kann ich mich darauf verlassen, dass du die Sache mit Kogami für dich behältst? Das Sibyl-System muss nicht noch mehr wissen, als es ohnehin schon tut.“

Teppei biss die Zähne zusammen, als ein berstendes Geräusch durch seine Erinnerung peitschte. Nur Sekunden zuvor hatte er damals den extrem hohen Kriminalkoeffizienten gesehen und nach Vorgabe gefeuert. Erst später wurde ihm klar, dass er nicht irgendeinen Verbrecher erschossen hatte, sondern seine eigene Inspektorin. Es verging kein Tag, an dem diese Bilder ihn nicht verfolgten.

“Du tust gerade so als sei ich ein mieser Verräter. Kogami war auch mein Kollege”, beschwerte er sich, “Meinst du, ich würde mich nicht wie ein mieser Verräter fühlen? Ich war derjenige, der geschossen hat. Das trage ich mit mir, solange ich lebe.“

Ginoza hob den Kopf und sah seinen Kollegen den Blick abwenden.

“Du meinst Aoyanagi? Ob du es mir nun glaubst oder nicht, ich habe dir das nie vorgeworfen. Du hast einen kritischen Kriminalkoeffizienten erkannt und die Person vollstreckt. Hey.”

Teppei sah ihn wieder an.

“Ich will nicht, dass es herablassend klingt, aber: Wenn du es irgendwie schaffst, lass nicht zu, dass es dich auffrisst. Sonst geht es dir wie mir.”

“Du vergisst dabei, ich bin schon Vollstrecker”, erinnerte Teppei.

“Trotzdem. Zuletzt lag mein Kriminalkoeffizient bei 264”, gestand Ginoza, “Kannst du mir etwas versprechen? Sollte mein Kriminalkoeffizient jemals über 300 steigen, dann will ich, dass du deinen Dominator auf mich richtest und abdrückst.”

“Bist du verrückt geworden? Willst du unbedingt sterben?“

“Nein”, antwortete Ginoza und betrachtete seine prothetische Hand, “Vielleicht belüge ich mich auch nur selbst, aber… wenn ich dagegen kämpfe, dass mein Koeffizient noch weiter steigt, habe ich immer noch ein Ziel. Dann fühlt sich alles nicht so vollkommen ausweglos an, verstehst du?“

Zu seiner eigenen Verwunderung fühlte Teppei wie sich Ruhe in ihm ausbreitete, als er gemeinsam mit Ginoza schwieg. Es schien, als hätten sie etwas aus dem Weg geräumt, das zwischen ihnen gestanden hatte.
 

“Kann ich dich etwas fragen?” Wieder war es Ginoza, er das Schweigen brach. Teppei nickte.

“Du hast doch selbst einmal Drohnen konstruiert, programmiert und gewartet. Was weißt du über dieses Negator-Programm?”

“Nicht viel”, gab Teppei achselzuckend zu, “Es steht nicht gerade in den Lehrbüchern, außerdem war das Ganze vor meiner Zeit. Ich weiß, dass die Negator-Drohnen mit einem ganz klaren Ziel konstruiert wurden. Sie sollten den üblichen von Sibyl gesteuerten Militärdrohnen überlegen sein. In der Lage, sie zu vernichten. Anders als die meisten vermuten, wurde das Negator-Programm nicht von Sibyl, sondern von der damaligen Regierung in Auftrag gegeben. Das war zu einer Zeit, als Sibyl die Regierung noch nicht beherrschte. Viele sahen darin den Versuch der Regierung, Sibyl zu vernichten, ehe es zu mächtig wurde. Sibyl sah das leider auch so und kurz darauf wurde die Regierung von Sibyl übernommen und das Negator-Programm eingestellt. Schlimmer ist das, was vor fünf Jahren im Darknet kursierte.”

Als Teppei nicht gleich antwortete, blickte Ginoza ihn fragend an.

“Ich sag es dir, wenn du nicht unbedingt jedem sagst, dass du das von mir weißt.“

Ginoza schnaubte und stieß sich von der Wand ab.

“Jetzt lässt du mich wie ein mieser Verräter aussehen.”

“Schon gut. Also, vor fünf Jahren geisterte das Gerücht durch das Darknet, dass ein ausgewiesener Sibyl-Experte auf asiatischem Boden eine Revolution gegen das System plane. Der Name dieses Mannes lautet Senju Midari, ein Experte für das Computersystem, auf dem das Sibyl System basiert. Er soll das Unternehmen Equiretra gegründet und es durch verschiedene Fake-Fabriken geschützt haben. In einer bis dahin geheimen Einrichtung soll er schließlich an einer ganz neuen Generation der Negator-Drohnen gearbeitet haben. Der Modellname dieser Negator-Drohnen lautete “Gamato-Core”. Darunter liefen Negator, denen man ein KI-Modul eingebaut hatte. KI-Module bei Militärdrohnen waren aus unserer Sicht immer unnötig gewesen, da Sibyl die Militärdrohnen ja sowieso kontrollierte. Diese aber wären in der Lage gewesen, eine komplexe KI aufgespielt zu bekommen. Eine, die sich Sibyl hätte widersetzen können.“

“Hätte”, fragte Ginoza und zog eine Augenbraue hoch.

“Das Programm wurde natürlich durch die Ereignisse in Shambala unterbrochen. Lange bevor man signifikante Mengen dieser Drohnen hatte herstellen oder programmieren können, war es Sibyl gelungen, SEAUn zu übernehmen und damit fiel auch das Werk Senju Midaris und die Drohnenfabrik in Sibyls Hände. Einige Verschwörer behaupten, dass Sibyls ganzes Vordringen auf den asiatischen Kontinent unter anderem dem Ziel diente, der Produktion dieser Drohnen zuvor zu kommen. Jedenfalls führte die Fabrik ihre Produktion fortan nach Sibyls Maßgaben fort und die bis dahin gebauten Gamato-Core-Drohnen wurden vernichtet. Nur Eine ist noch übrig. Sie soll irgendwo in Japan stehen - stillgelegt. Zu Forschungszwecken. Deshalb alleine finde ich das, was Kogami über diesen Subadachan erzählt hat, etwas gruselig. ”

“Du meinst den Soul Scoop. Die ganze Persönlichkeit eines Menschen auf einem Speicherstick?“

Teppei nickte.

“Stell dir nur vor, er würde das letzte Exemplar der Gamato-Core in die Hände bekommen und seinen Soul Scoop auf die Drohne aufspielen. Herkömmliche Kriegsdrohnen könnten solche Datenmengen nicht verarbeiten, aber eine mit KI-Modul schon. 120 Tonnen reine Zerstörungskraft mit der Persönlichkeit eines Massenmörders und Kriegstreibers. Wer oder was sollte ihn dann noch aufhalten?”

“Hoffen wir, dass Kogami sich nützlich macht und ihn schnappt, bevor es dazu kommt”, knurrte Ginoza. Die Vorstellung, etwas so Wichtiges in die Hände seines verräterischen Ex-Kollegen geben zu müssen, stieß ihm noch immer etwas sauer auf. Gemeinsam mit Teppei trat er den Rückweg in die Büroräume an - ihre Pause näherte sich dem Ende.
 

~
 

Für Sho Hinakawa begann sie gerade erst und damit ein jeden Tag gleicher Spießrutenlauf.

Wie ein Gefängnisinsasse beim Ausbruchsversuch stahl er sich durch die Gänge, achtete auf jede Bewegung, horchte auf jedes Geräusch, um bloß jede unliebsame Begegnung mit Inspektoren oder Vollstreckern anderer Abteilungen zu vermeiden und sicher einen der kleinen Aufenthaltsräume zu erreichen.

Es lag nicht einmal daran, dass er die anderen nicht mochte. Sie verunsicherten ihn bloß. Er wusste nicht wie er sich ihnen gegenüber angemessen verhalten sollte und zweifelte daran, dass sie ihn mögen würden.

Wer sollte ihn schon mögen, meldete sich diese unsichtbare, völlig entleibte Stimme aus ihm. Ein Überbleibsel seiner eigenen Geister, das den Umgang mit anderen Menschen so sehr erschwerte.

Endlich war er in einem der kleinen weiß getünchten Räume angekommen. Einige künstliche Farne standen in den Ecken und ein holographischer Wasserfall sollte wohl Ruhe verbreiten.

Er ließ sich in einen der Sitze sinken und bereitete sein Müsli vor.
 

Zu den anderen von Einheit 1 hatte er inzwischen sogar so eine Art von Zutrauen entwickelt, dachte er.

Akane mochte er unverhohlen am liebsten. Wenn sie lächelte, konnte er einen Moment lang daran glauben, dass alles gut werden würde. Mika war schwer einzuschätzen. Aus den vielen Mangas, die er heimlich las, passte vor allem der Typ “tsundere” zu ihr, obwohl er nicht recht wusste, wo bei Mika das “dere” geblieben war. Er konnte nie wissen, ob sie ihn nun loben oder treten würde.

Ginoza und Kunizuka hatten die Autorität des älteren Bruders bzw. der älteren Schwester gemeinsam, waren aber in ihrer Ernsthaftigkeit angsteinflößend. Teppei letztlich war zwar unendlich freundlich, aber - genau wie Sho selbst - nicht der gesprächigste Mensch, so dass zwischen ihnen selten etwas anderes als Schweigen herrschte.
 

Sho hatte gerade die kleine Pillendose um seinen Hals geöffnet und wollte seine Mittagsration an Tabletten in die Cerealien geben-

“Verzeihung, ist der Raum belegt”, fragte eine Stimme, die er so schnell nicht zuordnen konnte.

Er drehte sich um und blickte zu Inspektor Kojirou Mitsuba auf.

“J-Ja”, stammelte er gedankenlos, besann sich aber gleich wieder, als ihm klar wurde, wie unhöflich das klang, “Ähm, ich meine, nein.“

“Dann ist ja gut, ich fürchte immer, die anderen Kollegen würden mich auslachen, wenn sie erfahren, was ich in meiner Pause mache.”

Damit hatte er unbewusst eine von Shos Grundängsten zitiert.

Er nahm gegenüber von Sho Platz und stellte eine weiße, aus dem Schnabel dampfende Teekanne auf den Tisch.

Sho wusste nicht, was er nun machen sollte. Er konnte doch nicht vor einem Inspektor Tabletten in sein Müsli schütten.

Unmerklich hatte er die Hand fest um das Pillendöschen gekrallt.

“Was glaubst du, würde passieren, wenn du dich entschiedest, sie einfach nicht mehr zu nehmen?“

Shos Blick folgte dem des Inspektors zum Pillendöschen. Ertappt ließ er es los.

“Das, äh, das, das geht nicht”, stammelte er.

Mitsuba drängte ihn nicht weiter. Er schwieg einfach und goss den dampfenden, hellgrünen Inhalt der Kanne in eine kleine Porzellanschale, so fein gearbeitet, dass sie fast lichtdurchlässig war.

Sein Schweigen ließ Sho die Wahl, weiter zu schweigen, zu fliehen oder zu reden. Er entschied sich, wofür er sich noch nie zuvor entschieden hatte.

“Ich will nicht werden wie früher”, brachte er hervor und starrte in seine Hände, die wegen der verzögerten Einnahme der Tabletten zu zittern begonnen hatten.

Mitsuba leerte in Seelenruhe seine Teeschale und ließ ihn dabei nicht aus den Augen.

“Ich hatte früher… viel früher mal das Eu… Eu-Stress-S-Syndrom. Das hatte ich für einige Jahre, an die… ich mich gar nicht mehr erinnere. Irgendwann bin ich dann… aufgewacht.”

Er drückte jetzt nervös an seinem Pillendöschen herum. Es fühlte sich an als würden - von seinen Händen ausgehend - Tausende Ameisen unter seine Haut und in ihn hinein krabbeln.

“Nimm diesmal bloß eine von ihnen”, schlug Mitsuba vor.

Sho gehorchte und wusste nicht einmal, wieso. Es fühlte sich beinah unangenehm an, nur eine einzelne Tablette ganz ohne sein Müsli zu schlucken. Fast so, als sei er krank.

“Gut”, ermutigte Mitsuba, “Jetzt versuch es hiermit.”

Er stellte eine weitere kleine Teeschale vor Sho hin und füllte sie.

“Nimm sie. Und konzentriere dich nur darauf. Achte nicht auf deine Hände oder auf mich oder sonst etwas um dich herum, sondern nur darauf.”

Sho hob das Schälchen und atmete die Wärme des Tees ein. Dann nahm er einen Schluck. Ungesüßt, bitter, warm, echt.

“Wenn du es niemandem verrätst” - Mitsuba lehnte sich zu ihm herüber - “das hier ist kein Hyper-Oats-Tee. Der hier ist noch handgepflückt. War nicht ganz einfach, da ran zu kommen.”

Sho stellte die Schale ab, dann blickte er wie versteinert auf seine Hände - sie hatten aufgehört, zu zittern. Auch das Verlangen nach mehr Tabletten war nicht mehr so stark.

“Weißt du: Manchmal sind die Dinge, die wir am meisten fürchten, eben jene, die wir tun müssen, um voran zu kommen. Behalte die Schale. Und trinke mehr Tee. Er ist gesund.”

Mitsuba erhob sich und tätschelte Sho den Kopf, ehe er seine Kanne nahm und ging.

Sho saß noch lange dort und starrte auf die kleine weiße Porzellanschale, bis er aus seinen Gedanken erwachte und langsam - beinah unwillig - sein Müsli aß - ohne weitere Tabletten.
 

~
 

Leider erwiesen sich alle Versuche, die von Wraith geschickte Botschaft zu entziffern, als hoffnungslos. Den Rest des Arbeitstages verbrachten alle Mitglieder von Einheit 1 damit, Vermutungen anzustellen. Egal wie viele Shakespeare-Referenzen Akane vor ihrem inneren Auge rezitierte, die Botschaft konnte alles und nichts bedeuten und sich auf alles beziehen… oder auf nichts.

Während Ginoza und Teppei weiterhin davor warnten, dass Wraith diese Botschaft nutzen konnte, um sie alle in eine Falle zu locken, war Mika höchst unzufrieden damit, dass sie herumsaßen und nichts unternahmen, wo sie doch die Position des Maskierten bestimmen konnten. Yayoi teilte diese Meinung, auch wenn sie es besser zu verbergen vermochte. Sho dagegen hatte keine so klare Meinung und war noch immer etwas abgelenkt von seinem Aufeinandertreffen mit Mitsuba.

Unterschwellig frustriert ließ Akane es darauf beruhen und erklärte, sie werden die Recherchen am Freitag fortsetzen.

Mika seufzte und legte sich die Hand über die Augen. Was immer Inspektorin Tsunemori auch vorhaben mochte, es konnte nicht gut ausgehen. Die ganze Einheit war schon wie eine Bande Möchtegern-Geisterjäger auf der Jagd nach jeder kleinsten Spukmeldung in der Stadt.

Doch für heute war sie erschöpft und hatte keine Lust auf weitere Konflikte.

Sie stand auf, reckte sich und verließ das Büro.

“Schönen Abend”, murmelte sie zu Sho und merkte erst, als sie längst auf dem Gang war, dass sie das eben zu einem Vollstrecker gesagt hatte.

Sie zuckte die Schultern und ging weiter. Nur noch kurz aufs Laufband, duschen und nach Hause.

Sie wusste schon, als sie in den Trainingsräumen ankam, dass sie leider nicht die Letzte dort war.

Um die Ecke spähend, erkannte sie Akane im Kampf mit einem Sparringsroboter. An der Anzeige warf zu erkennen, dass das Sparringsprogramm auf die höchste Schwierigkeitsstufe eingestellt war.

Akane griff aber nicht an. Der Roboter war der Erste, der zum Angriff ansetzte. Mit beeindruckender Geschwindigkeit duckte sich Akane unter dem Angriff weg und nutzte das Bewegungsmoment ihres Gegners, um ihn über sich auf die Matte zu schleudern.

Das ist doch… Aikido. Typisch für Tsunemori, einen friedlichen und passiven Kampfsport zu wählen.

Mika seufzte. Es half wohl nichts. Sie wollte einfach nicht warten, bis ihre Vorgesetzte gegangen war.

Also stand Mika bereits auf dem Laufband, als der Sparringskampf von Akane endete.

Mika versuchte, ihre Vorgesetzte zu ignorieren, wie sie den orange blinkenden Scanner am Laufband ignorierte. Sie hasste es, dass an allen nur erdenklichen Geräten heutzutage Scanner angebracht waren.

Fast empfand sie Sympathie mit dem verblichenen Vollstrecker Masaoka, als sie sich erinnerte, was dieser einmal gesagt haben soll: Du kannst nicht vor dir selbst weglaufen, wohin auch immer du läufst. Wenn du ankommst, bist du bereits da.

Sie war in diese Gedanken hineingezogen worden, so dass sie gar nicht bemerkte, als sie im Trainingsraum Gesellschaft bekam.

Erst das Klicken eines Sturmfeuerzeugs und der erste Zug an einer Zigarette machten ihr das klar.
 

Mika hatte so sehr gehofft, sie könne dem peinlichen Schweigen entgehen und schnell entkommen. Denn ganz gleich wie wenig sie ihre Vorgesetzte auch mochte und wie sehr sie ihr deren Stellung neidete, es gab etwas, das sie getan hatte. Etwas, das sie selbst ihrem verhasstesten Feind nicht wünschen würde und was sie nicht wieder zurücknehmen konnte.

Den Abend, an dem Mika erfahren hatte, was mit Akanes Großmutter geschehen war, hatte sie sich übergeben müssen. Und sich dagegen gewehrt, zu weinen. Das wäre heuchlerisch gewesen. Tränen waren den Unschuldigen vorbehalten.

Doch je länger sie dort schweigend lief und sich der Anwesenheit Akanes bewusst war desto mehr schrie etwas in ihr danach, zu gestehen. Den ganzen verachtungsvollen Schmutz ausspucken und dieses erdrückende innere Gewicht loswerden.

Stattdessen wich sie auf etwas Zwangloseres aus.
 

“Wieso Aikido”, fragte sie schließlich.

“Hm?” Akane, die bis dahin, im Gegensatz zu Mika, nach etwas gesucht hatte, worüber sie reden könnte, hob den Kopf.

“Liegt es daran, dass Aikido eine gewaltlose und friedfertige Kampfkunst ist”, fragte Mika weiter.

Akane drückte die Zigarette aus und erlebte ein Déjà-vu. Einige Jahre war es nun her, dass sie auf solch einem Laufband gestanden hatte und der damalige Vollstrecker Togane war da gewesen und hatte geraucht.

“Ich denke, das hat eher pragmatische Gründe. Die meisten meiner potentiellen Gegner werden größer, schwerer und damit auch stärker sein als ich. Es musste also eine Kampfkunst sein, bei der das keine Rolle spielt und ich die Chance habe, Größe, Gewicht und Kraft des Gegners gegen ihn zu nutzen.

“Ich verstehe”, gab Mika zurück.

“Gibt es noch etwas, das Sie mir sagen wollen, Shimotsuki-san?”

Dass Mika bei dieser Einladung zusammen zuckte, bemerkte Akane nicht.

“N-Nein, es gibt nichts weiter. Ich hoffe nur, wir… finden heraus, was Wraith plant.”

Das sagte sie nicht etwa, weil sie es meinte, sondern weil sie die Richtung des Gesprächs mit aller Macht abwenden wollte.

“Meine Großmutter hat einmal gesagt, dass die wichtigsten Dinge dann zu uns kommen, wenn wir aufhören, danach zu suchen. Vielleicht bin ich zu verbissen an alles heran gegangen.”

Mika stöhnte innerlich bei der Erwähnung von Akanes Großmutter.

“Wir werden es schon herausfinden”, presste Mika hervor, woraufhin sie mit einer hektischen Verabschiedung floh.

“Das ist ja ausgezeichnet gelaufen”, sagte Akane ironisch in den leeren Raum hinein, “Ich fürchte, ich muss direkter werden.”
 

Eine für diese Uhrzeit ungewöhnliche Aufregung hatte Akane ergriffen, als sie nach Hause kam. Sie wollte zwar den Ratschlag ihrer Oma beherzigen, nicht aber all ihre Ermittlungen aufgeben. Und es gab da eine auf deren Fortschritt sie besonders neugierig war.

Sie stieg nach einer schnellen Dusche aus dem noch dampfenden Bad, ihrer Gewohnheit nach nur in Unterhose und mit einem Handtuch über den Schultern und setzte sich an ihren Tisch. Dort lag bereits eine Art graues Amulett mit einer Modellnummer des Amtes für öffentliche Sicherheit und dem Titel “Pillbug Interface”.

Ein Druck auf die Oberfläche rief ein holografisches Display und eine ebenso holografische Tastatur hervor.

Das Display zeigte zunächst nichts an, bis verschwommene Umrisse sichtbar wurden, ähnlich einer sich scharf stellenden Kameralinse. Mehr und mehr war ein spärlich eingerichteter Raum zu erkennen, durch dessen große Balkonfenster die nächtlich erleuchtete Skyline von Tokio sichtbar wurde.

Direkt im Blick des Displays war auch ein Tisch, der verdächtig bestückt war mit einem noch sehr altertümlichen Laptop, einem Aschenbecher, in dem sich bereits die Zigarettenstummel drängten und einer Glasflasche mit bräunlichem Inhalt, auf deren Etikett “Grant Hughes Kentucky Straight” geschrieben stand.

Einen Augenblick später konnte sie, aus einem anderen Raum kommend, eine vertraute Stimme hören.

“Unsere bisherige Sorge war doch immer, dass er Militärdrohnen hacken könnte, nicht wahr?“

Akane stützte die Unterarme auf den Tisch, um dem Display näher zu sein.

Als der Sprecher keine Antwort erhielt, fuhr er fort:

“Ich hätte eine noch schlimmere Vorstellung, denn es gibt noch eine Art Drohne, die solche Datenmengen wie die eines Soul Scoops aufnehmen kann: eine Asseldrohne. Was wenn Subadachan nicht nur seinen Cyborgs, sondern auch einer unbekannten Anzahl dieser Miniaturdrohnen seinen Soul Scoop aufgespielt hätte? Er könnte alle seine Gegner ausspionieren, Drohnen und Computersysteme hacken und sich unbemerkt von überall her Informationen beschaffen.”

Wenn Sie wüssten, dass ich Ihnen damals im Safe House so eine Asseldrohne in die Tasche geschmuggelt habe, Kogami-san, dachte Akane mit einem Lächeln.

Kogami schritt ins Bild, bekleidet nur mit einer schwarzen Hose und ebenfalls einem Handtuch über die Schultern drapiert.

Akane schluckte. Das erste Mal, dass Sie Ihren ehemaligen Vollstrecker so gesehen und auch bewusst wahrgenommen hatte, war bei seinem Training gewesen. Seitdem waren die Situationen, in denen sie ihn ebenfalls so gesehen haben mochte, immer derart gefährlich gewesen, dass sie mit anderen Dingen beschäftigt gewesen war.

Diese Situation war aber eine andere. Sie fühlte sich ein wenig schäbig wie eine Voyeurin, zuzusehen wie noch Wassertropfen in seinen stachelig abstehenden Haaren hingen oder wie die metallenen Militärmarken auf seiner Brust glänzten.

Hör auf, hin zu starren, ermahnte sie sich selbst, während es ihr warm und kribbelnd den Nacken herunterlief.

“Findest du es nicht auch seltsam”, begann Kogami, als er eine Zigarette aus seiner Schachtel fischen wollte, nur um festzustellen, dass sie leer war, und sie frustriert in eine Ecke des Raumes warf, “dass Akane mich nach dem Drohnenangriff einfach so wieder vom Haken gelassen hat?”

Ihr Herzschlag verdoppelte sich, als sie das Display anblinzelte.

Akane? Wenn er allein ist, nennt er mich… Moment: Mit wem spricht er?

Als Antwort auf ihre Gedanken ertönte eine zwitschernde und ihr ebenfalls wohl vertraute Stimme.

“Ich schätze die Wahrscheinlichkeit, dass Akane-chan damit einen Plan verfolgt hat, auf 78 %.”

Akane blinzelte wieder als eine kleine, quirlige und pinkfarbene Qualle in das Display schwebte.

Candy? Das kann nicht sein, ist das etwa meine Candy?

“Ja, das denke ich auch.”

Kogami kam mit schnellen Schritten auf das Display zu und Akane tippte schnell über die holografischen Tasten, um die kleine Überwachungsdrohne außer Sicht zu manövrieren.

Sie hörte Kogami in der Tasche wühlen.

“Ich fürchte, das war tatsächlich meine letzte Schachtel”, hörte sie ihn murmeln und konnte ein Lächeln nicht verbergen.

Ihre vielleicht schon, Kogami-san. Aber nicht meine.

“Was zum-”

Ihr Lächeln verbreiterte sich, als sie hörte, dass er gefunden hatte, was er finden sollte.

“Das ist nicht meine Schachtel”, sagte er mehr zu sich selbst.

“Ah, ich verstehe. Kleine, durchtriebene Inspektorin.“

Akane schob die Unterlippe vor.

Ein einfaches Danke hätte es auch getan, Kogami-san.
 

Als sie hörte wie er eine Zigarette anzündete, rückte sie die Drohne wieder in Position, so dass Kogami wieder auf dem Display erschien.

“Zurück zum Thema”, begann Kogami und wandte sich der immer noch durch den Raum schwebenden Candy zu, “Hue hat gesagt, dass der echte Subadachan zusammen mit seinen Cyborgs irgendwo in diesem Land sein muss. Und auch wenn ich Hue nicht zu Einhundert Prozent vertrauen kann, denke ich doch, dass er in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hat. Es ist doch sehr unwahrscheinlich, dass der echte Subadachan sich so einen Spaß entgehen ließe. Ich glaube auch nicht, dass er mit Sibyl zusammenarbeitet. Sibyl strebt Frieden an. Zwar einen pervertierten und durch Versklavung erreichten Frieden, aber Frieden. Das passt nicht mit Subadachans Gesinnung zusammen. Für jemanden wie ihn ist Frieden nicht lukrativ. Er braucht Krieg, Anarchie und Chaos, um den meisten Profit zu machen. Was aber sollte er hier in Japan wollen, wenn er nicht auf Sibyls Seite ist? Aber das können wir uns wohl für später aufheben. Wichtiger finde ich, dass wir herausfinden, wer der ursprüngliche Subadachan war. Er muss früher einmal einen offiziellen Namen und ein einziges wahres Gesicht gehabt haben.”

“Manche Gerüchte besagen, er stamme aus Osteuropa”, informierte Candy, “Andere behaupten, er sei Asiate. Und wieder andere-”

“-sagen, er sei Afrikaner. Um Licht in diese Sache zu bringen, müssen wir dahin gehen, wo das alles angefangen hat. Diese ganze Geschichte begann vor genau zehn Jahren in Südindien. Damals meldete sich aus dem Untergrund ein Mann zu Wort, der sich selbst “King Sutamjeet” nannte und behauptete, der neue Herrscher Indiens zu sein. Das ist, wie ich glaube, Subadachans erste falsche Identität gewesen. Natürlich konnten weder die Regierungstruppen noch diverse Warlords im Land einen neuen Aufrührer gebrauchen. Auf der Jagd nach King Sutamjeet trafen Warlords und Streitkräfte zwangsläufig aufeinander und es kam zu blutigen Kämpfen. Wie sich aber herausstellte, hatte Subadachan es genau auf diese Auseinandersetzungen abgesehen, denn in den folgenden Monaten lieferte er Waffen und Ausrüstungen verdeckt sowohl an die indische Regierung als auch an die Clanführer. Daran verdiente er. Mit diesem - wenn man so will - “Startkapital” setzte er seine Reise nach Südkorea fort. Dort wirkte im Jahre 2110 ein Cyberterrorist mit dem Decknamen Jae-Son Paak. Er legte Krankenhäuser lahm, plünderte Firmendaten und stahl Sicherheitsinformationen, Mastercodes, sensible Militärdaten. Er stellte niemals Forderungen, erpresste nicht und nannte keine Bedingungen. Er nahm sich, was er bekommen konnte und verschwand dann wieder im Nichts. Weiter ging es in Malaysia, 2113. Dekuman Javanatram war dort der Name. Er betrieb vornehmlich Menschenhandel. Schließlich war es ab 2116 Subadachan, der ebenfalls Menschenhandel betrieb. Er war verantwortlich für die Bevölkerung von Shambala Float. Mit Desmond Rutaganda zusammen hat er etwa 45 % der damaligen latenten Verbrecher an die Regierung verkauft. Ich hatte gehofft, als ich damals nach Shambala reiste, auch Subadachan zu erwischen. Leider vergeblich.”
 

“Autsch!”

Akane war froh, dass die kleine Asseldrohne ihren Aufschrei nicht übertragen konnte.

Sie hatte Kogami so gebannt zugehört, dass sie die Zigarette zwischen ihren Fingern ganz vergessen hatte, bis diese heruntergebrannt war.

Wie aber wollen Sie herausfinden, wer Subadachan wirklich ist, fragte sich Akane, während sie an ihrem wunden Finger nuckelte.
 

“Noch vor dem Erscheinen von King Sutamjeet ereignete sich damals in Indien der mysteriöse Mord an 18 Menschen. In einer Berghöhle wurden vier Monate vor Sutamjeets Ankündigung die Leichen dreier Männer gefunden. Sie waren Schlepper gewesen. Menschen, die Sibyl-Flüchtlinge aus Japan schmuggelten und als Billig-Arbeiter über den asiatischen Kontinent verteilten. Da sich SEAUn damals noch nicht in Sibyls Händen befand, war solch ein Transfer möglich. In einer weiteren Höhle etwa 15 Kilometer entfernt wurden zudem die Leichen von 15 weiteren Menschen gefunden. Diese Leute müssen die “Ware” der Schlepper gewesen sein. Menschen, die vor dem Sibyl-System fliehen wollten und in die Fänge der Schlepper geraten waren. Ich habe mich daraufhin mit Freunden in Südkorea in Verbindung gesetzt, die sich den Fall noch einmal vorgenommen haben. Sie konnten unter Kontaktleuten der Schlepper herausfinden, dass diese 16 Personen an Bord ihres Bootes gehabt hatten. Das heißt, unter den ermordeten Personen in Indien fehlt eine. Diese Person muss der Täter sein.

Was ich jetzt sage, ist zwar vollkommen spekulativ, es stellt sich mir zumindest äußerst schlüssig dar.”

Akane ertappte sich dabei wie sie wieder einmal an ihrer Unterlippe kaute.

“Das Boot der Schlepper wurde ebenfalls in Südkorea gefunden. Laut dessen Logprogramm fuhren die drei Männer mitten in der Nacht aufs Meer hinaus in Richtung Japan. Sie kehrten jedoch auf halbem Wege wieder um und erreichten Südkorea mit 16 Personen an Bord ihres Bootes.”

“Erklären Sie wie das möglich war, Mister Kogami”, fragte Candy vergnügt.

“Es kann nur eine, logische Erklärung dafür geben. Es muss mitten auf dem Meer einen Austausch gegeben haben. Vor der Übernahme von SEAUn durch Sibyl war das Verschiffen von Flüchtlingen von Japan auf das Festland ein großes Geschäft. Viele größere Schiffe transportierten solche Menschen nach Südkorea oder an das südostasiatische Festland. Viele solcher Schiffe tauschten unterwegs Menschen mit Schleppern aus und ließen sich dafür bezahlen. Auf diese Weise konnten sie Menschen mit bereits getrübten Farbtönen loswerden. So muss es auch im vorliegenden Fall gewesen sein, denn an dem Abend davor war tatsächlich ein solches Schiff von Japan ausgelaufen. Das war der Abend des 13. November, 2108. Das Schiff kam niemals in Südkorea an. Was genau passierte, bleibt unklar. Es muss auf der Überfahrt kurz nach dem Austausch mit den Schleppern gesunken sein. Alle 110 Menschen an Bord kamen ums Leben.”
 

Akane hatte dabei ein ungutes Gefühl in der Magengegend und war an die Unterhaltung mit ihren Eltern erinnert.
 

“Ich sage dir, was ich glaube. Unterbrich mich, wenn dir etwas nicht logisch vorkommt.

Geht klar, dachte Akane und musste schmunzeln, dass sie Kogami schon in Gedanken antwortete, obwohl er mit Candy gesprochen hatte.
 

“Ich glaube, der echte Subadachan ist Japaner und er ist absichtlich als Flüchtling an Bord des Schiffes gekommen. Er muss irgendwie den Austausch durch die Schlepper eingefädelt und sich selbst an Bord begeben haben. Anschließend aktivierte er unbemerkt Sprengladungen in dem Schiff und versenkte es. Er reiste zusammen mit den Schleppern über den asiatischen Kontinent und tötete diese, als er die Gelegenheit hatte. Zuletzt tötete er die Flüchtlinge, die mit ihm gekommen waren.

Und das war alles: In Japan hielt man ihn für tot, weil das Schiff gesunken war. Sibyl untersucht solche Vorfälle nicht. Zudem waren alle Menschen tot, die seinen Namen kannten oder wussten wie er aussah. Die Geburtsstunde für King Sutamjeet und alle, die folgten, einschließlich Subadachan.”

“Aber wenn alle tot sind, die wussten wie er heißt, wie wollen Sie dann herausfinden, wer er ist“, fragte Candy und verbog ihre Tentakel, um ein Achselzucken zu imitieren.

“Weil er einen Hinweis hinterließ, als er seine Morde beging. 15 Flüchtlinge wurden tot in der Höhle gefunden. 12 davon waren direkt in ihren Zellen mit einer MG erschossen worden. Aber die drei verbliebenen Flüchtlinge wurden aus den Zellen geholt und mit einem Katana getötet. Es musste also eine Beziehung zwischen diesen dreien und ihm bestanden haben, sonst hätte er sie getötet wie die anderen auch. Deshalb musste ich nach Japan zurückkehren. Nur hier konnte ich die Namen der Opfer ermitteln und herausfinden, in welcher Beziehung sie zum Täter stehen. Die Namen der drei mit dem Katana getöteten Flüchtlinge habe ich dir bereits übermittelt. Such doch bitte im Netz nach allem, was du zu diesen Personen findest. Wenn wir wissen, wer diese drei waren, wissen wir vielleicht auch bald, wer er ist.”
 

Von irgendwoher erklang das Krächzen eines alten Funkgerätes und eine kratzige Stimme drang hindurch.

“Yoko kommen. Yoko kommen. Yoko. Kommen, aber komm nicht zu früh, hahahaha!”

“Ich bin hier, Hue”, gab Kogami barsch zurück und wischte sich mit der Hand über das Gesicht, “Hast du etwa getrunken?“

“Yoko, ich schwöre bei Gott, seit wir uns kennen, hast du mich noch nie nüchtern erlebt.”

“Lass es mich anders ausdrücken: Warst du nüchtern genug, um irgendeine nützliche Information zu bekommen?“

“Muss reichen”, hörte er seinen Partner am anderen Ende, “Also, ich war da mal im CommuField unterwegs und da waren in letzter Zeit übermäßig viele Gäste aktiv.“

“Erklär mir das, Hue, ich war nie ein so ambitionierter CommuField-Nutzer.”

“Nun, die wenigsten wissen, dass man sich im CommuField auch ganz ohne Avatar und Nutzeraccount anmelden kann, als Gast sozusagen. Weil dies aber ein Sicherheitsrisiko wäre, muss man sich bei einem erneuten Besuch von derselben IP-Adresse anmelden. Da die meisten Nutzer Bekannte oder Freunde im CommuField haben, macht von diesen Gast-Logins kaum jemand Gebrauch. Das heißt, bis vor ziemlich genau drei Wochen. Seitdem hat es mehr Gastanmeldungen von unterschiedlichen IP-Adressen gegeben, als in den letzten fünf Jahren.”

“Und dahinter vermutest du Subadachan?“

“Er hat sich als jemand ausgegeben, der sogenannte ´Lost Placesˋ in und um Tokyo finden will, also Orte, die-”

“verlassen oder stillgelegt sind”, unterbrach ihn Kogami, “Ja, ich weiß, was Lost Places sind, Hue. Hast du einen Beweis dafür, dass diese Anmeldungen von Subadachan getätigt wurden?”

“Das ist Cop-Intuition, Yoko”, protestierte Hue.

“Bullshit. Die Intuition eines Bullen wird von seinem Wissen um die Fakten geweckt. Solange wir nicht sicher wissen, weshalb sich Subadachan für verlassene Orte interessieren sollte, ist das auch nur eine weitere kalte Fährte.”

“Aber das liegt doch auf der Hand, Yoko. Der Wechsel zum Sibyl-System damals kam doch fast einem Militärputsch gleich. Die Regierung versuchte das zu verhindern und scheiterte. Dutzende Offizielle und Politiker wurden des Landes verwiesen. Das heißt, an den stillgelegten Orten von Japan lagern viele Regierungsgeheimnisse: Baupläne für neue Technologien, Systemprozessoren, einfach alles. Das wurde nach der Automatisierung der Industrie alles nicht mehr gebraucht. Wer wäre Subadachan, wenn er sich das nicht unter die Nägel reißen wollte?“

Das stellt sich mir nun wieder auf äußerst schlüssige Weise dar, dachte Akane.

“Selbst wenn er darauf aus sein sollte, nutzt es uns nichts, wenn wir nicht wissen, welches Lager er ausräumen will. Zudem werden diese Lager auch heute noch so gut gesichert sein, dass man schon in der ganzen Stadt den Strom ausfallen lassen müsste, um hinein zu kommen”, erklärte Kogami.

Akanes Augen wurden groß dabei, denn plötzlich fiel ihr wieder ein, was sie unbedingt noch lösen wollte - sogar lösen musste.

“Wo du gerade auf sowas kommst, habe ich einen Namen für dich: Higetsu Tomoaka. Er war früher für die Wartung von Drohnen und ihre Lagerhäuser zuständig. Allerdings arbeitet er nun für die ansonsten voll automatisierte städtische Energieverwaltung. Man hört, dass er seit zwei Wochen seine Wohnung nicht mehr verlassen hat. Für mich ein eindeutiges Zeichen, dass da jemand was zu verbergen hat.”

“Weißt du, wo sich seine Wohnung befindet?”

“Leider nicht. Das war eine vertrauliche Information und ich besitze keine Autorisierung. Ich werd mich aber umhören und mich melden, sobald ich etwas weiß.”

“Ich verlasse mich auf dich, Hue”, verabschiedete Kogami seinen Partner.
 

Das ist es, schoss es Akane durch den Kopf. Wie konnte sie nur so blind sein? Wraith müssen geplant haben, das Stromnetz der Stadt zusammenbrechen zu lassen.

Sie ließ die Asseldrohne wieder Zuflucht in Kogamis Rucksack suchen und deaktivierte sie. Gleich darauf loggte sie sich in die Datenbank des Amts für öffentliche Sicherheit ein.

“Öffne Kontaktregister. Suche folgende Person: Tomoaka Higetsu.”

Verzeihen Sie mir bitte, Kogami-san. Ich fühle mich schlecht dabei, das von Ihnen gestohlene Wissen auszunutzen. Aber ich muss mit diesem Mann sprechen. Es ist äußerst wichtig.

Tomoaka Higetsu. Eintrag gefunden, gab der Computer zurück.

“Aktuelle Anschrift anzeigen. Autorisierung: Inspektorin Akane Tsunemori, Authentifizierungscode 00475-30157-1.”

Autorisierung bestätigt. Aktuelle Anschrift Tomoaka Higetsu: 1-1-5 Arakawa, Arakawaku, Tokio 116-8501.

Noch während der Computer die Adresse genannt hatte, war Akane bereits in ihre Dienstkleidung geschlüpft. Nun sprintete sie zur Tür.

Keine Sorge, Kogami-san. Ich werde mich für diese Information revanchieren, sagte sie sich.
 

~
 

11. November 2118, 00:23

Bezirk Arakawa - Tokyo
 

Hausnummer 1-1-5 im Bezirk Arakawa war ein alter Bau, noch aus den Zeiten vor Sibyl, also auch eines der wenigen übrig gebliebenen Gebäude, das eine Feuertreppe besaß. Die absolute Stille in dem Gebäudekomplex war nicht ungewöhnlich. In den letzten Jahren hatte eine Entwohnung dieser alten Gebäude stattgefunden, indem den verbliebenen Bewohnern modernere Wohnungen angeboten wurden. Auf diese Weise bekam man sie aus den alten Gebäuden, um diese schließlich abreißen und durch Neue ersetzen zu lassen.

Akane war auf dem Balkon angekommen und las den Namen an der alten Gegensprechanlage. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand neben der Tür und zog ihren Dominator.

Sicher ist sicher, sagte sie sich.

“Tomoaka Higetsu”, rief Akane nach einem Druck auf den Knopf der Gegensprechanlage, “Hier spricht das Amt für öffentliche Sicherheit, Kriminalabteilung! Bitte öffnen Sie die Tür!”

Mit angehaltenem Atem stand sie neben der Tür und horchte auf jedes Geräusch, das von innen kommen mochte. Doch es antwortete nur die Stille.

“Ich wiederhole: Öffnen Sie die Tür, Tomoaka-san oder wir öffnen Sie!” Sie verschwieg bewusst, dass sie allein war und wartete wieder. Nichts. Selbst eine dritte Aufforderung blieb unbeantwortet.

Akane schluckte und legte die Hand an den Türgriff. Sie musste feststellen, dass sich die Tür mühelos nach außen öffnen ließ.

Alle Instinkte eines Bullen schlugen dabei Alarm.

Mit der Fingerspitze schob sie die Türen zu den zwei Nebenzimmern, Bad und Schlafzimmer, auf. Alles war ordentlich aufgeräumt. Keine Spuren eines Kampfes oder Einbruchs. Außerdem bemerkte sie, dass keine Jacke an der Garderobe hing. Das könnte darauf hindeuten, dass Tomoaka seine Wohnung nicht überstürzt, sondern überlegt verlassen hatte.

Ob er wohl nur ausgegangen ist? Aber ausgegangen um halb Eins?

Akane betrat den Wohnraum, das größte Zimmer. Die Einrichtungsgegenstände stammten zweifellos ebenfalls aus der Zeit vor dem Sibyl-System, mit Ausnahme des Rechners, der auf einem geräumigen Schreibtisch auf der Stirnseite des Raumes stand.

Aber auch hier schien alles in Ordnung zu sein.

“Wenn er doch ohne große Hast fortgegangen ist, warum ließ er die Tür offen”, fragte Akane in den leeren Raum hinein, als sie sich um sich selbst drehte, um alles im Blick zu behalten.
 

“Also das kommt unerwartet.”

Akane zuckte zusammen. Diese Stimme kannte sie. Sie wirbelte zu dem Schreibtisch herum und sah sich einem Asiaten in grünem Gewand und schwarzem Bart gegenüber.

Instinktiv riss sie den Dominator auf Zielhöhe hoch, doch er empfing kein Signal und führte keinen Scan durch.

Akane wollte die Stirn runzeln, als ihr auffiel, dass das Bild von Subadachan unmerklich flackerte. Da bemerkte sie eine Asseldrohne an der Wand hinter dem Schreibtisch, die - einem Beamer gleich - das Bild in den Raum projizierte.

“Jetzt gebrauchen Sie also schon Asseldrohnen, um sich selbst nicht zeigen zu müssen.” Sie senkte ihren Dominator. “Hat Ihnen die Begegnung am Safe House gereicht?“

Ihr holografisches Gegenüber unterdrückte ein Schnauben.

“Du hast ganz schön Eier so mit mir zu reden, Kleines.“

“Was haben Sie mit Higetsu Tomoaka gemacht?”

“Gar nichts”, antwortete Subadachan mit einem Schulterzucken.

“Wo ist er dann?“

“Um ehrlich zu sein, weiß ich das gar nicht. Er hatte seine Wohnung heute früh verlassen, weil er sich vom System verfolgt fühlte. Offenbar war seine Vorahnung berechtigt. Ich hatte eher damit gerechnet, dass Kogami hier auftauchen würde.”

Akane versteifte sich bei diesen Worten und die Härchen in ihrem Nacken stellten sich unbehaglich auf.

“Woher wissen Sie-”

“Aber, aber”, unterbrach Subadachan, “Wo bleibt dein Spürsinn? Dachtest du, dass die Gewässer, in denen Kogami und sein Partner fischen, um an ihre Informationen zu kommen, sauber sind? Und wann immer es trübe Gewässer gibt, habe ich meine Köder darin ausgeworfen. Ich habe dem fetten, nutzlosen Säufer, Hue Grant, absichtlich den Namen dieses Mannes zugespielt. Ich wusste, er würde diese Information Kogami weitergeben, der dann hierher gekommen wäre. Glück für ihn, dass du ihm zuvor gekommen bist. Für dich aber ist es Pech.”

“Was reden Sie da?“

Während sie sprachen, waren Akane weitere Asseldrohnen aufgefallen, die an den Wänden und der Decke umher krabbelten. Aus den Augenwinkeln hatte sie ein halbes Dutzend gezählt.

“Nun, wie gesagt war das hier für Kogami gedacht, aber jetzt habe ich es mir anders überlegt. Du bist eine lästige kleine Bazille und gefährdest meine Arbeit, also entsorge ich dich besser gleich. Diese Asseldrohnen sind alle mit Sprengköpfen ausgestattet. Es heißt Goodbye in 5, 4, 3-”

Panik hatte gar keine Zeit, in ihr hochzusteigen. Instinktiv wandte sie sich der Wohnungstür zu und sprintete los.

Sie wusste, dass die Tür hinter ihr zugefallen war und erinnerte sich daran, dass das Balkongeländer schon bessere Zeiten gesehen hatte. Sie konnte nur zu allen Kami beten, die ihr einfielen, dass Tür und Geländer morsch genug waren.

Im rechten Moment nutzte sie die Bewegungsenergie ihres Sprints und machte einen Satz mit den Füßen voran gegen die Tür.

Die Tür war gerade aus den Angeln geflogen und hatte - wie erhofft - das Balkongeländer abgerissen, so dass sie über den Balkon fiel, als die Wucht der Detonation sie wie ein Kanonenschlag in den Rücken traf, gefolgt von unbeschreiblicher Hitze. Der Fall aus dem zweiten Stock war kurz und wurde teilweise durch die Tür abgefedert, dennoch entfuhr ihr beim Aufprall ein erstickter Schrei, als sie auf ihrer rechten Schulter landete und sengender Schmerz darin explodierte.

Explosion. Mit zusammengekniffenen Augen, nur auf Glück hoffend, rollte sie sich von der Stelle weg, um Sekunden danach den Aufschlag von Trümmerteilen zu hören. Weiterer Schmerz blieb aus und als das Klingen in ihren Ohren nachgelassen hatte, war es still. Still, bis auf das Knirschen von brechendem Stein und dem Brüllen des Feuers, das nun weithin die Nacht erhellte.
 

Ginoza massierte seinen Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger. In Momenten wie diesen wünschte er sich seine Brille zurück. Dann hätte er ihr die Standpauke halten können, die sie verdiente.

“Ein Außeneinsatz mitten in der Nacht: ohne ausdrückliche Anweisung, ohne Begleitung, nur auf die Vermutung hin, dass der Bewohner etwas wissen könnte. Obendrein das Ausrücken der gesamten Einheit 1, nachdem du dich gemeldet hattest. Soll ich noch weitermachen?”

Akane saß mit gesenktem Kopf und heißen Ohren auf der Rampe des Panzerwagens für die Vollstrecker.

“Ich denke, es ist nicht damit getan, wenn ich mich entschuldige, Ginoza-san.”

“Nein, ist es nicht. Gib mir deinen Arm. Er ist ausgekugelt, also renke ich ihn wieder ein.“

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und fasste ihren Arm mit der anderen.

“Beiß die Zähne zusammen.”

Sie hatte kaum genug Zeit, das zu tun, als Ginoza mit einem kräftigen Ruck ihre Schulter wieder in das Gelenk springen ließ… und Akane zum zweiten Mal in dieser Nacht vor Schmerzen schrie.

“Verdammt”, fluchte sie und versuchte die Tränen wegzublinzeln, die ihr in die Augen geschossen waren.

“Gern geschehen. Allerdings solltest du noch eine Schlinge tragen und den Arm schonen. Was hast du dir dabei gedacht? Du hättest sterben können. Außerdem hätte dich hier genauso gut der echte Subadachan oder ein weiterer Cyborg erwarten können. Woher wusstest du überhaupt von diesem Ort?”

Sie stand von ihrem Platz auf und flüsterte ihm ihre Antwort zu. Obwohl er sich bemühte, unnachgiebig zu blicken, sah sie Ginozas Mundwinkel zucken.

“Du hast Kogami eine Asseldrohne untergejubelt, um ihn auszuspionieren? Das kann wieder nur dir einfallen”, gestand Ginoza nicht ohne Stolz in der Stimme und kratzte sich am Kopf.

“Ich vertraue zwar darauf, dass Kogami-san sich melden wird. Aber, genau wie wir beide, neigt auch er dazu, seine Bürden allein zu tragen weswegen ich glaube, dass er bei einer Rückmeldung mehr als die Hälfte der Dinge, die er weiß, für sich behielte.”
 

Mika gesellte sich nun zu ihnen. Nach den Ringen unter ihren Augen zu urteilen, war sie durch den von Akane abgesetzten Notruf ziemlich abrupt aus der Nachtruhe gerissen worden.

“Bitte verzeihen Sie die Umstände, Shimotsuki-san”, entschuldigte sich Akane mit einer Verbeugung.

“Sie werden hoffentlich verstehen, dass ich diesen Vorfall der Direktorin melden muss”, informierte sie emotionslos, aber der Blick, mit dem sie Akane geradezu erdolchte, sagte eher so etwas aus wie: Hätte die Explosion sie erledigt, dann würde ich jetzt noch schlafen können.

“Andere Frage”, meldete sich Ginoza wieder, als er sicher war, dass sich Mika außer Hörweite befand, “Was wolltest du von dem Mann, der hier gewohnt hat?“

Akane hatte gerade Luft geholt, um zu antworten, als er ablehnend die Hand hob.

“Nein, vergiss es. Du lässt dir jetzt den Arm verbinden und gehst nach Hause, um das an Schlaf zu bekommen, was du noch bekommen kannst. Wir sehen uns mor-” Er unterbrach sich und sah auf seine Uhr: 00:56.

“Wir sehen uns heute, wenn die Schicht beginnt. Allerdings begibst du dich zunächst zu Karanomori. Sie soll deine Schulter auf Knochenabsplitterungen oder andere ernstere Verletzungen untersuchen.”

Er wollte sich gerade abwenden, als Akane seinen Namen rief.

Sie stand hinter ihm, so nahe, dass er sie hörte, ohne sich umdrehen zu müssen.

“Die Sprengfallen hier waren für Kogami-san gedacht, hat er gesagt.“

Er konnte die Sorge in ihrer Stimme hören und so gern er ihr auch zugegeben hätte, dass er diese Sorge teilte, musste er hart bleiben. Daher entrang er sich nur ein genervtes Schnauben.

“Ich habe dir gesagt, du sollst ihn vergessen und einfach irgendwo sterben lassen. Das hier… wäre doch das passende Ende für ihn gewesen.”

“Seien Sie ehrlich, Ginoza-san: Können Sie ihn denn einfach vergessen und irgendwo sterben lassen“, fragte sie und bewies einmal mehr wie gut sie ihn kannte, indem sie durch seinen Panzer der Ablehnung blickte, als sei er aus Glas.

“Ich arbeite daran”, antwortete er abschließend und ließ sie zurück.
 

Als sich Akane auf dem Heimweg befand und der Autopilot das Fahren übernahm, das sie sich mit ihrem lädierten Arm nicht traute, hatte sie genug Zeit, um sich Gedanken zu machen.

Sie hatte Kogami aufgefordert, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, aber sie hatte keine Möglichkeit, ihn zu kontaktieren. Dabei gäbe es viele Fragen, die sie mit ihm würde besprechen wollen.

Sie zündete sich eine Zigarette an und stellte sich vor, er stehe ihr zur Seite.

Wie kann Subadachan, wenn er selbst und seine Cyborgs so hohe Kriminalkoeffizienten haben, sich frei in der Stadt bewegen und seine Asseldrohnen hier verteilen? Hue Grant, Kogamis Partner, sagte, dass sich auch der echte Subadachan hier herumtreiben soll. Aber wer ist er und wie sollen wir ihn jemals finden? Wenn er ein so brillanter Verkleidungskünstler ist, wie Kogami-san sagt, dann könnte er wohl jeder sein. Da Tomoaka für Antworten leider nicht zur Verfügung steht, kommt es wohl wieder auf Karanomori-san an.

Zu Hause angekommen, rollte sich Akane auf ihrer großen Couch zusammen und hoffte auf einige wenige Stunden, erholsamen Schlafes.
 

11. November 2118, 2:36

Bezirk Arakawa, Tokyo
 

Er musste eine kurze Pause einlegen und lehnte sich schnaufend an eine Hauswand. Er kramte eine kleine, zündkerzenförmige Glasphiole aus seiner Tasche und blickte gleichzeitig auf die Uhr.

Er hatte gesagt, dass es sechs Stunden nach der Einnahme perfekt wirken sollte. Es sind jetzt über acht Stunden. Das müsste reichen.

Er trat aus dem Schatten in das grellblaue Neonlicht eines Gebäudes, das mit leuchtenden Schriftzeichen “Grand Sapphire Residential Hotel” verkündete.

Auch tiefe Atemzüge konnten sein hämmerndes Herz nicht zähmen, als er durch die Tür trat. Eine androidische Rezeptionistin verbeugte sich vor ihm.

“Herzlich willkommen. Bitte treten Sie auf die Markierung. Wir werden einen Scan zur Feststellung ihrer Persönlichkeitsdaten durchführen.”

Jetzt entschied es sich also. Er trat in den blau ausgeleuchteten Kreis und ein holografisches Display erschien neben der Rezeptionistin.

“Identitfikation: Tomoaka, Higetsu. Kriminalkoeffizient 56, Farbton: Blaugrau”, gab eine Computerstimme bekannt.

Tomoaka starrte auf seine Hände.

Unglaublich. Er hat nicht gelogen. Es wirkt tatsächlich.

“Willkommen in unserem Hotel, Tomoaka Higetsu-san. Wünschen Sie nun ein Zimmer zu buchen?“

Er sagte, ich solle in irgendeinem Hotel absteigen und auf weitere Anweisungen warten.

“Ja. Ein Einzelzimmer für zwei Tage… fürs Erste”, antwortete er der Rezeptionistin und musste fast lächeln. Das schien eine wahrhaft vielversprechende Geschäftsbeziehung mit diesem Mann zu werden.
 

~
 

11. November 2118 - 8:45

Amt für Öffentliche Sicherheit - Analysezentrum
 

Sie fragte sich wie manche Menschen bei Licht schlafen konnten. Wie ein Vampir oder ein an Tollwut erkranktes Tier kam sie sich vor, da sie das Licht nicht sehen wollte.

Im Moment war alles gut. Sie war in Dunkelheit und nur unzusammenhängende Fetzen von Träumen eingehüllt. Alles Mögliche und Unmögliche sah sie an sich vorbeiziehen, alles aber so schnell vorüber wie Wolken im Sturm.

Dann nahmen die Dinge mehr Gestalt an als zuvor. Sie stand auf dem Dach eines Wolkenkratzers und überblickte die Stadt, ihre Stadt, wie sie seltsam leblos und dunkel unter ihr lag.

“Wunderschön, nicht wahr”, fragte eine Stimme hinter ihr. Sie wandte sich nicht um, weil sie wusste, wer da mit ihr sprach.

Der Mann in dem Motorradanzug trat neben sie, das Visier seines Helms so schwarz wie die Nacht, in der sie standen.

“Es ist schön, aber… es ist kein Leben in dieser Stadt. Es gibt keine Hoffnung.”

“Du irrst dich. Nun, da die Menschen dort unten auf nichts mehr aus ihrem alltäglichen Leben vertrauen können, werden sie wieder auf das reduziert, was allein zählt: sich selbst.”

“Sie haben ein sehr großes Vertrauen in die Stärke der Menschen”, kritisierte sie selbstironisch.

“Du nicht?“

Sie nickte anstatt zu antworten.

“Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten”, zitierte der Anführer von Wraith und Akane erinnerte sich wie ihr Vater das Gleiche zitiert hatte.

“Das heißt, solange der Mensch frei über sich und sein Leben bestimmen kann, liegt er in Ketten. In den Fesseln seiner Begierden und seiner Ängste. Ist er aber nicht mehr frei, sondern wird in größter Not zum Handeln gezwungen, so wird er in diesem Moment wahrhaft frei. Wenn die Menschen nichts anderes mehr haben, werden sie sich von Sibyl und den blinkenden Propheten abwenden und sich wieder einander zuwenden. Daran werden sie erwachen und hoffentlich den Grundstein legen für eine bessere Gesellschaft als wir sie je hatten.”

“Sagen Sie mir: Wie viele Menschen müssen sterben auf dem Weg in die bessere Gesellschaft, von der Sie sprachen?“

Akane-chan.

“Es konnte noch kein Krieg ohne Opfer gewonnen werden. Aber diese Opfer werden es wert sein. Schon bald werde ich dir das beweisen.“

Akane-chan?

“Sie verzeihen, wenn ich weiterhin versuchen werde, Sie daran zu hindern.“

Der Mann wandte sich ihr zu und auch wenn sie sein Gesicht durch den Helm nicht sah, konnte sie erahnen wie er lächelte.

“Ich wäre sehr enttäuscht von dir, wenn du das nicht versuchtest.”

Akane-chan!
 

Sie fuhr hoch und blinzelte nicht ohne Neid Shion Karanomori entgegen, die selbst zu so früher Stunde aussah als käme sie von ihrem privaten Visagisten.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich nicht in ihrem Bett befand, sondern auf der Untersuchungspritsche in Shions Labor.

“Du bist wohl während der Untersuchung eingeschlafen, Akane-chan. Ist wohl eine lange Nacht gewesen.“

Sie kam näher und flüsterte in Akanes Ohr.

“Gibt es Einzelheiten zu dieser langen Nacht, die du mir erzählen willst?“

Akane rieb sich die Augen und schwang die Beine von der Pritsche.

“Geben Sie sich keine Mühe, Karanomori-san. Sie können mich nicht in Verlegenheit bringen.“

Shion seufzte dramatisch.

“Wie hat der gute alte Masaoka doch gesagt: Es ist traurig zu sehen wie schnell dieser Job sie hart macht. Es war so niedlich wie du früher errötet bist. Wirklich zu schade.”

“Können wir zum eigentlichen Grund zurückkommen weswegen ich hier war?“

“Oh. Ja natürlich. Kein Befund. Bis auf einige Zerrungen geht es deiner Schulter gut. Du hast noch einmal Glück gehabt. Schonen solltest du den Arm trotzdem noch.”

“Ich verstehe. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich die Einsatzbesprechung für heute wieder hierher verlege?”

Shion blies einen Schwall Zigarettenqualm aus.

“Wer von uns ist die Inspektorin?”

Akane beschloss, darauf nicht zu antworten.
 

“Einen Stromausfall? In der ganzen Stadt?” Der Unglaube in Teppeis Stimme war unleugbar.

“Ja”, antwortete Akane mit aller Gewissheit, die sie aufbringen konnte, “Das ist die schlüssigste Erklärung für die Botschaft, die uns Wraith hat zukommen lassen. Ich habe zunächst nicht gewusst, worauf genau sie sich mit der Nachricht beziehen. Auf das Stück Othello oder auf die Sage des Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte. Sibyl beansprucht das Gleiche für sich: den Menschen das Licht bringen. Und Wraith entscheidet, die Menschen von diesem Licht zu trennen, darauf hoffend, dass sie in der Dunkelheit ihr eigenes Licht finden werden.”

“Diese Überlegung gab es doch schon einmal. Wir mussten aber feststellen, dass es unmöglich ist. Der Nona Tower hat seine eigene interne Stromversorgung. Selbst wenn Wraith es schaffen könnten, in der ganzen Stadt den Strom ausfallen zu ließen, könnten sie damit dem Sibyl System keinen Schaden zufügen.”

Akane nickte zustimmend.

“Ich weiß, Ginoza-san. Allerdings glaube ich auch weniger, dass es Wraith damit auf Sibyl selbst abgesehen hat. Dafür ist es noch zu früh. Wenn sie es aber schaffen, in der ganzen Stadt einen Blackout zu verursachen, käme es zum Zusammenbruch der Gesellschaft im kleinsten Rahmen. Es gäbe praktisch über Nacht eine explosionsartig ansteigende Zahl an Area Stress Level-Warnungen. Wenn die Menschen dem Farbton ihrer Mitmenschen nicht mehr trauen können, weil einfach jeder getrübt ist, wenden sie sich von Sibyl ab. Damit hätte Sibyl seine Unfehlbarkeit eingebüßt. Ein Gott, den die Menschen nicht mehr anbeten, hört auf, zu existieren.”

“Das klingt aber gar nicht nach der Linie, die Wraith bislang verfolgt hat”, gab Ginoza zu bedenken, “Überlegt euch doch einfach, was das für die Gesellschaft bedeuten würde. Jede medizinische Versorgung bräche zusammen. Die Menschen in den Internierungslagern könnten ihre Zellen nicht mehr verlassen, würden aber auch keine Versorgung mehr erhalten. Nach wenigen Tagen wären sie verdurstet.”

“Das waren auch meine Bedenken”, bestätigte Akane, “Wraith hat bisher immer versucht, Menschenleben zu schonen. Da ich einen Stromausfall im Augenblick für die beste Interpretationsmöglichkeit ihrer Botschaft halte, müssen wir wohl vom Schlimmsten ausgehen. Nämlich davon, dass sie die Moral abgelegt haben und nun ernst machen werden.“

“Bei allem Respekt”, meldete sich nun Teppei zu Wort, “ich fürchte, wir stellen uns das ein wenig zu leicht vor. Auch den Strom in der ganzen Stadt ausfallen zu lassen, ist ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen. Die Stromversorgung wird - das habe ich noch in der Zeit der Drohnenentwicklung gelernt - von zehn unabhängigen Energiewerken gesichert. Fällt eines davon aus, kompensieren die Anderen den Ausfall. Man kann sie zudem nicht alle auf einmal ausfallen lassen.“

“Wraith hatte immerhin zehn EMP-Granaten gestohlen, wenn wir uns erinnern”, warf Yayoi ein.

“Das mag schon sein. Eine einzelne EMP-Granate könnte meinetwegen auch einen Straßenzug lahmlegen. Aber ein ganzes Energiewerk? Keine Chance.“

Um diese Aussage zu untermauern schüttelte Teppei den Kopf.
 

“Was ist mit dem GES-Modus?”

Alle wandten sich der Stimme zu und waren überrascht, Mika dort stehen zu sehen, die Augenbrauen zusammengezogen und die Hände in die Hüften gestemmt.

“Ich glaube, ich weiß, was sie meint”, sagte Shion, während sie mit dem Zeigefinger gegen ihr Kinn tippte.

“Grid Energy Storage”, erklärte Mika, “Eine Energiespeichermethode von früher, als man sich noch mit der Suche nach erneuerbaren Energien beschäftigte. SIbyl hat dieses Prinzip für die eigene Stromversorgung des Landes aufgegriffen und weiterentwickelt. Das war doch Thema der Schulung, an der alle Inspektoren vor zwei Monaten teilgenommen hatten.”

Akane blinzelte und wandte danach rasch den Blick ab, damit man sie nicht erröten sah.

Die Wahrheit ist, gestand sie sich selbst, ich war zu dem Zeitpunkt so überarbeitet, dass ich die Schulung gänzlich verschlafen habe.

“Alle Energiewerke besitzen einen Speicher, der den Überschuss aller anderen Werke aufnehmen und speichern kann. Das dient dazu, bei einem Stromausfall die gespeicherte Energie für eine Notversorgung bereit zu stellen oder in Zeiten von höherem Verbrauch einzuspringen. Diese Übertragung geschieht einmal im Monat, und zwar immer in der Nacht. Dann fahren alle Energiewerke außer dem einen, das die Übertragung durchführt, die Systeme herunter und schalten in den Diagnose-Modus, um Fehler zu beheben und Updates aufzuspielen, während das eine Energiewerk für die Nacht die Stromversorgung der ganzen Stadt übernimmt und gleichzeitig die Überschüsse einlagert.”

“Du meinst, sie haben es auf dieses eine Werk abgesehen, Mika-chan”, fragte Shion.

“Ja, das scheint mir die schlüssigste Antwort. Vollstrecker Teppei, ist es möglich eines der Energiewerke lahm zu legen, wenn man darin alle zehn EMP-Granaten zündet?“

“Zehn EMP-Granaten auf einmal würden nicht nur das Energiewerk zerstören, sondern auch den Energiespeicher. Nicht auszudenken.“

“Wann ist die nächste dieser Speicherungen, Karanomori-san?“

Akane wandte sich mit wachsender Besorgnis der Analystin zu.

“In der Nacht von Montag, den 14. auf Dienstag, den 15. November. Es beginnt um Null Uhr.”

“Wenn es zehn Energiewerke gibt, welches davon übernimmt dann die Speicherung.“

“Das ändert sich jeden Monat”, antwortete Shion, die Zigarette im Mundwinkel und die Finger auf den Tasten, “Die Energiewerke wechseln sich mit der Speicherung ab, normalerweise gegen den Uhrzeigersinn. Mal sehen, als nächstes ist das Werk ganz im Westen der Stadt an der Reihe.”

“Gut. Heute ist Freitag, es sind also noch etwas mehr als drei Tage.” Akane atmete erleichtert auf.

“Braucht das Werk keine erhöhte Bewachung”, meldete sich nun erstmals Sho Hinakawa zu Wort.

“Drohnen werden gegen Wraith nicht helfen. Und eine Patrouille durch eine Einheit des Amts für öffentliche Sicherheit möchte ich vermeiden”, erwiderte Akane, “Die Präsenz von Inspektoren und Vollstreckern könnte Wraith verraten, dass wir ihre Absichten durchschaut haben. Karanomori-san, können Sie die Kameras, die auf dieses Werk gerichtet sind, anzapfen?“

“Nichts leichter als das.“

“Wir behalten das Werk im Auge und lassen uns jede Abweichung von der Norm melden. Am Abend des 14. November dann legen wir uns dort auf die Lauer und lassen sie kommen.”

“Wir werden trotz allem eine kleine Menge Entschärfungsdrohnen benötigen, die die EMP-Granaten zur Not unwirksam machen können.” Dieser Vorschlag kam von Ginoza und wurde von allen anderen mit einem Kopfnicken quittiert.

“Trotzdem dürfen wir deshalb nicht blind für unsere Umgebung werden. Ich bin ziemlich sicher, dass Wraith wie auch beim letzten Mal versuchen wird, durch einen gezielt ausgelösten Area Stress Level von ihrem eigentlichen Ziel abzulenken. Das letzte Mal sind wir darauf hereingefallen. Das wird uns nicht wieder passieren.”

Mit diesen Worten schloss Akane die Besprechung. Innerlich fasste jeder einzelne den Beschluss, sich auf diesen Tag vorzubereiten. Wenn Wraith das Handwerk gelegt werden könnte, würde womöglich wieder Ruhe einkehren in die von Sibyl errichtete perfekte Welt.
 

~
 

12. November 2118 - 2:37 Uhr

Bezirk Arakawa, Tokyo
 

“Da ist ja nicht viel von übrig geblieben”, stellte er das Offensichtliche fest und nahm einen Schluck aus seinem Flachmann.

“Hue. Wieso trägst du ständig die Sonnenbrille. Das hab ich dich noch nie gefragt”, fragte Kogami ohne auf den Kommentar seines Partners einzugehen.

“Was denn, Yoko”, entgegnete der mit einem Grinsen, “Tauschen wir jetzt intime Geheimnisse aus?“

Kogami zuckte die Schultern.

“Frag mich, was du willst. Ich habe nichts zu verbergen.”

“Pff, am Arsch hast du nichts zu verbergen, Yoko. Jeder Whistleblower würde an dir festkleben wie ein Blutegel, um deine Geheimnisse zu erfahren.”

Kurzes Schweigen breitete sich zwischen beiden Männern aus, während sie sich zwischen Bäumen versteckt hielten und die Ruine betrachteten, die einmal das Zuhause von Higetsu Tomoaka gewesen war.

“Epilepsie”, antwortete Hue Grant schließlich, “jedenfalls ne leichte Variante davon. Ich krieg Probleme mit flackernden oder blitzenden Lichtern. Deswegen.”

“Sie war vor uns hier.“

“Was?” Hue zog die Augenbrauen zusammen.

“Verfolgst du nicht die Nachrichten, Hue”, fragte Kogami vorwurfsvoll, “Nach der Explosion herrschte hier große Polizeipräsenz.“

“Und du meinst, die Kleine war hier?“

“Ja. Ansonsten verstehe ich nicht, weshalb man wegen der Explosion eines Altbaus gleich die Kriminalabteilung ausrücken lässt.”

Hue deutete mit dem Daumen auf das Gebäude hinter sich.

“Hm. Na, wenn du die Kleine im Jenseits wieder siehst, solltest du dich bei ihr bedanken. Wärst du der erste vor Ort gewesen, dann wäre dir die Bude um die Ohren geflogen.“

“Sie ist nicht tot, Hue. Wenn es so wäre, dann wüssten wir das bereits.”

“Jedenfalls weißt du jetzt, dass der liebe Sue dich auf seine Liste gesetzt hat. Das verlängert deine Lebenserwartung nicht gerade.”

Kogami wischte sich einige seiner schwarzen Haarsträhnen aus der Stirn.

“Meine Lebenserwartung hat in den letzten Jahren sowieso nie weiter gereicht als von einem Drink zum Nächsten.“

“Da geht’s dir wie mir… aber aus völlig anderen Gründen, hahahaha!” Hue schlug sich zur Bekräftigung auf den rechten Oberbauch, dort wo die Leber saß.

“Ich denke, wir sollten uns aufteilen. So würde Subadachan im schlimmsten Fall bloß einen von uns erwischen.”

“Du vergisst, dass seine Cyborgs noch frei herumlaufen.“

“Die können sich nicht frei in der Stadt bewegen bei den Kriminalkoeffizienten. Daher bin ich um seine Marionetten erst einmal nicht besorgt. Einzeln erreichen wir aber mehr. Ich würde dich bitten, nach Tomoaka zu suchen. Wenn jemand weiß, worauf Subadachan es hier wirklich abgesehen hat, dann er.”

Hue nickte seine Zustimmung.

“Mhm. Und was machst du?”

“Ich werde sie finden”, antwortete Kogami, “Wir haben viel zu besprechen. Und ich stelle fest, dass ich in ihrer Nähe besser ermitteln kann.”

“Deine lieben Zigaretten werden bestimmt ganz traurig sein und weinen, wenn sie herausbekommen, dass du dir eine neue Sucht gesucht hast.”

“Wenigstens ist diese Sucht gesünder als die Zigaretten”, erwiderte er.

“Wenn du dich da mal nicht täuschst, Yoko. Ich prognostiziere dir, die Nähe zu ihr wird dich noch ins Grab bringen. Oder aber in die Suppentüte, von der wir in Singapur gesprochen hatten.”

“Ich höre dann von dir, Hue”, stellte Kogami fest, als er sich schon zum Gehen abgewandt hatte.

“Früher als dir lieb ist”, rief ihm sein Partner affektiert winkend hinterher.
 

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12. November 2118 - 18:24 Uhr

Domizil von Akane Tsunemori, Bezirk Itabashi, Tokyo
 

Rastlos, wie ein Tier im Käfig, tigerte sie durch den geräumigen Wohnraum, eher schon Wohnsaal ihres Domizils, der Kopf geradezu überbordend vor Überlegungen, Theorien, Hypothesen, Vermutungen und Überzeugungen die vielen Fälle betreffend, mit denen sie konfrontiert war: Wraith neuester bevorstehender Coup, Kogami, Subadachan, Higetsu Tomoaka, die an ihre Eltern gesandte Nachricht und dann natürlich noch-

Sie vertrauen mir nicht mehr, dachte sie, als sie sich an ihre letzte Unterhaltung mit Sibyl zurück erinnerte. Sibyl mochte ein Gedächtniskollektiv sein und nur noch aus Gehirnen bestehen, doch Akane hatte über die Jahre gelernt, aus den Aussagen der Direktorin die ungefähre Meinung des Kollektivs abzuleiten.

“Jedenfalls vertrauen sie mir nicht mehr so wie ehemals”, sprach sie laut in den Raum, “Sie werden im Geheimen bereits die Eventualität eingeplant haben, dass ich mich gegen sie wenden könnte. Wenn sie das annehmen sollten, bringt das alle anderen aus Einheit 1 ebenfalls in Gefahr. In diesem Fall bleibt wohl nur die Flucht nach vorn.“

Sie aktivierte ihren Communicator, nicht ohne trocken zu schlucken. Mit dieser Aktion konnte sie sich selbst direkt ans Messer liefern oder aber-

“Tsunemori-senpai”, antwortete Mika Shimotsuki, das Profilbild im holografischen Display von Akanes Communicator, “nennen Sie mir den Grund Ihres Anrufs?”

“Nicht im Detail, nicht aus der Entfernung”, antwortete sie kryptisch, “Können Sie heute Abend um 22 Uhr ins Büro kommen? Ich würde einige Details des kommenden Einsatzes gerne privat mit Ihnen besprechen.”

Es war lange still am anderen Ende der Leitung und Akane konnte Mikas Stirnrunzeln von hier beinah sehen.

“Wenn Sie meinen, dass das notwendig ist”, antwortete sie schließlich ohne erkennbare Emotion.

“Das meine ich. Ruhen Sie sich bis dahin aus, Shimotsuki-san. Wir sehen uns dann.”

Sie konnte Mika noch irgendetwas wenig Schmeichelhaftes murmeln hören, ehe die Verbindung unterbrochen wurde.

Akane seufzte. Sie hatte sich lange zu diesem Gespräch durchringen müssen. Der Versuch, Inspirationen aus Kogamis Verhalten abzuleiten, war gescheitert, denn als sie wieder Zugriff auf die Asseldrohne hatte, befand sich diese verwaist in einem leerstehenden dunklen Gebäude und von Kogami gab es seitdem keine Spur nicht mehr.

Dass die Drohne zurück gelassen wurde, kann nur bedeuten, dass Kogami sie entdeckt hatte.

Ich hoffe, Sie sind nicht zu wütend auf mich, Kogami-san. Ich brauche Ihre Unterstützung in dieser Sache.

Unfähig noch weiter in ihrer leeren Wohnung herum zu lungern und unwillig, es weiter hinaus zu zögern, nahm Akane ihren Communicator und machte sich auf den Weg zum Nona Tower.
 

~
 

12. November 2118, 19:00 Uhr

Domizil von Mika Shimotsuki, Bezirk Shibuya, Tokyo
 

Es war jeden Abend der gleiche Kampf. Sie stand im Durchgang zu ihrem Schlafzimmer, starrte das Bett an und versuchte irgendwoher die Motivation zu nehmen, ins Bett zu gehen. Sie wusste, was immer Inspektorin Tsunemori auch wollen könnte, dass es belastend sein würde und wenigstens vorher wollte sie einige Stunden schlafen.

Wenn da nicht dieser Kampf gegen die Vorahnung wäre.

Ich darf keine Angst haben, beschwor sie sich und presste ihre Faust gegen den Mund.

Abgesehen davon, dass sie sich nach dem Zubettgehen immer noch lange im Bett hin und her wälzte, ohne eine wirklich entspannende Position zu finden, war es beim Einschlafen immer so als täte sich ein Abgrund auf, ein schwarzer Sumpf, der sie verschluckte.

Und dann war er wieder da.

“Hast du mich vermisst”, flüsterte er ihr aus der Dunkelheit zu.

Sie presste vergeblich die Hände gegen die Ohren. Er war in ihrem Kopf und sie würde ihn immer hören können.

“Sei still. Geh weg. Lass mich in Ruhe. Ich will nichts mehr von dir hören.”

“Das habe ich doch schon mal gehört.” Er dehnte den Satz, mit dem er die Erinnerungen wieder aus der Tiefe holte und man hörte das Grinsen auf seinem Gesicht, als er das sagte.

Aus der Dunkelheit heraus wurde sie von einer brutalen Hand im Nacken gepackt und in einem dunklen Büro auf eine kalte Tischplatte gedrückt. Es wiederholte sich alles.

Die ideale Bürgerin. Sterbenslangweilig ideal.

“Bitte, ich will mich an nichts erinnern”, presste sie zwischen den Zähnen hervor, während ihr heiße Tränen über die Wange liefen, “Warum muss ich das immer wieder erleben?“

Seine Stimme kam wieder, diesmal ekelhaft nah an ihrem Ohr.

“Du scheinst da etwas nicht ganz verstanden zu haben, kleine Mika. Nicht ich bin der Grund, weshalb du hier bist, weshalb du das siehst. Du bist der Grund. Soll ich es dir beweisen?“

Die Szenerie veränderte sich und die Dunkelheit wurde plötzlich von einem beißenden Licht zerrissen, vor dem Mika die Augen schließen musste. Als sie wieder etwas erkannte, sah sie sich selbst dort stehen, wo damals Koichi Kuwashima gestanden hatte. Sie konnte das Licht der lodernden Flammen sehen wie es von der glänzenden Verkleidung des Panzerwagens der Vollstrecker reflektiert wurde. Sie fühlte die Hitze in ihrem Rücken und wagte nicht, sich umzudrehen ob der verbrennenden Leichen der illegalen Einwanderer hinter ihr. Ein passender Ort für sie, auf der Türschwelle zur Hölle.

Und vor ihr stand Akane, die fassungslos in ein kleines Kästchen starrte.

Schon im nächsten Moment stürmte sie auf Mika zu, packte ihren Kragen mit den Fäusten und schüttelte sie, während Tränen aus Qual und Wut in ihren Augen glitzerten.

“Was hast du getan”, schrie sie Mika entgegen, “Was hast du getan?!”

Anders als es tatsächlich passiert war, machte Akane einige schnelle Schritte rückwärts und richtete ihren Dominator auf sie.

Ihre Augen leuchteten in dem mörderischen Blau und Sibyl fällte das Urteil.

Shimotsuki Mika. Kriminalkoeffizient 386. Objekt zur Vollstreckung. Vollstreckungsmodus ist Lethal Eliminator.

Akane drückte den Abzug, noch bevor Sibyl ausgesprochen hatte, ein Licht blitzte vor MIka auf und dann war es als hätte man sie in eisiges schwarzes Wasser geworfen.
 

Sie fuhr hoch, strampelnd und nach Luft schnappend wie eine Ertrinkende. Obwohl es in ihrem Zimmer kalt war, lief ihr der Schweiß von der Stirn.

Auf und ab wiegend presste sie ihre kalten Hände gegen die hämmernden Schläfen und versuchte, die Worte wie ein Mantra flüsternd, ihr Zittern zu unterdrücken.

“Es ist nichts. Alles ist in Ordnung. Er ist tot und er kommt nicht wieder. Wieso kann er nicht verschwinden? Ich bin doch nicht allein Schuld daran.“

Im Bett war es nicht mehr auszuhalten. Sie fühlte sich dort wie eine Fieberkranke, fror und verbrannte zur gleichen Zeit, während die Decken bleischwer waren.

Es war sowieso an der Zeit, aufzustehen. 21:25 Uhr zeigte die leuchtende Anzeige ihrer Uhr.

Es war nicht so, dass sie unbedingt pünktlich zu ihrem Treffen mit Ihrer Kollegin kommen wollte, aber sie hätte es als ein (weiteres) persönliches Versagen gesehen, zu spät zu kommen.

Im Bad schöpfte sie kaltes Wasser in die Hände und erfrischte sich das Gesicht. Die Reflektion im Spiegel sah ihr hohläugig, übernächtigt und erschöpft entgegen. Wie ein Tier auf panischer Flucht.

Ein kleines Display erschien neben dem Spiegel und zeigte mit aggressivem Warnton ihre Werte an.

Inspektorin Shimotsuki Mika. Ihr Kriminalkoeffizient beträgt 97. Eine akute Notfalltherapie wird empfohlen. Soll diese nun eingeleitet werden?

“Nein”, fluchte sie mit zusammengebissenen Zähnen und schlug die Hände auf das Waschbecken, “Ich schaffe das allein!”

Als sie wieder in den Spiegel blickte, war es fast als könne sie ihn hinter sich stehen sehen.

“Wunderschön, nicht wahr”, flüsterte er und fuhr mit dem Zeigefinger ihre Wange entlang, “Woran ich bei Akane Tsunemori gescheitert bin, erreiche ich nun wohl bei dir. Dann hätte ich - sogar im Tod - eine weitere Inspektorin schwarz gefärbt.”

“Sei still!” Ihr Aufschrei hallte durch die Wohnung.

Sie zog die Nase hoch und wandte sich vom Spiegel ab.

“Du bist tot. Und Tote sollen schweigen.”

Über die Ironie musste sie beinahe lachen. Sie war doch eine willige Sklavin des Systems und wäre bereit, alles zu tun, was Sibyl von ihr verlangte. Aus welchen Motiven war doch egal. Und doch wurde sie für ihre Loyalität bestraft, indem sich ihr Farbton immer weiter trübte und sie schon bald zu dem werden würde, was sie einmal so sehr gehasst hatte.

Bei dem Gedanken kam sie nicht an der Tatsache vorbei, dass sich Sakuya Togane und Ginoza völlig unterschieden, auch wenn sie beide Vollstrecker waren.

Und Ginoza war doch auch einmal Inspektor gewesen. Wie schaffte er es, so gelassen damit umzugehen, dass er nun ein latenter Verbrecher war?

Anfangs hatte sie Inspektorin Tsunemori als ihre Rivalin gesehen und hatte sich gut gefühlt, sie bei ihrer Ankunft in Shambala über die wahren Absichten Sibyls belehren zu können.

Inzwischen aber rückte Akane in immer größere Ferne, weil sie immer rein blieb, während Mikas Welt in Dunkelheit versank.
 

~
 

12. November 2118, 22:05 Uhr

Amt für öffentliche Sicherheit, Kriminalabteilung
 

Es überraschte Mika weniger als sie gedacht hatte, Akane nicht im Büro vorzufinden. Stattdessen fand sie eine handschriftliche Notiz, sie solle sich in die Trainingsräume begeben. Dort gab es Ecken ohne Kameras.

“Sie wollten mich sprechen, Tsunemori-senpai”, stellte Mika nüchtern fest, wohl auch um ihre eigene Unsicherheit zu verbergen.

“Wir sollten uns ehrlich unterhalten, Mika.”

Beim Wegfallen jeglicher Höflichkeitsformel zog Mika irritiert die Augenbrauen zusammen.

“Ich denke, mir gefällt nicht-”

“...dass ich dich mit Vornamen anspreche”, vollendete Akane ihren Satz, “Dann antworte mir, und zwar ehrlich. Hat Sibyl dir die Wahrheit über sich erzählt?“

Mika wich instinktiv zurück.

“Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden“, leugnete sie.

“Ich denke, die hast du. Weißt du, als ich damals die Präsentation über Wraith gehalten hatte und das Graffiti des Gehirns gezeigt wurde, haben alle Inspektoren und Vollstrecker entweder geschmunzelt oder gelacht.

Ich habe nicht gelacht, weil ich die tiefere Bedeutung dieser Botschaft verstanden hatte. Und du hast ebenfalls nicht gelacht. Du hast schockiert ausgesehen, weshalb ich nur annehmen konnte, dass du ebenfalls Sibyls Geheimnis kennst. Ich hatte dich lange darauf ansprechen wollen, aber irgendwie nie den Mut gefunden. Man kann etwas aber nicht dadurch auslöschen, indem man es verschweigt, nicht wahr?“

“Sie sollten sich freuen, Tsunemori-senpai. Eine Freundin von Sibyl zu sein. Von ihnen bevorzugt zu werden.”

“Niemand kann Sibyls Freund sein, Mika. Und Sibyl hat keine Freunde, nur Werkzeuge. Puppen, die es manipulieren zu können glaubt. Ich bin auch eine davon.”

“Dann wollen Sie sich also auflehnen, ja?“ Mikas Stimme wurde lauter, obwohl oder gerade weil ihr Rücken an die Wand gestoßen war.

“In dem Stil der künstlichen Menschen aus ‘Träumen Androiden von elektrischen Schafen’? Dann sollten Sie wissen, dass ich Sibyl niemals verraten werde.”

“Furcht und Treue sind nicht dasselbe, Mika. Sibyl ist selbst nicht ohne Furcht. Sie fürchten Wraith. Und sie fürchten die Möglichkeit, dass ich ihnen den Gehorsam verweigern könnte. Dass, was ich über Wraith weiß, kann ich mit niemandem teilen. Die anderen dürfen nicht von Sibyls wahrem Wesen erfahren. Ich will nicht, dass sie zwischen der Loyalität dem System gegenüber und womöglich ihrer Freundschaft zu mir wählen müssen. Deshalb brauche ich jemanden, der das verstehen kann, was ich erfahren habe. Der das gleiche Wissen hat.”

Sie stand nun vor Mika und hatte die Hände auf ihre Schultern gelegt.

“Ich bitte dich nicht, mir zu gehorchen, Mika. Ich bitte dich, mir zu helfen.“

Noch ehe sie losgefahren war, hatte sie sich geschworen, niemals die Erlebnisse aus ihrem Traum an die Oberfläche treten zu lassen. Wenn Akane davon erfuhr, würde sie Mika in den geschlossenen Vollzug bringen.

Doch nun schienen die Dinge unaufhaltsam überzuschäumen.

“Sie wollen mir vertrauen, Tsunemori-senpai”, fragte sie, mehr Verachtung gegen sich selbst in der Stimme als gegen Akane, “Dann sollten sie diejenigen kennen, denen sie vertrauen. Sie sollten wissen, wozu sie fähig sind. Schon bei Togane hatten sie sich täuschen lassen und nun auch bei mir.”

“Ich weiß, was du getan hast.”

Bei diesen Worten schoss Mikas Kopf hoch und sie fixierte ihre Kollegin.

In Akanes Bernsteinaugen lag eine seltsam ferne Traurigkeit.

“Ich weiß, dass du Togane verraten hast, wo er meine Oma finden kann.”
 

Die Zeit war relativ, das war schon lange vor Sibyls Zeiten festgestellt worden. Deshalb verging die Zeit in einem bewegten System schneller als in einem Ruhenden.

Die zwei Frauen sahen einander lange schweigend an, während die Zeit für Mika förmlich still zu stehen schien.

Sie suchte in Akanes Augen fast verzweifelt nach den Gefühlen, die sie selbst empfand, sich aber nicht eingestehen wollte: Wut, Hass, Abscheu, Verzweiflung, Ekel. Irgendetwas, das als gerechte Strafe dienen könnte.

Doch sie fand nichts. Nur Traurigkeit, die aus Verlust geboren wurde.

“Es ist nicht deine Schuld.”

So wenige Worte nur und doch erkannte Mika Shimotsuki in ihnen, dass Vergebung manchmal die schlimmste aller Strafen sein konnte.

Sie kniff die Augen zusammen und kämpfte dagegen an, dass alle ihre Mauern, Dämme und Wälle in sich zusammenstürzten.

Sie konnte kaum Akanes schlanke Hände auf ihren Schultern fühlen.

“Mika, hör mir zu”, befahl Akane mit einem Nachdruck, dem Mika sich beugte und wieder aufsah.

“Hör zu. Du konntest nichts dafür. Er hat dich erpresst, richtig? Ich will keine Rache, Mika. Ich habe gesehen, wohin sie führt.”

Sie hörte den finalen Schuss aus Kogamis Waffe in ihrer Erinnerung erneut und fühlte den Schmerz, als hätte die Kugel ihr eigenes Herz getroffen.
 

Es blieb nichts mehr übrig. Mika wusste das. Sibyl hatte sie im Stich gelassen. Sie fühlte sich wie damals, als sie die plastinierten Leichen Ihrer Freundinnen sehen musste.

Die Tränen, die ihr nun über die Wangen liefen, schienen ihre Haut zu verbrühen, ihre Schultern zitterten, während sie unter Schluchzen nach Luft rang.

Und Akane - diejenige, die Mika einmal aus tiefster Seele verabscheut hatte - schloss die Arme um sie und drückte Mikas Kopf an ihre Schulter und flüsterte ihr ins Ohr “Es ist nicht deine Schuld” - wieder und wieder.

Togane war auch diesmal bei ihr, doch diesmal war sein Gesicht vor Schrecken verzerrt.

“Wieso? Wieso kann ich sie nicht schwarz färben? Warum bleibt sie immer rein? Mutter, vergib mir.“

Von irgendwoher traf der Schuss eines Dokminators seinen Arm und ohne einen weiteren Laut stürzte er in die sich hinter ihm auftürmende Dunkelheit und war verschwunden.
 

Mika hatte ihr Zeitgefühl noch nicht wiedererlangt. Sie wusste nicht, wie lange sie geweint hatte, nur, dass sich nun Wut gegen die eigene Schwäche auflehnte und gegen die Tränen gewann.

“Wenn du mit jemandem sprechen willst, empfehle ich dir jemanden, der etwas mehr Erfahrung damit hat. Was meine Bitte betrifft. Ich respektiere, wenn du nicht willst. Das ist deine-”

“Ich tue es”, unterbrach Mika mit trotziger Entschlossenheit, “Wenn ich irgendwie helfen kann, helfe ich. Wir sind doch Inspektorinnen, richtig?”

Akanes Züge erhellten sich in einem schon beinah glücklichen Lächeln.

“Richtig. Dann sehe ich Sie Montag zur Einsatzbesprechung, Inspektorin Shimotsuki.”

Akane schlug ihr anerkennend mit der Hand auf die Schulter und bald waren ihre Schritte verhallt.

Mika stand da und fühlte nach dem emotionalen Sturm eine innere Ruhe in sich, die sie lange nicht gefühlt hatte.

“Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit und neues Leben blüht aus den Ruinen - Friedrich Schiller”, rezitierte sie leise und konnte das Lächeln nicht verhindern, das auf ihre Lippen trat.

Ein für ihre Verhältnisse geradezu tollkühner Plan manifestierte sich und sie war in Bewegung, noch ehe sie ihn hinterfragen konnte.
 

Nobuchika Ginoza hätte am nicht Sonnabend mit vielen Dingen gerechnet. Am allerwenigsten stand dabei Besuch auf seiner Liste. Zwar war Akanes Verhalten nie so vorhersehbar gewesen, dass er hätte ausschließen können, sie auf seiner Türschwelle zu sehen.

Dass vor seiner Tür jedoch nicht Akane stand, sondern Mika Shimotsuki, war etwas vollkommen Neues.

Er konnte an ihren geröteten Augen sehen, dass sie geweint haben musste, entschied jedoch, dass es besser wäre, hier nicht nachzubohren.

“Entschuldigen Sie die Störung, Vollstrecker Ginoza”, begann sie.

Entschuldigen Sie… von Mika? Das ist tatsächlich neu.

“Kann ich helfen, Inspektorin?” Er blieb lieber bei der Förmlichkeit. Um diese Uhrzeit hatte er keine Lust mehr auf Konflikte.

“Ja. Bald beginnt unser Einsatz und ich wollte Sie fragen…”

Er stand da, wartete und konnte beinah sehen wie sie in ihrem Kopf Formulierungen durchging und wieder verwarf. Er wollte schon den Mund aufmachen und nachfragen.

“Können Sie mir beibringen, zu kämpfen?“

“Sie meinen… Nahkampf”, fragte er und bekam ein hektisches Nicken zur Antwort.

“Ich habe gesehen, dass Inspektorin Tsunemori Aikido praktiziert.“

Ginoza verschränkte die Arme. Was sollte die Bitte? Wollte Sie ihn testen? Es war nicht von Sibyl vorgesehen, dass Inspektoren und Inspektorinnen den Nahkampf praktizierten.

“Das halte ich für keine gute Idee”, antwortete er und ging mit seinen Instinkten, “Es ist nicht vorgesehen, dass-”

“Ich weiß, aber… ich möchte nicht wieder in eine Situation kommen wie in der Asagi Mall. Wenn es wieder dazu kommt und ich weiß, das wird es, dann will ich bereit sein.“

Zur Hölle mit seinen Instinkten. Die brennende Entschlossenheit in ihrem Blick, als sie das sagte, war fast gegen ein unsichtbares Feindbild gerichtet und ließ keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinte.

“Ziehen Sie sich um. In zehn Minuten im Trainingsraum.”

Als die automatische Tür sich geschlossen hatte, legte er den Weg in das spartanisch eingerichtete Bad zurück und blickte in den Spiegel.

“Dumme Idee”, sagte er zu dem Mann, der ihn aus dem Spiegel ansah.
 

Mika stand Ginoza gegenüber und zum ersten Mal seit Beginn ihrer Karriere fühlte sie sich von einem Vollstrecker eingeschüchtert.

Sie bemerkte hier erst wie viel größer er war als sie und dass der Anzug, den er im Dienst zu tragen pflegte, eine beachtliche Muskelmasse verbarg. Ein Detail, das hier in dem schwarzen Muskelshirt - neben der schwarzen Trainingshose die in den Spinden hinterlegte Standard-Bekleidung - umso deutlicher auffiel.

Die altmodischen Übungsmatten waren kalt an ihren nackten Füßen, als sie beide in Kampfstellung gingen.

“Wir gehen von dem wahrscheinlichen Fall aus, dass Ihre potentiellen Gegner größer, schwerer und stärker sein werden als Sie. Das muss aber kein Nachteil sein, weil nicht nur Aikido die Kraft und das Gewicht des Gegners gegen ihn nutzt. Ich greife Sie an und Sie versuchen, die Energie meiner Bewegung auszunutzen und mich zu Fall zu bringen.“

Sie hatte gerade genug Zeit, zu nicken, als er mit ausgestrecktem Arm nach vorn schnellte, um sie zu packen. Instinktiv riss sie ihren Arm hoch, um sich zu schützen, fühlte aber wie sich seine Hand um ihren Unterarm schloss.

So schnell wollte sie nicht aufgeben und verlagerte ihr Gewicht nach hinten. Sie hatte vorgehabt, einen Schritt zurück zu machen und nicht bemerkt, wie er in der Vorwärtsbewegung seinen Fuß hinter ihr Bein gestellt hatte und es ihr nun wegzog.

Sie verlor das Gleichgewicht und prallte mit dem Rücken auf die Matte. Er war über ihr und hielt noch immer ihren Unterarm umklammert.

“Jetzt wären Sie verletzt oder Schlimmeres”, schlussfolgerte er als er, einen Schlag simulierend, die Knöchel seiner prothetischen Hand gegen ihren Hals legte.

Mika war froh, dass er in diesen Fingern kein Gefühl hatte und wohl nicht wahrnehmen konnte wie ihr Puls hämmerte.

Er stand auf und zog sie an ihrem Unterarm wieder auf die Füße.

“Gleich nochmal.“

Sie brachten ganze zwei Stunden damit zu, die klassischen Griffe und Würfe verschiedener Kampfstile zu proben und schnell wurde klar, dass Judo ihr am ehesten lag. Obwohl sie keuchte und längst nicht mehr ihre ganze Energie abrufen konnte, weigerte sie sich mit einer Sturheit, die der von Akane nicht nachstand, zuzugeben, dass sie erschöpft war.

“Ich denke, das genügt für den Anfang.”

“Nur noch einen Angriff”, forderte sie und schlug sich selbst auf die Wangen.

Als er angriff, bemerkte er, dass sie schneller reagierte als zuvor. Flink wie sie dank ihrer Leichtigkeit war, wich sie seinem Angriff aus und nutzte das Bewegungsmoment, um ihn über ihren Rücken zu rollen. Mit einem schnellen Satz hockte sie auf seinem Oberkörper.

“Wie es scheint, gewinne ich die letzte Runde.”

“Nie zu früh freuen”, belehrte er, als er sich mit den Unterarmen vom Boden drückte und so ihr Körpergewicht stemmte.

Blitzschnell stellte sich Mikas Position auf den Kopf, als er wieder über ihr war.

Den Kampf über hatte sie nicht weiter auf seine Nähe geachtet, doch das Adrenalin hatte sie wohl sensibilisiert. Wie sonst war ihr plötzlich bewusst, dass er sich mit den Unterarmen auf den Boden stützte und sein Gesicht nur eine Hand breit von ihrem entfernt war, während sein rechtes Knie zwischen ihren Beinen lag?
 

Du bist zu nah, ermahnte er sich selbst.

Wie sonst konnte es sein, dass durch die geöffneten Lippen ihr hektischer Atem über sein Gesicht fächelte? Wie sonst konnte er sehen wie gerötet ihre Wangen von der Anstrengung waren (zumindest hoffte er, dass es die Anstrengung war)? Warum sonst hatten ihre Augen auf diese kurze Distanz die Farbe von flüssigem Karamell und wieso waren ihm die Sommersprossen auf ihrer Nase vorher nie aufgefallen. Unwillentlich verringerte er den Abstand weiter.

Er konnte sich erst von der Anziehung losreißen, als seine Nasenspitze beinah ihre berührte, dann stand er schnell wieder auf.

“Genug für heute. Sie sollten sich nun ausruhen, Inspektorin. Der Einsatz am Montag wird vermutlich anstrengend genug.
 

Mika fühlte sich seltsam unzufrieden, als sie aufstand. So als hätte sie etwas erwartet, was nicht eintrat. Wie wenn man im Begriff war, genüsslich zu gähnen und dann unterbrochen wurde.

“Sie haben Recht, Vollstrecker Ginoza. Wir sehen uns dann am Montag.”

Die Worte waren schroffer über ihre Lippen gekommen, als sie beabsichtigt hatte. Früher hätte sie es als selbstverständlich angesehen, dass ein Vollstrecker einer Inspektorin zu Diensten ist, aber früher hätte sie auch nie solch eine Bitte an einen Vollstrecker gerichtet.

Nun aber hatte er seine Zeit für sie geopfert und sie wollte keine Unzufriedenheit an ihm auslassen, die sie selbst nicht verstand.

Und Ginoza wiederum hatte den Trainingsraum fluchtartiger als geplant verlassen. Er würde nun eine Dusche brauchen - eine sehr kalte Dusche. Und dann musste er nachsehen, was die geheime Bar seines Vaters noch so hergab.
 

Mika stand allein in den Trainingsräumen. Sie wollte nicht unter die Dusche gehen, solange die Gefahr bestand, ihm noch einmal über den Weg zu laufen. Vor allem musste sie ihre Gedanken in weniger gefährliches Fahrwasser manövrieren.

Früher einmal, als sie noch die Oso-Akademie besucht hatte, da war sie verliebt gewesen. Insgeheim verliebt in ihre Freundin Kagami Kawarazaki. Seitdem sie dem Amt für öffentliche Sicherheit zugeteilt worden war, hatte sie geglaubt, in Vollstreckerin Kunizuka verliebt zu sein.

Dabei wusste sie, dass Yayoi ihrerseits ein Verhältnis mit Shion Karanomori hatte. Sie war zwar jung, aber nicht blind. War ihre Zuneigung für die Vollstreckerin vielleicht nur der Tatsache geschuldet, dass diese sie damals nach dem Tod ihrer Freundinnen getröstet hatte?

Die Dinge hatten sich heute Abend eindeutig geändert. Sie erinnerte sich an den von Wraith initiierten Nachruf auf Ginozas Vater. Er musste sich so dagegen gewehrt haben, Vollstrecker zu werden. Wie mochte sich das nun anfühlen?
 

Sie konnte ihren inneren Togane fühlen noch ehe sie ihn hörte.

“Er kann dich ebenso wenig vor deiner Finsternis retten wie du ihn vor seiner.“

Sie biss die Zähne zusammen und marschierte auf ihn zu.

“Halt deinen Mund! Ich bin endgültig fertig mit dir. Du bist kein Todesengel, nur ein sadistischer Freak mit Mutterkomplex. Geh zurück in die Dunkelheit, wohin du gehörst. Du konntest sie nicht schwarz färben. Du wirst auch mich nicht schwarz färben. Jeder Mensch trägt Finsternis in sich. Man muss nicht vor ihr gerettet werden. Man muss seinen Frieden mit ihr finden.”

Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass es das letzte Mal gewesen sein sollte, dass sie seine Stimme hörte.
 

Ginoza schwenkte den Inhalt seines Glases und beobachtete die goldenen glitzernden Reflexe, die das Licht in dem Glas hervorbrachte.

Er hatte mit dem Gedanken gespielt, Eiswürfel in das Glas zu geben, doch ein Blick auf das Etikett der Flasche auf dem Tisch - “Highland Park 18 years” - reichte und er wusste, dass sein Vater dann wahrscheinlich aus seinem Grab empor stiege und ihn eigenhändig umbringen würde.

Als ein akustisches Signal einen Besucher ankündigte, hoffte und fürchtete er zur gleichen Zeit. Was immer davon auch stärker war, es wurde erfüllt.

Mika stand ein weiteres Mal vor seiner Tür. Sie trug ihr Haar offen ohne das orangefarbene Scrunchie, mit dem sie es gewöhnlich bändigte und es war noch klamm vom Duschen. Sie hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, sich wieder in ihre Dienstkleidung zu zwängen, sondern war bloß in ein frisches Set Trainingskleidung geschlüpft.

“Darf ich reinkommen?“

Da erst wurde ihm bewusst, dass er dagestanden und wie ein Idiot gestarrt haben musste.

“Sind Sie Inspektorin oder ich?“

“Das war nicht meine Frage.“

Er machte den Weg frei und sie trat ein. Was sollte er auch sonst tun? Er konnte sie schlecht hinauswerfen und wäre er ehrlich zu sich selbst gewesen, hätte er zugeben müssen, dass er ihre Begegnung nicht so enden lassen wollte wie in den Trainingsräumen.

“Darf ich”, fragte sie wieder, diesmal mit einer Kopfbewegung in Richtung der Flasche auf dem Tisch.

“Ich… ich bin nicht sicher, ob-”

“Was”, unterbrach sie ihn und stemmte die Fäuste in die Hüften, “Du fragst dich jetzt nicht, ob ich alt genug bin oder doch?“

Er wandte den Blick von ihr ab und bestätigte somit ihre Vermutung.

“Ich bin zweiundzwanzig, verdammt. Behandle mich nicht wie ein Kleinkind!”

Er machte auf dem Absatz kehrt und nahm ein zweites Glas aus dem Schrank, schenkte ein und schob es ihr hin.

Sie reagierte jedoch nicht wie das Kind, das er (zugegeben als eine Art Selbstschutz) zu sehen versucht hatte, indem sie das Glas trotzig hinunter stürzte, sondern zeigte sich ihm als die Frau, die sie war, als sie - wie er vorher - die Lichtreflexe des Whiskys im Glas betrachtete.

“George Bernard Shaw hat einmal gesagt, Whisky ist-”

“auf Flaschen gezogenes Sonnenlicht”, vollendete er ihren Satz mit einem Lächeln, “Ja. Das war es, was mein Vater gesagt hat… bei den seltenen Gelegenheiten, die wir miteinander gesprochen hatten und ich den Whisky als einen schlechten Freund bezeichnete.”

Er blickte in die Tiefe des Raums. Irgendwo dort - in dem abgedunkelten Schlafbereich des spartanisch eingerichteten Vollstreckerdomizils - stand ein Bild von seinem Vater, eines der wenigen, die er besaß.

“Heute wünschte ich mir, es hätte damals mehr Gelegenheiten gegeben, um mit ihm zu sprechen. Ich denke, das ist normal. Immer dann, wenn es bereits zu spät ist, fallen einem all die Dinge ein, die man gerne noch gesagt oder gerne noch getan hätte. Vielleicht hat er immer wieder den Kontakt zu mir gesucht, weil er das wusste.”
 

“Wie fühlt sich das an”, fragte sie, “Ein Vollstrecker zu werden, meine ich.”

“Der Vorwurf, dass ich versagt habe, kommt etwas spät”, antwortete er, jedoch ganz ohne Bitterkeit, “Das habe ich vor langer Zeit begriffen.”

“Ich werfe dir gar nichts vor”, widersprach sie und ließ erneut jede Höflichkeitsformel weg, “Ich möchte es nur verstehen. Es könnte sein, dass ich bald in einer ähnlichen Lage sein werde. Mein Farbton trübt sich. Ich habe versucht, es aufzuhalten, aber es will mir nicht gelingen. Deshalb…”

“Es war gar nicht so sehr das Gefühl, in allem, was ich bisher getan hatte, versagt zu haben. Ich bin - wenn auch nur für eine Zeit - Inspektor gewesen. Ich habe den Menschen geholfen, also habe ich zumindest eines richtig gemacht. Eher habe ich mich wie ein Heuchler gefühlt, nach allem, was ich Kogami vorgeworfen hatte. Und nun steckte ich in seinen Schuhen.”

Heuchlerisch - so fühlte sich Mika nun auch ob ihres ganzen langen Hasses gegen latente Verbrecher.
 

Ginoza blickte in sein Glas, bevor er es leerte.

“Hör mal. Ich kann verstehen, wenn du uns verabscheust. Mir ging es damals nicht anders. Lass dich nicht davon beherrschen. Als sich mein Farbton trübte, habe ich verzweifelt und wie ein Besessener nach Ursachen gesucht, um sie ausschalten zu können. Aber diese verbissene Jagd nach dem ‘Warum’ zehrt dich auf und beschleunigt den Anstieg deines Kriminalkoeffizienten.”

“Es war kein latenter Verbrecher, der meine Freundinnen umgebracht hat”, sagte sie geradezu abwesend, als rede sie mit sich selbst, “Rikako Oryo war eine Mörderin, eine reine Mörderin. Dein Vater und du waren das aber nicht. Kann es wohl sein, dass das Sibyl System diejenigen zu latenten Verbrechern macht, die ihm gefährlich werden könnten?” Die Frage klang erneut abwesend, zum Nachdenken brachte sie Ginoza dennoch.

Menschen, die Sibyl gefährlich werden könnten? So wie Kogami? Menschen, die Fragen stellen, andere inspirieren und zur Revolte anstacheln können?

“Wie kommst du auf die Idee, dass das für mich auch gelten könnte”, fragte er frei heraus, während er sich noch ein Glas einschenkte.

“Du warst doch auch einmal Inspektor. Wie du sagtest, hast du also eines richtig gemacht. Wie kann man denn Inspektor sein ohne die Fähigkeit, andere anzuführen?”

Er zog die Augenbrauen zusammen und stellte sein Glas auf den Tisch. Hier gab es etwas, das der Klärung bedurfte.

“Eines verstehe ich nicht.” Er ließ ihr einen Moment, um ihn zu unterbrechen, das Thema zu wechseln, zu fliehen, was auch immer. Nichts geschah, also fuhr er fort.

“Was ist mit der Mika passiert, die uns allen - allen latenten Verbrechern - Tod und Teufel, Gift und Galle an den Hals gewünscht hätte? Was ist mit dem zornigen Mädchen passiert, das damals Inspektorin geworden war?“

“Ich weiß nicht”, mutmaßte sie unschuldig, nahm noch einen Zug von ihrem Drink und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, “Vielleicht ist sie erwachsen geworden. Auch Inspektorin Tsunemori hat sich in den Jahren in der Kriminalabteilung verändert oder nicht?“

Danach gefragt hätte er im Nachhinein sicher nicht sagen können, weshalb er sich plötzlich auf sie zubewegte, bis er kurz vor ihr stand.

“Ich erkenne dich kaum wieder”, gab er offen zu.

“Gut”, stimmte sie schließlich zu, “Ich mich auch nicht.”

Ohne dass er auch nur einen Moment gehabt hätte, zu zögern, packte sie seine Krawatte mit ihrer Faust und zog ihn zu sich herunter, um das zu beenden, was er in den Trainingsräumen angefangen hatte.

Ihre Lippen waren nicht weich oder zärtlich wie die eines Mädchens. Sie küsste ihn mit der Entschlossenheit einer Frau, die keinen Zweifel daran ließ, was sie wollte.

Er vergrub seine echte Hand in Ihrem Haar und schlang den anderen Arm um ihren Rücken.

Es war unsinnig, sich selbst vormachen zu wollen, er würde das nicht wollen oder gar brauchen. Zur Hölle, er wusste nicht einmal, wann er seit der Oberschule ein Mädchen so gehalten hätte - geschweige denn so geküsst.
 

~
 

13. November, 2118 - 1:35

Domizil von Mika Shimotsuki, Bezirk Shibuya, Tokyo
 

Mika konnte sich nicht zurück erinnern, wann sie das letzte Mal so ungerührt daran gedacht hatte, zu Bett zu gehen. Gerade gespenstisch war die Ruhe, die sich in Bezug auf ihre Ängste in ihr eingenistet hatte. Wie das Auge im Sturm der Konflikte, die sie nun austragen musste.

Im Augenblick war sie allerdings zu erschöpft von den Ereignissen, um über Konsequenzen oder die Frage nachzudenken, ob sie nun glücklich oder unglücklich sein sollte.

Sie warf ihre Kleider daher bloß achtlos in den Raum und ließ sich in Unterwäsche in ihr Bett fallen, um gleich darauf in einen seit langer Zeit mal wieder traumlosen Schlaf zu fallen.
 

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14. November, 2118 - 23:00

MWPSB - Kriminalabteilung Einheit 1
 

“Willkommen.”

Akane ließ den Blick durch die Runde schweifen. Vor ihr versammelt waren die Mitglieder von Einheit 1 und Einheit 3 zur finalen Einsatzbesprechung. Während der neue Inspektor von Einheit 3, Mitsuba, wie ein übereifriger Schuljunge wirkte, schien es Inspektor Domoto von Einheit 3 als persönliche Niederlage anzusehen, von jemand anders befehligt zu werden.

“Um Mitternacht, also in etwas weniger als einer Stunde, beginnt der Zeitraum für Wraith neueste Operation. Wir sind sicher, dass ihr Ziel das Verteilerwerk im Bezirk Setagaya sein wird. Allerdings sind wir auch recht sicher, dass sie erneut versuchen werden, unsere Aufmerksamkeit durch ein inszeniertes Area-Stress-Level auf sich zu ziehen. Dafür brauchen wir Ihre Hilfe, Inspektoren und Vollstrecker von Einheit 3. Ich möchte, dass Sie in Stellung bleiben und auf solch eine Meldung reagieren. Nehmen sie so viele beteiligte Personen fest wie Sie können. Sie können uns Hinweise zu den Hintermännern von Wraith liefern.”

“Ja genau”, meldete sich Inspektor Domoto sarkastisch, der die Arme ungeduldig verschränkt und die ganze Zeit mit den Fingern auf seinen Arm getrommelt hatte, “Und wenn Sie falsch liegen und die Aktion scheitert, stehen wir alle vor der Direktorin dafür gerade.”

“Nein”, widersprach Akane, “Da ich die Einsatzleitung habe, übernehme ich die volle Verantwortung für Gelingen oder Scheitern der Operation. Sehen Sie es positiv, Inspektor Domoto. Sollte die Aktion scheitern, können Sie sagen, Sie hätten es kommen sehen und ich stehe dann vor der Direktorin gerade. So oder so, Sie gewinnen.”

Domoto quittierte diese Antwort mit nicht mehr als einem Schnauben.

“Denkt bitte daran, dass wir bei den meisten Mitgliedern von Wraith keine Dominator einsetzen können. Also sind auch bei diesem Einsatz Elektroschocker Pflicht.“

Akane ging dazu über, Fragen der Vollstrecker über den Einsatz zu beantworten.

Derweil standen Mika und Ginoza nebeneinander und sahen zu wie Akane Aufgaben delegierte und Positionen zuwies - er voller Stolz, sie noch unschlüssig, was davon zu halten war.

“Hör mal. Es ändert sich hoffentlich erst einmal nichts”, hörte er Mika sagen.

“Was?”

“Du weißt, was ich meine”, zischte sie durch zusammengebissene Zähne.

“Ich weiß nicht, was sich ändern sollte, Inspektorin Shimotsuki”, antwortete er pflichtgemäß und Mika wusste nicht recht, ob sie darüber nun erfreut oder gekränkt sein sollte.
 

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14. November, 2118 - 23:45

Energiewerk 8 - Bezirk Setagaya, Tokyo
 

Als die massive Präsenz des Amtes für öffentliche Sicherheit auf dem zu dieser Zeit sterbensleeren Platz des Energiewerkes vorfuhr, wirkte alles gespenstisch verlassen. Maskierte Geister waren dennoch nirgends zu sehen. Nur die blauen Umgebungsleuchten des Hauptgebäudes zeigten, dass es seine Arbeit machte.
 

“Ich habe da eine Geschichte im CommuField gehört”, wandte sich Mika in der Wartezeit an Ginoza, “Damals versuchte der Vollstrecker Shinya Kogami, aus dem Nona Tower zu fliehen, Als du deinen Dominator auf ihn gerichtet hast, soll er sich ohne Veränderung des Koeffizienten vom Non-lethal Paralyzer in den Lethal Eliminator verwandelt haben.”

“Das ist wahr. Glücklicherweise hat Inspektorin Tsunemori ihn vollstreckt. Hör am besten nicht auf das, was diese Verschwörungsphilosophen dir erzählen wollen. Der Dominator wird eine Fehlfunktion gehabt haben.”

Mika konnte ihm ansehen, dass er das selbst nicht so ganz glaubte.

Sibyl… wohl eher selbstgerechte Ratten als gerechte Götter, dachte Mika.

Ihr Communicator gab ein Signal von sich. Es war Mitternacht. Ohne es zu wollen, rückte sie ein Stück näher an Ginoza und starrte hinaus in die Dunkelheit der Nacht.
 

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MWPSB - Kriminalabteilung Einheit 3
 

“Area Stress Level im Stadtteil Minato”, rief Vollstrecker Hatano in die Runde, “Laut Kameras sind es Maskierte, die Graffitis an Häuserwände sprühen.”

Inspektor Domoto blickte auf seine Uhr: 00:00 Uhr und 14 Sekunden.

“Die Bastarde sind pünktlich. Also gut, wir rücken aus. Holen wir sie uns!”
 

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Energiewerk 8 - Bezirk Setagaya, Tokyo
 

Alle Mitglieder von Einheit 1 schraken zusammen, denn die erste Aktivität ereignete sich hinter ihnen.

“Was ist da los, wieso gehen die Lichter aus”, fragte Akane und versuchte durch die dominante Finsternis zu sehen, nun da die blauen Leuchten des Gebäudes erloschen waren.

“Das ist unmöglich, sie können nicht schon im Gebäude sein.”

“Wie können dann die Lichter… es sei denn-”

Ginoza hielt inne, als ihm eine üble Vorahnung über den Rücken lief.

“Es sei denn, das ist das falsche Energiewerk”, vervollständigte Mika.

“Wir waren uns doch einig, dass das hier-” Teppei wurde von Ginoza unterbrochen.

“Erinnert ihr euch an den Stromausfall im letzten Monat. Er dauerte nur einige Minuten an und war gleich wieder vorbei. Als Erklärung ließ man verlauten, es habe sich um einen Fehler in der Energieauslagerung gehandelt. Das könnte heißen, dass damals das vorherige Energiewerk den Fehler ausgelöst hatte und daher in der Reihenfolge übersprungen wurde. Dieses Energiewerk wäre demnach im letzten Monat an der Reihe gewesen.”

“Was bedeutet, dass diesen Monat das nächste Energiewerk an der Reihe ist, verdammt”, fluchte Akane.

“Es wäre das Werk 9 im Stadtteil Ota. Das können wir schaffen”, ermutigte Kunizuka.

“Es ist doch schon nach Mitternacht.”

Kunizuka verschränkte enttäuscht die Arme.

“Für eine Partnerin von Vollstrecker Kogami geben Sie ziemlich schnell auf, Inspektorin Tsunemori.“

Bei diesen Worten fuhr Akanes Kopf zu Yayoi und gleich darauf trat grimmige Entschlossenheit in ihr Gesicht. Sie klemmte sich eine Spinel-Zigarette zwischen die Lippen und gab den Befehl zum Ausrücken.
 

~
 

15. November, 2118 - 00:20

Energiewerk 9 - Bezirk Ota, Tokyo
 

Erinnerungen an die Asagi Mall tauchten in Akanes Gedanken auf, als die Sicherheitsschleuse des Energiewerkes in Sicht kam. Äußerlich wirkte alles trügerisch unverändert. Die Drohnen am Eingang waren unbeschädigt, aber bei den von Sibyl als unbedenklich eingestuften Koeffizienten der Wraith-Mitglieder auch nicht wirksamer als Schaufensterpuppen.
 

“Shimotsuki-san, ich möchte Sie bitten, hier draußen Stellung zu beziehen und die Umgebung zu sichern. Teppei-san und Hinakawa-kun werden Sie unterstützen. Lassen Sie niemanden herein oder heraus. Ginoza-san und Kunizuka-san kommen mit mir.”

Sie rückten vor und ein gutes Dutzend Entschärfungsdrohnen surrte hinter ihnen her.

“Die blauen Außenlichter der Anlage funktionieren noch, also haben Sie die EMP-Granaten noch nicht gezündet”, folgerte Ginoza und setzte sich über seinen Communicator mit Shion in Verbindung, “Wenn Sie die Granaten positionieren wollen, wo wird das sein?”

“Der beste Ort wäre in direkter Nähe zu den Generatoren im ersten Untergeschoss. Die oberen Stockwerke sind für Wartung und Steuerung konstruiert.”

“Können Sie auf die Kameras im Gebäude zugreifen?“

“Tut mir leid, Akane-chan. Aber wie es scheint, haben sie die Kameras abgeschaltet. Ich muss mich ins System einschleusen und Sie wieder aktivieren, aber das dauert seine Zeit.”

“Versuchen Sie es, Karanomiri-san”, bat Akane. Im nächsten Augenblick packte Ginoza sie bei der Schulter und zog sie hinter eine Mauer.

“Tsunemori, da ist jemand im Eingangsbereich.”

Akane neigte sich vor und lugte um die Ecke der Mauer.

Hinter den gläsernen Eingangstüren waren eindeutig Personen zu erkennen, die…

“Inspektorin, sehen Sie, was ich sehe”, wollte sich Yayoi vergewissern.

Einige Personen mit Geistermasken, der Größe nach Jugendliche, missbrauchten die Eingangshalle des Energiewerkes als Hindernisparcours und brausten auf Hoverboards über Treppenstufen, die Köpfe der Sicherheitsdrohnen hinweg und an Pylonen vorbei.

“Das wird eine Ablenkung sein. Machen Sie sich auf alles gefasst. Wir gehen rein.”

Gemeinsam gaben sie ihre Deckung auf und marschierten durch die Eingangstüren.

“Sofort stehenbleiben!” Akanes Stimme hallte von den Wänden des Gebäudes wider und ihre Augen huschten von einem Halbwüchsigen zum Nächsten. Der Geist mit der grinsenden Maske, den sie damals im Einkaufszentrum gesehen hatte, war zu ihrer Enttäuschung nicht dabei. Die sechs Jugendlichen waren starr vor Schreck und rissen die Arme in die Höhe.

Akane zielte mit dem Dominator auf einen von ihnen.
 

Tetsuga Wataru

Kriminalkoeffizient 56. Kein Objekt zur Vollstreckung.

Auslöser bleibt gesperrt.
 

“Hey, wir… wir haben nichts kaputt gemacht, ehrlich. W-w-wir wollten nur Spaß haben.“

“Wer hat euch gesagt, dass ihr hierher kommen solltet?” Aus Yayois Mund klang dies mehr nach einem Befehl als nach einer Frage.

Die Jugendlichen nahmen ihre Masken ab.

“K-keine Ahnung wer. Jemand hat uns eine Nachricht im CommuField geschickt und gesagt, hier würde eine Party steigen. Wir sollten herkommen und zeigen, was wir mit unseren Boards so drauf haben. Deshalb sind wir hergekommen. Er meinte, das sei in Ordnung und dass das Gebäude heute nicht genutzt würde.”

“Wer ist er“, fragte Akane.

“Der Mann mit dem Biker-Helm. Er hatte hier gewartet, als wir ankamen und uns herein gelassen.”

Da war sie wieder, die gespannte Aufregung, die durch Akane fuhr wie elektrischer Strom.

“Wo ist er?“

“Er war ins Untergeschoss gegangen, aber danach ging er nach oben. Er sagte, wenn ihn jemand sprechen wolle, er sei auf dem Dach des Gebäudes.”

Als Ginoza sprach, zuckten die Jungen zusammen.

“Wer ist außer dem Mann mit dem Helm noch hier?“

“K-keiner. Wenn niemand vor uns hier drin war, sind sonst nur wir hier.“

“Ihr macht jetzt, dass ihr hier raus kommt. Draußen warten drei Beamte, bei denen meldet ihr euch. Wir schicken euch nach Hause.”

“Das ergibt doch keinen Sinn”, meldete sich Yayoi als die Kinder fluchtartig das Gebäude verließen, “War er so überzeugt davon, dass wir nicht herausfinden, wo er zuschlagen würde, dass er diesen Ort völlig ungesichert lässt. Und wieso begibt er sich nach oben, wenn er doch unten bleiben und die Granaten bewachen sollte?”

“Er könnte einen Fernzünder haben. Ginoza-san, begeben Sie sich bitte mit den Entschärfungsdrohnen ins Untergeschoss. Finden und deaktivieren Sie die EMP-Granaten, aber passen Sie auf Kameras auf. Er könnte eigene installiert haben, um bei Gefahr den Fernzünder zu betätigen. Kunizuka-san, Sie kommen mit mir. Wir finden ihn. “

Akane aktivierte ihren Communicator.

“Inspektor Domoto, sind Sie bereits vor Ort? “

Die Frage war eher rhetorisch, da aus den Hintergrundgeräuschen zu schließen war, dass Einheit 3 die Randalierer bereits gestellt hatte. Befehle wurden gebrüllt und hier und da zischte der Schuss eines Non-lethal Paralyzers durch die Luft.

“Haben sich ja ein wunderbares Timing ausgesucht, Inspektorin. Wir sind leider gerade etwas beschäftigt.”

“Sie haben unsere Daten über die Hauptmänner von Wraith bekommen. Konnten Sie unter den Geistern dort einen von ihnen sehen?“

“Tja, schwer zu sagen. Bei den verfluchten Rauchbomben können wir froh sein, nicht noch unsere eigenen Leute zu treffen.”

Domoto beendete die Verbindung.
 

“Der Mann hat einfach keinen Respekt gegenüber Kollegen mit gleichem Rang.”, spottete Ginoza.

“Nein”, widersprach Akane, “er hat kein Selbstbewusstsein. Deswegen seine Furcht, durch jede Handlung eines Kollegen oder einer Kollegin beruflich abgehängt zu werden. Aber fürs Erste tut er, was er soll. Er bekämpft die freien Radikalen, die Wraith mobilisiert haben.”

Sie wünschten einander noch einmal Erfolg, appellierten aneinander, sie mögen vorsichtig sein, dann trennte sich Akanes Weg von Ginozas.
 

~
 

Bei Einheit 3 - Bezirk Minato, Tokyo
 

Der dominierende Qualm der Rauchbomben war so erdrückend wie damals bei den Feuerwerken der chinesischen Feste, an die sich Domoto aus seiner eigenen Kindheit erinnerte. Er hatte seinen Dominator erst gar nicht aus dem Holster gezogen, sondern wühlte sich, mit dem Elektroschocker um sich schlagend, einen Weg durch die Menge an potentiellen Gegnern.

Die von Wraith wie in einem Flashmob aufgetriebenen Strohmänner hatten zumindest so viel Sorge um ihren eigenen Farbton, dass sie nicht direkt gewalttätig wurden und eher das Heil in der Flucht suchten als ihre Stellung gegen die Mitglieder von Einheit 3 zu halten. Ein halbes Dutzend von ihnen hatte man schon erfolgreich zurückdrängen können.

“Bildet einen Kreis um sie”, brüllte Domoto seinen Vollstreckern über den Lärm hinweg zu, “Lasst nicht zu, dass sie uns entwischen!”

Was Akane Tsunemori anging, war er - auch wenn er das niemals zugäbe - gespalten. So sehr er wünschen würde, sie scheitern und vor der Direktorin in Ungnade fallen zu sehen, so sehr hatten die bisherigen Aktivitäten von Wraith an seiner Substanz und der seines Teams gezehrt. Wenn er es recht bedachte, wollte er Tsunemori sogar den Triumph des Erfolges lassen.

Hauptsache, es endet heute Nacht, sagte er sich.
 

~
 

15. November, 2118 - 00:45 Uhr

Energiewerk 9 - Bezirk Ota, Tokyo
 

Durch die Dunkelheit der oberen Stockwerke pirschten sich Akane und Yayoi näher und näher an den Ausstieg zum Dach. Die Kinder hatten Recht behalten. Es schien niemand außer ihnen dort zu sein.

Je näher sie aber dem Dach kamen desto mehr bemerkte Akane den untrüglichen Instinkt eines Bullen. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf und jeder Muskel spannte sich in Erwartung eines Kampfes. Das letzte Mal hatte sie sich so gefühlt, als sie auf Shambala in Feindesgebiet eingedrungen war und sie die Nähe einer anderen Person gespürt hatte, die sich als Shinya Kogami erwiesen hatte.

Sie war froh, auch ihre Kleidung der damaligen Mission auf Shambala angepasst zu haben. Rock und Blazer hätten in dieser Situation zu viel Bewegungsfreiheit geraubt. So waren Cargohose, feste Stiefel, fingerlose Handschuhe und Jacke die bessere Wahl.
 

Das letzte Tor zum Dach öffnete sich durch eine alte hydraulische Tür. Akane und Yayoi waren überrascht wie hoch oben sie sich befanden. Von unten betrachtet hatte das Gebäude nicht so groß ausgesehen.

Akane gebot Yayoi mit einer Handbewegung, anzuhalten. Den sitzenden Mann am anderen Ende des Daches hatte sie in der Dunkelheit der Nacht kaum bemerkt.

“Guten Abend, Inspektorin”, grüßte er durch den Stimmverzerrer und erhob sich.

Nun waren im Gegenlicht die Flammenzeichnungen auf seinem Anzug erkennbar. Die Lichter der Stadt spiegelten sich in der Schwärze seines Visiers.
 

Wohl nur, um sich selbst zu versichern, zielte sie mit ihrem Dominator auf den Anführer von Wraith.
 

Fehler! Ungültiges Objekt. Auslöser bleibt gesperrt.
 

“Dass du derart fahrlässig von deinem Sieg ausgingest, habe ich nicht von dir gedacht. Wir haben herausgefunden, welches dein wirkliches Ziel sein wird.“

Der Maskierte zeigte sich unbeeindruckt von Akanes Versuchen, ihn aus der Reserve zu locken.

“Ich hatte nichts Geringeres von Ihnen erwartet, Inspektorin.“

“Wenn das wahr ist”, fragte Akane, “warum lässt du diesen Ort dann unbewacht zurück?”

Der Mann zuckte mit den Schultern.

“Darf ich denn keine Geheimnisse haben?”

“Wieso hast du die Kinder hierher gebracht”, fragte Akane, während sie von der einen Seite um den Mann herum schlich und Yayoi von der anderen Seite.

“Wir geben Ihnen das zurück, was Sibyl ihnen gestohlen hat.“

“Was hat Sibyl ihnen gestohlen?“

“Inspektorin, die vorgetäuschte Naivität steht Ihnen nicht. Sie wissen ziemlich genau, was ich meine.”

“Die Fähigkeit, selbst zu entscheiden.“

Ihr Gegner deutete die Bewegung eines Nickens an.

“Ja. Sibyl kontrolliert jeden Menschen in diesem Land. Das System lässt sich aber von niemandem kontrollieren. Ist das gerecht?“

“Willst du uns nun etwa das Märchen von Gerechtigkeit auftischen”, spottete Yayoi, “Was ist gerecht daran, wenn ein Freund stirbt, der uns wichtig ist? Nicht einmal die Geburt eines Menschen ist gerecht, weil er in diese Welt geboren wird, ohne gefragt zu werden, ob er das will. Erzähle du mir also nichts von Gerechtigkeit.”
 

Das war ihre Chance! Akane hatte den Moment genutzt, in dem ihr Gegner durch den Wortwechsel mit Yayoi abgelenkt schien und sprang nach vorn. Wenn sie es schaffte, ihm den Arm zu verdrehen wie damals Sakuya Togane, hatte sie ihn.

Ihr Angriff war fingiert. Sie wusste, dass ihr Gegner stärker war, daher nahm sie die Bewegungsenergie aus ihrem Angriff, als ihr Gegner auswich, um die Kraft seines Konters gegen ihn zu nutzen.

Er fiel auf die Falle herein und schnellte nach vorn, um ihren Arm zu greifen. Sie ließ zu, dass er ihn erwischt und ließ sich von ihrem Körpergewicht nach hinten ziehen.

Doch sie konnte ihn nicht mit sich ziehen, nein, er bewegte sich gar nicht.

Als ihre Augen sich in seinem Visier selbst begegneten, erkannte sie: Er hatte ihre Falle durchschaut und seinerseits alle Bewegungsenergie aus seinem vermeintlichen Angriff genommen.

Nun genügte ein Ruck und Akane wurde in seine Richtung gezerrt. Ein Stolpern über seinen Fuß und ein Klaps seiner Hand auf ihren Hinterkopf und sie musste ihren Sturz mit den Händen abfangen.

Sie sah nur aus dem Augenwinkel Yayois Angriff ebenso scheitern, als der Mann ihrem Elektroschocker auswich und sie - ihr Bewegungsmoment ausnutzend - am Arm nach vorn riss, nur um einen Fuß gegen ihren Bauch zu stemmen, sich fallen zu lassen und sie über sich zu werfen.
 

“Dann sagt mir, ihr beide” Er erhob sich wieder. “Seid ihr heute Nacht hier, weil ihr das wollt oder weil Sibyl das will?“

Akanes Communicator aktivierte sich und Ginozas Stimme erklang, leise genug, dass nur sie ihn hörte.

“Tsunemori, ich habe die EMP-Granaten gefunden. Keine Kameras hier unten. Ich werde sie nun entschärfen. Lenk ihn noch etwas länger ab.”

Ablenken… Sie musste ihn heute Nacht gar nicht zu fassen bekommen, Hauptsache, sein Plan konnte vereitelt werden.

Sie würde Ginoza all die Ablenkung verschaffen, die er brauchte.

“Welche Rolle spielt es, ob wir aus eigenem oder aus Sibyls Willen hier sind?”

“Es spielt die entscheidende Rolle. Die über alles Entscheidende.“

“Dann kannst du beruhigt sein”, presste Yayoi entschlossen hervor, “Ich bin nicht um Sibyls Willen hier. Aber ich vertraue meiner Inspektorin.“

“Und wenn ich dir sage, Vollstreckerin Kunizuka, dass deine Inspektorin etwas über Sibyl weiß, das sie dir und allen anderen Mitgliedern ihrer Einheit bewusst vorenthält?”

“Nein, nicht!” Akanes Aufschrei schnitt ihm das Wort ab. “Kunizuka-san, glauben Sie ihm kein Wort. Was er sagt, ist nicht wahr!”

Sie konnte Yayois Seitenblick auf sich fühlen und kämpfte gegen die Panik an.

Nicht jetzt. Sie dürfen das nicht wissen, noch nicht. Bitte.

Ihr insgeheimes Flehen wurde erhört.

“Die Entscheidung für das Richtige ist allein deshalb wertvoll”, fuhr er fort, “weil auch das Falsche zur Wahl stand.”

Akane begann, sich machtlos zu fühlen. Unfähig, ihn zu überzeugen oder zum Umkehren zu bewegen - wie damals, als Kogami davon besessen war, Makishima auszuschalten.

“In Sibyls Welt gibt es keinen falschen Weg mehr. Kein sich Verirren mehr und keine Chance, auf den rechten Weg zurück zu finden. Sibyl definiert, welcher der richtige Weg ist und sorgt dafür, dass nichts und niemand mehr davon abweicht. Heute Nacht erwecken wir das Finstere im Menschen zu neuem Leben und geben seinem ungezähmten Wesen die Chance, dieses Land zu verändern.”

“Aber zu welchem Preis?“ Ihre Stimme klang nun flehentlich und sie hasste sich dafür.

“Es wird Verkehrsunfälle geben. Die medizinische Versorgung wird zusammenbrechen. Menschen werden sterben, wenn ihr das tut. Viele Menschen. Das kann nicht euer Weg sein.”

“Vielleicht hast du dich in uns getäuscht, Inspektorin.”

Der Mann wandte sich ab.

“Tja und vielleicht auch nicht.”
 

Akane hatte keine Zeit zu reagieren, als ihr Gegner einen Sprint auf das Ende des Daches startete.

“Scheiße!”

Akane rannte ihm nach. Sie hörte Yayois schockierten Ausruf kaum und war froh über ihr intensives Lauftraining der letzten Zeit. Sie hatte ihn gerade eingeholt, als sie beide das Ende des Daches erreichten, dann sprang sie ihm hinterher.

Auch wenn wir beide in den Tod stürzen, habe ich zumindest das Schlimmste verhindert. Kogami-san, verzeihen Sie mir…
 

Die Zeit verlangsamte sich in ihrer subjektiven Wahrnehmung und sie sah den Mann den Kopf zu ihr umwenden. Er musste erkannt haben, dass auch sie gesprungen war.

“Verfluchter Sturkopf”, hörte sie ihn fluchen, dann drehte er sich im Sprung und packte sie, ehe sie in die Tiefe stürzten.

Was dann geschah, konnte Akane nur vermuten, denn seine Hand drückte ihren Kopf unerbittlich fest gegen seine Schulter, so dass sie nichts sah, sondern nur das Gefühl und den Geruch von hartem, kühlem Leder wahrnahm.

Der Mann musste eine weitere Drehung geschafft haben, denn auf einmal schien es so, als glitten sie durch die Luft.
 

Stimmt, sie hatte auf seinem Rücken so etwas wie einen Rucksack gesehen, als er sich zum Sprint abwandte.

Ein Fallschirm oder ein Gleiter, dachte sie.

Dann spürte sie eine Landung und im nächsten Moment erblickte sie den Gleiter an seinem Rücken wie die Flügel einer feuerroten Fledermaus. Er war auf dem tiefer gelegenen Dach eines Nebengebäudes gelandet.

“Willst du mich so sehr fangen, dass du dafür zu sterben bereit bist“, zischte er sie durch den Stimmverzerrer an.

Er hielt sie noch immer, einen Arm an ihrem Rücken, während sie die Arme reflexartig um seinen Hals geschlungen hatte.

“Wenn ich dadurch die Menschen dieser Stadt schützen kann, dann auch das“, gab sie trotzig zurück.

“Jetzt siehst du ihn wieder, den Abgrund, nicht wahr? Selbst deine eigene Vernichtung anzunehmen, um mich zu schlagen. Das ist der freie Wille, von dem ich sprach. Und du kannst mir nicht erzählen, dass du dieses Kribbeln auf dem Rücken nicht gefühlt hast, dass nur dein von Sibyl befreiter Wille bieten kann.“

Er fuhr verdeutlichend mit dem Daumen über Akanes Wirbelsäule und sie fühlte den Schauer bis in die Haarspitzen.

Völlig unvermittelt, ließ er sie los und entfernte sich von ihr.
 

“Es wird Zeit für die Show. Genießen Sie sie, Inspektorin.”

Er zog etwas in der Form eines Stiftes mit einem Knopf an der Oberseite.

“Nein!”

Sie griff hinter ihren Rücken und erwischte ihren Dominator, den sie aus dem Holster riss und auf ihn richtete.

“Tun Sie das nicht! Wenn Sie die EMP-Granaten zünden, wird der elektromagnetische Puls den Chip in ihrem Helm ausschalten und glauben Sie mir, ich werde schießen, welchen Koeffizienten Sie auch immer haben sollten. Sind Sie bereit, für das, was Sie vorhaben, zu sterben?”

Mit nacktem Entsetzen sah sie ihn den Knopf drücken.

Doch, was sie gefürchtet hatte, passierte nicht. Es gab keine Explosion, keine Verdumpfung, kein Erlöschen der Lichter. Stattdessen hob Wraith den Stift an seinen Helm und sprach etwas hinein, was Akane nicht hörte.

Plötzlich warf er ihr mit einer schnellen Handbewegung den Stift zu. Erst als sie ihn gefangen hatte, begriff Akane, dass es kein Fernzünder war. Es war eine Art archaischer Communicator.
 

~
 

Bei Einheit 3 - Bezirk Minato, Tokyo
 

“Auf die Knie und denk besser gar nicht daran, auch nur zu zucken.“

Domoto kostete den Triumph aus.

Gut zwei Dutzend Delinquenten in einer Nacht und alle saßen sie nun hier in der Falle und warteten auf ihren Abtransport.

Hinter den Mitgliedern von Einheit 3 blockierte eine Sperre aus einem Dutzend Komissa-Drohnen die Straße.

“Vielleicht ist es ganz lehrreich für euch, mal eine Internierungseinrichtung von innen zu sehen”, mutmaßte Domoto.

“Was soll das”, hörte er einen der Gefangenen flüstern, “Ich dachte, er wollte heute Nacht kommen. ”

“Hey, was tuschelt ihr da”, mischte er sich ein, “Wer kommt?“

Der Gefangene Geist konnte kaum das Beben seiner Stimme unterdrückten.

“Spectre”, antwortete er, “Spectre wird kommen.“

“Mach dich lieber darauf gefasst- Verdammt, was gibt es da zu lachen?!”

Domoto fuhr wütend herum, nur um festzustellen, dass da keiner seiner Vollstrecker stand und lachte.

Stattdessen benahm sich eine der Komissa-Drohnen merkwürdig. Sie hielt sich den Bauch und schien bemüht, lautes Lachen zu unterdrücken. Dann brach das Lachen aus ihr heraus und ebenso zerbrachen alle Komissa-Drohnen in holografische Polygone, nur um maskierte Anhänger von Wraith unter sich zu offenbaren, allen voran der Junge mit der grinsenden Maske. Auf seinem Hoverboard schnellte er an den Vollstreckern vorbei und warf den eben noch gefangenen Geistern eine Tasche zu.

“Tut aus das Licht”, rief er und die Hölle brach um sie los.
 

~
 

Akane war angewurzelt und hörte bloß das Schreigewirr auf der anderen Seite des Communicators, als die Geister wieder zum Angriff übergingen.

Dann hörte sie Domoto.

“Hilfe! Wir brauchen Verstärkung! Die Komissa-Drohnen wurden gehackt! Es waren Geister!”

“Inspektor, runter”, schrie einer der Vollstrecker.

“Verdammt, die werfen mit… das, das sind EMP-”

Dann war die Verbindung tot.
 

Akane riss die Augen auf und starrte auf den maskierten Mann vor ihr. Der hob Zeige- und Mittelfinger an seinen Helm und salutierte, ehe er sich abwandte und ungehindert auch von diesem Dach sprang, um mit seinem Gleiter zwischen den Häuserschluchten zu verschwinden.

Es dauerte lang, ehe sie aus Ihrer Starre erwachte.

Und so sehr sie sich auch zu zwingen versuchte, sie konnte keine Wut in sich wachrufen. Stattdessen ertappte sie ihre Lippen dabei wie sie sich zu einem unmerklichen Lächeln verzogen hatten.

Ich hatte mich nicht in Ihnen getäuscht.
 

15. November, 2118 - 1:30 Uhr

Energiewerk 9 - Bezirk Ota, Tokyo
 

Es überraschte Akane, dass niemand ihr Vorwürfe machte, sie sei von Anfang an zu halsstarrig an das alles heran gegangen. Nicht Mika, nicht einmal Ginoza. Jedenfalls war er bemüht, ihr keine zu machen.

Sie saß zusammengekauert auf einem Mauervorsprung am Eingangsbereich der Anlage, die Knie an die Brust gezogen und sah wie eine Anfängerin den Vollstreckern zu wie sie zu retten versuchten, was noch zu retten war.

Ginozas Mantel, den dieser ihr über die Schultern gelegt hatte, spendete etwas Wärme. Was hätte sie nun dafür gegeben, dass Kogami dort gewesen wäre, um ihr zu sagen, dass alles in Ordnung war. Dass sie sich nichts vorzuwerfen hatte. Aber das stimmte nicht, oder?
 

“Hier. ” Ihr Kopf hob sich zu Ginoza und dem dampfenden Becher, den er ihr entgegen hielt.

“Wenigstens bekommt man an diesem trostlosen Fleck Kaffee. Es ist zwar nur Hyper-Oats-Kaffee, aber immerhin.”

Sie nahm den Becher dankend an und wärmte sich die Hände, ehe sie vorsichtig nippte.

“Wollen Sie mir diesmal nicht vorwerfen, ich wäre wieder auf eine ihrer Fallen hereingefallen, Ginoza-san?“

Er seufzte und stemmte die Fäuste in die Hüften.

“Ich werfe dir gar nichts vor, Akane. Ich mache mir nur immer größere Sorgen.” War ihm bewusst, dass er sie das erste Mal mit ihrem Vornamen angesprochen hatte. Akane jedenfalls war es aufgefallen.

“Ich sehe dich diesem Gespenst nachjagen und du wirst dabei zunehmend rücksichtsloser. Rücksichtsloser gegen dich selbst. Erst dieser Alleingang zu Tomoakas Wohnung, der dich hätte umbringen können und nun springst du diesem Mann hinterher. Wenn du abgeglitten wärst oder er dich abgeschüttelt hätte, wärst du jetzt tot und hättest doch nichts damit erreicht.

Nun muss ich diesem Mann sogar noch dankbar sein. Und du solltest das auch. Er hat dir immerhin das Leben gerettet.”

“Wissen wir schon wie es den Mitgliedern von Einheit 3 geht”, fragte Akane, vor allem um die Schuldgefühle auszublenden.

“Ich habe vor wenigen Minuten eine Nachricht von Inspektor Mitsuba bekommen, dass er sie alle herausholen konnte. Zum Glück keine Verluste, nicht einmal Verletzte.“

Akane seufzte nun auch, jedoch vor Erleichterung.

“Ich muss wohl kaum erwähnen”, relativierte Ginoza, “dass Inspektor Domoto Gift und Galle spuckt und dich am liebsten eigenhändig zu einem Disziplinarverfahren schleifen würde.”

“Wissen wir denn schon wie groß die von Wraith verursachten Schäden sind”, wollte sie wissen, um sich auch von Domotos Zorn abzulenken.

“Nicht genau. Shion kümmert sich um die Analyse. Sie sagte, sie werde die Auswertung beendet haben, wenn wir wieder im Nona Tower sind. Wraith hat acht EMP-Granaten im Zentrum von Minato gezündet. Vorsichtig ausgedrückt also: ein ziemlicher Alptraum. Aber gib dir nicht allein die Schuld dafür. Sie haben uns alle ein zweites Mal an der Nase herumgeführt, indem sie genau das Gegenteil getan haben wie bei ihrer ersten Aktion. Damals war der Area-Stress-Level die Ablenkung und Überfall auf den Material-Konvoi das wahre Ziel. Diesmal war das, was wir für das wahre Ziel hielten, die Ablenkung und der Area-Stress-Level die Tarnung für die wahre Aktion. Wer hätte das ahnen sollen?“
 

Erneut fühlte Akane sich hilflos. So gern hätte sie nun Kogami gefragt, ob er es hätte kommen sehen. Ob er diesen Plan wohl durchschaut hätte.
 

“Ich verstehe das einfach nicht. Sie haben im Untergeschoss doch EMP-Granaten gefunden, Ginoza-san. Wie konnten sie dann-”

Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als er ihr einen grünen, länglichen Zylinder hinhielt.

Eindeutig zu erkennen war die weiße Seriennummer.

“Das sind echte EMP-Granaten”, erklärte er, “Jedenfalls waren sie das. Der Zünder wurde entfernt, das heißt sie waren vor langer Zeit bereits gezündet worden. Das ist Militärschrott. Vermutlich sollte er über die Yamanote-Linie zu einem Endlager außerhalb der Stadt transportiert werden und Wraith hat auch diese unbrauchbaren EMP-Granaten entwendet.”

Akane nahm den leeren Zylinder von Ginoza an. Nur fühlte er sich nicht leer an. Als sie ihn schwenkte, klang es, als sei er mit Kieselsteinen gefüllt.

Sie brach das obere Ende ab und etwas fiel heraus, das sie erst am Boden deutlich erkennen konnte: bunte bohnenförmige Objekte.

Akane hob eine kleine weiße Bohne auf und steckte sie sich in den Mund, ehe Ginoza protestieren konnte.

Vanille.

“Das sind doch…”


Nachwort zu diesem Kapitel:
Noch immer bleibt verborgen, welchen finalen Plan Wraith verfolgt - wenn es denn überhaupt einen gibt. Längst klar ist aber, dass Akane und ihren Getreuen von mehr als dieser Seite Gefahr droht.
Welches Spiel spielt der neue Inspektor Mitsuba? Welche Tricks hat der geisterhafte Subadachan noch im Ärmel und was wird das Sibyl System tun, wenn es Verrat aus den eigenen Reihen fürchten muss?
Noch mehr Enthüllungen und Untiefen werden sich auftun. In Kapitel 7: "Jelly Beans". Komplett anzeigen

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