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Out of the Blue.

Out of the box.
von
Koautor:  Daelis

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Almost too late

Ich hatte mir gewünscht, dass ich das Kommissariat nicht allzu schnell wiedersehen würde. Nun hatte ich mich selbst dorthin bugsiert. Die Pforten der Institution kamen mir heute unheimlicher vor als bei unserem ersten Besuch. Die Wände hatten keinen anderen Anstrich gekommen und trotzdem wirkten sie auf mich erdrückender und dreckiger. Die Gänge schienen mir schmaler, die Luft dicker.

Lestrade führte uns ohne Umschweife in einen der Besprechungsräume und ließ den internen Fotografen rufen, um ein Bild von uns aufzunehmen.

„Reicht nicht auch einfach nur eine Aussage?“, wandte ich ein, wurde aber von dem Inspektor, der zwar angetrunken doch inzwischen zumindest ein bisschen nüchterner war regelrecht ausgelacht.

„Eine Aussage? Wir wollen dem Ripper ein Tortenstück präsentieren, keine Krümel“, war die einzige Antwort, die er für mich hatte und ließ sich auf den Stuhl uns gegenüber nieder.

Er legte die Beine auf dem Tisch, überschlug sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

Stille.

„Sie machen einen großen Fehler“, mischte sich der Doktor ein, welcher sich trotz Aufforderung bisher nicht hingesetzt hatte.

„So? Das wäre nicht der erste.“

„Vielleicht aber Ihr letzter.“

Lestrade lachte in seinen Dreitagebart hinein und zog dann die Augenbrauen hoch.

„Das glaubt ihr doch selbst nicht? Sobald ich den Ripper habe, werde ich gefeiert. Ich werde sogar Sutherland überholen.“

„Ist es das, was Sie wollen? Ruhm?“

„Ein bisschen kann nicht schaden.“

Es schien nicht, dass wir ihn von seinem Vorhaben abbringen konnten.

„Constable“, rief er da mit einem Mal in den Flur, wo die Tür einen Spalt offen geblieben war.

Eine mir durchaus bekannte Gestalt trat an – der junge Constable Parker, den ich beim letzten Mal leider hatte ein bisschen auf den Arm nehmen müssen. Mein schlechtes Gewissen trat auf und ich tat lieber so, als hätte ich ihn nicht gesehen. Er mich dafür aber umso mehr.

„Ja?“, blieb er jedoch an Lestrade gewandt und stand stramm im Raum, als er eingetreten war.

„Bringen Sie das Fräulein in die Zelle. Smith bleibt bei mir.“

„Eh … verstanden.“ Nun mussten wir uns doch direkt gegenüberstehen und der Constable schluckte vor Unmut. Vermutlich hatte er Sorge, dass ich ihm wieder ausbüchsen würde und was dies für Konsequenzen für ihn bedeutete. Jobverlust? Bestimmt.

„Ich sage es noch einmal: Sie begehen einen Fehler“, warf der Timelord nachdrücklich ein, doch auch davon ließ sich Lestrade nicht beeindrucken und lächelte überheblich mit ausgebreiteten Armen:

„Und ich sagte: Das ist nicht der erste. Führ sie ab!“

Ich hatte keine Wahl – Ich konnte mich zwar wehren, aber noch mehr Ärger wollte ich auf der anderen Seite auch nicht provozieren. Genauso müssten sie mich nachher ein weiteres Mal freilassen, wenn sie tatsächlich vorhatten, mich als Lockvogel gegen den Ripper einzusetzen.

Ich trat zu dem Constable und straffte die Schultern:

„Also … rechts lang?“

 

Es war zumindest nicht die gleiche Zelle wie letztes Mal. Die jetzige war kleiner und nicht mit Baren ausgestattet. Ich vermutete, dass es keine Gefängnisunterkünfte auf lange Sicht waren, sondern nur für die Zeit, bis die Sitzenden zum Verhör geholt wurden. Das nächste, was anders war: Ich war nicht allein. Und ich kannte den Mann, welcher mit mir die Zelle teilte: Der Arzt, den wir vor dem Londoner Krankenhaus getroffen hatten. Wie hieß er noch mal? Barnardo. Genau.

Der Mann blickte aus seiner vorgebeugten Sitzhaltung auf, welche er auf der hölzernen Sitzbank eingenommen hatte. Aus seinem Gesicht sprach die Überraschung, dass wir uns wiedersahen.

Constable Parker schloss uns gemeinsam ein, warf noch einmal einen Blick auf seine beiden Gefangenen und verließ dann den Keller. Wir waren allein.

„Miss Garcia, richtig? Es ist schön Sie wiederzusehen“, sprach Barnardo, hatte seinen Hut aber nicht mehr zu ziehen, so dass mir nun das schüttere dunkle Haar mit den Geheimratsecken begegnete. Er hatte ein dünnes Lächeln aufgelegt und seine Augen waren müde. Vollkommen erschöpft.

„Mr. Barnardo … warum … sind Sie hier?“ Ich konnte es mir fast denken, wenn ich an die lächerlichen Festnahmen dachte, die man im Falle des Rippers vollzug und hoffte inständig, dass es an etwas anderem lag.

„Tja … man hat mich der Morde verdächtigt.“

„Die Ripper-Fälle?“

„Sie sind der Meinung, dass ich nicht nur die Qualifizierung besitze, so zu morden, sondern auch ein unscheinbares Äußeres.“

„Was meinen Sie?“ Ich erinnerte mich daran, dass wir eigentlich nicht viel über den Mann hier wussten. Außer, dass er selbst Mediziner war und so natürlich das grundlegende Wissen besaß, was Anatomie und Physiologie betraf. Und dass er eine Frau und Kinder hatte. Mehr nicht.

„Ich arbeite daran, den Bedürftigen in London zur Seite zu stehen. Kinderheime“, erklärte er kurz und knapp und legte dann die Hände in den Schoß, „Das war anscheinend Grund genug davon auszugehen, dass ich mir entsprechend Zugänge verschaffe.“ Er schüttelte den Kopf und lächelte pikiert, „Hatten wir nicht noch über die absurden Haftbefehle gesprochen? Nun bin ich selbst hier. Seit zwei Tagen. Und meine Frau weiß von nichts … herrje.“

Meine Augenbrauen zogen sich mitfühlend zusammen. Bei allen Londoner Männern glaubte ich am wenigsten, dass er es war, den man zu fürchten hatte. Kein Wissen. Nur Intuition. Aber diese lag bei mir selten falsch. „Nun ja … was ist mit Ihnen? Und wo ist Ihre Begleitung? Dr. Smith?“ Er betrachtete mich neugierig, „Was haben Sie laut denen getan, dass Sie hier gelandet sind?“

„Wir … hatten das Pech über eine Leiche zu stolpern“, antwortete ich halb wahrheitsgemäß und konnte nur mit den Schultern zucken, „Natürlich glauben sie uns nicht.“

„Nein, natürlich nicht“, lachte Barnardo bitter auf und seufzte daraufhin schwer, „Ich hoffe, dass sie uns dennoch bald wieder entlassen werden. Sie haben keinerlei Beweise. Weder in meinem Fall, noch in Ihrem.“

„Woher wissen Sie das?“

„Sie wirken auf mich nicht wie ein Verbrecherpaar, das Menschen ermordet.“

In diesem Punkt verstanden wir uns ziemlich gut und ich musste ein bisschen lächeln.

 

Wie lange ich tatsächlich in der Zelle blieb, konnte ich nicht sagen. Vielleicht ein paar Minuten, vielleicht waren es auch Stunden. Scotland Yard ließ mich hier unten jedenfalls eine Weile versauern und vor allem ließen sie mich nicht mit dem Doktor sprechen. Ich konnte mir vorstellen, dass er versuchte, Überzeugungsarbeit zu leisten und hoffte sehr, dass sie ihn nicht einfach direkt in eine Zelle für Schwerverbrecher verfrachteten.

Nach ungewisser Zeit kamen dann mit einem Mal zwei Polizisten wieder zu uns und schlossen unsere Zelle auf. Barnardo und ich guckten uns verwundert und etwas verängstigt an. Sie führten uns beide raus. Den Doktor und Wohltäter und ich. Wir wurden in entgegengesetzte Richtungen gebracht und so blieb uns nichts weiter übrig, als einander leise viel Glück zu wünschen und uns dann wieder auf unser Selbst zu konzentrieren.

Der Polizist, welcher hinter mir ging, mich grob an den Armen hielt und dabei vor sich her dirigierte, führte mich schließlich in einen etwas größeren Raum, ein Büro.

Auf dem Schild konnte ich in großen Lettern LESTRADE lesen. So viel Ehre wurde mir also zuteil.

„Schön Sie wiederzusehen, Fräulein Gartner“, sprach der dem Bürozimmer zugehörige Inspektor und mein Blick glitt automatisch zu der Person, die neben ihm stand – der Doktor. Er wirkte nicht gerade glücklich, aber zumindest erleichtert als er sah, dass es mir gut ging und ich nicht gefoltert worden schien. Was hatten die beiden wohl miteinander geredet?

Neben uns Vieren befand sich noch ein weiterer Mann im Raum: Der Fotograf. Die alte Kamera und das Stativ aufgebaut, wäre ich unter anderen Umständen fasziniert gewesen. „Ich hatte gerade eine anregende Unterhaltung mit Mr. Smith. Leider war sie aber sehr einseitig.“ Er winkte den Fotografen heran, so dass dieser in Stellung gehen würde.

„Und was ist, wenn ich mich nicht fotografieren lasse?“, fragte ich daraufhin sturköpfig.

Lestrade verlor sein Lächeln nicht, legte dafür aber einen ziemlich gefährlichen Unterton in seine Stimme, als er mir antwortete:

„Dann werden wir wohl oder übel dafür sorgen.“

„Das dürfen Sie nicht.“

„Und wie ich es darf. Ihr seid hier bei Scotland Yard. Wir dürfen eine Menge.“

Der Fotograf räusperte sich und positionierte die Kamera.

„Meinetwegen können wir“, sprach dieser und wartete darauf, dass ich mich zu den beiden anderen gesellte. Ich tat nichts dergleichen, außer eines: die Mitarbeit zu verweigern.

„Sie sperren hier Leute ein, die nichts getan haben. Verdächtigen Unschuldige und schlagen ihnen vielleicht auch noch die Köpfe ab. Und das soll die Polizei sein?“, konnte ich mir nicht verkneifen, woraufhin der Doktor beschwichtigend die Hände hob. Ich sollte ruhig bleiben. Keine unüberlegten Äußerungen gegenüber des Inspektors.

Lestrade schien sich jedoch an meiner Aussage nicht zu stören und behielt das Pokerface aufgesetzt,

„Du kannst dich sträuben, wie du willst. Das ist mir vollkommen egal.“

Er trat zu mir. Bevor ich mich versah, hatte er mich am Oberarm grob gepackt und zog mich zu sich. Ich stolperte, konnte mich so nicht wehren. Aber wenn ich mich in diesem Moment auf etwas verlassen konnte, dann war es der Doktor, welcher auch wenn er immer noch wütend auf mich war, mich nicht einfach so ausliefern würde.

„Wir haben eine Abmachung getroffen“, ging er dazwischen und löste Lestrades Hand von meinem Arm, der mir zu schmerzen begann.

„Die ich hiermit widerrufe. Und Schuss“, wies der Inspektor an und mit einem Mal blendete mich für ein paar Sekunden ein gleißendes Licht. Ich hatte den Geruch von Ruß oder Ähnlichem in der Nase. „Es ist mir egal, was ihr wollt oder was ihr nicht wollt. Ich kann euch auch wegen Behinderung der Ermittlungen einbuchten, wenn es euch lieber ist. Und dann kann ich euch vor Gericht ziehen, weil ihr anscheinend nicht einmal Einreisepapiere besitzt und zudem noch eine Leiche geschmuggelt habt. Ist euch das lieber?“

 

„Extrablatt!! Extrablatt!!“, rief ein kleiner Junge mit abgewetzter Schirmmütze und nicht minder abgenutzter Kleidung. Er hielt einen gelblichen Zettel in der Hand, ein bisschen kleiner als normale Zeitung und hielt einen weiteren Stapel dieser Blätter in seinem anderen Arm. „Neuigkeiten zu dem Ripper! Augenzeugin gefunden!“

„Eine Ausgabe, bitte!“

„Das macht einen Penny, Sir!“ Der Junge erhielt das Geldstück und reichte dem Herren im unpassend braunen Mantel eine Zeitung. Noch nie hatte das Kind so einen komischen Mann gesehen. Die Frau neben ihm gefiel ihm da schon besser. Sie könnte eher von hier sein.

Die beiden entfernten sich und der Junge rief weiterhin die Sonderausgabe aus, welche er für einen minimalen Lohn zu verbreiten hatte.

„Und natürlich die Titelseite. Lestrade hat nicht zu viel versprochen.“ Der Doktor redete inzwischen war wieder mit mir, aber hingegen war ich es nun, die sich nicht traute, zu antworten oder ihn von mir aus anzusprechen. Demnach schwieg ich und betrachtete einfach nur den Schnappschuss, der von uns in der Zeitung zu sehen war. In großen Buchstaben trötete es: EYE-WITNESS OF THE RIPPER SLAUGHTERS. Hetzerisch, provokant, falsch.

Man konnte die Morde nicht als Schlachterei bezeichnen, mehr als präzise Organentnahme und Verstümmelung. Zumindest aber wies es auf die Bestialität des Mörders hin, welcher immer noch frei sein Unwesen trieb. Unser Foto war in der Tat nicht das Schönste, aber es tätigte seinen Zweck. Während der Doktor und Lestrade nur die Bildseiten schmückten, zierte meine Wenigkeit die ganze Mitte. Mein Gesicht war frontal gedreht, perfekt, um es sich einzuprägen. Die nächsten Zeilen waren nicht weniger interessant: „Die junge Prostituierte Juliet Capet äußerte sich am gestrigen Abend gegenüber Scotland Yard, dass sie Zeugin des brutalen Mordes an Catherine Eddowes in der Nacht des 30. September wurde. Capet war zum Mordzeitpunkt am Mitre Square gerade von einem Kunden wiedergekommen und hatte die Stelle passiert.“ Ich seufzte schwer, als der Doktor den Text vorlas. Hervorragend.

„Steht auch noch drin, dass ich sein Gesicht gesehen haben soll?“

„Sie spoilern mich. Ich habe den Artikel noch nicht zu Ende gelesen.“

Ich zog die Augen hoch und behielt es mir vor, keinen weiteren Blick in die Zeitung zu werfen. Also ja. Lestrade hatte mich mit diesem Artikel für vogelfrei erklärt.

„Am besten verkrieche ich mich.“

„Das hätten Sie in der Tat tun sollen“, konnte der Timelord es nicht lassen, mir eine Spitze zuzuwerfen und faltete das Blatt wieder zusammen. Er hielt es mir hin, aber ich lehnte ab. Wenn wir hier lebend herauskämen, würde ich die Zeitung vielleicht als Andenken behalten wollen. Obwohl … das ging ja auch nicht! „Aber Sie haben ihn ja gehört: Straffer Zeitplan."

Und dieser beinhaltet, dass ich mich heute den ganzen Tag auf Achse halten durfte. Mal hier, mal da. Immer schön an publiken Orten. Und zum Abend hin wollten sie mich dann in Tatortnähe des Mitre Square haben. Sie wollten den Ripper hervorlocken. Denn wer würde schon widerstehen, eine Augenzeugin den Gar aus zu machen? Ich hoffte sehr, dass sich der Serienkiller nicht auf solch ein Spielchen einließ. Dass er sich womöglich sagte, dass ihn niemand gesehen haben konnte. Ich hoffte es sehr. Der Doktor hatte mir zwar versichert, dass er zum Abend hin den nächstbesten Moment nutzen würde, damit wir von hier verschwänden, aber die Angst blieb.

Es war gerade erst später Morgen. Wir hatten die Nacht in einem billigen Hotel verbringen können. Anweisung Scotland Yards. Damit ich meiner Rolle der Juliet entspräche. Und da ich mir meinen Beruf nicht ausgesucht hatte, kam es nur gelegen, dass der Doktor als Mann an meiner Seite war.

Noch so viele Stunden totzuschlagen.

Vor allem fragte ich mich aber nach wie vor, wie er es bewerkstelligen wollte ungesehen in die Werkstatt zu kommen, wo die TARDIS stand und nun von den Polizisten bewacht wurde? Hatte es einen zweiten Eingang gegeben? Würde er sie ablenken? Würden wir einfach hineinrennen? Ich hatte keine Ahnung, wie sein Plan aussah. Und darüber sprechen wollte er nicht. Er weihte mich nicht ein. Das machte mich noch unsicherer. „Wissen Sie was? Lassen Sie uns eine Kutschfahrt durch London machen. Sie hatten sich doch eine Sehenswürdigkeitentour gewünscht?“, fiel ihm ganz spontan ein, woraufhin ich nur den Mund verziehen konnte.

„Schon … aber nicht so.“

„Nun, jetzt oder nie. Sie haben die Wahl.“ Und in Anbetracht dessen, dass wir hier noch eine ganz schön lange Zeit verweilen mussten, war es die beste Alternative. Ich hatte nämlich auch keine Lust, alle Straßen abzulaufen, die wir zu Fuß erreichen konnten.

 

Es dauerte nicht lange, bis wir also in einer schwarzen Kutsche saßen. Der Kutscher fragte uns nach unserem Ziel, woraufhin der Doktor ihm nur zurief, dass er eine möglichst schöne und lange Route durch die Stadt einnehmen sollte. Er war zwar verwundert, zwirbelte sich aber nur einmal seinen Schnurrbart und gab den Pferden dann schulterzuckend Antrieb. Letzten Endes war es ihm egal, solange das Geld stimmte.

Der Wagen setzte sich in schaukelnde Bewegung, an die ich mich zunächst gewöhnen musste. Als wir schließlich ein gemächliches Tempo erreicht hatten, wurde es angenehmer.

Wie verließen die Gegend rund um Scotland Yard und der Whitehall, die große Hauptstraße, über die wir beim letzten Mal gerannt waren, und schlugen die Richtung des St. James Parks ein. Welch ein erneutes Déjà-Vu. Ich blickte aus dem Fenster, nahm die vorbeiziehende Landschaft war, die vielen Leuten, die sich hier bewegten und die Natur, die herbstlich langsam aber sicher ihre Blätter verlieren würde und sich jetzt noch in schönsten Farben erfreute. Es glich mir eher wie meine Fahrt vor meiner Hinrichtung als eine lustige Touristentour.

„Sie wissen, wo Sie nachher zu warten haben?“, fragte der Doktor ganz plötzlich und ich wandte meinen Blick von der Aussicht ab, schaute zu ihm.

„Die St. Katherine Cree? Ja …“

„Ich werde Sie ein paar Minuten alleine lassen müssen. Kommen Sie damit zurecht?“

„Ja.“ Was hätte ich auch anderes sagen sollen? Er versuchte sein Bestes, uns beide hier wieder rauszuboxen. Da konnte ich nicht wie ein Kind wimmern, dass ich Angst hatte und nicht allein gelassen werden wollte. Selbst, wenn dies der Wahrheit entsprach. Wir mussten an die TARDIS und das Einfachste war es, wenn sich alle Welt auf den Ripper konzentrierte. Dann würde alles unproblematisch verlaufen. Zumindest, wenn wir Lestrades menschliche Wachhunde vor der blauen Box loswürden.

„Gut, ich werde mich beeilen.“ Das Gespräch war wieder verebbt und ich spürte, wie mir mein Herz schwerer wurde. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so schlecht für eine Sache gefühlt und wusste auch nicht, wie ich mein Schuldgefühl ausdrücken sollte. Es war mit einem „Es tut mir leid“, nicht getan. Das hatte ich bereits mehrfach und ich glaubte, dass ich mir gerade einen Fehltritt zu viel geleistet habe. Demnach ließ ich diese Floskel fallen und senkte resignierend die Schulter.

Wieder aus dem Kutschfenster sehend, flogen weitere Eindrücke der Baumallee des St. James Parks an mir vorbei. „Wir werden gleich den Buckingham Palace erreichen. Heute mal von der anderen Seite. Ist doch angenehmer als zu Fuß?“

„Doktor, ich wollte Ihnen nicht solche Probleme bereiten“, unterbrach ich ihn in seiner Ansprache „Sie haben alles Recht der Welt, wütend auf mich zu sein.“ Tatsächlich hielt er inne und sah mich durch seine braunen Augen einfach nur aufmerksam zuhörend an, „Ich könnte mich entschuldigen, aber das macht es auch nicht besser. Und ich hab es unterschätzt. Das ganze Zeitreisen, mein ich.“ Immer wenn ich aufgeregt oder nervös war, gestikulierte ich wild mit meinen Händen. So auch jetzt. Ich versuchte, locker zu wirken, beherrscht, doch war es sehr schwierig alles zu unterdrücken, was in mir rumorte. Seit ich vorhin diesen Eintrag geschrieben hatte, war mir wirklich erst bewusst geworden, was ich hier tat. Es war nicht normal, es war nicht aufregend. Gut, das schon irgendwo, aber es war vor allem eins: Beängstigend.

Nicht, dass ich Sorge hatte, dass die TARDIS uns weiterhin den Weg zurück auf die Erde, zu meiner Zeit verwehrte. Das nicht. Ich hatte nur die Befürchtung, dass ich das nicht mehr erleben würde. Und so redete ich mich um Kopf und Kragen, um nicht genau diese Ängste die Oberhand gewinnen zu lassen: „Ich mein, ich bin nicht mutig. Ich bin kein Abenteurer. Das letzte Mal, als ich eine Entdeckungstour zu einem verlassenen Ort gemacht habe, hatte ich einen Adrenalinschub, weil uns Wachmänner auf der Spur waren. Glaubte ich zumindest. Vermutlich waren da keine.“ Ich hatte meinen Blick von ihm abgewandt, schaute überall hin, nur eben nicht zu ihm.

„Ich glaube eher, dass Sie sich unterschätzen“, wandte der Doktor ein, als ich endlich mal eine Atempause einlegte, „Wären Sie ein Abenteurer, hätte ich Sie nicht mitgenommen. Außerhalb der TARDIS, meine ich.“ Ich war verwirrt, schaute jetzt aber lieber vollkommen fixiert auf meine Hände, die verkrampft in meinem Schoß lagen und den Stoff des Gehrocks zerknitterten, „Ich glaube, dass Sie ziemlich gut einschätzen können, was die Gefahrenweite einer Situation betrifft. Sie beobachten und versuchen erst eine Einschätzung zu geben, bevor Sie etwas unternehmen. Ihnen ist Sicherheit wichtig. Und trotzdem handeln Sie so unüberlegt und stürzen sich Halsüberkopf hinein. Was durchaus irritiert.“ Ja, es irritierte ja auch mich. „Warum hetzen Sie sich so?“

„Macht es diesen Eindruck?“

„Wenn ich eine Vermutung abgeben darf: Ja. Sie sprinten regelrecht wie der Hase beim Wettkampf mit dem Igel.“

„Ich denke eher … dass ich die Schildkröte bin und nicht der Hase“, widersprach ich wahrheitsgemäß dem, was ich dachte. Davon abgesehen wunderte es mich, dass er solch eine Fabel kannte, aber nun gut … viele menschliche Begleiter führten zu vielen Geschichten?

Der Doktor atmete hörbar durch und verschränkte die Arme. Sein Blick lag forschend auf mir und schließlich öffneten sich wieder seine Lippen,

„Erinnern Sie sich daran, was ich Ihnen im Zug sagte?“

Ich musste jetzt ehrlich nachdenken. Nicht, dass ich unaufmerksam gewesen wäre, aber es war soviel in kurzer Zeit passiert, dass mein Gedächtnis ein bisschen… siebte. Im Zusammenhang mit unserem jetzigen Gespräch, fiel es mir schließlich wieder ein und ich nickte. „Ich sehe da langsam ein Muster.“ Ja, nicht nur er. „Sie haben Angst. Und das ist gut. Angst sollte Sie normalerweise davor bewahren, sich in Gefahr zu begeben.“

„Aber?“ Ich hörte den Einwand ganz klar heraus.

„Sie tun es schon wieder. Sie preschen schon wieder vor.“ Das war nur ein Fakt, aber in meinen Ohren klang es wie eine Schuldzuweisung, obgleich er dies mit keiner Silbe beabsichtigte. Nicht wie im Pub, wo die Wut an ihm gerüttelt hatte.

„Das ist keine Absicht“, sprach ich leise.

„Das wollte ich Ihnen auch nicht unterstellen.“

„Darf ich … Ihnen dann eine Frage stellen?“ Es lag mir schon länger auf der Zunge. Ich war nicht blind und ich hatte im Laufe unserer bisherigen Reise ein paar Ähnlichkeiten entdeckt, die mir jedoch keine Antwort auf mein eigenes Verhalten gaben. Dafür waren wir uns eben zu unähnlich.

„Fragen Sie.“

„Warum rennen Sie?“ Der Blick des Doktors änderte sich nicht. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als ich ihm diese Frage stellte. „Ich meine … was treibt Sie an? Sie … kennen doch Angst, oder?“ Dann senkte er mit einem Mal den Kopf, schaute mich nicht mehr an und presste kurzzeitig die Lippen aufeinander.

„Sie beobachten“, schloss er als erstes, klang angespannter.

„Ex-Berufskrankheit.“ Der Timelord nickte, schaute aus dem Fenster und überlegte.

„Was … wissen Sie genau über mich?“ Ich gab einen verwunderten Laut von mir. „Als Sie mit einem Mal in meiner TARDIS standen … wirkten Sie so, als wüssten Sie mehr als Sie sollten. Über die TARDIS. Ich muss zugeben, dass ich gehofft habe herauszufinden, woher Sie Ihr Wissen haben. Auf der einen Seite haben Sie nie die Erde verlassen, auf der anderen Seite war Ihnen das Zeitreisen an sich nicht unbekannt.“ Er hatte mir den Ball geschickt zurück gespielt und ich sah mich erneut in der Position des Antwortenden. Vielleicht war das so eine Vertrauenssache, die hier gerade passierte. Meine destruktiven Aktionen und manchmal auch schnippische Antworten trugen nicht gerade zu solch einem bei.

„Ich weiß, dass Sie ein Timelord sind. Von Gallifrey kommen. Der letzte Ihrer Art sind, sofern man nicht in die Vergangenheit zurückreist. Dass Sie von vielen gefürchtet werden und … dass Sie bisher viele Begleiter hatten. Sie regenerieren, Sie sterben nicht. Und die TARDIS ist mehr als nur ein Raumschiff. Sie besitzt Leben. Und Bananen sind gut.“ Ich versuchte, ein wenig auflockernd zu sein, weil mir das Thema so schwer fiel. Die gefürchtete Nachfrage folgte allerdings auf dem Fuße:

„Woher wissen Sie das alles?“

„Wenn ich Ihnen sage, dass … in meiner Realität das alles hier, das Zeitreisen und auch Sie eine Art … Geschichte sind, eine Fernsehshow seit den 1960ern … halten Sie mich für verrückt?“

Sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass er zumindest nicht damit gerechnet hatte.

„Sie meinen eine Fernsehshow über mich?“

„Nein, eher mit Ihnen.“

„Wer um alles in der Welt soll mich spielen? Was ist das für eine Serie? Wer hat sich das einfallen lassen?“ Skeptisch, irgendwo abwertend und gleichzeitig sichtlich überrascht zog er Grimassen und seine Stimme schlug die typischen ungläubigen Höhen an, als wäre mal wieder jemand ungefragt in der TARDIS aufgetaucht. Es ließ mich ein bisschen schmunzeln.

„Der BBC. Julie und Russell. Und ehm … ein Schauspieler namens David Tennant, der … nun ja … deswegen so aussieht wie Sie. Oder Sie wie er. Je nachdem.“

„In Ordnung. Ich weiß, dass Sie keinen Grund haben zu scherzen. Nun, zumindest klingt der Grund für Ihr Wissen somit ziemlich plausibel.“ Ich zuckte kaum merklich mit den Schultern, „Nehmen wir an, dass dem so ist, dann … erklärt es natürlich noch nicht, warum in meiner TARDIS ein Zimmer – wie Sie Ihres bei sich daheim kennen – erschien, noch vor Ihrer Ankunft. Sie … können hiermit aber nicht die Zukunft voraussagen oder?“, vergewisserte er sich noch einmal mit argwöhnischem Blick, wobei ich verneinen musste.

„Soweit habe ich nicht gesehen als dass ich sagen kann, ob dies hier dazu gehört oder nicht.“

„Ich dachte, Sie seien ein Fan?“, empörte sich der Timelord beinahe schon, dass ich anscheinend doch nicht so viel Bewunderung für ihn und seine Reisen übrig hatte, woraufhin ich natürlich gegenhalten musste:

„Hey, wir sind bei Staffel zehn! Zehn! Der neuen Serie. Der Tag hat nur 24 Stunden und ich muss auch noch anderes machen.“ Der Doktor zog seine Mundwinkel markant nach unten, als wollte er sagen: Ein Grund, aber kein Hindernis.

Könnten wir jetzt bitte wieder zu meiner Frage zurückkehren?

Ich hatte das zwar nicht laut gesagt, aber trotzdem kam er von ganz allein auf das eigentliche Thema zurück, während wir nun tatsächlich aus dem Fenster die ersten hellen Flecken des Buckingham Palace‘s sehen konnten:

„Sie dürften demnach wissen, dass ich nicht stehenbleiben kann.“

„Meinen Sie wegen Ihren Feinden? Oder … weil Sie nicht können?“

Der Doktor warf mir einen etwas betroffenen Blick zu. Es war Schuld, die in seinen Augen lag. So viel Schuld, wie es für zehn oder gar Hunderte von uns ausreichen würde.

„Ich hatte einige Begleiter“, sprach er daraufhin einfach weiter, meine Frage zunächst unbeantwortet lassend, „Und nicht alle von Ihnen sind lebend zurückgekehrt. Jemanden mitzunehmen … bedeutet Verantwortung. Verantwortung, was die Einhaltung der Schattenproklamation betrifft, aber ebenso Verantwortung gegenüber meiner Begleitung, für deren Sicherheit zu garantieren. Was, wie Sie sich vorstellen können, nicht immer möglich ist.“

„Ist das der Grund, warum Sie … lieber allein reisen?“ Ich konnte ein minimales Nicken ausmachen, obwohl er sich Mühe gab, keine Regung zu zeigen:

„Sie … verlassen mich. Weil es Zeit ist oder weil sie jemand anderen finden. Manche von ihnen vergessen mich auch.“

„Das klingt einsam ...“

„Es ist besser, als wenn ich ihren Tod mitansehen muss, denken Sie nicht? Keiner von ihnen ist dazu gemacht, auf ewig durch Raum und Zeit zu reisen. Das ist nicht ihr Leben. Nicht das, wofür sie geboren wurden.“

„Mag ja sein, aber … trotzdem… Sie sind derjenige, der einsam zurückbleibt. Und das sollte nicht sein.“ Die Worte kamen mir von selbst über die Lippen. Nicht gewollt, eher wie aus meinem Herzen heraus gefallen, „Niemand sollte auf diese Art alleine sein. Sie … geißeln sich selbst.“ Das war etwas, was mir eine Freundin einmal gesagt hatte und ironischerweise musste ich es nun weitergeben. „Sie sagen zu mir, dass ich mich nicht untergraben soll, aber dann seien Sie auch nicht so streng mit sich selbst.“ Der Doktor schüttelte nun eindeutig den Kopf und sah mich direkt an, wie ich bereits ihn,

„Sie haben keine Ahnung, was an den Taten hängt, die ich beeinflusse.“

„Das mag ja sein, aber … es ist doch auch keine Lösung, sich von allen abzukapseln. Das können Sie auch gar nicht. Sehen Sie uns doch an: Wir sitzen hier in einer Kutsche im viktorianischen London, an uns rauscht der Buckingham Palace vorbei und nach Ihren Ausführungen hätten Sie mich eigentlich nicht einmal gefragt, wo ich hinreisen möchte!“, gestikulierte ich auf uns beide und zum Fenster hinaus. „Sie sind der Doktor. Und Sie sind fasziniert von all den unterschiedlichen Kulturen und Lebensformen, die das Universum zu bieten hat. Oder andere Universen. Und Ihnen fehlt etwas, wenn Sie niemanden bei sich haben. Die TARDIS zählt nicht!“, hielt ich sogleich den Zeigefinger hoch, als er etwas erwidern wollte. Dann setzte ich mich wieder richtig in meinen Sitz und legte in meinem Schoß die Hände ineinander. „Wissen Sie, wie ich mir gerade vorkomme?“

„Sie werden es mir gewiss sagen.“

„Ein bisschen wie bei Peter Pan.“

„Wie kommen Sie darauf?“ Wieder der empörte Gesichtsausdruck.

„Wenn ich … eine einzige Sache gefunden habe, die uns verbindet, dann … denke ich, dass wir gerne ein bisschen außerhalb des Gewöhnlichen leben.“ Und damit ein klein wenig die Realität ausblenden, die uns sonst erwartet. „Und wir fliegen ja auch. Sogar ohne Feenstaub.“

„Nicht so einen missfallenden Ton gegenüber Feenstaub“, wandte der Doktor ein, „Es gibt Spezies, die auf Basis solches sich tatsächlich fortbewegen.“ Warum wunderte mich das nicht? „Aber vielleicht haben Sie zu einem kleinen Teil recht. Sagen Sie mir nun, was es bei Ihnen ist? Sie meinten zu mir, dass Sie einen Freund haben, der auf Sie wartet und zu dem Sie zurückkehren wollen? Woher dann Ihre Angst?“ Bamm. Nur wenige Sekunden der Stille und schon hatte er mir wieder den Ball abgenommen und direkt ins Tor geschossen.

„Natürlich will ich wieder nach Hause“, antwortete ich dann leise, „Mehr als alles andere, aber … ich stecke momentan fest. Da kann mir auch mein Freund nicht helfen.“ In meinen Entscheidungen, meinem weiteren Lebensweg. „Um ehrlich zu sein … hier mit Ihnen reisen zu müssen, weil die TARDIS mich nicht wieder zurückbringt, erscheint mir das Beste, was passieren konnte. Auch, wenn ich wieder zurück will. Klingt das logisch?“

„Für einen Menschen durchaus. Ihre Spezies ist von Emotionen eingenommen, die sich manchmal verselbstständigen. Unberechenbar. Dafür klingen Sie ziemlich rational.“

„Ab und zu“, musste ich fast schon ein wenig auflachen, „Aber … ich denke auch nicht, dass ich für das hier gemacht bin. Ich kann nichts Außergewöhnliches oder bin in einer Sache außerordentlich. Ich bin auch nicht besonders schnell und … mir fehlt einiges an Wissen?“

„Nichts, was Sie nicht aufholen könnten. Kurz gesagt glauben Sie, eine Last zu sein?“

„Mhm- ja. Vielleicht?“

„Ich glaube, wir müssen wirklich an Ihrem Selbstvertrauen arbeiten. Sie sind seit langem die Erste, die ich so unsicher erlebe.“ Darauf konnte ich nichts erwidern, wiegte den Kopf nur zur Seite. „Sie können und tun mehr, als Sie sich gerade zutrauen.“ Mein Blick zeigte Skepsis und der Doktor setzte demnach noch eine Bestärkung oben auf: „Glauben Sie mir, ich weiß, wenn etwas hervorsticht. Sie haben es selbst gesagt: Ich bin fasziniert vom Außergewöhnlichen.“

„Dann … Jippieh zum Außenseitertum?“, schlussfolgerte ich, noch nicht ganz überzeugt.

„Wenn Sie es so wollen, gerne. Ich kann es Ihnen jedenfalls noch so oft sagen, bis Sie es selbst glauben, dass ich Ihre Anwesenheit weder als lästig noch als unangenehm empfinde. Und nun tun Sie mir den Gefallen und schauen raus. Sie werden so schnell nicht noch einmal die Möglichkeit bekommen, in einer Kutsche durch das alte London zu reisen.“

Er hatte ja recht. Wir konnten noch so lange darüber reden. Es würde nichts daran ändern, dass wir zum einen weitergehen mussten. Zum anderen waren es keine Dinge, die wir von jetzt auf gleich beseitigen konnten. Wir mussten daran arbeiten. Schritt für Schritt. Das würde dauern.

 

Unser Kutscher nahm seinen Job sehr ernst und chauffierte uns tatsächlich einmal an die wichtigsten Sehenswürdigkeiten vorbei. Vielleicht lag es auch daran, dass er so auf eine hohe Summe hoffte, die ihm für den Extradienst gezahlt würde. Letzten Endes konnte ich mich aber nicht beschweren. Ein wenig durch den Hyde Park fahrend, den ich bei meinen zweimaligen Besuchen hatte auslassen müssen, ging es an der Themse entlang zurück. Wir hatten nicht ewig Zeit, aber diese reichte, als dass wir so zumindest noch die bezaubernde Ansicht des Big Bens wahrnehmen konnten. Es waren gut zwei Stunden vergangen. Wir hatten immer noch massig Zeit, bis es dunkel wurde. Unser Weg führte uns in eins der besten Lokale für einfache Leute. Die britische Küche war auch zu jener Zeit nicht meins. Echt nicht. Aber besser ein paar Würstchen im Magen zu haben als gar nichts. Ich versuchte mir gut zuzureden, dass es sich nicht um Schwein handelte, denn anders würde es mir die nächsten Tage ziemlich mies gehen.

Wir schlenderten umher, vergnügten uns fast schon und es fiel mir schwer daran zu glauben, dass wir bald einem Serienmörder auflauern würden – oder er uns.

Gerade fühlte es sich eher an, als würden wir Touristen sein. Touristen, die eine Stadt erkundeten, nicht mehr, nicht weniger. Und es war ein erleichterndes Gefühl, was Kraft gab.

Zum Abend hin begannen unsere Vorbereitungen:

Wir trafen uns mit Lestrade und welch Überraschung – Sutherland war ebenso dabei und nicht gerade erfreut über unsere Rückkehr. Obwohl es auf mich so gewirkt hatte, dass sie zwei Erzfeinde waren, zwei Konkurrenten, arbeiteten sie doch zusammen und während ich sie beobachtete und ihnen zuhörte, musste ich sogar ein gut hinzufügen. Selbst wenn sie sich nicht leiden konnten, wussten sie genau, wie der andere tickte und konnten sich ihre Sätze blind beenden.

Ihr Plan sah wie folgt aus: Während ich den Lockvogel spielen würde, würde Scotland Yard verdeckt den Ort umzingeln und somit ein Entkommen verhindern. Der Doktor war dazu angehalten nichts zu tun und aus diesem Grund fernab der Operation gehalten. Das war okay. Denn es ermöglichte ihm, dass er die TARDIS herbeischaffen konnte. Ihm blieb dafür nicht viel Zeit, aber ich hatte ihm zu vertrauen. Ich musste ihm vertrauen. Denn das war für mich die immer noch größere Überlebenschance, als wenn ich der Polizei mein Leben in die Hand gab.

Als wir uns dann schließlich voneinander verabschieden mussten, überkam mich die Furcht ein weiteres Mal und ich presste fest die Lippen aufeinander. Stark bleiben. Mutig sein.

Trotzdem bewegten sich meine Arme ganz von allein vor und verlangten nach einer Umarmung. Eine ziemlich heftige. Ich konnte mein Zittern nicht unterdrücken, als ich auch die Arme des Doktors um mich spürte und ich für eine Sekunde dessen schützende Wärme abbekam. Ich wäre auf mich allein gestellt. Ab den Punkt, wo wir einander losließen.

„Ich hole Sie gleich mit der TARDIS ab“, versprach er mir leise und drückte mich etwas fester. Ich nickte. Luft fuhr zwischen unsere Körper und er trat ein paar Schritte zurück. Ich ebenso.

Wir entfernten uns und Lestrade hatte mich bereits am Arm gepackt und zog mich weiter.

Ich warf einen Blick über meine Schulter, sah den Doktor immer noch an derselben Stelle sehen und wie er ernst er dreinschaute. Er würde alles tun, damit wir hier lebend wegkamen. Und so ungern ich es tat, musste ich ihm nun tatsächlich die Verantwortung für mein Leben abgeben.

 

Die Dunkelheit hätte mir nicht viel ausgemacht. Ich war gewohnt, im Dunklen nach Hause zu gehen und das auch alleine. Die Gegend, in der ich mich jedoch befand, war weder angenehm noch beruhigend. Das Quieken aus den dunklen Ecken, was vermutlich von Ratten stammte, jagte mir nicht minder eine Gänsehaut ein. Auch hatte ich nichts gegen diese Nagetiere, jedoch wollte ich nicht, dass sie mir über den Fuß huschten.

Ich hatte mich an eine Ecke verschanzen müssen, die ganz in der Nähe einer billigen Absteige lag. Solche, bei der man die Frauen mit den Männern hinein- und wieder herausgehen sah. Ich war froh, dass mich keiner dieser Kerle ansprach. Gewundert hätte es mich nicht. Mir war nicht mal bewusst, wo sich die Beamten von Scotland Yard aufgereiht hatten. Nervös blickte ich in alle Richtungen, die mir gegeben waren. Nichts Verdächtiges zu sehen oder zu hören.

Gar nichts. Ich sollte mich darüber freuen, mehr Zeit für den Doktor, mehr Sicherheit für mich.

Ich nahm die Taschenuhr hervor, die man mir gegeben hatte und welche ich seitdem die ganze Zeit fest umschlossen hielt. Im Schein der Gaslaterne konnte ich erkennen, dass es jetzt kurz vor neun Uhr war. Das konnte noch massives Warten bedeuten. Ich atmete aus, sah die ausgeblasene warme Luft in der Kälte aufsteigen. Das würde massives Warten in der Kälte bedeuten. Ich malte mir aus, dass der Ripper vielleicht gar nicht auftauchte. In meinen Augen die beste Option: Der Ripper tauchte nicht auf, der Doktor würde einfach mit der TARDIS aufkreuzen und wir verschwänden. Perfekt.

„Entschuldigung, die Dame?“ Mein Herz blieb augenblicklich stehen und ich schaute nur aus dem Augenwinkel heraus auf. Ein zylindertragender Mann hatte sich neben mich gestellt. Ich konnte im Schatten weder sein Gesicht ausmachen, noch seine genaue Kleidung. Mein Gefühl verriet mir aber, dass er zu adrett für solch eine Gegend wirkte. „Verzeihung, dass ich Sie störe, aber … Sie halten doch eine Uhr in der Hand nicht? Könnten Sie mir bitte die Zeit verraten?“ Perfektes Hochenglisch, wenn man so sagen konnte. Die Stimme klang nach einem Mann mittleren Alters, höchstens 50. Er war etwas größer als ich und mit der Kopfbedeckung natürlich noch um einiges mehr.

„J-Ja, natürlich.“ Ich guckte wieder auf meine Taschenuhr, öffnete die Klappe und guckte auf die Zeiger. In diesem Moment legte sich die Hand des Fremden auf meine und wollte mich so zum Innehalten zwingen.

„Kurz vor neun, ich sehe es“, raunte er mir nun zu und kam einen Schritt auf mich zu, so dass ich einen nach hinten machte, um auszuweichen, „Eine hervorragende Zeit. Lassen Sie uns doch etwas trinken gehen?“ Er meinte das Bordell gegenüber. Was sollte ich tun? Ich konnte schlecht ablehnen, aber zusagen bedeutete auch, dass ich meine Position verlassen würde.

„Oh, das … ist eine köstliche Idee, aber … ich würde ungern in diesen Laden gehen. Es gab … Differenzen“, erklärte ich und hoffte, dass ich mich so irgendwie rauswinden konnte.

„Ich verstehe“, nickte der Mann und deutete dann auf eine Straße weiter vor uns, „Dann lassen Sie uns doch in den Pub an der Aldsgate gehen. Was halten Sie davon?“ Ich hatte keinen Grund abzulehnen. Und sollte hierunter tatsächlich der Ripper stecken, dann dürfte ich nicht den Anschein erwecken, dass ich dies vermutete. Welchen anderen Grund hatte eine Frau in dieser Zeit so spät am Abend in der Nähe eines Bordells zu stehen, als darauf zu warten, dass ihr ein neuer Freier begegnete? Meine Auswahlmöglichkeiten waren also recht beschränkt.

„In Ordnung. Das … wird gewiss amüsant.“
 

Wie recht ich damit hätte, würde mir erst später bewusst werden, als ich schließlich im Pub saß und mich von dem nüchternen so höflich wirkenden befaseln lassen musste. Gesellschaftliche Strukturen, Politik und nebenbei immer wieder ein Kompliment an mich. Nebenbei trank er nun seinen dritten Whiskey und hatte vorher schon ein Bier intus. Zu den Geräuschen und dem Gerede seinerseits gesellte sich ein leiser Tinnitus dazu, der meine Unruhe nur größer werden ließ.

„Nun mal unter uns … wie viel wird mich der Abend mit Ihnen kosten?“, fragte er ganz gerade heraus und spätestens jetzt sollte jedem klar sein, dass es sich hier nicht um den Ripper handelte. Es war nur ein englischer Gentleman, der sich eine nette Nacht machen wollte. Na bravo.

„Lassen Sie mich überlegen“, versuchte ich Zeit zu schinden und drehte derweil an meinem immer noch ersten Glas edelsten Whiskey, den er mir spendiert hatte. Das Getränk hatte bereits Zimmerwärme angenommen und um nichts in der Welt würde ich dieses noch anrühren wollen.

Der Schnauzbart meines Gegenüber zog sich belustigt an den Ecken nach oben.

„Muss ich Ihre sonstige Gesellschaft zusätzlich ankündigen oder wird dies inbegriffen sein?“

Irks … nein, ich hatte gewiss nicht vor, mit ihm ein Schäferstündchen abzuhalten. Unter keinen Umständen.

„50 Schilling.“

„Bitte?!“ Das Entsetzen in seiner Stimme ließ mich wissen, dass ich mich eindeutig zu teuer verkaufte. Und das war gut so. „Sie haben ein heiteres Gemüt, meine Liebste. Oder sind Sie Angehörige eines Edelbordells?“ Er lachte und hob sein Glas erneut, „Aber nun denn … wenn Sie mit hohen Karten spielen wollen. Ich biete Ihnen 15 Schilling. Sie scheinen es mir wert zu sein.“ Irks …

„Nun gut“, sprach ich langgezogen und würde dann zum letzten Mittel greifen, was mir blieb: Flucht, „Ich bin damit einverstanden. Dürfte ich … mich nur einmal vorher noch frischmachen gehen?“

„Oh, aber natürlich.“ Sein süffisantes Grinsen würde ich so schnell nicht vergessen, ebenso wenig seine Halbglatze, die er unter seinem Zylinder versteckt hatte. Ich schüttelte mich, als ich mich umgedreht hatte und zu den Toiletten ging. Ich stand nur im Vorraum und überlegte emsig, was ich tun sollte. Ich musste weg, aber hatte mich Scotland Yard auf dem Schirm? Sie waren mir gewiss hierher gefolgt, nur wenn ich jetzt einfach so verschwand, dann würde ich auch aus ihren Augen sein und ich fühlte mich so schon unsicher und ängstlich genug. Trotzdem … länger als jetzt konnte ich mit diesem Mann nicht zusammen bleiben, sonst würde es sehr unschön in anderer Sache enden. Also doch die Flucht?

Nach geraumer Zeit verließ ich wieder den Restroom und lugte zuvor vorsichtig um die Ecke. Meine Bekanntschaft saß immer noch am Tresen, mit dem Rücken zu mir und gönnte sich den nächsten Schluck. Immerhin.

Ich schlich mich durch die anderen Gäste hindurch und erreichte sogar die Tür, als auf einmal seine Stimme erklang: „Hey, was wird das?“ Verdammt! Ich griff den Gehrock auf Hüfthöhe und zog ihn etwas an, so dass ich mehr Beinfreiheit für das Laufen gewann. Schnell eilte ich durch die Pubtür und auf die Straße. Ich hatte keine Zeit mich umzusehen und begann einfach geradeaus zu rennen, die Hauptstraße entlang, vorbei an der U-Bahn Station. Ich bog in die nächstgrößere Seitenstraße ein – Hauptsache im Licht bleiben. Auch wenn nun weitaus weniger Menschen unterwegs waren, wollte ich nicht, dass ich mich in kleine zwielichtige Gassen begab. Meine Begleitung hatte die Verfolgung aufgenommen und so war ich mitnichten in Sicherheit, was dieses Problem betraf.

Ich biss die Zähne zusammen und japste nach Luft. Blöder Gehrock. Obwohl ich darunter nicht das vorherige Kostüm trug, brachte er mich trotzdem um Sauerstoff und quetschte mich ein. Aber so schnell mit ihn vom Leib reißen konnte ich dank der Knöpfe als Verschluss ebenso wenig.

Ich schaute über meine Schulter, sah ihn in fünfzehn Metern Entfernung und stieß ein genervtes Stöhnen aus. Wo sollte ich hin? Ich würde ihn nie loswerden, würde ich wie ein Hase in der flachen Ebene laufen. Das war ein gefundenes Fressen für den Adler. Und ehe ich mich versah, drückte ich mich in die nächst gelegene dunkle Ecke, eine kleine schmale Straße, die zwischen den Häusern hindurchführte. Hier gab es nur das Laternenlicht von der Hauptstraße und der nächsten Mündung vor mir. Ich eilte weiter und sah dann an der nächsten Ecke eine Leiter an der Häuserwand.

Ohne zu überlegen, kletterte ich hinauf, bis ich das Dach des Hauses erreichte und drückte mich auf die ausgelegten Holzplanken. Hier wurden wohl tagsüber Dacharbeiten verrichtet.

Ich konnte von oben hören, wie seine Schritte näher kamen, aber er blieb nicht stehen, sondern rannte die kleine Straße weiter, zum anderen Ende.

Mein Herz schlug mir heftig gegen die Brust. Solle noch mal einer sagen, dass Videospiele nicht gut wären … denn dieser Weg war mir nur dank eines solchen eingefallen. Ironischerweise Sherlock Holmes. Was sonst.

Okay … nun bedeutete dies aber auch, dass ich hier wieder runterkommen müsste. Und leider konnte ich nicht einfach wieder bei Null anfangen, würde ich fallen. Ich wäre tot.

Ich fühlte mich wie eine dumme Katze, die es zwar auf den Baum schaffte, aber sich nicht mehr runter traute.

Zunächst ließ ich ein bisschen Zeit vergehen. Ich wollte sicher sein, dass der Zylindermann nicht doch noch zurückkam. Als dies aber eindeutig außer Frage stand, setzte ich einen Fuß vorsichtig auf die Stiege der Leiter und rutschte ein bisschen vor. Ganz vorsichtig. Ich war noch nie eine Leiter runter gefallen. Ich wusste, wie man diese richtig runterging. Alles kein Problem.

Tief durchatmend, legte ich die Hände an die Seitenstangen und ging Schritt für Schritt schließlich wieder hinab, nachdem ich mich vorsichtig mit dem Oberkörper gedreht hatte, um die Häuserwand vor mir zu haben. Ich zählte die Stufen, das half mir ruhig zu bleiben und die Kontrolle zu halten.

Als ich schließlich unten ankam, brach mir der Adrenalinschweiß aus. Ich musste mir mehrmals über den Nacken wischen, weil es nicht aufhören wollte. Holladiewaldfee. Genug Abenteuer, Alex.

Tja, aber … was nun? Ich sollte zurückgehen. Ausgangslage. Da, wo ich herkam.

Der Doktor würde mich sonst nie finden.

Auf leisen Sohlen schlich ich den Weg zurück und endete schließlich wieder an der Hauptstraße, die abgesehen von Nebelschwaden und Laternengelb nichts mehr barg. Keine Menschenseele.

Ich schluckte schwer. Wie wahrscheinlich war es, dass sich hier ein Serienmörder aufhielt?

Aber … wo genau war ich? Anhand eines Straßenschildes erkannte ich, dass es eben nicht die Hauptstraße war, welche zur U-Bahn Station Aldsgate East führte. Hatte ich mich doch verlaufen? War ich irgendwo abgebogen? Nur die Ruhe.

Ich ging weiter, immer dort entlang, wo ich glaubte, dass ich hergekommen bin. Verdammter Mist. Irgendwo hatte ich einen anderen Weg eingeschlagen und rückblickend konnte ich nicht mehr rekonstruieren, welcher es war. Stehenbleiben wollte ich aber auch nicht.

Weitergehend kam ich an einer Reihe maroder Häuser dabei. Aus einer Seitengasse hörte ich das laute Stöhnen eines Mannes, untersetzt von dem eher höher gelegenen Tönen einer Frau. Super.

Whitechapel, wie es leibt und lebte und ich mittendrin.

Je weiter ich ging, desto gruseliger wurde es mir. Aus der Ferne kam mir eine Gestalt entgegen, die mich automatisch an die Häuserwand drücken ließ. Es stellte sich heraus, dass sich derjenige im Mantel gar nichts aus mir machte, sondern nur stur seinen Weg ging. Die Angst machte mich paranoid. Oder vielmehr die Aussicht auf das, was mir blühen konnte, wenn ich dem Falschen in die Hände geriet. Ich erreichte einen kleinen Platz, wo sich Bänke befanden und genehmigte mir eine kurze Rast. Das war so nicht geplant gewesen. Kein Stück. Ich spürte, wie sich mir vor Überforderung die Tränen in den Augen sammelten und hervorbrechen wollten, also kniff ich diese heftig zusammen und sog scharf die Luft ein. Heulen brachte doch auch nichts!

Ich hatte mich verlaufen, hatte die Polizei nicht mal im Nacken und vom Doktor war auch weit und breit keine Spur zu sehen. Wir hatten uns natürlich keinen festen Punkt ausmachen können, weil er nicht wissen konnte, wo sie mich positionieren würden, aber zumindest war der Radius einschränkbar gewesen. Jetzt hingegen könnte er mich in ganz Ost-London suchen …

„Entschuldigen Sie Miss, geht es Ihnen gut? Haben Sie sich verlaufen?“

Ich erschrak, als ich eine unbekannte Stimme hinter mir vernahm und vermied es, mich umzudrehen. Nur minimal drehte ich den Kopf, bis ich Umrisse erkennen konnte.

Ein Mann in strammer Uniform? Nein, aber … so was Ähnliches? War er von der Polizei?

„Sind Sie … Constable?“, hakte ich leise nach, um das Zittern zu unterdrücken.

„Ich? Constable?“ Der Fremde lachte. Es klang sympathisch und warm, „Nein, dafür habe ich keine Talente.“ Ich fragte mich, was er genau damit meinte, ließ es aber bleiben. „Ich kam nur des Weges und sah Sie hier allein stehen. Normalerweise sind Damen zu später Stunde in Begleitung.“

„Ich denke, da irren Sie sich“, warf ich nun sogleich scharf zurückweisend ein, bevor er noch weitere Schlüsse zog.

„Oh, doch nicht solche Begleitung!“, hob er die Hände beschwichtigend, „Ich meinte, Begleitung zu Ihrer Sicherheit. Es ist in den letzten Wochen nicht gerade ruhig gewesen.“

Meine Schultern senkten sich wieder ein wenig. Na immerhin sah er mich nicht auch gleich als Opfer seiner Begierde an … Der Mann kam ein bisschen näher. Nun erkannte ich auch, dass sein Mantel einfach nur eng anlag und er ansonsten ganz normal gekleidet war und eine Melone als Kopfbedeckung trug. Blonde Haare traten darunter hervor und seine Gesichtszüge wirkten glatt. Regelrecht jung. Vielleicht mein Alter? Das Lächeln war genauso herzerwärmend wie allein schon der Ton seines Lachens und mich blickten ein Paar strahlend blaue Augen an. Er war keineswegs mein Typ, aber hätte ich eine Freundin zum Verkuppeln gehabt, wäre er mir eindeutig ein potenzieller Kandidat gewesen. „Wäre es Ihnen genehm, wenn ich Sie geleite? Wo möchten Sie hin? Die nächste Polizeistation, dass Sie einen Anruf tätigen lassen können? Ich bin mir sicher, die werten Beamten können Sie auch direkt eskortieren.“

„D-Danke. Das … ist eine ganz gute Idee?“, entgegnete ich, behielt es aber vor, einen gewissen Sicherheitsabstand zwischen uns aufzubauen. So nett er auch schien, war mir sein Auftauchen nicht geheuer. Wie auch, zu jener späten Stunde? Wir schritten durch die Londoner Nacht, wortlos. Nach Smalltalk war mir gewiss nicht mehr.

„Dürfte ich Ihnen eine etwas indiskrete Frage stellen?“, begann er da mit einem Mal, so dass ich irritiert aufschaute.

„Ehm … es kommt drauf an?“

„Sie … sind doch diejenige, die das Extrablatt mit ihrer Schönheit behelligte, oder irre ich mich?“

„Nein … Sie irren sich nicht.“

„Wie war Ihr Name? Miss Gartner?“

„Ja...“ Ein Lächeln zog sich über seine Lippen. Er legte die Hände auf den Rücken, während wir weiterliefen.

„Ich war ehrlich überrascht, dass die Polizei einen so offenen Bericht verfassen. Das ist doch geradezu eine Einladung an Jack the Ripper, finden Sie nicht?“ Mir wurde unwohler, wenn ich auch nur an das aufgesetzte Interview dachte. „Wer war der Gentleman neben Ihnen? Ihr Gatte?“ Ich schüttelte leicht den Kopf.

„Ein… Unbeteiligter, der zufällig auf dem Foto erschien. Er hat damit nichts zu tun.“ Es wäre besser, wenn der Doktor nicht zu viel Beachtung fand. Immerhin ging es in dem Zeitungsblatt auch nur um mich und die Dinge, die ich gesehen hatte. Dummerweise hatte der Fotograf aber natürlich diese Szenerie mit Lestrade und uns festgehalten – ein freundlicher Reminder dessen, was uns der Ermittler aufgedrückt hatte.

„Ich verstehe.“

„Ich wollte auch nicht, dass es in der Zeitung veröffentlicht wird“, gestand ich dann, was keine Lüge war, „Allerdings hat die Polizei es als ratsam erachtet. Sie wollten dem Ripper vermutlich Angst einjagen.“

„Denken Sie denn, dass dies möglich ist?“

„Ich weiß es nicht. Ich kenne ihn nicht.“

„In meinen Augen ist Jack the Ripper mehr als nur ein Serienmörder. Er ist ein Genie. Natürlich nicht auf die üblich legitime Art und Weise. Aber Sie müssen zugeben, dass er die Polizei Englands mit einen Methoden und Briefen ziemlich auf Trab hält. Dass seine Verbrechen selbst andere Länder erreichen.“

„Mag sein“, hob ich die Schultern, „Ein Genie seines Fachs ohne Zweifel. Aber Genies sollten uns keine Angst machen.“ Mein Gegenüber blickte überrascht drein über diese Aussage. Er bat mich, mich näher zu erklären. „Ich meine … Ein Genie ist jemand, der außerordentliches Wissen besitzt oder weiß, Außerordentliches zu bewirken. Ein enormer Gewinn für uns alle.“

„Meinen Sie denn, dass er sich etwas bei seinen Morden denkt?“

Ich atmete tief durch und presste die Lippen aufeinander. Ich wollte nicht länger darüber reden. Und ich wollte auch nicht weiter die Nähe dieses Unbekannten wissen. Mir gefiel es nicht, wie er sprach. Ich traute es mich nicht, ihm vorzulegen, aber wenn wir weiter sprächen, würde seine Idealisierung eines Psychopathen nur noch mehr zu tragen kommen.

„In Anbetracht meiner Aussage, die Sie wohl gelesen haben, sollte es Sie nicht verwundern, wenn ich über die Geschehnisse nicht weiter sprechen möchte“, wies ich ihn somit neutral aber klar verständlich ab.

„Oh natürlich. Sie sind ja Augenzeugin.“ Die Betonung des letzten Wortes überhörte ich nicht. Dennoch tat ich so als ob und schritt nun ein bisschen schneller und mit längeren Schritten voran.

Die Umgebung, die wir erreichten, kam mir bekannt vor. Es war die Hauptstraße, welche zur Station führte. Er hatte nicht gelogen, aber Intuition log nicht und meine sagte mir, dass ich

Schaden erleiden könnte, würde ich unsere Konversation weiter aushalten.

„Stehen bleiben und keine Bewegung!“, rief es plötzlich wenige Meter vor uns. Im Nebeldunst sah ich drei uniformierte Polizisten stehen, von denen zwei mit Waffen auf uns zielten.

Nein, nicht auf mich – auf meine Begleitung.

Ich sagte ja: Intuition log nicht.

„Gentlemen, ich habe die Dame nur begleitet. Sie hatte sich verlaufen.“

„Das ist wahr“, stimmte ich zu und machte einen weiteren Schritt zur Seite, etwas weg von dem Jüngling neben mir.

„Gehen Sie von ihr weg!“, wurde der Blonde aufgefordert und er hob sogar verspielt beide Hände auf Kopfhöhe, als er Folge leistete, „Weiter weg!“ Nun blieb er jedoch stehen und ich sah irritiert in seine Richtung. Auf den Lippen lag immer noch ein Lächeln, welches jetzt allerdings weitaus zynischer, nein, überheblich wirkte. Er schaute auf die Polizei herab.

„Es war mir eine Freude, mich mit Ihnen unterhalten zu können, Miss Gartner“, wandte er sich dann klar an mich und schaute mir in die Augen, „Zu gerne hätte ich unsere kleine Diskussion fortgeführt. Ich bin mir sicher, dass ich Sie von meinen Ansichten hätte überzeugen können.“

Es lief mir bei seinen Worten kalt den Rücken runter. Vor der Polizei würde er keine eindeutigen Bemerkungen fallen lassen, aber bei mir kam die Botschaft an. Er war es. Er war der Ripper.

Wriiiwrooowriiiwrooowriiiwrooo.

Zwischen uns flackerte im Dunst der Nacht etwas Blaues auf. Die kleine helle Leuchte ganz oben drang durch die Nebelschwaden und verschwand genauso schnell, wie sie wieder kam. Dreimal, dann viermal. Die quietschende Tür wurde aufgestoßen, als sich die blaue Box materialisiert hatte und der Doktor kam zum Vorschein, mir seinen Arm und damit seine Hand entgegenzustrecken,

„Alexandra, kommen Sie!!“, rief er angespannt und obwohl mich meine Furcht bis eben fest an den Londoner Pflastersteinboden gefesselt hatte, schienen diese Ketten nun von mir abzufallen. Ich lief so schnell ich konnte, die drei Meter vor, ergriff seine Hand und musste dann gar mehr nur einen großen Schritt machen, da er mich bereits in das Innere der TARDIS zog.

„Hey!“, erklang der Ruf der Polizei, aber zu spät – der Doktor war bereits am Schaltpult zugange und auch, wenn wir uns nicht gleich dematerialisierten, konnte ich mit einem Blick nach draußen und dem Ruckeln unseres Gefährts sichergehen, dass wir abhoben und den Grund verließen.

Ein letzter Augenaufschlag, der mir verriet, dass der Ripper die Gelegenheit des überraschenden Auftretens des Doktors nutzte, um selbst in entgegengesetzter Richtung zu flüchten. Ein letzter Augenaufschlag, der die vernebelte nächtliche Straße Londons genau zu dem werden ließ: eine einzige Nebelfalle. Dann schloss ich langsam und leise die Tür.

Sicherheit.

Ich blieb noch einen Moment an jener gelehnt und musste für mich erst einmal verdauen, wer mir gerade begegnet war.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, erkundigte sich der Timelord aus der Ferne da ernster Stimmlage, konnte seine Aufgabe aber noch nicht als beendet sehen, denn jetzt, wo wir in der Luft waren, müsste er uns wohl als nächstes aus der Atmosphäre schleusen oder so ähnlich. Keine Ahnung.

„Ja“, antwortete ich etwas zu leise und dann erneut, „Ja … es … geht mir gut.“

Die Stille, die aufkam, begrüßte ich. Sie ließ mir die Zeit, die ich brauchte, um mich selbst wieder runter zu bringen. Mein Gehirn wollte nicht verarbeiten, dass ich gerade dem Serienmörder gegenübergestanden hatte, welcher auch heute noch Rätsel aufwarf. Und vor allem wollte es nicht die was-wäre-wenn Szenarien verarbeiten, wäre der Doktor nicht aufgetaucht. „Wie haben Sie mich gefunden?“, wollte ich daher als erstes wissen, denn das erschloss sich mir nicht.

„Ich war in der Nähe. Sie hingegen nicht. Scotland Yard hatte Sie aus den Augen verloren und im Grunde war die Chance gering, Sie zu entdecken.“, sprach er immer noch konzentriert auf sein Lenken und Steuern der TARDIS und blickte erst bei den folgenden Worten zu mir auf: „Um ehrlich zu sein, war es Glück.“ Das munterte mich nicht gerade auf. „Ich hatte die TARDIS gerade aus der Werkstatt geschleust und bin dabei über jemanden gestolpert, den Sie anscheinend sehr verärgert haben. Angetrunkener Mann mit Zylinder. Fluchte über eine Deutsche, die sich zu fein wäre.“

„Sie nahmen an, dass ich das war?“

„Er fluchte über Ihr schlechtes Englisch und darüber, dass Sie keine Ahnung von Geld hätten. Und über Ihren hochgeschlossenen bordeauxfarbenen Gehrock.“ Okay, das war eindeutig. Bis in eine Sache:

„So schlecht ist mein Englisch nicht.“ Der Doktor hob skeptisch die Augenbrauen, was mich straucheln ließ, „… Ist es wirklich so schlimm?“

„Ich habe schon Schlimmeres erlebt.“ Ich verdrehte die Augen. „Jedenfalls habe ich seinen Weg zurückverfolgt.“

„Wie?“

„Fährtenlesen. Ich muss es noch ein bisschen modifizieren, aber mittels fluroszierenden Nano-Quatäre, welche sich an die durch Reibung und Haftung entstandenen und hinterbliebenen Spuren haften. Durch Ultraschall werden sie zusammengedrängt und somit für das menschliche Auge sichtbar.“ Was auch immer Quatäre waren, klang das extrem cool. „Sagen Sie mir lieber, was schiefgegangen ist? Lestrade hatte doch einen guten Plan?“ Den Sarkasmus konnte er hierbei nicht verstecken.

Ich seufzte leise und trat näher heran, damit ich nicht so laut sprechen musste.

„Dieser Mann, den Sie getroffen haben… Er hatte mich einladen wollen und es stellte sich für mich klar raus, dass er nicht der Ripper ist. Also bin ich weggerannt, als ich noch konnte. Ich bin sogar auf ein Dach gekraxelt, damit er mich nicht findet.“ Die Miene des Doktors wurde fast schon anerkennend, als er die Unterlippe vorschob und den Kopf zur Seite wog:

„Wie kamen Sie auf diese Idee?“

„Videospiele. Fragen Sie nicht. Na ja, und als ich zurückgehen wollte, habe ich mich wirklich verlaufen. Ich wusste den Weg nicht mehr. Es war alles zu neblig und ich habe nicht auf Straßen geachtet.“

„Und dann sind Sie ihm begegnet?“ Es erschauerte mich ein weiteres Mal und ich stand nun direkt an der Abstütze beim Pult gelehnt, nickte nur. „Sie hatten ziemliches Glück.“

„Ich glaube… Er hat mich getestet. Ob ich wirklich etwas weiß.“

„Und als ihm klar wurde, dass Sie rein gar nichts gesehen hatten und der Artikel in der Zeitung nur erlogen war, waren Sie für ihn uninteressant“, schlussfolgerte der Doktor, wobei es sich für mich eher nach vorher bereits klaren Fakten anhörte.

„Ich denke nicht, dass die Polizei sein Gesicht gesehen hat.“

„Selbst wenn, wäre er kein Verdächtiger am heutigen Abend. Es war für ihn nur eine weitere Genugtuung, dass er weiterhin unter den Londonern verweilen und sich mit ihnen unterhalten kann, ohne dass man ihn verdächtigt.“

„Er ist ein Narzist“, warf ich dann die Beschuldigung vor, die ich am liebsten dem eigentlichen Mann entgegengebrettert hätte, „Ein absoluter Narzist und Psychopath.“

„Wundert Sie das?“

„Nein. Es … war nur gruselig, dass ich mich dessen selbst überzeugen konnte.“

Wieder erklang nun das bekannte Wriiiwrooo der TARDIS und ich wusste, dass wir uns nun von London verabschiedet hatten.

Der Doktor ließ den letzten Hebel langsam los und kam auf mich zu.

Vielleicht wirkte ich doch ein bisschen verstörter, als ich zugeben wollte.

Ich spürte seinen forschenden Blick auf mir liegen, dass er mich beobachtete.

„Ich bin froh, dass Ihnen nichts passiert ist“, sagte er dann leise und ließ mich, immer noch schuldbewusst dessen, dass wir dank mir überhaupt erst in diese Misere geraten sind, zu ihm aufsehen.

„Wenn ich jemals eine Dankesrede halten muss, seien Sie sicher, dass diese vor allem an Sie gerichtet sein wird.“ Wir mussten uns beide ein bisschen anlächeln, als er dann einmal durchatmete und sein üblich euphorisches Selbst aufsetzte.

„Ich schlage vor, Sie ruhen sich jetzt etwas aus, dann gibt es ein Essen und im Anschluss werde ich Sie nach Parwanaqee bringen. Einer der schönsten Orte der Galaxie. Mögen Sie Schmetterlinge?“

„S-Schon, ja?“, antwortete ich etwas überrumpelt.

„Sehr gut. Sie werden Parwanaqee lieben!“, versprach er mit seinem charmantesten Lächeln, welches er zu bieten hatte.

„Ich dachte … Sie wollten mich nach Hause bringen?“

„Natürlich“, stimmte er zu, schien aber nicht minder begeistert als noch gerade eben, „Allerdings nicht mit Ihren jetzigen schweren Gedanken. Wenn Sie erst einmal auf Parawanaqee sind und die köstlichen Oblagata probiert haben, werden Sie sowieso gar nicht so schnell wieder weg wollen!“

Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln, nickte, um ihm mein Einverständnis zu zeigen und begann dann den Gehrock endlich abzulegen. Auf dem Weg zum Kleiderschrank der TARDIS, streckte ich mich ein wenig, ließ meine Knochen knacken und die Schultern kreisen.

Das war einfach zu viel der Aufregung gewesen.

So viel, dass ich nicht einmal fragte bzw. wissen wollte, was der Doktor mit Essen meinte. Ein Dinner? Ein richtiges Abendessen? Es war mitten in der Nacht und ich hatte im Grunde nicht viel Hunger. Nein, eigentlich hatte ich gar keinen Hunger.

Ich legte den Gehrock dorthin zurück, wo ich ihn hergenommen hatte und trat dann in mein Zimmer ein. Ich ließ mich aufs Bett nieder, griff zum Tagebuch und wollte ein paar Zeilen verfassen. Etwas, was diese ganze abstruse Situation zusammenführen konnte, aber mir fiel nichts ein. Ich starrte einfach nur auf die leere linierte Doppelseite, während ich den Stift in der rechten Hand hielt.

Meine Augen wurden schwerer, ich spürte die Müdigkeit durch meinen Körper ziehen. Alles kam mir mit einem Mal so schwer vor. Selbst der doch eigentlich so leichte Tintenroller. Ich ließ mich aufs Bett in ganzer Körperlänge nieder und gab dieser Erschöpfung nach, die mich vollkommen übermannen wollte. Und dann schlief ich ein … und schlief …

 

Und hatte böse Träume. Ich war in den letzten Jahren zu jemanden geworden, der Geschehenes intensiv in seinem Schlaf durchlebte und noch einmal aufzuarbeiten wusste.

Die Bilder vermischten sich dieses Mal extrem: Erst stand ich in London und wurde Zeuge der Entführung einer Freundin. Dann war ich irgendwo mit dem Doktor im All und wir schauten auf zuckerwatteflauschige Planeten nieder, deren Bewohner Schafe waren, die mich stark an meine Kreationen auf Papier erinnerten. Einmal umgedreht und auf dem Planeten gelandet, war ich wieder zu Hause und musste mir Vorwürfe anhören, dass ich mich so lange nicht gemeldet hatte. Meine ganze Wohnung war eingestaubt und war mit Polizeiabsperrbändern versehen. Als ich eintrat – alleine, ohne Schafe, ohne Doktor – befand ich mich in einer Szene meiner neuen Lieblings-Krimiserie Elementary wieder und war Diejenige, welche die Leiche ihres Freundes entdeckte …

und ich wachte auf.

Ich hörte meine eigene Stimme in meinen Ohren schallen. Hatte ich geschrien?

Normalerweise redete ich nicht einmal im Schlaf, aber so schreckhaft, wie ich mich fühlte und so kalt wie sich meine Hände anfühlten, mein Körperstamm stattdessen heiß gelaufen und mein Puls rasend, war ich mir nicht so sicher.

„Sie sind wach?!“ Der Doktor. Ich fuhr noch erschrockener zusammen und bemerkte da auch erst, dass er an meiner Seite war und gerade seine Hand von meiner Schulter zurückzog. In seinen Augen lag Sorge, aber auch Verwirrung.

Hatte ich geschrien?

„J-Ja. Ja, ich bin wach“, murmelte ich und musste den großen Kloß runterschlucken, welcher sich gerade in meinem Hals gebildet hatte. Ich fasste mir an die Kehle. Alles in Ordnung. Ich war in der TARDIS. Das war nur ein Traum. „Ich … hab nur geträumt“, erklärte ich dem Timelord mit dem wirren braunen Haar und rieb mir schließlich mit beiden Händen über die Augen. Gott, was war das bitte gewesen?

„Geht es Ihnen gut?“, fragte er wieder, ebenso leise.

„Ja“, setzte ich ein Lächeln auf und sah ihm entgegen, „Sie machen mir eher ein bisschen Sorge, wenn Sie so ernst sind.“ Einer meiner vermeintlichen Versuche, die Situation aufzulockern und damit auch abzulenken. „Ich habe nur schlecht geträumt.“

„Sie haben geschrien, kommt das öfter vor?“

„Nein, das war Premiere“, antwortete ich immer noch recht locker und schaute dann auf den Tagesdeckenüberzug oder besser: wollte es. Denn da fiel mir etwas anderes auf, das der Doktor in der Hand hielt. Das Buch kam mir sehr bekannt vor.

Mein Mund öffnete sich vor Empörung und ich riss es ihm regelrecht aus der Hand, der er sich nun auf der Bettkante niedergelassen hatte. „Wieso haben Sie darin gelesen?“, setzte ich sogleich nicht wenig verärgert nach. Mit Recht. Immerhin waren das meine persönlichen, ganz privaten, Gedanken.

„Es lag offen und ich wusste nicht, dass es Ihr Privateigentum ist!“, verteidigte er sich.

„Sie haben doch meine Handschrift erkannt, als sie reingeschaut haben.“

„Ich kenne Ihre Handschrift nicht und da war es dann ja auch schon geschehen!“

Wir schwiegen uns an. Stimmte ja schon irgendwie. „Ich hatte es ihnen eigentlich nur unter dem Kopf wegnehmen wollen, als ich Sie zum Essen abholen wollte. Sie hatten nicht geantwortet, als ich Sie von draußen rief.“ Klang schlüssig. Trotzdem. Ich klappte das Buch zu und hielt es mir fest an die Brust gepresst, weiterhin nichts sagend.

Der Doktor wartete einen Moment, entschloss sich dann aber aufzustehen und ich kam mir ziemlich dumm vor, so eingeschnappt zu sein. Verletzt, weil nur jemand das gesehen hatte, was ich so nicht auszusprechen wagte.

„Doktor-“

„Lassen Sie die Stimmen in Ihren Kopf nicht zu laut werden“, unterbrach er mich, fast schon ermahnend streng, „Sie sind ein Mensch, keine Maschine. Und Sie sind hier alleine mit mir unterwegs von Planet zu Planet. Haben niemanden Ihresgleichen zu reden. Müssen viel mit sich selbst ausmachen. Das überschreitet im Normalfall die Belastungsgrenze von dem, was ihr hinnehmen könnt. Es hätte mich also gewundert, wenn Sie keine Albträume hätten.“

Ich wollte fragen, ob es den anderen Begleitern des Doktors auch so ergangen war. Ob er es vielleicht ebenso kannte, aber ich erinnerte mich an unser Kutschengespräch und ließ es somit lieber. Stattdessen tat ich etwas anderes - für mich Ungewöhnliches: Ich bat ihn zu bleiben und mir zuzuhören. Als er an gleicher Stelle stehenblieb, deutete ich auf Bettkule, wo er bis eben noch gesessen hatte. Und dann erzählte ich ihm stockend von den Träumen. Die Einzelheiten. Erzählte auch, was ich glaubte, daraus zu schließen: meine Furcht, nicht mehr zurückzukommen. Dass dies nichts mit ihm zu tun hatte, der mir versprochen hatte, dass es wieder heimwärts ginge, sondern nur mit diesen typischen blöden Urängsten, die wir Menschen besaßen. Die Verlustangst und, und, und …

Der Doktor hörte mir geduldig zu, ließ mich ausreden. Ich vermied den Blickkontakt, weil ich in seinen Augen Mitgefühl ablesen konnte und das ertrug ich gerade nicht. Dennoch ließ ich es zu, dass nachdem ich geendet war, er behutsam seine Arme um mich legte und mich tröstete. Gleichzeitig gab er mir die Möglichkeit, dann doch zum ersten Mal seit dem ganzen Tohuwabohu loszulassen. Ich hielt meine Lippen fest gegen seine Schulter gepresst, als ich die Umarmung erwiderte. Mir kamen die Tränen. Diese stumm zulassend, entschuldigte mich im Stillen für die Flecken, die auf seinem Jackett entstanden.

Irgendwann, weil mein Körper doch ein klein wenig mehr bebte als ich wollte, wurde ich sanft von einer Seite zur anderen gewiegt. Das war kein Akt aus Liebe, wie man ihn uns hätte unterstellen können.

Es war nur genau das, was ein jeder tun würde, wenn er auch nur ein bisschen Empathie empfand und die Komplexität der Gefühle zu einem Bruchteil verstand. Wenn man ein Herz hatte und empfänglich war für das Leid der anderen. Wir saßen noch eine ganze Weile so da. Vergessen war die Sache mit dem Tagebuch oder der sich selbst zu übertrumpfen wissende Albtraum. Vorbei.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Zur damaligen Zeit wurden Prostituierte mit 5 Shilling für sexuelle Handlungen bezahlt. Weniger gab es für die einen reinen Begleitservice.

Die Darstellung des Rippers ist rein meiner Fantasie entsprungen und liegt keiner Quelle zugrunde.

(Das Kapitel wird ggf. noch einmal überarbeitet, weil es mir nicht vollkommen flüssig und rund erscheint.)
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