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Seelenkrank

von

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Eine glückliche Beziehung?

Eine glückliche Beziehung?

 Es war Anfang November und draußen begann es kalt zu werden, doch von Schnee war noch keine Spur. Lukas und Nici waren jetzt schon drei Monate zusammen und die Beziehung war einfach perfekt, bis auf diesen einen Abend. Sie hatten sich mit den Leuten im Jugendclub verabredet. Basti kam schon lange nicht mehr, seitdem er mit Nadja Schluss gemacht hatte. Jedoch traf Nici ihn ab und zu noch, wenn Lukas sie mit zu seinen Freunden nahm. Mit Tim und Flo verstand sie sich mittlerweile auch echt gut.

Nadja und Nici schlenderten die Straße entlang, um Lukas abzuholen. Seine Mutter teilte den Mädchen mit, dass er schon weg sei. Da dachte Nici, er wäre mit bei den anderen im Club und sie freute sich darauf ihn wiederzusehen und endlich wieder in seinen Armen zu liegen. Jedoch war auch im Jugendclub keine Spur von Lukas. Nici versuchte ihn auf seinem Handy zu erreichen, aber da war auch nur diese verdammte Stimme der Mailbox zu hören. Sie wurde irgendwie ziemlich misstrauisch. War da etwa ein anderes Mädchen im Spiel? Nici war total verzweifelt, wie konnte er ihr so etwas antun? Chris, warf ihr einen triumphierenden Blick zu.

„Wie oft hat er das jetzt schon getan Nici…dich einfach versetzt. Und die wichtigere Frage ist doch, warum versetzt er dich? Er rennt vor seinen Problemen zu Hause weg, schmeißt sich irgendwelchen Scheiß ein und du bist ihm egal.“

Nici wollte das nicht glauben. Denn all das wusste sie bereits, ebenso vom komplizierten Verhältnis zwischen Lukas und seinen Eltern. Klar Lukas provozierte gern, doch Nici wollte nicht glauben, dass es so schlimm um ihn stand. Plötzlich erinnerte sie sich wieder an den Abend, an dem Basti Lukas so komisch angesehen hatte. Plötzlich bekam sie Angst. Angst Lukas dadurch zu verlieren.

„Aber, du kennst nicht die ganze Geschichte Chris.“

„Nici! Ich kann dich ja verstehen, aber Liebe macht auch blind. Bitte glaub uns einmal, wir wollen nicht, dass du unglücklich bist.“

„Ach du musst das gerade sagen! Lass mich doch in Ruhe.“

„Lukas ist ein verdammter Junkie. Ich mache mir nur Sorgen um dich.“

„Du bist nur eifersüchtig auf Lukas“, schnauzte sie Chris an und setzte sich auf eine Bank und musste mit meinen Tränen kämpfen, denn jetzt kamen ihr Lukas Worte wieder in den Sinn, als er sagte, sie solle doch endlich auf Chris und Nadja hören, weil sie letztendlich doch die Wahrheit erzählten. Chris kam hinterher und legte vorsichtig den Arm um Nici.

„Aber ich liebe ihn so sehr, ist das etwa so schlimm?“

Er tätschelte ihre Schulter.

„Nici sei mir nicht böse, aber ich kenne Lukas nur zu gut. Als du noch nicht da warst, hat er mit seinen Kumpels am Wochenende oft Sauforgien veranstaltet oder sie lagen irgendwo total breit in der Ecke. Wenn du mich fragst, ist der Kerl echt total durch und ich glaube auch nicht, dass du ihn je davon abhalten kannst.“

„Und wenn ich es doch schaffe ihn zu ändern?“

Er schüttelte traurig mit dem Kopf.

„Nein. Aber weißt du, manchmal sieht man ihn das ganze Wochenende nicht und wenn er dann Montagmorgen mit geröteten Augen und total müde in der Schule antanzt, weiß jeder, was er die Tage über getrieben hat.“

Nici musste anfangen zu heulen und Chris versuchte das aufgelöste Mädchen zu trösten. Konnte das wirklich wahr sein, dass Lukas, ihr Lukas, doch drogenabhängig war? Sie wollte das alles nicht wahrhaben. War sie ihm so egal, dass er sich tagelang nicht blicken ließ? Früher hatten Nici und ihre Freundin Nadine sich immer ausgemalt, wie diese Junkies wohl aussahen. Hässlich, dreckig, stinkend und kaum noch Zähne im Mund. Dabei dachten sie nicht an solche gutaussehende Typen wie Lukas.

Am nächsten Tag beschloss Nici zu ihm zu gehen und ihn zur Rede zu stellen. Sie beriet sich mit Nadja darüber.

„Vielleicht ist er aber auch so ein mieses Arschloch, wie Sebastian. Die beiden scheißen doch eh immer auf einen Haufen!“

 

Es war elf Uhr morgens, ob Lukas noch schläft? Nici stieg langsam die Treppe empor und klingelte. Seine Mutter öffnete ihr die Tür.

„Ist Lukas schon wach?“, fragte sie mit einem Zittern in der Stimme.

„Ja, komm doch rein, er ist oben in seinem Zimmer.“

Ihr schlug das Herz bis zum Hals! Wie sollte sie das Gespräch beginnen? Sie klopfte etwas zaghaft an die Tür. Da hörte sie schon Schritte näher kommen. Die Tür sprang auf und da stand er vor ihr, ihr Freund? Oder doch nicht? Sie wusste es nicht. Lukas sah wie immer aus. Zur Begrüßung gab er ihr einen Kuss. War dies ein Zeichen der Liebe oder doch nur aus Mitleid? Nici konnte keinen klaren Gedanken fassen, war wie gelähmt.

„Wo warst du eigentlich gestern Abend, ich dachte, dass wir uns im Club treffen, aber scheinbar hattest du ja wichtigeres zu tun!“, begann sie mit zittriger Stimme.

Wut stieg in ihr hoch, sie war richtig sauer auf Lukas. Er antwortete nicht sofort, blickte zu ihr auf, schien jedoch ganz weit weg zu sein.

„Hey, ich war nur mit Basti und Tim unterwegs. Sind im Proberaum gewesen…ich musste weg von zu Hause, da habe ich mein Handy vergessen.“

Er zündete sich eine Zigarette an. Die Stimmung zwischen den beiden war gedrückt, das merkten beide. Dann fragte sie vorsichtig weiter.

„Ist Basti jetzt eigentlich mit seiner Caro zusammen?“

„Ja, so gut wie. Aber binde das bitte nich gleich Nadja auf die Nase.“

„Ja klar“, sagte sie, obwohl sie wusste, dass sie es ihr sowieso erzählen würde. Das unschuldige Mädchen war hin und hergerissen. Eigentlich wollte sie es nicht wahrhaben, aber die Sache mit den Drogen würde genau passen. Das erklärte diesen warnenden Blick von Basti, der wahrscheinlich sagen wollte, dass er es in ihrer Gegenwart lassen sollte und auch den Streit mit seiner Mutter, vor der er es wahrscheinlich auch nicht länger hatte verheimlichen können.

„Liebst du mich eigentlich noch?“

Lukas sah seine Nici jetzt an und der leere Ausdruck in seinen Augen erschreckte sie.

„Nici, ich will ehrlich zu dir sein...ich weiß es nich und im Moment brauche ich etwas Abstand von allem, deshalb klappt es mit der Beziehung auch nich mehr so ganz. Ich habe in letzter Zeit echt andere Probleme.“

„Weil du doch wieder Drogen nimmst?“

Seine Augen weiteten sich etwas, doch diese Leere blieb.

„Ich habe dir das doch erklärt, wann verstehst du das endlich?“, sagte er mit ruhiger Stimme.

„Naja, scheinbar scheint ihr ja doch öfter auch härtere Sachen zu nehmen oder etwa nicht?“

„Weißt du was? Glaub doch was und wem du willst. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig!“

Seine Stimme klang leicht erzürnt, doch nicht wütend. Wie weit konnte sie gehen, bis er total ausrasten würde?

„Das erklärt wahrscheinlich auch deine Gleichgültigkeit gerade oder?“

„Klar, ich habe sonst keine anderen Hobbies.“

Er griff nach seiner Zigarettenschachtel und zündete sich noch eine an. Zum ersten Mal wirkte er richtig distanziert und Nici wusste nicht, wie sie ihn wiederholen konnte. Sie hatte gedacht, dass sie sich streiten und eventuell wieder vertragen, doch der Lukas, der gerade hier saß, war ihr bisher verborgen geblieben. Ihr steckte ein Kloß im Hals.

„Was ist los mit dir Lukas?“

Lange schwieg er und starrte Löcher in die Luft. Dann wanderte ihr Blick zu der blutigen Rasierklinge auf dem Tisch. Ihr Herz setzte einen Moment aus. Das Blut schien noch frisch zu sein und als sein Pulli ein Stück nach oben rutschte, sah sie den weißen Verband. Doch warum? Sonst verdeckte er es doch auch nicht. Waren seine Verletzungen schlimmer als sonst?

„Nichts is los, mir geht es blendend. Mir is alles egal und das fühlt sich nich mal schlecht an.“

„Wie dir ist alles egal?“

Zu seinem ausdruckslosen Blick kam jetzt ein selbstgefälliges Grinsen, was ihr eine heiden angst machte.

„Ich scheine den Punkt gefunden zu haben, wo ich meine Gefühle abschalten kann und das ist irgendwie entspannend.“

„Heißt das du empfindest auch nichts mehr für mich?“

„Vielleicht…ich weiß es nich.“

Dieser Kerl machte sie fertig und Nici musste irgendwas tun, sonst würde sie ihn verlieren. Vermutlich für immer. Sie griff nach seiner Hand und er wehrte sich nicht dagegen.

„Lukas, was auch immer passiert ist…bitte rede mit mir darüber. Dein Verhalten macht mir echt eine scheiß angst. Eigentlich bin ich hergekommen, weil ich echt sauer war, doch jetzt mache ich mir Sorgen um dich.“

Jetzt kehrte ein Anflug von Gefühlen in sein Gesicht zurück.

„Sauer? Weil ich mich nich gemeldet habe…oh wie furchtbar…is dir mal in den Sinn gekommen, dass ich vielleicht nich mit dir reden wollte?“

Seine direkte Art ließ sie zusammenfahren und der Kloß in ihrem Hals wurde größer.

„Ist okay…aber warum nicht?“

Er schüttelte mit dem Kopf und zündete sich noch eine Zigarette an.

„Muss ich denn für alles einen Grund haben? Vielleicht wollte ich allein sein Nici…um nachzudenken…“

„Und jetzt? Zu welchem Ergebnis bist du gekommen? Interessiert es dich überhaupt, dass ich mir Sorgen um dich mache? Oder versinkst du lieber depressiv mit dir allein in deiner selbstmordgefährdeten Welt? Ich würde dir gern helfen, aber so langsam bin ich mit meinem Latein am Ende.“

Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog er den Verband weg und griff unters Sofa. Die tiefen Schnitten ließen das Mädchen erschrocken zusammenfahren. Nici konnte nicht hinschauen, als er seine Verletzung verarztete.

„Erinnerst du dich an den Tag am Strand? Ich habe dir gesagt, dass es nich immer einfach wird und verdammt noch mal Nici, ich werde nie der perfekte Vorzeigefreund sein. Doch du sitzt hier und willst genau das. Sorry Herzchen, das kann ich dir nich geben. Es wird wohl Zeit, dass du aus deiner Traumwelt herauskommst. Bin ich heute auch, mal wieder und es ist echt beschissen.“

„Seit wann lebst du denn in einer Traumwelt?“, fragte sie etwas irritiert.

„Seid ein paar Jahren, doch man kann nun mal nich immer dort sein. Leider is die Realität alles andere als schön.“

„Lukas, ich werde echt nicht schlau aus dir.“

„Mach dir nichts draus, das gelingt den wenigsten!“

Seine Stimme klang auf einmal so fremd.

„Ach ja? Und was ist mit denen, die dich lieben? Was ist mit mir?“

Lukas wurde wieder ruhiger und auf einmal sah sie Hass in seinen Augen. Nici ließ sich auf dem Fußboden nieder.

„Du versuchst mit allen Mitteln zu mir durchzudringen, das ist beeindruckend Nici. Aber du solltest dich besser fragen, ob du es erträgst mit mir zusammen zu sein. Falls deine Antwort ja lautet und du es tatsächlich ehrlich meinst, gut für uns beide…alles andere würde nich funktionieren.“

Nici war immer noch wütend, doch zumindest redete er jetzt offen mit ihr.

„Okay dann will ich weiter mit dir zusammen sein.“

Er lachte bitter.

„Nici du musst dir trotzdem bewusst machen, dass meine Probleme die Art von Problemen sind, die dich nie betreffen werden. Du bist deinen Eltern nicht egal oder was glaubst du warum sie dich vor Arschlöchern wie mir beschützen wollen.“

Ihr stockte der Atem, so hatte sie ihren Lukas noch nie erlebt.

„Es mag sein, dass ich das nicht verstehe, aber dann gib mir eine Chance es zu tun.“

„Darum geht es auch gar nicht, aber solche Leute wie du haben davon keine Ahnung. Du bist echt ein wunderschönes Mädchen, aber ich bin nun mal nich der, den du gern hättest. Lass mich raten, du bist mit anderen Erwartungen in die Stadt gekommen, um die wirkliche Gothicszene kennenzulernen, Partys zu feiern und dich auszuleben. Doch so funktioniert das nich, so bin ich nich und solange du das nicht verstehst, können wir nich zusammen sein.“

Jetzt war Nici erstaunt und Lukas fuhr fort.

„Du bist das behütete kleine Mädchen in deiner Familie. Meinen Eltern ist es vollkommen egal, wie es mir geht, was ich mache und sie wissen nich Mal, dass ich ab und zu kiffe. Soviel dazu.“

Er hielt inne.

„Und was ist dann dein Problem? Da scheinst du ja ein Problem mit dir selbst zu haben.“

„Oh ja, ich bin immer der Arsch. Ich bin dafür verantwortlich, dass mich meine Eltern scheiße behandeln und ich bin auch dafür verantwortlich, weshalb du dich mies fühlst. Ich bin ein Egoist Nici, das einzig Gute, das ich den letzten Jahren gelernt habe.“

Nici hatte nicht gewusst, dass Lukas so sein konnte und es verwirrte sie immer mehr. Sie war sich tatsächlich nicht mehr sicher, ob sie es noch ertrug mit ihm zusammen zu sein. Jetzt, wo sie wusste, wie er auch noch sein konnte. Und als ob er ihre Gedanken gelesen hatte, sagte er:

„Ich hab halt keinen Bock ständig über diese Dinge nachzudenken und da sind Drogen eben der einfachste Ausweg. Aber abgesehen davon hab ich schon lang nichts mehr genommen, weil mir das am Ende noch mehr zusetzt.“

Sie wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Irgendwie tat ihr Lukas leid und irgendwie bewunderte sie ihn auch, denn sie wusste nicht, wie sie mit einer solchen Situation umgehen würde.

„Und bist du immer noch der Ansicht unsere Beziehung beenden zu müssen?“, fragte sie ihn noch einmal. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er sie an.

„Wie gesagt, ich weiß nicht, ob ich das im Moment kann.“

„Und wenn wir es einfach versuchen?“

Jetzt, da Lukas ihr die Wahrheit erzählt hatte, wollte sie auf keinen Fall, dass es so einfach zu Ende war.

„Weiß nich. Okay, ich war nicht ganz fair zu dir, aber du solltest aufhören auf andere Leute zu hören und ich werde in Zukunft mit offenen Karten spielen. In Ordnung?“

Was? Dieser Typ verwirrte Nici immer mehr. Aber sie musste lächeln und Lukas erwiderte es.

„Aber da ist noch was...vielleicht kannst du mir zu Liebe ein bisschen weniger trinken und kiffen.“

„Nici, es ist nicht so, dass ich völlig drogenabhängig bin. Ich kiffe ab und an und davon lass ich mich nicht abhalten.“

„Auch nicht, wenn ich dich darum bitte?“

„Es ist etwas, das momentan zu mir gehört und entweder du versuchst damit zu leben oder nicht.“

„Dann will ich versuchen damit zu leben.“

„Verrücktes kleines Mädchen.“

Jetzt endlich nahm Lukas Nici wieder in seine Arme. So, als sei nichts gewesen.

Den Abend verbrachte Nici mit Nadja im Park und leider war auch Chris da. Jedoch sah sie ihn auf einmal mit ganz anderen Augen und langsam glaubte sie, dass er tatsächlich eifersüchtig war. Nici ließ sich ihre gute Laune auch anmerken, das fiel Nadja sofort auf und deshalb hakte sie gleich nach. Sollte Chris doch alles mit anhören.

„Also hat er nicht mit dir Schluss gemacht? Das freut mich für dich.“

„Wir haben uns echt lang unterhalten und ich glaub das war auch wichtig für uns beide.“

Da meldete sich Chris auf einmal zu Wort.

„Ach, was hat er dir denn diesmal für Geschichten auf die Nase gebunden? Nici, du lernst es echt nicht.“

Jetzt konnte sie sich nicht mehr zurückhalten.

„Lukas hat mir die ganze Wahrheit erzählt. Er hat auch gesagt, dass er dich zum Tod nicht ausstehen kann und du dich aus seinem Leben raushalten sollst. Klar? Selbst wenn er ein Arsch ist, ist es immer noch meine Sache, ob ich mit ihm zusammen bin.“

Ja, es hatte ihm tatsächlich die Sprache verschlagen und auf der Stelle stand er auf und verließ unsere kleine Runde. Nadja sah ihre Freundin etwas entgeistert an.

„Sorry, das musste mal raus.“

„Pass trotzdem auf…“

Nici unterbrach ihre Freundin mitten im Satz, auch wenn sie es sicher nur gut meinte.

„Lass Lukas mal meine Sache sein. Er hat mir einige Dinge erzählt, die für mich ausschlaggebend sind, dass ihm sehr viel an mir liegt.“

„Ja, schon okay, aber stimmt es, dass er drogenanhängig ist?“

Nici fand es ein bisschen unangenehm darüber zu reden.

„Naja, als abhängig kannst du ihn nicht bezeichnen. Es sind viele andere Aspekte, die dabei noch eine Rolle spielen.“

Nadja lächelte.

„Ich hätte mir gewünscht, dass Basti auch so mit geredet hätte. Ich vermiss ihn voll.“

„Bei Lukas hat es auch gedauert, bis er mir alles gesagt hat. Basti hat mir den Tipp gegeben, dass ich hartnäckig sein soll und das war ich, in der Tat.“

„Und glaubst du, dass es jetzt zwischen euch läuft?“ Ich seufzte.

„Denk schon.“

Nici war wirklich ein Stein vom Herzen gefallen und sie war stolzer denn je, einen so tollen Freund zu haben. Was ihr auch sehr gut gefiel war, dass Lukas jetzt immer gruftiger herumlief. Sie mochte seinen Style und fühlte sich richtig toll, wenn sie mit ihm so durch die Stadt lief. Nadja machte ihr immer öfter Vorwürfe, dass sie sich zu sehr anpassen würde, weil auch Nici sich ein wenig veränderte. Deshalb stritten die Freundinnen oft und das fand Nici auch ein bisschen traurig. Allerdings schien der Konflikt zu seinen Eltern immer größer zu werden und es kam jetzt häufiger vor, dass er gar nicht mehr darüber redete, weil er nicht reden wollte.

Kim wartete immer vor der Schule auf Nici. Sie musste immer an das denken, was ihr Lukas über ihren Vater erzählt hatte und war echt überrascht, wie gut sie das wegsteckte. Aber sicher wird sie auch nicht mit jedem über ihre Gefühle reden. Sie trug einen Leominirock, Springerstiefel und einen schwarzen Kapuzenpulli. Seit Kim in ihre Klasse gekommen war, nahm Nadja Abstand von Nici. Sie redeten zwar immer noch miteinander, aber nicht so wie vorher. Das fand Nici ein bisschen Schade, weil sie Nadja mochte. Sie schien auch nicht so recht zufrieden mit der Situation zu sein, denn sie wirkte so traurig in letzter Zeit. Vor den anderen überspielte sie das immer, aber Nici merkte das irgendwie trotzdem. Deshalb schob sie ihr im Englischunterricht einen Zettel zu, auf dem sie fragte, ob Nadja Lust hatte heute Nachmittag was zu machen. Sie lächelte zu Nici herüber und nickte.

„Kaffee trinken?“

Stand auf dem Zettel. Jetzt nickte Nici und sie konzentrierten uns wieder auf den Unterricht, weil Frau Baumann ihnen schon ermahnende Blicke zuwarf.

Kim wollte gleich zur Laube gehen und dann zu Tim. Sie fragte auch, ob Nici mitkommen würde.

„Später vielleicht.“

Sie umarmten sich kurz und dann wartete Nici auf Nadja, die noch auf die Toilette wollte. Die Freundinnen redeten erst nicht viel miteinander, weil sie sich beide etwas befangen fühlten. Nadja schlug von sich aus das Café vor, in dem Bastis Bruder arbeitete. Das überraschte Nici.

„Sicher, dass du da hinwillst?“

„Warum nicht. Wird schon nicht so schlimm sein und außerdem gibt es dort nun mal den besten Kaffee.“

Es war um diese Uhrzeit ganz schön voll, doch sie Mädchen ergatterten noch einen freien Tisch ziemlich in der Ecke. Basti schien heut gar nicht da zu sein.

„Schön, dass wir mal wieder was machen. Das fehlt mir irgendwie.“

Nici lächelte etwas verlegen.

„Ja mir auch und Kim kann ich nicht so mit dir vergleichen. Sie ist zwar lieb, aber das ist nicht meine Welt.“

Mike, Bastis Bruder brachte zwei Cappuccino.

„Naja, ich mag die Punks auch nicht so. Wie läuft‘s eigentlich zwischen dir und Lukas?“

Automatisch grinste Nici bei seinem Namen.

„Es könnte nicht besser sein. Wolltest du hier her, weil du gehofft hast Basti wäre da?“

Nadja sagte lange nichts, dann bekam sie glasige Augen und schluckte.

„Ein bisschen schon. Ich hänge noch voll an ihm und die anderen Leute können das nicht verstehen, vor allem Chris nicht. Der kann nur dumm labern.“

Die Arme war echt verzweifelt und Nici hasste Chris langsam für seine dumme Art.

„Chris redet doch alles nur immer schön. Ich denke, das ist nicht der richtige Umgang für dich.“

„Bastis tolle Clique ist wohl besser?“, entgegnete sie trotzig.

„Ich kenn die Jungs jetzt schon ne Weile und habe wirklich nichts an ihnen auszusetzen. Aber wenn du dich immer weigerst, sie kennenzulernen, kannst du dich ja nicht vom Gegenteil überzeugen. Sie sind auf jeden Fall besser als der dumme Chris.“

Nadja trank einen Schluck.

„Jetzt ist es sowieso zu spät. Wenn Basti dort rumhängt, komm ich da nicht mit hin.“

Nici hatte nicht gewusst, dass Nadja so trotzig sein konnte. Plötzlich kam Basti zu unserem Tisch und sagte Nici Hallo. Auch mit Nadja tauschte er einen kurzen Blick aus, aber beide brachten kein Wort raus. Dann verschwand er ganz schnell.

„Wie lange wart ihr eigentlich zusammen?“

„Sechs Monate…ich glaub ich mag ihn immer noch.“

„Dann sag es ihm.“

„Spinnst du! Das trau ich mich doch nicht. Weißt du, ob er eine andere hatte?“

„Glaub nicht. Soll ich mit ihm reden?“

Nicis Freundin schwieg einen Moment und schaute dann unsicher. Sie zuckte mit den Schultern.

„Lad ihn doch zu deinem Geburtstag am Wochenende ein.“, schlug Nici scherzhaft vor.

„Nici, sei doch mal ernst! Würdest du echt mit ihm reden?“

„Klar. Bin heut Abend sicher sowieso bei Tim.“

„Wie sind die Leute denn so drauf?“

Nici überlegte kurz, da sie bis jetzt auch nur zwei Mal mit dort gewesen war.

„Naja, was soll ich sagen. Sie sind eben nett und haben mich gleich akzeptiert. Falls du die Drogensache meinst, da ist nicht viel dran. Hab es zumindest noch nie so mitbekommen.“

Nadja schaute vor sich hin und dann zu ihr.

„Vielleicht rede ich wirklich mal mit ihm und zum Beweis, wie sehr ich ihn mag, geh ich halt mal mit zu seinen Kumpels. Aber nur, wenn du auch da bist.“

Nici lächelte. Dann bezahlten sie und verließen das Café. 

Als Nici nach Hause kam, empfing sie ihre Mum mit besorgtem Blick. Was wohl jetzt schon wieder los war? Sie hatte Mittag gekocht, Linsensuppe. Nici gab ihr einen Kuss auf die Wange und nahm am Tisch platz. Sie setzte sich mir gegenüber und trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte.

„Mama! Sag schon, was ist los.“

Sie räusperte sich.

„Ich habe mich heute in der Pause mit einer Kollegin unterhalten.“

„Ja und?“

Nici schlürfte die Suppe, weil sie noch sehr heiß war.

„Ihr Sohn geht mit deinem Lukas in die Klasse und das was sie mir erzählt hat, beunruhigt mich ein wenig.“

Das Mädchen verdrehte die Augen und langsam nervte es wirklich, dass alle immer dumm über Lukas urteilen mussten.

„Was hat sie denn gesagt? Und wer ist ihr Sohn?“

Bestimmt Chris, denn wie er von Lukas redete, färbte das bestimmt auf seine Eltern ab oder umgekehrt.

„Ihr Sohn heißt Florian.“

Nici verschluckte sich an ihrer Suppe. Da kam wahrscheinlich genauso wenig etwas Positives raus.

„Sie hat gesagt, dass ihr Sohn so gut wie nie zu Hause und immer sehr nachlässig ist, sei es Schule oder sein Auftreten. Sie hat mir auch erzählt, dass der Florian sehr gut mit Lukas befreundet ist.“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Flo ist in Ordnung und nur, weil er Punk ist, muss er nicht gleich schlecht sein.“

Ihre Mum seufzte wieder.

„Ich habe nur bedenken, dass du da in einen Freundeskreis hineingeraten bist, der dir schaden könnte.“

Warum machten sich Mütter immer so viele Sorgen? Da fielen ihr Lukas Worte wieder ein, dass er sich wünschen würde, seine Eltern sorgten sich um ihn. Doch ihnen war es egal, wo Lukas sich rumtrieb. Nici spürte einen Stich in der Seite und konnte sich zum ersten Mal in seine Lage versetzen. Ihre Mum schloss aus ihrem Verhalten jedoch etwas anderes.

„Heißt das, ich habe Recht?“

„Nein Mama, bitte. Ich musste nur gerade an etwas denken. Die Leute sind echt nett und ich pass schon auf mich auf.“

Nici wurde irgendwie immer nachdenklicher und verglich die Beziehung zu ihren Eltern mit der von Lukas. Wie schlimm konnte es sein, wenn man so auf Abstand mit ihnen redete? Keine Zuneigung von ihnen bekam? Das machte sie traurig und sie verkniff sich die Tränen. Doch ihre Mum merkte, dass etwas nicht stimmte. Ihre Eltern waren zwar nicht superreich, aber sie waren auch nicht arm und Nici hatte bis jetzt fast immer das bekommen, was sie wollte. Manchmal sparte sie ihr Geld auch selbst zusammen. Doch nie war es so gewesen, dass sie etwas nur bekommen hatte, damit sie zufrieden war. Was wäre, wenn Lukas so wie Flo geworden wäre? Er hatte mal erwähnt, dass Flo auch schon andere Drogen genommen hatte. Sie ertrug den Gedanken nicht und nun kamen mir doch die Tränen.

„Was ist denn los, mein Schatz?“

Ihre Mum legte ihren Arm um ihre Schulter. Sie schüttelte nur mit dem Kopf.

„Lukas hat es nicht leicht zu Hause, aber ich weiß, dass er keine Drogen oder so nimmt. Das meinst du doch oder?“

Sie nickte und strich ihr über den Kopf.

„Ich pass wirklich auf Mama. Lukas braucht mich und ich ihn.“

Jetzt lächelte sie.

„Gut. Ich wollte nur sicher sein, natürlich glaube ich dir.“

Nici erwiderte ihr Lächeln durch ihren Tränenschleier.

„Danke. Ich geh jetzt Hausaufgaben machen.“

 

So langsam hatte ich mich damit abgefunden, dass ich auf mich alleine gestellt war. Und so allmählich war ich mir auch nicht mehr sicher, ob ich die Unterstützung meiner Eltern wirklich haben wollte. Dann dachte ich wieder an das Versprechen zurück, das sich meine Mum so sehnlichst von mir wünschte. Wie so oft trieb es mir die Tränen in die Augen, doch ich hielt sie zurück, denn ich hatte gelernt, wie ich meine Gefühle zurückhalten konnte. Vielleicht würde ich es sogar schaffen, sie ganz zu unterdrücken. Abstumpfen und nichts mehr fühlen. Doch war das noch menschlich? Wollte ich noch menschlich sein? Hielt ich das noch aus oder würde mich das umbringen? Was hieß es überhaupt menschlich zu sein und was machte uns aus? Warum gab es immer wieder jemanden, der Dinge von uns verlangte, die niemals passieren werden. Ich fragte mich immer, wie es wohl bei Chris oder Nadja zu Hause sein mochte. Perfekte Familie, die beiden würden sicher irgendwann studieren und die Plätze in den Logen auffüllen, die durch ihre lädierten Eltern frei werden würden. Sie würden das weiterführen, was ihnen vorgegeben wurde. Sie treten in die Fußstapfen ohne auch nur einen Zentimeter abzuweichen, denn dann könnte man ja neue Wege einschlagen und sich von der tollen Gesellschaft spalten. Oder auf mich treffen, den Außenseiter, der irgendwann mal dazugehörte. Jojo hielt noch immer zu mir, keine Frage und sie fühlte sich auch immer mehr zu mir hin gezogen, als zu meinen Eltern. Das missfiel ihnen natürlich. Meine Schwester liebte es, wenn ich mir sonntags Zeit für sie nahm und mit ihr den Zoo besuchte oder mir andere Dinge einfallen ließ, die ihr Freude bereiteten. Meine Eltern wussten wahrscheinlich nicht mal, was Jojo für Interessen hatte.

Ich verdiente mein Geld als Fotomodel oder half Basti in dem Café seines Bruders. Mein selbst verdientes Geld gab ich meist für Klamotten aus oder um Nici und Jojo kleine Präsente zu schenken. Dann ließ ich mir noch ein drittes Piercing in der Unterlippe stechen, wofür mich meine Eltern allerdings hassten. Aber im Großen und Ganzen hatte ich mein Leben in der Hand. In der Schule bemühte ich mich sehr um beste Leistungen, sodass meine Eltern mir auch das nicht ankreiden konnten.

 Mein Vater befand sich wiedermal auf Dienstreise, das heißt er fliegt mit seinem Assistent nach Spanien, Frankreich oder Italien, um dort seine neusten Ideen vorzustellen und der Rest ist dann nur Urlaub. Natürlich braucht er dann immer seine Dolmetscher, weil er keinen Plan von fremden Sprachen hat. Meine Mum benimmt sich gerade in diesen Wochen immer etwas merkwürdig. Wahrscheinlich wusste sie, dass sie mein Vater wieder mal betrog. Aber sie sprach nie darüber. Ich war gerade aus der Schule zurück und hatte mich schon gleich danach mit Nici verabredet.

„Willst du nichts zum Mittag essen?“

„Von mir aus.“

Sie schaute mich die ganze Zeit mit diesem vorwurfsvollen Blick an.

„Du wirst immer fremder für uns. Und diese Metalldinger da in deinem Gesicht, das hätte ich mir in deinem Alter nicht erlauben dürfen. Aber bei dir ist es sowieso zu spät.“

Dieser Satz zog mich schon wieder richtig runter. Es war echt krass, was sie mir an den Kopf knallte ohne darüber nachzudenken, dass sie mich damit verletzte. Oder tat sie das sogar bewusst?

„Du hattest in meinem Alter ganz andere Sorgen und das Resultat siehst du ja. Ich habe dich nie dafür verantwortlich gemacht, aber manchmal solltest du dir echt überlegen, was du sagst. Ich erwartete schon gar keine Anerkennung oder Toleranz mehr von euch, aber dann geht mit meinen Gefühlen wenigstens nicht so um, als hätte ich keine. Das macht es nicht besser.“

„Wir wollen ja nur, dass du dich in dieser Gesellschaft ein bisschen anpasst, weil wir denken, dass du später nicht zurechtkommst, wenn du so denkst.“

Ich lachte bitter.

„Ich will mich gar nicht anpassen, denn ich habe schon oft die Erfahrung gemacht, dass es auch Menschen gibt, die mich akzeptieren. Und außerdem habe ich alles besser im Griff, als du vielleicht denkst und eure Hilfe will ich da gar nicht mehr.“

„Na dann ist doch alles gut. Wann suchst du dir deine eigene Wohnung?“

Das war zu viel. Ich ließ den halbvollen Teller stehen und ging. Wie konnte man nur so gefühlskalt sein? Und wenn ich genug Geld hätte, würde ich mir auch meine eigene Wohnung suchen. Plötzlich öffnete sich hinter mir die Tür und meine Mum stand mit verheultem Gesicht vor mir.

„Ich hab das nicht so gemeint. Bitte, es tut mir leid.“

Sie wollte meine Schulter tätscheln, doch ich trat einen Schritt zurück.

„Das hättest du dir früher überlegen sollen. Vielleicht merkst du ja irgendwann mal, was du mit Worten alles kaputt machen kannst.“

Auch ich würde am liebsten heulen, weil ich mich so beschissen fühlte.

Ich legte mich in die Sonne im Park und wartete auf Nici. Von wegen, sie hatte es nicht so gemeint. Es war doch immer das gleiche Spiel, erst diente ich ihr als Zielscheibe, an der sie ihren Frust abließ und dann tat es ihr leid. Aber das ich auch Gefühle hatte und das nicht länger aushielt war ihr scheinbar egal. Was konnte ich denn dazu, wenn mein Vater sie mit seiner Sekretärin betrog und zu Hause trotzdem den perfekten Liebhaber spielte! Warum konnte sie nicht die Mutter sein, die sie früher gewesen ist? So liebevoll und fürsorglich. Würde sie mich wirklich tolerieren, wenn ich morgen in normaler Jeans und farbigem Pulli vor ihr stehen würde? Daran glaubte ich nicht und außerdem musste ich mich da selbst verleugnen. Es gab doch so viele andere Menschen, die Interesse und Toleranz für die Gothicszene zeigten, auch wenn sie keine Gothics waren. Schon oft habe ich mich gerade mit älteren Leuten darüber unterhalten und gerade die, von denen man es am wenigsten erwartet, stehen dann zu einem. Ein Ehepaar in dem Café von Bastis Bruder mag mich sehr und sie finden es toll, wie ich rumlaufe. Sie haben mir auch erzählt, dass sie in Leipzig Urlaub gemacht haben, als dort gerade das Wave Gothic Treffen stattfand und ihre Faszination für die Szene gerade da gewachsen ist. Und sie berichten mir immer wieder gern, wie lieb und hilfsbereit wir Gruftis immer wären. Solche Gespräche geben mir Mut und ich hoffe dann, dass mich meine Eltern vielleicht auch irgendwann akzeptieren.

Nici merkte mir natürlich an, dass ich ziemlich mies gelaunt war und fragte, was passiert sei. Ich zuckte nur mit den Schultern und zündete mir eine Zigarette an.

„Nichts Besonderes.“

Sie wurde gleich wieder ein bisschen hysterisch.

„Kannst du nicht mal offen mit mir reden? So wie du es mir am Anfang versprochen hast!“

„Und was ist, wenn ich gar nicht darüber sprechen will? Im Allgemeinen weißt du doch worum es geht, also“, motzte ich zurück.

„Ich dachte nur, wenn du mit mir redest, geht es dir besser.“

„Warum sollte es mir da besser gehen? Es ist immer dieselbe Scheiße, was hab ich davon, wenn ich dir das zum hundertsten Mal erzähle?“

Es nervte mich, wenn Nici immer alles genauestens wissen wollte und dann so tat, als könnte sie das nachvollziehen. Nichts konnte sie. Ich war noch nie der Typ gewesen, der so offen über seine Gefühle plaudern konnte, außer mit Tim, Flo oder Basti. Das war auch was anderes als mit meiner Freundin darüber zu sprechen.

„Okay. Dann nicht. Hast du Lust heut Abend mit zu Nadja zum Grillen zu kommen?“

„Weiß nicht. Auf die Leute hab ich eigentlich nicht so Bock.“

„Ist das ein nein?“

Ich nickte und sah die Enttäuschung in ihren Augen. Mir war irgendwie alles ziemlich egal, sogar Nici. Meine Worte hatte ich gedanklich oft so gut wie möglich formuliert und ich war mir meiner Sache so sicher.

„Du Nici…ich glaub ich kann im Moment keine Beziehung führen. Vielleicht tut uns eine Auszeit ja mal ganz gut.“

„W-was? Aber warum?“

„Irgendwie habe ich keine Gefühle mehr für dich und dann noch der ganze Stress. Ich fühl mich echt überfordert. Ich kann das grad nicht.“

Tränen rannen ihren Wangen herab.

„Tja, was soll ich dazu sagen? Ich hab das irgendwie im Gefühl gehabt. Dann werd ich mal gehen.

 Meine Mutter hatte gekocht, als ich nach Hause kam. Mal was ganz Neues, denn sie machte sich sonst nie die Mühe Samstag zu kochen. Vielleicht wollte sie unsere Familie wieder vereinen. Ich wollte später noch in den Proberaum, weil die Jungs und ich die Songs üben wollten. Ich hatte sie überzeugen können, ein weiteres

Konzert zu geben und wenn ich daran dachte wurde ich ganz nervös. Die Flyer hatte ich heute am Vormittag mit Tim und Basti fertiggestellt. Ich legte sie auf den Tisch im Flur und ging kurz ins Bad. Als ich wieder raus kam, betrachtete meine Mutter die Flyer. Dann sah sich mich an.

„Was ist das?“

„Ein Konzert, das nächsten Samstag stattfindet.“

„Das sehe ich auch. Ich meine die Gruppe Nocturna?“

„Is meine Band.“

Sie nickte interessiert und gab mir den Stapel in die Hand.

„Bist du zum Essen da?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht.“

„Kannst du auch mal vernünftig mit mir reden?“

„Tue ich doch. Was soll ich denn noch machen außer antworten?“

„In ganzen Sätzen antworten. Ich wusste nicht, dass du eine Band hast.“

Ich lachte spöttisch.

„Ach sag bloß! Du hast mich ja auch nie danach gefragt.“

„Lukas! Hör auf so mit mir zu reden!“

Ich zuckte wieder mit den Schultern und ging in mein Zimmer eine rauchen. Wie ich befürchtet hatte, kam sie hinterher. Sie polterte zur Tür herein. Ich hockte im Fensterbrett und schaute hinaus.

„Du trägst auch nicht viel dazu bei, dass es zwischen uns wieder besser läuft, was? Und rauchen tust du auch viel zu viel!“

Ich atmete tief durch.

„Was willst du eigentlich von mir? Warum sollte ich auch was dazu beitragen, is mir sowieso scheißegal. Kannst dich schon mal freuen, in knapp zwei Jahren seit ihr mich los.“

„Ja ja, Sprüche! Nichts als Sprüche klopfen, das kannst du. Von was willst du das denn finanzieren? Und glaub ja nicht, ich weiß nichts über dich. Ich habe mitbekommen, dass du die ganze Woche erst spät nach Hause gekommen bist und bestimmt habt ihr wieder irgendwas genommen. Ihr schmeißt euch doch ständig irgendwelches Zeug.“

„Wenn du das sagst, wird es schon stimmen.“

Ich versuchte noch ruhig zu bleiben und nahm einen tiefen Zug.

„Wie kann man sich in dem Alter schon so gehen lassen! Florians Mutter versteht mich wenigstens, weil ihr Junge auch so verkommen ist. Ich wünschte, du wärst so ein netter junger Mann, wie der Chris aus deiner Klasse. Aus dem wird wenigstens mal was.“

Das war zu viel des Guten.

„Weißt du, wie sehr es mich ankotzt ständig mit anderen verglichen zu werden? Und merkst du überhaupt, dass du immer nur von anderen Dinge über mich erfährst? Ist dir schon mal eingefallen mich selbst über mein Leben auszufragen? Und Chris ist das größte Arschloch, das ich kenne!“

Ich ließ der Wut in mir jetzt freien Lauf.

„Naja, ich weiß nicht. Zu mir ist er immer nett…und hör auf mich so anzuschreien! Du bist sicher nur neidisch auf ihn, deshalb hast du dich diesen Versagern angeschlossen, die im Park und sonst wo rumlungern. Wenn ich dich etwas frage, bekomme ich doch nur pampige Antworten.“

„Weil du nicht mal merkst, wie verletzend du zu mir bist!“

„Ich verlange ab sofort von dir, dass du dich anders kleidest. Von mir aus gehe ich mit dir einkaufen. Ich gebe dir einen Tag Zeit, deine Klamotten auszusortieren! Sonst…“

Ihre Stimme wurde immer hysterischer und schwoll mit jedem Wort mehr an. Mir schnürte es die Kehle zu.

„Was sonst?“, wisperte ich.

„Sonst will ich dich hier nicht mehr sehen!“

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder heulen sollte und auch nicht, ob sie das ernst gemeint hatte. Sie stand einfach nur da und starrte vor sich hin. Ich zog meine Tasche unter meinem Bett hervor und erblickte im Augenwinkel, wie sich ihre Miene aufhellte. Ich stopfte all meine Klamotten in die Tasche, holte meine Armbänder und Ketten aus der Schublade und packte diese in die Seitentasche. Dann stellte ich mich vor meine Mutter und schaute sie an.

„Meinst du das gerade wirklich ernst?“

Meine Stimme klang erstickt und schien ganz weit weg zu sein.

„Ich will nur, dass aus dir ein anständiger Junge wird.“

Ich biss mir heftig auf die Unterlippe, als mir die Tränen in die Augen stiegen. Das flaue Gefühl im Magen wurde immer schlimmer.

„Gut, dann meine ich das hier auch ernst! Sag Jojo…. es tut mir leid.“

Sie starrte mich mit aufgerissenen Augen an.

„Wa-was hast du vor?“

„Das, was ich schon lange vorhatte. Wenn du einen perfekten Sohn haben willst, lass dir doch einen klonen…die Kohle dazu hast du ja!“

Ich nahm meine Tasche auf die Schulter und ging. Meine beiden Lieblingsschuhe nahm ich auch noch mit. Sie kam nicht mal hinter mir her. Ließ mich einfach so gehen. Das Loch, in das ich gerade zu fallen drohte, wurde immer größer und immer dunkler. Meine Hände zitterten, als ich den Proberaum aufschloss. Ich schleuderte meine Tasche in die Ecke und sank auf die Knie. Nur nicht heulen. Ich hockte mich auf meinen Sessel in der Ecke und rauchte eine nach der anderen. Die Jungs würden sicher bald kommen. Irgendwie war das schon fast komisch und ich bildete mir auch ein, dass es sich gut anfühlte. Um Jojo konnte ich mich noch kümmern, wenn ich mir eine eigene Existenz aufgebaut hatte. Nie wieder würde ich einen Fuß in dieses Haus setzen. Während ich so nachdachte, bemerkte ich nicht, dass Basti, Tim und Flo auch gekommen waren. In einem Halbkreis standen sie um mich herum und schauten mich an. Ich drückte die Zigarette aus und erhob mich.

„Fangen wir an.“

Keiner fragte mich, was passiert war und das war auch gut so. Ich ließ all meine Emotionen in meiner Musik deutlich werden und fühlte mich danach viel besser. Wir tranken gemeinsam noch was. Tim und Flo wollten sich dann noch was zum Rauchen besorgen. Ich sagte ihnen, dass sie dann damit wieder hier her kommen sollten. Basti und ich blieben im Proberaum. Wir holten den ganzen Kasten Bier hoch, damit wir nicht immer hin und her laufen mussten.

„Ich fand uns heut richtig gut. Vor allem dich, dein Gesang war echt stark.“

„Meine Texte sprechen mir ja auch aus der Seele“, sagte ich und lachte traurig.

„Was ist passiert Lukas?“

„Wenn dich jemand fragen würde, ob du dich zu nem Spießer entwickeln willst, um dich der ganzen beschissenen Gesellschaft anzupassen oder lieber ein chaotischer Rockstar werden willst, was würdest du antworten?“

Basti grinste und nahm sich eine Zigarette.

„Rockstar natürlich.“

„Das war leider die falsche Antwort. Meine Mutter hat mich vor die Wahl gestellt…naja eher hat sie von mir verlangt, dass ich mich verändere, praktisch meine Identität aufgebe, um wieder von ihr anerkannt zu werden. Aber auch ich habe mich für den Rockstar entschieden. Pech für mich.“

„Und…und heißt das jetzt…?

Ich nickte.

„Ich bin freiwillig gegangen, damit hat sie nicht gerechnet. Irgendwie ist auch befreiend nicht mehr dort hin zurückzumüssen. Ich hätte das schon lange machen sollen.“

Basti schüttelte mit dem Kopf.

„Ey, das ist echt krass. Ich hab nie gedacht, dass es so schlimm bei dir ist! Aber wo willst du denn jetzt wohnen? Du brauchst doch ein Dach über dem Kopf.“

„Naja, denk der Proberaum tut’s erst Mal. Ich such mir nen Job und anschließend ne billige Wohnung.“

Basti sah mich entschlossen an und schüttelte wieder mit dem Kopf.

„So geht das nicht Lukas. Komm einfach mit zu mir, meine Mum freut sich, wenn wir einer mehr sind.“

„Nein, das kann ich doch nicht machen. Ich hab  ja nicht mal Geld für die Miete.“

„Das passt schon. Es fällt auf jeden Fall aus, dass du hier einziehst. Erstens ist es saukalt und zweitens würdest du ja verhungern.“

Die Fürsorge meines Freundes rührte mich zutiefst.

„Meinst du das wirklich ernst?“

„Sicher.“

Auf einmal fühlte ich mich glücklich und merkte, dass Basti seinem Ruf als bester Freund wirklich gerecht wurde. Wir kannten uns schon so lange und hatten uns seit dem auch nicht aus den Augen verloren. Doch erst jetzt wurde mir richtig bewusst, wie stark eine solche Freundschaft sein konnte. Ich lächelte ihn schwach an.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll…danke.“

„Naja, bevor du noch auf die dumme Idee kommst, bei Tim und den Spinnern  einziehst, nehm ich dich lieber bei mir auf.“

Ich wusste das sehr zu schätzen, denn im Gegensatz zu meinen Eltern war Bastis Familie nicht sehr wohlhabend. Sein Vater arbeitete als Lasterfahrer und war die ganze Woche unterwegs und seine Mum konnte auf Grund eines Arbeitsunfalles, durch den sie ihre rechte Hand nicht mehr bewegen konnte, kaum noch arbeiten. Stundenweise half sie in einem Supermarkt aus, aber das brachte der Familie auch nicht die finanzielle Unterstützung, die sie nötig gehabt hätten. Deshalb schufteten Basti und Mike auch beide zusätzlich, um über die Runden zu kommen. Und dann wollte er mir noch aus der Patsche helfen, obwohl meine Eltern reich waren und es mir an nichts fehlte, außer ein bisschen Liebe und Zuwendung.

„Ich komm gleich wieder.“

Ich versuchte bis zur Tür normal zu laufen, doch draußen vor dem Proberaum, wo mich niemand sah, da er sehr abgelegen lag, ließ ich meinen Emotionen freien Lauf. Ich winkelte die Knie an und vergrub meinen Kopf in meinen Armen. Wie oft hatte ich mit dem Gedanken gespielt, einfach abzuhauen, doch jetzt merkte ich erst, wie schlimm es in der Realität war. Sicher würde ich Bastis Angebot annehmen, doch jetzt erst hatten sich die Worte meiner Mum gesetzt und ich hatte verinnerlicht, was sie mir eigentlich an den Kopf geknallt hatte. Plötzlich tat sich das Loch wieder auf und ich fiel. Ich fiel immer tiefer und tiefer. Tränen flossen wie kleine Wasserfälle über meine Wangen und ich fühlte den Schmerz mehr denn jeh. Es tat weh von den eigenen Eltern verstoßen zu werden. Ich wusste zwar nicht, wie es sich anfühlte, wenn einem das Herz mit einer Klinge durchbohrt wurde, aber ich war mir sicher, dass es sich genau so anfühlte, wie bei mir jetzt. Mein Körper zitterte unter meinem Gefühlsausbruch heftig und ich musste wieder heulen. Dann hockte ich nur da und starrte vor mich hin. Ich putzte meine Nase und wischte mein Gesicht trocken. Ich lehnte mich gegen die Wand und atmete ein paar Mal ein und wieder aus. Wahrscheinlich würden die ersten Tage die Schlimmsten sein, doch auch das würde vorbeigehen. Ich musste jetzt stark sein und ich wusste, dass ich das sein konnte. Außerdem würden mich meine Freunde unterstützen. Etwas schwerfällig erhob ich mich und ging wieder zu Basti.

„Alles klar?“

Ich nickte und nahm auf meinem Sessel platz.

„Willst’n Bier?“

„Ja, bitte.“

„Du Lukas…wir bekommen das hin.“

Ich lächelte.

„Lieb von dir. Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich gemacht hätte. Jetzt kann es nur noch Berg auf gehen.“

„Das hoffe ich.“

„Seh ich so scheiße aus, wie ich mich fühle?“

Basti grinste.

„Naja, ich verzeih‘s dir.“

Ich boxte ihn freundschaftlich in die Seite und öffnete mein Bier. Dann kamen Flo und Tim auch schon mit dem grünen Wunderkraut. Ich umarmte die zwei. Basti schien ihnen irgendwie schon alles erzählt zu haben. Ich fühlte mich geborgen und der Schmerz ließ sogar ein bisschen nach. Meine Freunde schauten mich mitfühlend an.

„Ich weiß die Frage ist blöd, aber geht es dir gut? Ich habe mir solche Sorgen gemacht, nachdem mich Basti angerufen hat“, fragte Flo besorgt.

„Was soll ich machen, das Leben geht weiter. Klar ist deine Frage blöd, wie soll es mir schon gehen, aber immerhin interessiert es dich. Alles hat auch irgendwann, wenn man lange genug drüber nachgedacht hat, seine positiven Seiten. Jetzt bin ich wenigstens den Ärger los.“

Mir fiel auf, dass Flo in letzter Zeit viel mit Tim zusammen war und irgendwie schien er auch wieder mehr Wert auf sein Äußeres zu legen. Hatte er vielleicht auch eingesehen, dass er irgendwas aus seinem Leben machen musste? Das würde mich freuen, denn ich mochte ihn ja und wollte nicht, dass er sich sein Leben verpfuschte. Ich setzte mich zu ihm auf das Sofa, während Tim und Basti die Instrumente in den Keller trugen.

„Mir is neulich was komisches passiert“, begann er zu erzählen und reichte mir den Joint.

„Was denn?“

Er räusperte sich und senkte seinen Blick.

„Vor ein paar Tagen ist mir alles irgendwie zu viel geworden und ich hatte nicht mal Lust zu Tim zu gehen. Da bin ich durch Stadt geirrt und es hat angefangen zu regen. Mir wurde kalt und ich bin die Bahnhofshalle geflüchtet und stand dort rum. Plötzlich stand jemand neben mir…ein junger Mann, vielleicht eins zwei Jahre Älter als wir und hat mich gefragt, ob mir kalt sei. Ich nickte nur. Daraufhin hängte er mir seinen Mantel um. Kurze Zeit später kam ein zweiter Mann hinzu und die beiden sind verschwunden.“

„Und was ist aus dem Mantel geworden?“

Flo machte eine Kopfbewegung Richtung Sofalehne und grinste.

„Weißt du noch wie er aussah?“

Abwesend nickte Flo.

„Glaub er war Japaner, rote lange Haare, schlank und braune Augen. Schon komisch. Vor allem frage ich mich, warum er das getan hat. Er kennt mich nicht mal.“ 

Basti half mir mein Gepäck zu tragen und alles schien für ihn so selbstverständlich zu sein. Ich dachte an meine Schwester und daran, dass sie mich sicher hasste, für das, was ich getan hatte. Ich bekam Magenschmerzen, als mir einfiel, dass ich Jojo doch versprochen hatte, nicht einfach abzuhauen. Nun war sie alleine und musste ohne ihren großen Bruder zurecht kommen. Aber was hätte ich denn tun sollen? Immerhin hatte sie ja nur die Hälfte mitbekommen und in ihrer Gegenwart versuchte ich meine Gefühle immer unter Kontrolle zu halten, um ihr Sicherheit zu geben. Doch jetzt war sie auf sich alleine gestellt. Aber ich beruhigte mich damit, dass es auch gut sein konnte und sie sich nun mehr zu unseren Eltern hingezogen fühlt.

Bastis Mum freute sich mich zu sehen und hatte nichts dagegen, dass ich vorübergehend bei ihnen wohnte. Mein Freund und ich klappten das Sofa in seinem Zimmer aus und bezogen die Betten mit der frischer Bettwäsche, die Bastis Mum uns gebracht hatte. Dann gab sie uns Bescheid, dass das Abendessen in einer halben Stunde fertig sein würde. Ich ließ mich auf mein Nachtlager plumpsen und seufzte.

„Du weißt ja gar nicht, wie dankbar ich dir bin.“

Basti lächelte uns setzte sich neben mich.

„Es ist doch seltsam. Geld macht eben doch nicht immer glücklich.“

„Das kannst du laut sagen. Du Basti…glaubst du daran, dass wir mit unserer Musik irgendwann erfolgreich sein könnten?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Mh, vielleicht. Andere haben auch mal klein angefangen und schätze du wünscht es dir es so sehr wie ich. Ich glaub wir sind ein gutes Team. Kannst du immer so singen wie heute?“

Ich lachte schwach.

„Denke, das wird mir in nächster Zeit nicht schwer fallen. Ich habe heue auch gemerkt, was es heißt mit all seinen Gefühlen zu singen…es war ganz anders als sonst. Anfangs kam ich mir fast ein bisschen komisch vor, weil ich dachte, es wäre übertrieben, aber schätze, so sollte es sein. Ich würde mir auch wünschen, dass wir mal ne bekannte Rockband werden könnten und dann mit den 69 Eyes auf Tour gehen oder so.“

Wir grinsten uns an und es tat gut einen Basti als Freund zu haben.

 Am nächsten Morgen beschloss ich noch letztes Mal in das meiner Eltern zu gehen, um noch ein paar Klamotten zu holen, die vor Eile vergessen hatte. Denn um diese Uhrzeit waren meine Eltern sicher nicht da. Basti wollte in der Schule Bescheide geben, dass ich später kam.

Das Treppenhaus roch noch immer nach frischer Farbe und alles, die weißen Wände, die grau-weiß meliert geflieste Fußboden erweckte in mir noch immer diesen sterilen Krankenhauseindruck. Mit einem seltsamen Gefühl im Magen steckte ich den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Da stieg mir der Geruch von frischaufgebrühten Kräutern in die Nase und als ich Schritte aus der Küche näher kommen hörte, erstarrte ich. Doch es war nur meine Schwester, die mich im Schlafanzug und barfüßig verwundert ansah. Mit ihren kleinen Händen umklammerte sie die Teetasse. Ihr Gesicht hatte fast die gleiche Farbe wie die Tapete und ein leichter Schatten zeichnete sich unter ihren Augen ab. Ihre süße Stupsnase war gerötet und schien ein bisschen wund gescheuert.

„Hey, was machst du denn hier? Solltest du nicht in der Schule sein?“

Sie kam auf mich zu und umarmte mich.

„Bin etwas erkältete, da hat Mama mir verboten zur Schule zu gehen. Und was ist mit dir?“

Einerseits war Jojo mit ihren sieben Jahren schon sehr weit und andererseits wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie nie eine richtige Chance hatte, ihre Kindheit auszuleben.

„Ich…ich will noch ein paar Sachen holen.“

Meine Stimme klang belegt und der Ausdruck in ihren Augen brach mir fast das Herz. Darin spiegelten sich Traurigkeit, Enttäuschung und Zorn zugleich. Ich nahm sie auf meinen Arm und trug sie in mein Zimmer oder das, was einmal mein Zimmer gewesen ist. Wir setzten uns ins Bett, ganz weit in die Ecke mit den vielen Kuschelkissen und Jojo schmiegte sich fest an mich.

„Jojo,…ich habe dir zwar versprochen, dass ich nicht weggehen werde, aber…ich…ich muss es trotzdem tun. Es geht nicht gut, wenn ich länger mit Mama und Papa unter einem Dach wohne.“

Ich quälte mir dir Worte heraus und ich vermied es ihr direkt ins Gesicht zu schauen. Dann boxte sie mich mit ihren kleinen Fäusten und fing an bitterlich zu weinen. Sie sagte nichts dazu und ich konnte nicht genau einschätzen, was sie dachte und ob sie überhaupt verstand, warum ich nicht länger hier wohnen konnte. Ich ließ sie ihre Wut und ihre Trauer ausleben.

„Aber du hast es versprochen und ein Versprechen kann man nicht einfach brechen!“

Ich seufzte tief.

„Das weiß ich, aber ich kann nicht mehr Kleines. Außerdem heißt das ja noch lange nicht, dass wir uns nicht mehr sehen. Wir können uns jederzeit sehen, sogar jeden Tag, wenn du das möchtest. Aber ich kann nicht mehr hier her kommen.“

Lange, ja sehr lange schaute mich Johanna an und vielleicht versuchte sie sogar zu verstehen.

„Ist es wirklich so schlimm mit Mama und Papa?“

Ich nickte nur.

„Weißt du, ich bin den ganzen Streitereien nicht mehr gewachsen und ich bin es leid mich ständig durchsetzen zu müssen. Glaub mir, es ist besser so.“

„Und wo wohnst du da jetzt?“

Ich drückte die Kleine an mich und strich ihr übers Haar.

„Bei Basti und irgendwann, wenn ich genug Geld habe, kann ich mir vielleicht auch meine eigene Wohnung leisten. Du kannst mich ja bei Basti besuchen kommen.“

Sie schwieg einen Moment.

„Du Lukas, was soll ich Mama und Papa sagen? Die Wahrheit?“

„Wie du möchtest. Mir ist es egal. Auch wenn sie erfahren würde, wo ich wohne, wird sie mich nicht zurückholen können. Tue das, was du für richtig hältst. Ich muss jetzt in die Schule Jojo.“

Ich gab ihr einen Kuss und nahm schweren Herzens Abschied. Mir wurde auf einmal klar, wie schlimm es für meine Schwester sein musste und irgendwie hasste ich mich für das, was ich ihr antat. Doch hatte ich nicht bisher immer nur Rücksicht auf andere genommen? Warum sollte ich dann nicht auch mal etwas tun, was mir gut tat? Auf dem Weg zur Schule rauchte ich noch eine Zigarette und schaffte es pünktlich zur zweiten Stunde. Ich erzählte Basti das mit Jojo und er war auch der Meinung, dass ich mich trotzdem erst mal von meinen Eltern fernhalten sollte.

Nach der Schule trafen wir uns gleich mit Tim im Proberaum und übten unsere Songs. Wir alle fanden, dass wir immer besser wurden. Ich versuchte mich mit meiner Musik ein wenig an dem Goth’n Roll Style zu orientieren, aber achtete sehr darauf, dass ich nicht kopierte oder, dass wir in irgendeiner Weise gleich klangen. Außerdem waren meine Texte, wie auch unsere Klänge noch sehr düster und spiegelten meine Stimmung. In den Songtexten beschrieb ich viele meiner Gefühle, wie Trauer, Hass, Enttäuschung und auch Liebe sowie die Hoffnung, dass es trotzdem weitergehen wird. Man konnte fast sagen, dass unsere Lieder eine Art Biographie oder Seelentagebuch von mir waren. Nur noch einen Tag bis zum Konzert und ich wurde irgendwie ein bisschen nervös. Wie viele Zuschauer würden kommen? Würden überhaupt welche erscheinen? Basti versuchte mich immer wieder zu beruhigen.

Wir saßen im Fensterbrett seines Zimmers, tranken Bier und rauchten.

„Ich glaub wir kriegen das hin.“

„Mhh, ich hoffe es.“

„Hast du Nici eigentlich davon erzählt?“

„Ich weiß nicht, hab sie jetzt schon länger nicht mehr gesehen. Bin mir auch nicht sicher, ob das gut wäre.“

Basti verdrehte die Augen.

„Dacht ja nur, vielleicht, weil sie uns unbedingt noch mal live sehn wollte.“

Ich zog die Augenbrauen hoch.

„Kannst ihr ja schreiben wenn du willst.“

Basti winkte ab.

„Ach lass mal. Du hast gerade deine eigenen Sorgen.“

„Basti, willst du mich etwa verkuppeln?“

Er räusperte sich.

„Naja, ich mag sie irgendwie noch. Immerhin hatte eure Beziehung auch gute Seiten. Hab ich dir erzählt, dass sie vor kurzem mit Nadja in Mikes Café war? Und naja, Nadja hat sich auch voll verändert…irgendwie ist sie hübscher. Warum tun Frauen sowas? Hatte das etwa was zu bedeuten, dass die beiden ausgerechnet in dem Café waren? Ich weiß, ich konnte Nadja nicht viel bieten, aber trotzdem hatte ich den Eindruck, sie fühlte sich glücklich.“

„Da gibt es nur zwei Theorien: entweder Nici hat sie dort hin geschleift oder sie wollte dich sehen. Und Basti, man muss einem Mädchen nicht immer nur materielle Dinge bieten können. Es kommt eher auf das an, was du tust oder sagst. Du bist ein toller Mensch und ein noch besserer Freund. Was braucht eine Frau mehr?“

„Keine Ahnung. Ist doch auch egal, hab gerade sowieso keinen Bock auf eine Beziehung.“

 Ich beschloss Kim morgen von der Schule abzuholen und mal wieder etwas mit ihr zu unternehmen. Das würde sicher auch meine miese Stimmung etwas anheben.

Freitags, das wusste ich, ging ihr Unterricht bis um drei, deshalb stellte ich mich wie immer vor die Schule und wartete auf sie. Wieder und wieder dachte ich an Jojo und daran, ob sie mit unseren Eltern alleine klarkommen würde? Immerhin mochte sie Mama und Papa und umgekehrt, doch was war, wenn sie sich so wie ich entwickeln würde? Was passierte dann? Würde sie sie auch rausschmeißen? Ich zündete mir noch eine Zigarette an und verdrängte diesen Gedanken. Ich hielt auch nach Kim ausschau und hoffte, dass mir Nici nicht über den Weg lief, aber konnte sie nirgends finden. Doch gerade als ich gehen wollte, holte mich Nici mit Nadja im Schlepptau ein. Seit unserer Trennung hatten wir uns nicht mehr gesehen und ich war auch nicht scharf darauf mit ihr zu reden, dennoch fragte ich sie nach Kim.

„Hey. Sag mal, war Kim heut nicht in der Schule?“

Nici schüttelte den Kopf.

„Nein, schon seit zwei Tagen nicht und unser Klassenlehrer hat bei ihr zu Hause auch niemanden erreicht.“

Das bereitete mir ein wenig Sorgen und schon machte ich mir wieder Vorwürfe, weil ich mich nur um meinen eigenen Scheiß gekümmert hatte.

„Ich werde sie besuchen gehen.“

Nici wollte mich unbedingt begleiten und wir fuhren mit der S-Bahn vom Zentrum aus ins sogenannte Assiviertel. Das war eines heruntergekommensten Viertel unserer Hauptstadt, wo ein Plattenbau am nächsten grenzte. Doch Kims Familie war sehr arm und konnte sich kaum etwas leisten. Da kam noch hinzu, dass ihr Vater, als auch ihre Mutter wenig vom Arbeiten hielten. Sie gehörten zu den Familien, die meinten, dass uns die Ausländer alle Arbeitsplätze wegnahmen und sie erst Geld verdienen wollten, wenn die ihre Plätze freigaben. Ich war nur einmal in meinem Leben in diesem Viertel gewesen und fand es erschreckend. Armut, Dreck und Gewalt. Ich bekam eine Gänsehaut, wenn ich daran dachte. Und nach Nicis  Blick zu urteilen, schien sie auch noch nie hier gewesen zu sein. Alles schien relativ friedlich zu sein, doch ich wollte so schnell wie möglich wieder weg von hier. Oft wurde in der Zeitung von den Banden berichtet, die hier gegen Abend und nachts ihr Unwesen trieben. Schlägereien standen hier auf der Tagesordnung. Als wir in die kleine Straße, nahe der Sonnenallee einbogen, klammerte sich Nici plötzlich an mich. Vor dem alten, baufälligen Haus mit den vergilbten Gardinen blieben wir stehen. Der Putz bröckelte ab und die Haustür schien nicht mehr richtig zu schließen, denn sie wurde mit einem Draht zusammengehalten. Ich klingelte und es hallte laut im Flur, doch es machte niemand die Tür auf. Ich betätigte ein weiteres Mal die Klingel.

„Meinst du wir sollen raufgehen?“

Nici zuckte unsicher mit den Schultern.

„Ich weiß nicht. Mir kommt das hier unheimlich vor.“

Ich lächelte und versuchte mein Unbehagen zu verbergen. Dann nahm ich Nici bei der Hand und löste den Draht. Knarrend und quietschend öffnete sich die Tür. Im Flur roch es nach Erbrochenem und nach Fäkalien. Ich hielt mir die Hand vor den Mund. Kim wohnte im ersten Stock. Ich klopfte, doch auch hier öffnete niemand. Nicht mal ein Laut war von drinnen zu hören. Das kam mir seltsam vor, denn normalerweise verließen Kims Eltern die Wohnung nie. Da huschte plötzlich eine Frau an uns vorbei, die sich mit verstörtem Blick nach uns umdrehte.

„Entschuldigen Sie. Wissen Sie, ob Kim oder ihre Eltern zu Hause sind?“

Die Frau zuckte zusammen, als ich sie ansprach und stotterte irgendetwas von Streit und Schreien am Morgen. Dann verschwand sie blitzschnell hinter der Tür zu ihrer Wohnung.

„Das ist seltsam oder? Was hast du jetzt vor?“

Schreie? Konnte es sein, dass Kims Vater etwa? Nein, ich dachte den Gedanken nicht bis zu Ende. Ich hämmere ein letztes Mal gegen die Tür und wartete, doch nichts geschah. Dann drückte ich gegen die Tür und augenblicklich sprang diese auf.

„Lukas, was tust du da? Lass uns lieber schnell verschwinden.“

„Du kannst ja hier warten. Ich muss was gucken.“

In der Wohnung roch es nach dreckigen Klamotten, Alkohol und vergammelten Essensresten. Also nicht viel besser als im Hausflur. Mein Herz hämmerte mir bis zum Hals, weil ich jeden Moment damit rechnete, Kim ihr Vater könnte mich überfallen. Doch alles blieb still, zu still. Zu Kims Zimmer führten drei Stufen hoch und da tappte ich in etwas Klebriges. Es schien aus ihrem Zimmer geflossen zu kommen. Vorsichtig öffnete ich die Tür, doch im selben Moment wünschte ich mir es nicht getan zu haben. Ich ging automatisch einen Schritt zurück und starrte in das Bett. Mein Körper zitterte und ich konnte nur reglos vor mich hinstarren. Jetzt wurde mir klar, dass das Blut auf den Stufen war. Kims Blut. Daher also die Schreie. Hatte er sie erst vergewaltigt und dann umgebracht? Plötzlich wurde mir schlecht und ich stürmte aus der Wohnung. Ich griff Nicis Hand und zerrte sie mit auf die Straße. Tief atmete ich die Luft ein. Deshalb war Kim also nicht zur Schule gekommen. Oder hatte sie sogar Selbstmord begangen?

„Was ist los? Was hast du gesehen?“

Ich schüttelte nur den Kopf und zog mein Handy aus der Tasche, um die Polizei zu alarmieren. Dann warteten wir noch, bis sie hier eintrafen.

„Sie ist also…tot?“

Ich nickte nur stumm. Noch nie hatte ich einen lieben Menschen verloren und irgendwie konnte ich das auch noch nicht glauben.

Die Polizei kam ziemlich schnell und sie fragten mich, was passiert sei. Dann warfen sie selbst einen Blick in die Wohnung. Wenig später kam ein weiteres Fahrzeug hinzu, das die Leichen abtransportierte. Insgesamt waren es drei. Wahrscheinlich hatte Kims Vater erst die beiden Frauen und dann sich selbst ermordet. Wie grausam war diese Welt nur. Alles andere sollte jetzt per Autopsie und so weiter festgestellt werden.

Nici und ich redeten bis zum Proberaum kein Wort miteinander. Ich erzählte den Jungs, was passiert war und allen ging es ähnlich wie mir. Es fragte auch keiner warum Nici hier war, es schien fast wie sonst zu sein. Sie blieb sogar. Wir beschlossen unser Konzert morgen trotzdem nicht abzusagen und wollten es Kim widmen. Eigentlich hatten wir vorgehabt Eintritt zu verlangen, doch das ließen wir jetzt bleiben. Kim hätte es so sicher auch besser gefunden, denn einige Jugendlichen, denen es ähnlich wie ihr ging, konnten sich Veranstaltungen dieser Art gar nicht leisten und immerhin konnten wir uns nicht zu den angesagtesten Rockbands zählen.

Wir spielten unsere Songs mehrere Male, verbesserten hier und dort noch etwas. Danach wollte ich mich nur noch betrinken und weit weg von all den Problemen sein. Nici war auch noch da und saß eher schweigsam unter uns Jungs. Tim und Flo mussten sich wieder mal bekiffen, doch ich blieb bei Alkohol und Zigaretten. Da ich heute nicht sonderlich viel gegessen hatte, war mein Magen empfindlicher als sonst. Meine Freunde konnten wieder lachen, aber ich nicht. Ich verfiel wieder in meine depressive Stimmung und die konnte selbst der Wodka nicht bessern. In Gedanken an Kim schweifte ich wieder ab zu meiner eigenen grandiosen Familie, das stimmte mich genauso wenig froh. Ich hasste mein Leben und zum ersten Mal fragte ich mich, wie viel ich eigentlich zum Streit mit meinen Eltern beigetragen hatte. Gehörten dazu nicht immer zwei? Soweit ich mich zurückerinnern konnte, traten die ersten Konflikte auf, als ich mich mit Tim anfreundete. Damals war ich dreizehn und unheimlich fasziniert von der Punkszene, also begann ich mir dir Haare bunt zu färben. Dann folgten die immer auffälliger werdenden Klamotten und mein erster richtiger Kontakt mit Alkohol und den Drogen. Ich kam immer unregelmäßiger nach Hause und da fingen meine Eltern an, sich über mich zu beschweren. Sie versuchten nie etwas mit mir zu klären, sondern kritisierten nur alles an mir. Meine Reaktion darauf war, dass ich mich immer mehr verschloss und meine Eltern immer mehr und immer öfter provozierte. Das tue ich bis heute, weil ich mich so unverstanden fühle. Und das Schlimme an der ganzen Sache war, dass sich meine Eltern anfangs wenigstens noch ein klein bisschen bemüht hatten, mir zu zeigen, dass sie mich mochten, doch auch das war in den letzten Jahren verschwunden. Keine Zuneigung mehr von ihrer Seite und somit auch kein Vertrauen. Nichts. Nur der Wunsch, ich wäre ihr Adoptivkind. Konnte ich denn nichts tun, damit sie mich mochten?

Ich hatte bereits die halbe Flasche geleert, da fragte mich Nici, ob ich mit an die frische Luft kommen wolle. Ich erhob mich von meinem Sessel und folgte ihr mit dem Wodka in der Hand. Draußen zündete ich mir eine Zigarette an und merkte, wie ich leicht schwankte. Nici sah besorgt aus oder war sogar Zorn in ihren Augen?

„Findest du nicht, dass du genug getrunken hast?“

„Kannst dich ja auch betrinken. Außerdem wüsste ich nicht, was dich das angeht.“

Ich lehnte mich an die Wand, prostete Nici zu und trank einen großen Schluck.

„Lukas, ich mein‘s ernst!“

„Ja und? Ich auch. Wenn es dich so sehr stört, geh doch!“

Nici schien meine Art nicht sehr zu gefallen, aber das war mir gerade egal.

„Findest du es etwa toll dich so hängen zu lassen? Ich meine, wir sind zwar nicht mehr zusammen, aber Sorgen kann ich mir doch trotzdem machen oder?“

Ich zog an meiner Zigarette und schaute ihr tief in die Augen.

„Tue was du nicht lassen kannst, nur verlange nicht von mir, dass ich auf dich höre. Ich will nur einfach mal nicht nachdenken, das ist alles.“

„Ach wie toll. Weißt du, du kannst mit deinen Sorgen zu Basti, Tim und mir kommen…“

Ich unterbrach sie mitten im Satz.

„Nici, ich habe aber einfach keinen Bock mehr zu reden. Mir reicht das, was ich gesehen und erlebt habe, da muss ich nicht noch ewig lang drüber diskutieren. Kapierst du das?“

Sie erwiderte länger nichts. Ich ließ mich an der Wand zu Boden rutschen und rauchte noch eine.

„Warum kiffst du dir dann nicht gleich die Platte zu?“

„Könnte ich auch, will ich aber nicht. Was ist eigentlich gerade dein Problem? Oder was machst du hier? Hast du nichts Besseres zu tun?“

Wieder hielt sie Inne, dann hockte sie sich vor mich.

„Um ehrlich zu sein, hoffe ich noch immer, dass es zwischen uns noch mal was wird.“

Ich verdrehte die Augen und nahm noch einen Schluck, langsam konnte ich nicht mehr.

„Du gibst wohl nie auf was? Warum suchst du dir nich nen ordentlichen Kerl. Einen, der nich ständig betrunken is, Kohle hat und nen geregeltes Leben führt. Nici, ich habe nichts mehr…verstehst du? Meine Mutter hat mich rausgeworfen! Ich bin der absolute Versager…“

„Vielleicht sollte ich das, aber ich will dich Lukas und ich mag es nicht, wenn du so gleichgültig und traurig bist, weil ich mir dann so hilflos vorkomme und nicht weiß, was ich machen soll.“

„Nichts! Tue einfach nichts, denn du kannst mir nicht helfen. In meinem Leben ist zu viel kaputt, als dass du es reparieren könntest…das bisschen Liebe reicht da leider nich aus…“

„Das bisschen Liebe? Ich liebe dich mehr, als alles andere auf dieser Welt und du? Du stößt mich von dir…“, wisperte sie traurig. Ich schluckte.

„Ja, ich stoße dich von mir, weil ich dich nicht ertrage…du und deine heile Welt, die mir nur immer vor Augen hält, was ich alles nicht habe…“

„Na schön…dann lass ich dich wohl besser allein“, zickte mich meine Exfreundin an und ich blieb heulend zurück. Allein mit diesen verfluchten Gefühlen und dem unerträglichen Schmerz. Mein verkorkstes Herz drohte vor Leid und Kummer zu zerbrechen und stach in meiner Brust. Ich sank in mich zusammen und grub meine Nägel in die schon fast verheilte Wunde meines linken Unterarms. Diese brach erneut auf und untermalte meine Verzweiflung. Blut sickerte aus der Verletzung, ich konnte es nicht stoppen und es war mir auch egal.

Ich torkelte auf meinen Plateaustiefeln zurück auf meinen Sessel und hinterließ eine blutige Spur. Das ließ die Alarmglocken bei meinen Freunden natürlich schrillen und Flo hielt mich, als ich zur Seite kippte. Basti verarztete meinen Arm und wieder brachen diese beschissenen Gefühle aus mir heraus. Ich konnte einfach nicht mehr, befand mich mehr als am Ende und wurde dem nicht mehr Herr. Flo strich mir behutsam über den Kopf.

„Muss er ins Krankenhaus, Basti?“, fragte dieser, doch ich schüttelte heftig den Kopf.

„Es geht schon…“, krächzte ich.

„Lukasschatz, du hast ne Menge Blut verloren…nicht, dass du hier gleich abklappst.“

Ich warf dem Grünhaarigen einen tadelnden Blick zu.

„Und wenn schon…is eh alles beschissen…ich will nich mehr…“

„Untersteh dich sowas zu denken!“, mahnte mich Tim und ich streckte ihm mein Mittelfinger entgegen.

„Wir gehen erst Mal nach Hause und du schläfst deinen Rausch aus.“

Basti rief ein Taxi, welches uns zu ihm nach Hause brachte und irgendwie bugsierten mich meine Freunde ins Bett. Sie nahmen mich in ihre Mitte, vielleicht aus Angst, ich könnte wieder auf dumme Gedanken kommen. So schliefen wir dann ein.

Der nächste Tag wurde nicht besser. Basti und ich hatten uns noch irgendwie zu ihm nach Hause geschleppt und ich wachte mit fürchterlichen Kopfschmerzen auf. Das hat man nun davon. Wir wollten beide kein Frühstück, es war ohnehin schon Mittagszeit und stattdessen kochte uns seine Mum einen Tee. Wir faulenzten ein bisschen und schauten DVDs an. Irgendwie fühlte ich mich besser, denn es war rührend, wie mich Bastis Familie mit in ihr Leben integrierte. Doch dann dachte ich an meine eigene Familie und wurde deprimiert, weil es dort alles andere als harmonisch zuging.

„Hast du schon ne Ahnung, was du heut Abend anziehst?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Mal sehen. Warum?“

„Naja, du hast doch diese tolle schwarz- rot gestreifte Hose und wenn du die nicht anziehst, könnte ich mir sie ja vielleicht ausborgen.“

Ich grinste Basti an.

„Zieh sie halt an.“

„Cool, danke. Hast du Lust mir dann noch die Haare zu färben?“

„Kann ich machen. Gibt’s nen Grund warum du heute so gut aussehen willst?“

Er zögerte einen Moment.

„Naja, Nadja will vielleicht kommen. Hab Nici gestern gefragt, ob die beiden nicht zusammen kommen wollen.“

Also gingen Basti und ich ins Bad und ich färbte ihm die Haare mit seinem Lieblingsneonrot. Dann mussten wir doch noch etwas essen, sonst drohte uns seine Mum, würde sie uns nicht weggehen lassen. Anschließend stylten wir uns ein wenig. Ich zog meine schwarze Stoffhose mit den Taschen und dem Nietengürtel an, mein halbseitig schwarz- weiß gestreiftes, ärmelloses Oberteil und wie immer meine New Rocks.

Im Proberaum war schon alles bereit, denn wir hatten alles vom Vorabend stehenlassen. Ich war ein wenig nervös, weil ich noch nie vor soviel Leuten gesungen hatte. Wenn überhaupt welche kommen würden. Um acht war Einlass und gegen neun wollten wir anfangen. Mike, Bastis Bruder hatte sich dazu bereit erklärt unser Barkeeper für diesen Abend zu sein. Und es kamen tatsächlich ein paar Leute. In den Raum würden vielleicht maximal 30 Leute passen, aber mit so vielen rechnete ich heute nicht. Nici brachte Nadja wirklich mit und Basti grinste mich nur an. Sie begrüßten uns sehr freundlich.

„Na, wie geht’s deinem Kopf?“

„Geht so. Du willst wohl jemanden verkuppeln?“

Ich grinste sie an.

„Mal sehen, was draus wird.“

„So ich muss jetzt auf die Bühne, bis später.“

Um neun waren es schätzungsweise vierzig Leute und ich konnte ziemlich weit hinten auch meinen Vater sehen, der Jojo gerade auf die Schultern nahm. Ich versuchte ihn nicht zu beachten. Ich machte vor dem Beginn noch eine kleine Ansage.

„Guten Abend. Ich hätte nicht erwartet heut so viele Zuschauer zu sehen, aber schön, dass ihr den Weg hier her gefunden habt. Dieses Konzert am heutigen Abend widmen wir einer guten Freundin, die gestern gestorben ist. In loving Memory of Kim!“

Mit diesen Worten stimmte ich das erste Lied an und ich konnte die Leute begeistern. Dieses unbeschreibliche Gefühl vermag ich kaum in Worte zu fassen. Man kommt sich auf einmal nicht mehr klein und nutzlos vor.

Nach einer Stunde spielten wir unser letztes Lied und tranken noch etwas mit den Leuten.

Ich schnappte kurz frische Luft. Vorher nahm ich mir ein Bier und meine Zigaretten mit. Gerade, als ich mir diese anzündete, kam jemand auf mich zu. Natürlich kein anderer als mein Vater mit Jojo. Ich verdrehte die Augen, doch blieb stehen.

„Ich muss schon sagen, du hast mich beeindruckt Lukas.“

„Was willst du hier?“

„Deine Schwester wollte dich sehen und da habe ich zufällig den Flyer entdeckt. Außerdem macht sich deine Mutter Sorgen um dich.“

„Warum, hat sie etwa Angst ich könnte wiederkommen?“

„Sei nicht albern, ich meine es ernst. Immerhin bist du unser Sohn.“

„Wirklich?“

Darauf erwiderte er nichts, sondern bemerkte trocken:

„Deine Texte sind aber auch sehr düster. Mich hat es sehr erschreckt, wie du über deine Familie denkst.“

Ich lachte traurig und zog an meiner Zigarette.

„Jetzt weißt du ja vielleicht, wie es mir geht. Wobei das nun auch keine Rolle mehr spielt.“

„Naja, irgendwann kommst du ja doch zurück. Du kannst nicht ewig auf Kosten anderer leben. Ich wünsche dir noch einen schönen Abend.“

Jojo umarmte mich flüchtig und verschwand mit meinem Vater in der Dunkelheit. Und zurück blieb ein trauriger Junge.

Sonntag erledigte ich mit Basti noch die Hausaufgaben für die kommende Woche und später wollten wir uns noch mit Nici und Nadja treffen. Basti war zwar noch nicht wieder richtig mit ihr zusammen, aber das würde schon werden. Im Park trieb sich seit Tagen niemand herum, weil alle, vor allem die Punks unter uns, noch sehr um Kim trauerten. Da es sehr warm für November war, hockten wir uns zum Rauchen auf die Bank vor den Jugendclub. Doch ich war mit meinen Gedanken ganz weit weg. Meinte meine Mum das etwa ernst?

„Lukas, hast du Zigaretten? Hab meine vergessen.“

Ich suchte in meiner Tasche und warf Basti die Packung hin. Er lächelte mich an und ich versuchte zurückzulächeln. Es war schon fast anstrengend die Mundwinkel nach oben zu ziehen. Wann war ich das letzte Mal glücklich? Bei unserem Auftritt gestern? Oder jetzt? Nein, das war alles nur halb glücklich, wenn überhaupt. Zu meinem Unglück hatte uns Chris entdeckt und kam zu uns.

„Hey ihr. Coole Show gestern Lukas und Basti.“

„Danke!“, sagten wir beide zur gleichen Zeit.

„Dein Dad war ja auch mit deiner kleinen Schwester da. Hab mich mit ihm unterhalten, ist echt nett, der Mann.“

„Ja, sehr“, entgegnete ich mit einem sarkastischen Unterton. Das entging Chris natürlich nicht.

„Das klang aber sehr ironisch. Sag bloß, an der Sache ist was dran?“

„Ich weiß nicht wovon du sprichst.“

„Ach nein? Meine Mutter hat mir erzählt, dass dich deine Eltern rausgeworfen haben.“

Das war zu viel. Wir standen uns nun Feindseelig gegenüber. Ich funkelte ihn böse an.

„Ach ja? Und was hat dir deine Mutter noch alles erzählt?“

Er grinste mich fies an und kratzte sich am Kinn.

„Naja, dass es deine Eltern bedauern einen solchen Loser als Sohn zu haben.“

Ich holte aus und schlug ihm mitten ins Gesicht. Nicht sonderlich doll, aber es reichte für ein Veilchen.

„Fahr zur Hölle Sennert!“

„Naja hoffentlich kommst du dann in den Himmel! Und hör endlich auf dir dein Maul über andere zu zerreißen. Meine Familie ist meine Sache und geht dich nen scheiß an!“

Ich rechnete damit, dass er sich wehren würde, doch stattdessen rannte er weg. Im Hintergrund lachten Basti, Nici und Nadja.

„Das hat der schon lange Mal gebraucht.“

Basti und ich teilten uns ein Bier und rauchten noch eine Zigarette. Komischerweise ging es mir jetzt etwas besser.

Ich brachte Nici gegen sechs nach Hause, weil sie zum Essen da sein sollte. Seit einer Woche mied ich diese Gegend und es war mir unangenehm auf einmal wieder hier zu sein und doch war alles so vertraut.

„Willst du nicht mit rein kommen?“

„Ich weiß nicht.“

„Bitte.“

Ich seufzte und willigte schließlich ein.  Es fühlte sich schon fast so an, als wären wir wieder zusammen. Nicis Mum hatte Kalbsfilets mit Bandnudeln und Sahnesoße gekocht. Sie freute sich, dass ich mitgekommen war.

„Sag mal Lukas, was willst du eigentlich nach der Schule machen?“

Darüber hatte ich noch nie richtig nachgedacht, deshalb sagte ich:

„Ich bin noch nicht hundertprozentig sicher, aber irgendetwas Kreatives auf jeden Fall.“

Immerhin hatte ich ja noch fast ein ganzes Schuljahr bis zum Abitur Zeit.

„Nici will ja unbedingt Erzieherin werden.“

Ich lächelte, weil ich fand, dass dieser Beruf sehr gut zu ihr passte.

„Mama, musstest du das jetzt sagen?“

„Wieso? Ich kann mir dich als Erzieherin gut vorstellen“, entgegnete ich. Nici errötete leicht. Nachdem alle fertig waren, halfen wir noch beim Abwaschen. Nici ihr Papa verschwand ihm Wohnzimmer, um die acht Uhr Nachrichten zu schauen.

„Danke ihr beiden.“

„Nichts zu danken“, sagte ich höflich. Nici fragte mich, ob ich noch einen Moment bleiben könnte. Ich nickte und wir gingen die Wendeltreppe rauf in ihr Zimmer. Dieses war nicht übermäßig groß, aber gemütlich. Das Bett stand an der Wand und links davon ein Bücherregal und rechts davon ihr Schreibtisch. Der Kleiderschrank war vor dem Regal. Sie bediente ihren CD Player und nun liefen HIM im Hintergrund. Wir setzten uns auf ihr Bett.

„Schon komisch, dass mich jeder lieber sieht, nur meine eigenen Eltern nicht.“

„Du kannst ja mal vorbeischauen.“

Ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Das war ein schlechter Scherz.“

„Sorry. Ich glaub du hast Chris heute ganz schön gedemütigt.“

Ich grinste.

„Schon. Das hat er ja auch mal verdient. Du Nici, ich finde es schön, wenn wir uns verstehen, aber bitte interpretiere da jetzt nichts hinein okay?“

Sie schwieg einen Moment.

„Naja, ich finde es auch echt schön, irgendwie scheinen wir uns so besser zu verstehen, wenn wir nicht zusammen sind.“

Sie strich mir über die Wange und gab mir einen Kuss.

„Lass das lieber, ich kann dir nicht geben was du willst, das weißt du.“

„Das ist mir egal, ich habe mir so sehr gewünscht einen solchen Moment noch einmal zu erleben.“

Ich schüttelte nur den Kopf und erhob mich von ihrem Bett. Sie hielt mich zurück.

„Nici, ich meine es ernst. Ich will das nich. Du solltest dir echt einen anderen Typen suchen.“

Sie legte ihre Arme um mich.

„Was ist so falsch an dir?“

„Ich kann gerade einfach keine Beziehung führen, das ist alles. Ich sollte jetzt gehen.“

In ihren Augen sah ich die Enttäuschung und sie kämpfte mit den Tränen.

„Dich besaufen oder was?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Und wenn schon.“

Ich rief Flo an und wir verabredeten uns im Park. Dunkle Schatten zeichneten sich unter seinen Augen ab und ich sah bestimmt nicht besser aus. Er hielt mir den Joint hin und ich musste an Nicis letzten Worte denken. War ich deshalb jetzt ein Junkie? Weil es allmählich frisch wurde, zogen wir uns im Proberaum zurück. Auch Flo machte nicht den Eindruck, als würde er schnell nach Hause gehen wollen.

„Willst du auch’n Bier?“, fragte er. Ich nickte und baute uns noch einen Joint. Mein Freund kehrte mit einem Sixer Bier zurück. Mir wurde schlecht, wenn ich an zu Hause dachte und so beschloss ich mit Flo den Abend hier zu verbringen. Er prostete mir zu.

„Was geht eigentlich bei dir und Nici?“

„Weiß nich, irgendwie nix. Es fühlt sich nich richtig an. Ich meine sie himmelt mich an, aber ich kann das nich. Es überfordert mich und sie kann oder wird nie verstehen, warum ich bin wie ich bin.“

„Weil sie es nich anders kennt…sie hat eine heile Welt und ist wohl davon überzeugt, dass man sich niemals mit seiner Familie streiten kann.“

Ich lächelte traurig und nahm einen tiefen Zug.

„Neulich hat sie sich mit ihrer Mum gestritten, meinetwegen. Weil sie Gemunkel aus der Nachbarschaft gehört hat.“

Flo lachte auf.

„Haha, Lukas, der Bad Boy…nimmt Drogen, hat ständig andere Mädels und widersetzt sich den Willen seiner Eltern.“

„Kann ich dich mal was fragen?“

Flo warf mir einen erwartungsvollen Blick zu.

„Klar.“

Ich räusperte mich.

„Hast du dich schon mal gefragt, wie es ist mit einem Jungen zusammen zu sein?“

Flo riss die Augen weiter auf als sonst und verschluckte sich fast an seinem Bier.

„Ähm, ehrlichgesagt nich. Warum fragst du?“

„Irgendwie ist mir aufgefallen, dass ich auch Männer attraktiv finde. Aber vielleicht is das auch nur eine Phase.“

Plötzlich grinste mich mein Freund an und schlug vor, dass wir feiern gehen sollten. Basti durfte natürlich nicht fehlen. Wir wollten ohnehin schon immer mal ins Underground. Dort war heute Gruftiparty. Flo hatte auch eine Überraschung und zog geheimnisvoll diese kleine Pille aus einem Umschlag seiner Hosentasche.

„Bist du dabei?“

„Klar“, freute ich mich. Ich verlor die Kontrolle über den Alkohol, weil ich so benebelt war. Irgendwann flirtete ein Mädel mit mir, die nur leicht bekleidet war. Sie trug ein Netztop und darunter ein Hauch von Nichts. Wir flirteten miteinander und irgendwann hing sie knutschend über mir. Viel mehr wusste ich von dem Abend nicht mehr.

 

 

 

 Nici wollte sich unbedingt mit mir treffen und wir verabredeten uns in Mikes Café.

„Geht es darum unsere Beziehung zu retten? Bist du noch immer der Meinung, ich bin dein Traumprinz und du musst mich vor irgendwas bewahren?“, bemerkte ich leicht sarkastisch und zündete mir eine Zigarette an.

„Du tust dich wirklich schwer damit, wenn andere dich mögen oder?“

„Ich gehe nur den Weg des geringsten Widerstandes, das is alles.“

„Meine Güte Lukas, dann rede doch mit deinen Eltern“, sagte sie fordernd. Ich lachte nur traurig und schüttelte den Kopf.

„Das meine ich Nici, genau das is der Grund, warum wir nich zusammen sein können…meinst du ich hätte nich versucht mit ihnen zu reden? Für wie bescheuert hältst du mich eigentlich.“

„Wenn du da dauernd auch so aggressiv bist, kann ich deine Eltern verstehen.“

Ich funkelte sie wütend an.

„Tue doch nicht so, als ob du mich so überragend kennst. Beschäftige dich lieber mit deinem Leben, ich kann dein Gelaber gerade echt nich brauchen.“

Später brachte ich sie nach Hause. Gerade wollte ich gehen, da sah ich, wie das Auto meines Vaters in unsere Einfahrt einbog. Ein stechender Schmerz durchzuckte meine Brust. Ohne, dass ich es wollte oder kontrollieren konnte setzte ich mich in die Richtung meines Elternhauses in Bewegung. Ich vernahm eine Kinderstimme und wusste, dass das Jojo war. Eh ich mich versah, kam sie auch schon in meine Richtung gerannt und lief in meine Arme.

„Kommst du wieder nach Hause?“

Ich schüttelte mit dem Kopf. Plötzlich wurden ihr Gesicht und ihre Augen wieder tieftraurig. Sie sprach nur noch in einem Flüsterton.

„Aber du musst. Mama und Papa streiten sich nur noch. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll. Es ist nicht dasselbe in deinem Bett zu schlafen, wenn du nicht da bist. Es fühlt sich nicht richtig an. Ich mache ganz oft in deinem Zimmer Hausaufgaben und wenn ich die Augen schließe bist du auch da. Mama hat noch nichts von deinen Sachen weggetan, weil sie vielleicht auch hofft, du kommst wieder.“

„Ach Jojo, mein kleiner Schatz.“

Ich drückte sie fest an mich und auf einmal hatte ich wirklich tief in mir den Wunsch wieder zu meiner Familie zurückzukehren.

„Lukas, das zwischen euch muss aufhören. Bitte!“

Sie flehte mich an und eine Träne kullerte über ihre Wange. Dann rief Papa nach Jojo und spähte um die Ecke. Ich fasste sie an der Hand und ging langsam zu ihm.

„Kannst du deine Schwester hoch bringen? Ich muss nochmal ins Büro.“

Ich nickte und auf einmal fiel mir auf, dass ich den Haustürschlüssel in meiner Hosentasche bei mir trug.

„Wo warst du eigentlich mit Papa?“

„Wir haben uns im Kino einen Film angeschaut. Der war total schön.“

„Das glaub ich gern.“

Ich setzte mich noch einem Augenblick auf die Stufen vor der Haustür und rauchte eine Zigarette. Jojo setzte sich neben mich.

„Warum rauchst du eigentlich?“

Ich sah meine Schwester lächelnd an.

„Ich weiß auch nicht...“

Sie lehnte sich an meine Schulter und zähle die Buttons auf meiner Jacke.

„Wow, zwanzig Stück. Ganz schön viel.“

Ich drückte die Zigarette in der Hälfte aus und schloss auf. Ich hatte Basti noch kurz angerufen und gesagt, dass ich bei meinen Eltern war.

Meine Mum staunte nicht schlecht, als ich die Wohnung betrat und sie schien sich fast zu freuen mich zu sehen.

„Ich wollte nur Jojo hochbringen. Bin dann auch gleich wieder verschwunden.“

Gerade, als ich die Tür zum Flur wieder öffnen wollte, hielt sie mich zurück. Ihre Hand lag auf meiner Schulter und ich drehte mich langsam um.

„Willst du nicht wieder nach Hause kommen?“

„Ich weiß es nicht. Was habe ich denn davon?“

Meine Mum ließ ihre Hand sinken und sah mit dem gleichen traurigen Blick an, wie Jojo zuvor.

„Vielleicht finden wir ja gemeinsam eine Lösung, wie es besser werden kann.“

„Solche Worte aus deinem Mund? Das ich das nochmal erlebe.“

„Bitte Lukas, ich meine es ernst. Hast du vielleicht einen Moment Zeit?“

Ich nickte und wir gingen ins Wohnzimmer. Irgendwie tat es gut wieder zu Hause zu sein.

„Jojo hat erzählt, dass ihr euch oft streitet.“

„Ja, das stimmt. Ich glaube, dass euer Vater eine andere Frau hat. Ständig ist er unterwegs und kommt spät von der Arbeit.“

„Und warum erzählst du mir das?“

Sie sah mich noch immer traurig an.

„Weil Johanna und du die einzigen in diesem Haus seid, denen ich noch vertrauen kann. Bitte Lukas, komm zurück. Ich will dich nicht verlieren.“

Sie schluckte und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Meinte sie das wirklich ernst?

„Ich ertrage das nicht mehr. Immerzu nur Streit und dann diese Ungewissheit, ob es dir gut geht und wo du gerade bist. Deinem Vater ist das wahrscheinlich auch jetzt noch egal, aber mir nicht.“

Sie sah mich die ganze Zeit an und ihre Augen wurden glasig.

„Hast du dir wirklich Sorgen um mich gemacht?“

„Ja natürlich. Du bist doch mein Lukas und um meine Kinder mache ich mir eben Sorgen. Es ist so schlimm ohne dich. Ich weiß, dass ich noch sehr jung war, als du auf die Welt gekommen bist und ich habe auch nicht immer alles richtig gemacht, aber ich habe dich trotzdem lieb Lukas.“

Das Lächeln kam von ganz alleine auf meinem Gesicht.

„Zwick mich mal, damit ich weiß, dass das kein Traum ist.“

„Kannst du nicht einmal ernst sein?“

„Tut mir leid. Ich komm nur zurück, wenn ich so bleiben darf, wie ich bin. Auch, wenn ihr es gut meint, will ich mich nicht verändern. Ich fühle mich anders nicht wohl, verstehst du? Ich will auch nicht wie Chris sein, weil er kein ehrlicher Mensch ist.“

„Du wirst es nicht glauben, aber ich denk, das habe ich verstanden. Ich möchte auch meinen Lukas wiederhaben und keinen anderen.“

Ich atmete tief ein und wieder aus.

„Ich hab dich auch lieb, Mama und ich hoffe, dass du das ernst meinst.“

Dann nahm sie mich auf einmal in ihre Arme und jetzt weinte sie. Ich riss mich zusammen, weil ich ihr gegenüber nicht zu viele Gefühle zeigen wollte. Noch nicht. Dann fuhr sie mit mir sogar zu Basti, um meine Klamotten abzuholen. Mein Freund zwinkerte mir zu und signalisierte mir somit, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Jojo schlief schon, als wir zurückkamen und wir setzten uns noch bei einem Glas Rotwein ins Wohnzimmer. Hier war der einzige Ort, neben meinem Zimmer, in dem mein Vater ab und zu rauchte, deshalb zündete ich mir eine Zigarette an. Meine Mum sagte nichts dazu und stieß mit mir an. Sie schien wirklich einfach nur froh zu sein, dass ich wieder da war.

„Ich habe auch schon länger die Vermutung, dass Papa irgendwie fremdgeht.“

„Dann ist es doch offensichtlicher als ich dachte. Er will es nur nicht zugeben. Wenn ich ihn darauf anspreche, weicht er mir aus oder macht mir Vorwürfe. Aber heute ist Sonntag und er wollte sich unbedingt zum Essen mit seinen Kollegen treffen.  Erst unternimmt er was mit seiner Tochter, damit es nicht so auffällt und dann geht er einfach. Ich werde noch verrückt.“

Ich nahm einen tiefen Zug und legte meinen Arm um ihre Schulter.

„Ich mache dieses Theater schon viel zu lange mit“, sprach meine Mum weiter.

„Aber, wenn ich ehrlich sein soll könnte ich es mir auch gut ohne ihn vorstellen.“

Plötzlich hörten wir, wie sich dir Tür im Flur öffnete und jemand herein kam. Mit schweren Schritten schlurfte er dem Licht im Wohnzimmer entgegen. Er sah sehr schick aus, mit weißem Hemd und dem hellblauem Schlips und dem Anzug. Lässig warf er seine Jacket über den Stuhl und schenkte sich auch ein Glas Rotwein ein. Meine Mum schaute ihn mit misstrauischem Blick an.

„Wie war das Essen?“

Er zuckte mit den Schultern und lächelte.

„Ganz okay. Ging halt ziemlich lange, aber das kennst du ja. Hallo Lukas, schön dich zu sehen.“

Heuchler. Dachte ich bei mir.

„Ich muss Dienstag auf eine Geschäftsreise nach München. Voraussichtlich werde ich eine Woche unterwegs sein.“

„Ich frage mich, warum du nicht gleich ausziehst, wenn du sowieso nur unterwegs bist. Hast du mal an deine Familie gedacht?“, fragte meine Mum schroff. Mein Vater kippte den Wein runter und funkelte sie wütend an.

„Schließlich bringe ich das ganze Geld ins Haus. Du mit deinem Bürojob verdienst nicht mal die Hälfte von dem, was ich einnehme! Und ohne mein Einkommen wäre es dir gar nicht möglich die Wohnung zu finanzieren.“

„Ich würde mir lieber einen Mann wünschen, der öfter zu Hause wäre, als einer der ständig vorgibt hart zu arbeiten. Mir steht es bis hier oben, Reiner. Wann gibst du endlich zu, dass du mich betrügst? Ich mache das nicht länger mit!“

Mein Vater war wie vom Blitz getroffen und sagte nichts. Dann lachte er.

„Du bildest dir das alles nur ein Sabine. Gute Nacht, ich gehe jetzt schlafen.“

Meine Mum sah mich traurig an.

„Es ist schon spät, wir sollten auch schlafen gehen.“

Ich trug die Gläser noch in die Küche und räumte sie in die Spülmaschine ein. Meine Mum stand in der Küchentür und lächelte mich an. Es machte mich unglücklich sie so zu sehen. Dann gab sie mir einen Kuss auf die Stirn.

„Schlaf schön.“

„Du auch.“

Ich putzte noch Zähne und ging hinauf in mein Zimmer. Es fühlte sich gut an wieder im eigenen Bett zu schlafen und es dauerte auch nicht lange, bis mir die Augen zufielen.

Am nächsten Morgen quälte ich mich träge aus dem Bett und ich merkte, dass mir erheblich Schlaf fehlte. Mein Vater war schon weg und meine Mum war gerade dabei das Frühstück vorzubereiten. Jojo blockierte das Bad, also schenkte ich mir Kaffee ein, um wach zu werden. Meine Mum kniff mir in die Wange und lächelte mich an.

„Was soll’n das jetzt?“

„Ich freu mich nur so.“

Jojo kam und ihre Augen strahlten, als sich mich da im Bademantel stehen sah. Ich holte meine Klamotten aus dem Zimmer und sprang unter die Dusche.

Es fiel mir nicht schwer, mich wieder an mein altes Leben zu gewöhnen und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, stellte ich fest, dass ein wenig Luxus ja nicht schadete.

 

Nici hatte mich letztendlich doch überreden können, ihr noch eine Chance zu geben und ich konnte es kaum erwarten sie meiner Mum richtig vorzustellen.

Endlich war der Mittwoch gekommen. Meiner Mum hatte ich gesagt, dass ich meine Freundin heute nach der Schule mit nach Hause bringen würde und irgendwie fand ich das sogar ein bisschen aufregend. Ich hatte Nici nichts erzählt, doch sie staunte nicht schlecht, als ich sie freudestrahlend und gut gelaunt von der Schule abholte. Ich schnippte den Zigarettenstummel weg und gab ihr einen Kuss. Ich fühlte mich so gut und lebendig wie schon lang nicht mehr. Nici schaute mich leicht irritiert an.

„Hab ich was verpasst? Wo ist mein mürrischer, deprimierter Lukas hin?“

Ich lachte und nahm ihre Hand.

„Ich glaub den bekommst du so schnell nicht wieder zu Gesicht.“

„Gibt es einen Grund dafür?“

„Allerdings und den wirst du auch gleich kennenlernen.“

Jetzt hatte ich sie wohl völlig aus der Fassung gebracht, doch sie fragte nicht weiter. Als wir durch den Park schlenderten, von dem mein Haus nur noch einen Katzensprung entfernt lag sagte sie:

„Na, diese Gegend kommt mir doch sehr bekannt vor. Bist du sicher, dass du hier hin willst?“

„Ganz sicher.“

Ich zog den Haustürschlüssel aus meiner Jackentasche und öffnete die Tür.

„Willst du mir eigentlich endlich mal sagen, was los ist?“

Ich gab ihr noch einen Kuss.

„Okay. Ich habe mich am Sonntag mit meiner Mum ausgesprochen, naja und jetzt wohne ich wieder zu Hause.“

„Wow. Das ich das noch mal erlebe. Heißt das, du bist in Zukunft immer öfter glücklich?“

„Ich denk schon.“

Sie lächelte mich an und ich erwiderte es. Meine Mum erwartete uns schon und mein Schwesterchen war auch da. Die beiden kochten etwas Schönes zum Mittagessen. Es verlief alles relativ ruhig und wir hatten unseren Spaß. Jojo erzählte, dass sie in der Schule ein Diktat geschrieben hatte und es wahrscheinlich gut ausgefallen sein würde. Meine Mum fragte mich auch, was es bei mir so Neues in der Schule gäbe. Ich überlegte kurz und zuckte dann mit den Schultern.

„Nichts Besonderes. Klappt alles ganz gut.“

Sie lächelte mich an und schien zufrieden mit meiner Antwort zu sein. Dann sprach ich ein Thema an, was mir schon längere Zeit im Kopf umherging. Und früher hätte ich es ohne Wiederrede gemacht, ohne meine Eltern um Erlaubnis zu fragen, doch da mein achtzehnter Geburtstag ohnehin nahte, stellte ich ihr die Frage.

„Du Mama, ich habe doch bald Geburtstag.“

Jetzt zog sich ihre Stirn in Falten.

„Na, wenn du schon so anfängst, kann doch nichts Gutes dabei rauskommen“, bemerkte sie eher scherzhaft.

„Naja, ich würde gerne noch ein Tattoo haben und das könntest du mir ja schenken.“

Sie grinste mich an.

„Sag ich ja. Ich denk mal drüber nach.“

Ich grinste zurück. Später sprach mich Nici in meinem Zimmer darauf an.

„Hast du nicht gesagt, du willst dir keins mehr stechen lassen?“

„Naja, irgendwie will ich doch. Ich glaub, wenn man einmal damit begonnen hat, wird man süchtig danach.“

„Und wohin?“

Geheimnisvoll zuckte ich mit den Schultern und lächelte.

„Lass dich überraschen.“

„Und was ist, wenn es mir nicht gefällt?“

„Dann hast du Pech gehabt, ich muss mir doch gefallen.“

Nici boxte mich in die Seite.

„Du bist echt egoistisch. Naja, eigentlich habe ich nichts gegen tätowierte Jungs. Kann sogar ganz sexy aussehen.“

„Siehst du.“

Wir erledigten beide unsere Hausaufgaben bei mir und dann tranken Kaffee. Alles war so schön und harmonisch, ich konnte es selbst noch nicht richtig fassen. Nici fand meine Mum sehr sympathisch.

„Meinst du, dass ihr jetzt alle Missverständnisse aus dem Weg geräumt habt?“

Ich zündete mir eine Zigarette an und hockte mich auf die Fensterbank.

„Denk schon. Ich hoffe halt echt, dass ihr das so ernst ist, wie mir. Aber ich habe festgestellt, dass man mit ihr besser reden kann, als mit meinem Vater. Man könnte fast denken, dass sie zu vielen Dingen nur so konservativ eingestellt war, weil er es von ihr verlangte. Eigentlich ist sie ne coole Mum.“

Nici küsste mich auf die Wange.

„Man merkt, dass sie dir gefehlt hat. Ich glaube ihr zwei macht das schon.“

 



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