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Seelenkrank

von

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Jukas schlimmster Alptraum

Eines Abends nach der Arbeit besuchte mich Flo in meinen vier Wänden und wirkte ganz schön aufgelöst und mitgenommen. Wieder mal berichtete er mir von einem heftigen Streit mit Malen und, dass sie ihn nicht verstand.

„Immer bin ich nur der Arsch und sie hat nie Schuld an etwas…deshalb hab ich heute den Schlussstrich gezogen. Ich kann das einfach nicht mehr.“

„Echt? Aber vielleicht ist besser so. Warum ziehst du denn nicht von zu Hause aus?“

Betrübt sah er mich an.

„Wie denn, ohne Kohle…ich weiß nicht, was ich machen soll, aber ich bleib nicht länger mit dieser Idiotenfamilie unter einem Dach.“

„Wenn du willst, kannst du auch erst mal hier wohnen…wenn du Juka ab und zu erträgst.“

„Wirklich? Das wäre meine Rettung und ich könnte mich endlich mal in aller Ruhe um einen vernünftigen Job kümmern…geht das echt?“

„Ja, wenn ich es doch sage“, erwiderte ich mit einem Lachen in der Stimme.

„Du bist echt ein Schatz…Lukas…wie ist es eigentlich mit Juka und dir so…ich meine, ist es schöner, als mit Nici?“

„Ja, auf jeden Fall. Ich meine, man kann immer und überall Sex haben und es ist eben anders.“

Flo starrte Löcher in die Luft und blies kleine Rauchkreise aus.

„Vielleicht sollte ich mich auch mal umorientieren.“

Jetzt wurde ich hellhörig.

„Aha…denkst du, du bist soweit?“

Jetzt grinste er mich an.

„Hab mich doch neulich im Underground so toll mit Kami unterhalten…er ist echt lieb, aber ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll.“

„Na hast du ein Glück, dass Juka und Kami morgen zu mir kommen wollen. Nutze deine Chance.“

Doch aus diesem Besuch wurde nichts.

Nachts um drei klingelte mein Handy und riss mich aus dem Schlaf. Normalerweise hatte ich es meist ausgeschaltet und den Ton abgestellt, doch das Vibrieren auf meinem Nachttischschrank war so laut, dass ich hochschreckte. Es war Juka und er klang sehr verzweifelt. Sofort stellte ich mir sein Gesicht vor und irgendwie ahnte ich, was los war, denn so hatte ich ihn bis jetzt nur einmal erlebt. Er wollte mir am Telefon nichts Genaues sagen und bat mich schnell zu ihm zu kommen. Ich sprang in meine Hose, zog meinen Kapuzenpulli über, der gerade über den Stuhl hing und rannte fast zu seiner Wohnung. Mit dem Ersatzschlüssel, den mir Juka geliehen hatte, schloss ich auf und eilte die Stufen zu seiner Wohnung empor. Mit angezogenen Beinen kauerte er auf seinem Bett und vergrub den Kopf in einem der kleinen Kissen. Es roch nach kaltem Zigarettenrauch und neben Juka auf dem Boden kullerte eine leere Flasche Wodka herum. Reglos stand ich im Raum und ließ dieses Bild auf mich wirken. Wie in Zeitlupe ließ Juka das Kissen vor seinem Gesicht sinken und schaute mich aus, geröteten, verquollenen Augen an. Ich nahm ihn in meine Arme und er ließ seinen Kopf in meinen Schoß fallen. Ich traute mich kaum zu fragen, was passiert war und strich ihm übers Haar.

„Hast du noch Zigaretten?“, fragte er mich nach einer Weile und setzte sich auf. Ich reichte ihm eine und musste selbst auch eine rauchen.

„Was ist los?“, fragte ich endlich mit zittriger Stimme. Juka biss sich auf die Unterlippe und wollte so wohl die Tränen unterdrücken.

„Hab vorhin mit meiner Mama telefoniert…und, sie hat gesagt, dass es meinem…Papa schlecht…geht…alles war…umsonst.“

Sowas hatte ich befürchtet und es tat weh Juka so traurig zu sehen und zu wissen, dass man nichts tun konnte.

„Willst du nach Tokio fliegen?“

Er nickte abwesend und nahm einen tiefen Zug. Dann sah er mich zum ersten Mal richtig an, seitdem ich bei ihm war.

„Kannst du mitkommen…bitte. Allein schaff ich das nicht.“

„Natürlich.“

Ich wartete auf ein Lächeln, wenigstens ein schwaches, eine kleine Geste der Freude, doch es kam nicht.

„Vielleicht solltest du noch ein bisschen schlafen.“

Juka nickte und legte sich hin. Ich legte mich zu ihm und schloss ihn in meine Arme. Kami wollte uns auch begleiten. Mein Dad beschwerte sich zwar, weil ich ihn schon wieder um Geld anbettelte, doch als ich ihm den Grund erklärte, gab er es mir. Ich umarmte ihn zum Abschied und zum ersten Mal wurde mir klar, dass er auch an Jukas Papa seiner Stelle hätte sein können. Schnell verdrängte ich diesen Gedanken. Jetzt ging es mal nicht um mich, sondern um Juka. Er brauchte mich jetzt mehr denn jeh und insgeheim war ich froh, dass er mich gefragt hatte, ob ich ihn begleite. Im Flugzeug hielt ich die ganze Zeit seine Hand. Er legte seine Sonnenbrille kein einziges Mal ab. Sein großer Bruder Taiki holte uns vom Flughafen ab. Auch er sah nicht besonders glücklich aus. Der Rest von Jukas Familie empfing uns in dem kleinen Wohnzimmer und seine Mum drückte mich fest an sich. Juka rannte gleich zu seinem Papa, der im Sessel saß. Er lächelte uns an. Neben ihm auf dem Tisch lag der Befund. Juka sah ihn sich an und redete schnell auf japanisch zu seinem Dad. Ein Wortgefecht zwischen den beiden entbrannte. Schließlich knallte Juka das Blatt zurück auf den Tisch und sauste an mir vorbei. Seine Mutter und Sayuri folgten ihm.

„Was haben sie gesagt?“, fragte ich Kami.

„Juka will, dass er ins Krankenhaus geht, aber Hiroki, also sein Papa, hat die Hoffnung aufgegeben und sagt, dass er zu alt dafür ist. Wir sollten mal nach ihm schauen.“

Juka saß in der Küche und rauchte. Ich legte meine Arme um ihn und er lehnte seine feuchte Wange gegen meinen Arm. Dann redete er wieder auf japanisch mit seiner Mutter. Die brach auch in Tränen aus. Sie stellte uns Tee hin. Sayuri rannte aus der Küche. Wieder sprach Juka zu ihr, verschwand kurz und kehrte mit einer Flasche zurück, in der sich eine durchsichtige Flüssigkeit befand. Irgendwas Hochprozentiges. Ich konnte ihm das nicht verübeln. Er rauchte noch eine und schien sich die Kante geben zu wollen.

Sein Kopf sank auf die Tischplatte und ich hörte ihn schluchzen. Ich fühlte mich so nutzlos und warf Kami einen hilflosen Blick zu, doch auch er zuckte nur mit den Schultern. Juka erhob sich vom Stuhl, gab mir einen Kuss und dann folgte erneut ein lautes Wortgefecht zwischen ihm und seinem Papa, das ewig zu gehen schien. Leider verstand ich nichts. Kami schien meine Gedanken zu lesen.

„Er will ihn immer noch davon überzeugen ins Krankenhaus zu gehen. Hiroki wirft Juka allerdings vor, dass er das nur macht, wenn er mit dem rauchen und dem trinken aufhört. Sei froh, dass du nichts verstehst…die beiden knallen sich grad ziemlich heftige Dinge an den Kopf…Lukas…“

„Mh.“

„Ich hab Juka vorher auch noch nie so ausrasten sehen, es ist für mich genauso schlimm wie für dich…“

„Gut zu wissen. Wie viel verträgt Juka eigentlich? Denn ich glaub gestern hat er schon mal sone Flasche nieder gemacht“, sagte ich besorgt.

„Weiß nicht…ne ganze Menge. Im schlimmsten Fall müssen wir ihm die Haare beim Kotzen zurückhalten.“

Ich lächelte schwach und Kami erwiderte es. Geteiltes Leid ist trotzdem nicht immer halbes Leid. Nach etwa einer viertel Stunde stieß Juka wieder zu uns und redete mit seiner Mum. Sie nahm ihn in ihre Arme und drückte ihn fest an sich. Dann warf er mir einen Blick zu und signalisierte mir, dass ich ihm folgen sollte. Wir stiegen die Treppen hinauf zu seinem Zimmerchen, das nur aus Bett und Kleiderschrank bestand. Die Wände waren voll mit Postern von japanischen Bands. Juka ließ sich auf dem Bett nieder und kippte seitlich um. Die Flasche ließ er dabei nicht los. Kami setzte sich auf den Fußboden und schaute ihm in die Augen.

„Du kannst ihn nicht zwingen.“

„Soll ich ihn sterben lassen? Er glaubt einfach nicht mehr an sich und ist zu stur sich einer weiteren Operation zu unterziehen…ich kann das nicht noch mal durchmachen…übrigens tut es gut euch beide hier zu haben.“

Beim Abendessen verhielten sich alle ruhig, kaum jemand wagte zu reden und ich würde am liebsten aufspringen und den Tisch verlassen. Danach drehten Juka, Kami und ich noch eine Runde an der frischen Luft. Juka rauchte ununterbrochen und übertraf mich nahezu. Später saß er den ganzen Abend bei seinem Papa und redete leise mit ihm. Ich fühlte mich, als sei ich seit Tagen wach. Wie mochte sich wohl Juka fühlen. Im Flur traf ich auf Sayuri und sie zog mich mit in die Küche.

„Warum muss das ausgerechnet unserem Papa passieren? Tut mir leid, dass du das hier alles miterleben musst.“

„Keine Ursache…macht euch mal um mich keine Sorgen. Kannst du nicht nochmal mit deinem Papa reden? Vielleicht hört er auf dich mehr.“

Doch sie schüttelte mit dem Kopf.

„Wenn einer es schafft ihn zu überreden, dann Juka. Ihm hat Papa schon immer am meisten vertraut und Juka ist auch der einzige, der solche schlimmen Dinge zu Papa sagen darf. Jedem anderen von uns hätte er schon längst eine Ohrfeige gegeben.“

„Verstehe mich jetzt nicht falsch, aber warum darf Juka das und ihr nicht?“

Sie lächelte verlegen.

„Naja, weil…als sich Juka vor ein paar Jahren geoutet hat…du weißt schon…da hat ihn Papa aus der Wohnung geschmissen. Und wie du sicher weißt, ist Juka sehr eigensinnig…er ist gegangen und nicht zurückgekommen…irgendwann rief er uns an und sagte, dass er jetzt in Deutschland wohnen würde. Das traf unseren Papa sehr und er befürchtete Juka für immer verloren zu haben. Naja und dann stand er Weihnachten vor unserer Tür. Niemand hätte damit gerechnet und deshalb hat er sozusagen einen Sonderstatus.“

Ich lächelte schwach.

„Das hat er mir bis jetzt verschwiegen…“

„Irgendwann hätte er es dir bestimmt erzählt…es ist nur alles so furchtbar. Papa ist so stur.“

Sayuri erinnerte mich an Jojo und wie schlimm musste es für dieses kleine Mädchen sein, ihren Papa sterben zu sehen? In den nächsten beiden Tagen lernte ich Jukas ganze Familie richtig kennen und ich mochte sie sehr. Ich hatte gemerkt, dass mich seine beiden Brüder Taiki und Haruto anfangs mieden, doch nach einem Tag kam ich auch mit ihnen ins Gespräch. Die beiden ähnelten Juka ein bisschen, doch ich fand immer noch ihn am hübschesten. Tagsüber waren sie außer Haus, weil sie arbeiten mussten. Sie verdienten ihr Geld als Köche und ab und zu verkauften sie auch Gemüse und andere Lebensmittel auf dem Markt. Jukas Mum behandelte mich, als würde ich zur Familie gehören, wie auch sein Dad. Deshalb machte es auch mich total traurig, dass er sich mit allen Mitteln wehrte und sich nicht ins Krankenhaus einliefern ließ. Kami besuchte seine eigene Familie, wenn er schon mal in Tokio war. Aber die meiste Zeit verbrachte er bei Juka und mir. In der Nacht spürte ich, dass Juka die meiste Zeit wach lag. Jeden Abend begleitete er seinen Papa ins Schlafzimmer und wartete an seinem Bett, bis er eingeschlafen war. Mit dem Trinken hatte er mittlerweile aufgehört. Er aß kaum etwas und redete auch selten mit mir. Nur manchmal warf er mir ein sehr schwaches Lächeln zu. Am dritten Tag war Herr Matsumoto dann doch bereit die Hürde ein letztes Mal auf sich zu nehmen. Taiki und Juka fuhren ihn ins Krankenhaus und schon am nächsten Tag sollte die Operation durchgeführt werden. Ich blieb mit ihm noch bis Abends bei seinem Papa. Dieser sagte mir immer wieder, wie sehr er mich mochte und sich wünscht, dass Juka und ich glücklich miteinander werden würden. Juka übersetzte immer zwischen uns beiden. Er hielt seine Hand und dann sagte er noch etwas zu Juka. Der antwortete seinem Papa, doch dieses Mal übersetzte er es nicht für mich. In seinem Blick lag etwas Friedvolles. Erschöpft vom Reden schloss Herr Matsumoto seine Augen und dann passierte es. Seine Arme erschlafften und der Kopf kippte zur Seite. Panisch schaute mich Juka an und sofort rannte ich raus und holte einen Arzt. Alles ging so schnell. Mehrere Krankenschwestern kamen in den Raum gerannt und der Arzt startete einen Wiederbelebungsbesuch… einmal… zweimal… dreimal. Doch nichts. Ich packte Juka am Arm und zog ihn raus in den Flur und in den Wartebereich für Besucher. Dann befahl ich der Schwester an der Rezeption fast, dass sie Familie Matsumoto anrufen sollte und sie sofort ins Krankenhaus bestellte. Bevor ich mich versah, war Juka wieder auf dem Weg ins Zimmer seines Papas und der Arzt teilte ihm das mit, was er nie hatte hören wollen. Seine Familie ließ nicht lange auf sich warten und durfte ihn noch ein letztes Mal sehen, bevor er ins Leichenscharrhaus gefahren wurde. Ich hielt Juka nicht auf, als er an mir vorbei und hinaus rannte. Alle lagen sich weinend in den Armen und ich stand nur daneben und unterdrückte meine eigenen Gefühle. Juka saß auf einer der Bänke vor dem großen Krankenhausgebäude. Was sollte ich jetzt tun? Ihn in die Arme nehmen? Oder wollte er lieber alleine sein? Wenn man in einer solchen Situation überhaupt alleine sein wollte. Als er mich bemerkte kam er auf mich zu und ich hatte das Gefühl, dass der wundervolle Glanz in seinen Augen für immer erloschen war. Nur noch Trauer, Leere und Mutlosigkeit spielgelten sich in seinem Blick. Tränen rannen ihm über die Wangen, sein Mund öffnete sich und er flüsterte mir zu: „Bitte nimm mich in die Arme Luki.“ Und das tat ich dann auch. Juka zitterte und sein Körper vibrierte leicht unter seinem Schluchzen. Eine Ewigkeit verweilten wir so, bis Sayuri zu uns kam und sagte, dass wir nach Hause fahren würden. Doch Juka wollte lieber zu Fuß gehen und natürlich begleitete ich ihn. Ich steckte mir eine Zigarette an und hielt ihm die halbvolle Schachtel hin. Er nahm sich eine raus. Dann wischte er sich mit einem Taschentuch das Gesicht trocken.

„Gehen wir noch einen Kaffee trinken? Ich kann jetzt nicht nach Hause gehen.“

„Klar“, antwortete ich.

Vor uns erhob sich der Tokio Tower.

„Mein Papa hat ihn immer den Eifelturm von Tokio genannt. Wusstest du, dass er nach dem Modell des Pariser Eifelturms konstruiert wurde? Er ist 332,6 Meter hoch und ist somit der höchste Fernsehturm der Erde und die zweitgrößte, freistehende Konstruktion der Welt.“

„Er ist wunderschön. Warst du schon mal oben?“

„Klar…schon oft.“

Eine Bar in der Nähe von Jukas Elternhaus hatte noch geöffnet. Wir bestellten dort zwei große Kaffee. Dann schwiegen wir uns wieder eine Weile an.

„Würdest du jetzt lieber einen Moment alleine sein?“, fragte ich unsicher. Doch er schüttelte mit dem Kopf.

„Nein…alleine würde ich jetzt durchdrehen. Er ist nur ins Krankenhaus gegangen, weil er gewusst hat, dass er diese Nacht sterben würde…Wir haben in den letzten beiden Tagen so viel geredet und er kannte mich besser als alle anderen…ich…fühle mich so verdammt beschissen…“

Ich bezahlte, nahm Jukas Hand und wir gingen zu ihm nach Hause. Um das Wohnzimmer machte er einen großen Bogen und ließ die Tür seines Zimmers ins Schloss fallen. Auf dem Bett drückte er seinen Kopf ins Kissen wieder weinte er und auch mir kamen irgendwie die Tränen. Einerseits, weil es mich so traurig machte Juka so zu sehen und andererseits, weil ich seine ganze Familie, einschließlich seinen Papa so mochte. Die ganze Zeit hatte ich meine eigenen Gefühle ignoriert, weil ich Juka gegenüber stark sein wollte, doch als ich seinen Papa hatte sterben sehen, und dieses Bild hatte sich in mein Gehirn gebrannt, konnte ich mich nicht mehr zusammenreißen. Ich fühlte den Schmerz, vielleicht nicht so wie Juka, aber einen Menschen sterben zu sehen verkraftete ich nicht einfach so. Juka legte sich auf den Rücken und schaute mich an. Ich wischte mir die Tränen weg.

Da Jukas Familie sehr gläubig war, wurde die Bestattung seines Vaters nach buddhistischen Bräuchen durchgeführt.

Hiroki Matsumotos Leichnam wurde in einem Sarg, mit dem Kopf Richtung Norden weisend, was auf den historischen Buddha zurückzuweisen ist, in dem Wohnzimmer der Familie aufgebart. Freunde und Familie verabschiedeten sich so von ihm. Es folgt die Lesung der Suren durch einen buddhistischen Mönch und dabei wird Weihrauch verbrannt. Die Söhne des Verstorbenen halten dann eine Nacht Totenwache. In dieser Nacht ließ mich Juka alleine und es war irgendwie komisch mit einem Toten unter einem Dach zu schlafen. Am nächsten Tag fand die Trauerfeier im Haus statt. Freunde und enge Bekannte waren geladen. Ich zog es vor an diesem Tag mit Kami einen Kaffee trinken zu gehen. Er führte mich außerdem ein bisschen durch Tokio und zeigte mir besondere Sehenswürdigkeiten wie den kaiserlichen Palast, der allerdings nur vom östlichen Park aus zu bewundern war, da der Rest von der Familie bewohnt war. Er führte mich am Rathaus mit den beiden Türmen, am Sony Building und am Dom vorbei.

„Das Rathaus wurde 1991 vom Architekten Kenzo Tange gebaut. Im 45. Stockwerk ist eine Aussichtsplattform. Willst du hoch?“

„Nee, muss nicht sein. Ich würde lieber den Eifelturm von Tokio bezwingen.“

Kami grinste und erfüllte mir meinen Wunsch und so genossen wir zum krönenenden Abschluss noch den Blick vom Tokio Tower. Ich fragte Kami dann, wie die Trauerfeier jetzt weitergehen würde.

„Hiroki wird jetzt ein Totenname zugeteilt und dieser wird auf ein Täfelchen geschrieben, das dann zusammen mit einem Bild des Verstorbenen im Wohnzimmer auf einem kleinen Altar aufgebaut ist. Dann kommt die Verbrennung des Toten und die Knochenreste werden in einer Urne aufbewahrt. Die Trauerzeit danach dauert nochmal 49 Tage.“

„Denkst du, dass Juka noch so lange hierbleiben wird?“

„Ja, das wird er. Es muss echt hart für dich sein.“

Ich zuckte mit den Schultern und versuchte zu lächeln.

„Irgendwie schon, aber ich will ihn auch nicht alleine lassen, nicht jetzt, wo er mich am meisten braucht.“

„Das ehrt dich sehr…ich hoffe jemand macht das auch irgendwann für mich.“

„Denke schon…ähm, mal was anderes, was hältst du eigentlich von Flo?“

„Unser Flo? Er ist süß, ein bisschen schüchtern vielleicht, warum?"

„Ich glaub er steht auf dich, aber sag ihm nich, dass ich dir das gesagt hab, sonst flippt er aus."

Kami lächelte mich an und ich erwiderte es.

„Alles klar. Als Juka mir von dir erzählt hat, dachte ich ehrlichgesagt nicht, dass du es so ernst mit ihm meinst.“

„Ich wusste auch nicht richtig, auf was ich mich da eingelassen hatte, aber ich würde nichts rückgängig machen wollen. Sicher gab es noch den einen oder anderen, der diese Beziehung scheitern sah, aber als ich dann eine Woche mit Juka zusammen war, wusste ich, dass ich nie mehr etwas anderes wollte.“

„Das ist schön zu hören. Lass uns zurückgehen.“

Etwas erschöpft kamen wir wieder bei Juka an. Die letzten Gäste verließen bereits die Wohnung. Er kroch mehr, als das er lief und dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab. Trotzdem sah ich ihn das erste mal seit zwei Tagen wieder lächeln, wenn auch nur ganz leicht. Juka breitete seine Arme aus und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Dann gingen wir schlafen und als sich Juka an mich schmiegte, ihm die Augen zufielen und sich sein Körper durch sein gleichmäßiges atmen auf und ab bewegte, merkte ich, wie erschöpft er doch war. Auch ich schlief schnell ein.

Am nächsten Tag nach dem Frühstück machten Juka und ich einen Spaziergang im Park. Ich wusste nicht, was er mir sagen wollte, doch ich wusste, dass er mir gleich etwas sagen würde. Und schon plagte mich wieder diese Unsicherheit, dass es etwas Schlechtes sein könnte. Vielleicht hatte er die Nase voll von meiner Anwesenheit und hatte vor mich zu verlassen. Doch stattdessen nahm er mich in seine Arme und lächelte mich an und mein Herz machte einen Freudensprung, denn der Glanz in seinen Augen war zurückgekehrt. Ich erwiderte sein Lächeln und er küsste mich lange und leidenschaftlich. Dann räusperte er sich.

„Ich möchte dir so viel sagen, doch ich weiß nicht wie ich mich ausdrücken soll.“

„Sag doch einfach, was du gerade denkst“, schlug ich vor.

„Luki,…ohne dich hätte ich das hier alles nicht durchgestanden…es ist immer noch nicht ganz vorbei, aber ich habe wieder neue Kraft gesammelt und mein Leben geht weiter. Einige Dinge haben sich geändert und ich werde noch eine ganze Zeit brauchen, um das zu verkraften, aber eins hat sich nicht geändert und dafür möchte ich dir danken. Eigentlich habe ich gedacht, du reist nach ein paar Tagen wieder ab, aber du bist geblieben und machst mich im Moment zum glücklichsten Menschen der Welt.“

„Ich abreisen? Nur, wenn du mich dazu zwingst…nee, nicht mal dann. Vielleicht, wenn du mich betäubst und ohne mein Wissen ins Flugzeug schleust, aber sonst führt da kein Weg hin. Wir haben uns doch geschworen immer füreinander da zu sein und das habe ich versucht.“

„Für dich klingt das so selbstverständlich, das ist es aber nicht. Ich meine, mir ist nicht entgangen, wie sehr du leidest. Meine Familie liebt dich und Sayuri hat mir sogar verboten, je wieder einen anderen Junge mit in die Wohnung zu bringen. Du hast alle ziemlich überrascht und mir ist klar geworden, was sich wirklich hinter dem Wort Liebe verbirgt und was es bedeutet in guten als auch in schlechten Zeiten füreinander da zu sein. Für mich bist du mein risōteki na dansei.“

Ich hatte einen blassen Schimmer, was das heißen könnte. Trotzdem fragte ich Juka nach der genauen Bedeutung.

„Traummann klingt nur halb so melodisch…und ich denk, du willst japanisch lernen.“

„Möchte ich auch…irgendwann. Was du da gerade gesagt hast, rührt mich sehr und ich habe all das in Kauf genommen, um bei dir zu sein und auch mir ist bewusst geworden, dass ich mit keinem anderen mehr, außer dir zusammen sein will. Aber da ist noch etwas…Kami hat mir erzählt, dass die Trauerzeit hier in Japan 49 Tage andauert und wenn du möchtest, würde ich noch so lange mit dir hier bleiben. So langsam gewöhne ich mich an Tokio. Wenn ich deiner Familie nicht langsam auf die Nerven gehe.“

„Ich werde auch jeden Fall hier bleiben…du musst nicht. Natürlich würde ich mich freuen. Und mach dir um meine Familie keine Sorgen, wie schon gesagt, die haben einen Narren an dir gefressen.“

„Okay, dann bleibe ich mit dir noch hier, wenn du versprichst dann wieder mit mir nach Deutschland zu kommen.“

„Ja klar.“

Ich wusste nicht warum, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich noch einige Seiten an Juka besser kennenlernen musste. Nicht, dass er mir etwas verheimlichte, keinesfalls, da war eher etwas, das ich an ihm noch nicht kannte. Sayuri hatte mir ja so einiges über ihren Bruder erzählt und auch die zwei Tage mit Kami waren aufschlussreich gewesen und immer ging es um den rebellischen, eigensinnigen Juka. Es störte mich auch nicht, dass er sich mir gegenüber so anders verhielt, aber trotzdem wollte ich auch mal seine wilde Seite kennenlernen. Jedoch sprach ich ihn darauf nicht direkt an, sondern ließ alles so kommen. Er litt noch sehr unter dem Tod seines Vaters, doch versuchte er damit umzugehen, wie auch der Rest der Familie. Ich war erstaunt, wie gut dies alle wegzustecken schienen. Manchmal kniete Jukas Mama vor dem kleinen Totenaltar und da war Juka immer bei ihr. Ich wurde verwöhnt und von Sayuri und Taiki lernte ich ein paar Redewendungen auf Japanisch. Juka und auch die anderen Kinder unterstützen Mama Matsumoto wo sie nur konnten. Mit Juka machte ich gelegentlich einen Ausflug in die Stadt und er zeigte mir noch viele Sehenswürdigkeiten. Die Pracht und die Größe der japanischen Baukunst erschlug und beeindruckte mich zugleich. Mit Juka bestieg ich auch die Plattform des Rathauses und er zeigte mir von dort aus den Kaiserpalast. Ich telefonierte nach knapp zwei Wochen endlich mal mit meinem Dad, der sich schon erhebliche Sorgen um mich gemachte hatte. Ich besänftigte ihn und beteuerte, dass es mir gut ging. Als ich jedoch erwähnte, dass ich noch fünf Wochen bleiben wollte, regte er sich auf. Ich hörte Alexandra im Hintergrund sagen, dass er nicht so sein sollte. Schließlich sei ich ja erwachsen. Ich versprach ihm mich öfter zu melden und auch wirklich nach Berlin zurückzukommen. Mittlerweile sprach ich hier zweieinhalb Sprachen, das war ziemlich verwirrend, doch ich gewöhnte mich daran. Juka stellte mir auch Tokios Nachtleben vor. Mit Kami und Flo, der auch ein paar Wochen Urlaub machen wollte, weil er es alleine in Deutschland nicht mehr aushielt, besuchten wir die spektakuläre Icebar und amüsierten uns prächtig. Es war seltsam, wenn Juka den einen oder anderen grüßte, weil ich das sonst nur von mir kannte. Aber Tokio war eben seine Heimatstadt. Aus Spaß an der Freude kehrten wir auch einen Abend im ageHa, der angesagtesten Discothek von Tokio, ein. Es war ein auf und ab der Gefühle, denn manchmal war Juka wie immer und dann erwischte ich mal wieder einen Tag, an dem er kaum redete und sich zurückzog. Das Rauchen hatte er noch immer nicht aufgegeben. Dadurch, dass wir den ganzen Tag aufeinander hockten, ließ sich der eine oder andere Konflikt auch nicht umgehen. Aber wir stritten uns nie ernsthaft und versöhnten uns ziemlich schnell wieder.

Eines Abends, als wir nach einer Party im Bett lagen, konnte ich nicht einschlafen.

„Sayuri hat mal so durchblicken lassen, dass du früher ziemlich rebellisch gewesen sein sollst.“

„Das kleine Plappermaul…ja das stimmt.“

„Aber mir gegenüber warst du noch nie so…naja, nicht richtig jedenfalls.“

Juka lachte.

„Ich werde eben auch nicht jünger. Manche Dinge tut man eben nur, wenn man 18 oder 19 ist…naja und ich habe dir doch von meiner Operation erzählt, das mit mich ganz schön pingelig werden lassen.“

„Ach so. Du kennst doch den Film lost Boys.“

„Ja, was ist damit?...Ähm…warte…“

Juka stützte seine Arme auf und ich sah mich im Dunklen an.

„Tja, da gibt es doch diese gewisse Stelle an der Brücke.“

„Luki, das ist nicht dein Ernst.“

„Doch, machst du mit?“

Ich hörte Juka tief seufzen.

„Aber nicht in Tokio.“

„Mir egal. Meinetwegen auch in woanders über der Spree oder so.“

Juka lachte und beugte sich zu mir herab, um mich zu küssen. Das erste Mal seit Wochen wagte ich es wieder etwas intimer zu werden und Juka schien nichts dagegen zu haben. Allerdings mussten wir uns zusammenreißen, um nicht zu laut zu sein. Das erwies noch einer längeren Pause allerdings als schwierig und ich biss ins Kissen, als es soweit war. Ich lag mit dem Rücken zu Juka und er schloss seine Arme um mich. So schliefen wir ein.

Sayuri und Taiki begleiteten uns noch bis zum Flughafen und wir verabschiedeten uns voneinander. Irgendwie fiel es mir sogar schwer, weil ich mich jetzt so hier eingelebt hatte, aber ich freute mich auch wieder auf meine eigene Familie, besonders auf Jojo. Ich hatte meinen Dad heute Morgen angerufen und ihm mitgeteilt, dass unser Flug 15 Uhr geht. Er wollte uns dann vom Flughafen abholen. Tokio wurde unter uns immer kleiner und ich würde diese wundervolle Stadt sicher vermissen. Da mich die letzten beiden Tage Kultur pur ziemlich mitgenommen hatten, sank mein Kopf an Jukas Schulter und ich schlief ein. Er hatte mir heute nach dem Frühstück gesagt, dass er einen Termin hat. Dann war er für etwa eine Stunde verschwunden gewesen und tat sehr geheimnisvoll. Als ich ihn fragte, wo er gewesen sei, zuckte er nur mit den Schultern, grinste mich an und antwortete, dass ich das entweder heute oder morgen selbst sehen würde. Das stellte mich als neugierigen Menschen natürlich auf eine harte Probe und Juka blieb hart. Er rückte nicht mit der Sprache raus.

Im Flugzeug lief Ice Age eins und zwei hintereinander, dabei war ich so halb wach. Kami und Flo waren schon eine Woche vor uns abgereist und erwarteten uns schon in Berlin. Ich wollte endlich wissen, was Juka getrieben hatte und nervte ihn die ganze Zeit im Flugzeug, doch er ignorierte mich gekonnt.

Als wir mit unserem Gepäck am Flughafen Berlin- Tegel auscheckten, sah ich meinen Dad und Jojo schon weitem. Meine Schwester kam auf mich zugerannt und landete in meinen Armen.

„Ich hab dich sooooooo vermisst.“

„Na ich dich erst.“

Auch Juka begrüßte sie mit einer Umarmung, das fand ich süß. Juka wollte erst mal nach Hause in seine Wohnung, aber wir verabredeten uns für später. Ich erzählte, was ich alles erlebt und vor allem gesehen hatte. Juka hatte in den letzten Tagen ein paar Fotos gemacht, die ich meinen Dad, Alexandra und Jojo über den Fernseher zeigte. Sie schienen beeindruckt zu sein und meine Schwester wollte mich das nächste Mal nach Tokio begleiten. Wir speisten noch gemeinsam zu Abend und dann machte ich mich auf den Weg zu Juka. Er war gerade damit beschäftigt seine Wohnung ein bisschen aufzuräumen und die Tasche auszupacken, weil er ja alles nahezu im chaoszustand verlassen hatte. Ich half ihm ein bisschen und setzte mich dann auf die Couch und schaltete die Musikanlage an.

„Sagst du mir jetzt eigentlich, wo du gestern warst?“

Er grinste mich nur an und setzte sich zu mir. Dann zuckte er mit den Schultern. Seine Worte klangen schon fast beiläufig.

„Ich hab nur das gemacht, was ich schon lange mal machen wollte.“

Wieder verleierte ich meine Augen und piekte Juka in die Seite und er fing an zu lachen. Er lehnte sich nach hinten und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Sein T-Shirt rutschte ein Stück nach oben und gab seinen muskulösen Bauch frei. Ich setzte mich mit dem Gesicht zu ihm gewendet auf seinen Schoß und zog ihm sein T-Shirt über den Kopf. Noch immer lag dieses geheimnisvolle Lächeln auf seinen Lippen. Ich strich über seinen Oberkörper und küsste ihn zaghaft am Hals entlang. Mit der Zunge umkreiste ich seine Brustwarzen und hinterließ eine unsichtbare Spur bis zum Bauchnabel. Als ich seine Hose öffnete, staunte ich nicht schlecht. Juka, ja mein Juka, dessen Körper ohne jegliche Makel war und auch sonst von keinen Tätowierungen oder Ringen irgendwo geschmückt war, hatte sich piercen lassen. Und das an einer Stelle, die nur ich zu Gesicht bekam. Ich wusste, dass ein Piercing dieser Art an dieser Körperstelle Pubic genannt wird und ich selbst habe auch schon oft mit dem Gedanken gespielt mir eins stechen zu lassen. Doch am Ende habe ich es doch bleiben lassen.

„Sexy“, sagte ich grinsend und spielte mit meiner Zunge und meinem Mund noch ein Stück tiefer mit seinem Körper. Ich ließ mir Zeit beim Vorspiel und der Sex danach, unbeschreiblich.

Der weitere Abend verlief ruhig und ich kuschelte mich in die weiche Sofadecke ein und lehnte mich an. Jetzt könnte ich eine Zigarette rauchen, doch Juka machte keine Anstalten, jetzt eine zu rauchen, also versuchte ich mich auch zusammenzureißen. Doch in immer kürzeren Abständen kam mir dann immer wieder der Gedanke, dass meine Zigaretten hier ganz in der Nähe, nämlich in meiner Hosentasche steckten. Deshalb schlüpfte ich in Hose und Pulli, um auf dem Minibalkon eine zu rauchen.

Juka stand mit der Decke eingehüllt in der offenen Tür und sah mir zu.

„Vielleicht solltest du doch wieder damit aufhören oder zumindest weniger Nikotin konsumieren.“

Ich warf einen Blick in meine Schachtel, die noch halb voll war.

„Nach der Packung?“

Juka nickte und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

„Hat das piercen da unten weh getan?“, fragte ich neugierig.

„Ging so. Willst du dir auch noch eins stechen lassen?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Mal sehn…tendiere eher zu nem Tattoo, aber wohin weiß ich auch nicht.“

Ich drückte den Stummel der Zigarette am Boden aus und schnippte ihn über das Balkongeländer.

 

Durch meinen kurzfristigen Abstecher nach Tokio hatte meine Band ziemlich im Stich gelassen und als ich in meine Wohnung kam, hörte ich Stimmen und aus dem Wohnzimmer fiel ein Lichtstrahl in den dunklen Flur. Bei genauerem Hinhören erkannte ich Basti, Flo und Lena. Sie schienen über irgendetwas zu diskutieren. Oder sollte ich besser sagen über jemanden? Ich setzte mich ans Fenster vor der Wohnzimmertür und lauschte dem Gespräch weiter.

„Ich habe echt schon lang nichts mehr von ihm gehört und glaub langsam, dass er mit seinem tollen Juka durchgebrannt ist“, mutmaßte Lena mit reuevoller Stimme.

„Mh, weiß nicht. Aber es ist eigentlich sonst nicht seine Art. Vielleicht kommt er bald zurück und alles ist wieder gut“, verteidigte mich Basti. Wie immer. Basti versuchte schon immer den kleinen Friedensstifter zu spielen.

„Um ehrlich zu sein, sehe ich das auch nicht ganz so krass Lena. Klar is Lukas unser Chaosleader, aber er würde uns nich hängen lassen. Ich vermute, da is was schlimmes passiert…Kami is ja mit nach Tokio geflogen, doch auch aus ihm hab ich nich viel rausbekommen.“

„Das denk ich auch Flo…ich hoffe es ist nichts mit Juka...“

So dachten meine Jungs also über mich. Irgendwie tat es gut, die Wahrheit zu hören, weil ich so wusste, dass ich das richtige getan hatte. Und sie schienen sich echt krasse Sorgen um mich zu machen und ihnen schien das echt nahe zu gehen. Ich holte mir aus der Küche einen Aschenbecher und hörte noch ein bisschen zu.

„Aber Basti, weißt du was ich glaube?“, sagte Flo plötzlich.

„Nein.“

„Wenn wir Lukas das Gefühl gegeben hätten echt hinter ihm zu stehen, wäre das vielleicht gar nicht passiert. Ich denke, dass er extrem an allem gezweifelt hat, weil wir ihn einfach nicht mehr ernst genommen haben.“

„Vielleicht. Aber da hätte er doch auch mit uns reden können.“

„Ja schon, aber du kennst Lukas genauso gut wie ich. Ich glaube, dass er einfach nur die Schnauze voll gehabt hat und jetzt is er halt irgendwo in Japan.“

Es kam eine lange Pause.

„Da hast du Recht Flo. Wir hätten gerade in letzter Zeit mehr für ihn da sein sollen.“

Ich liebte meine Freunde über alles und das wurde mir gerade jetzt wieder richtig bewusst und ich konnte nicht mehr warten, weil ich bei ihnen sein wollte und mich über ihre dummen Gesichter freuen wollte, wenn ich jetzt so ganz unerwartet der Tür rein spazierte.

Ich stellte mich in den Türrahmen und gab der angelehnten Tür einen leichten Schubs mit dem Fuß. Langsam öffnete sie sich und ich musste die Augen zusammenkneifen, weil mich das helle Licht blendete. Basti drehte sich um und das Gespräch verstummte. Alle Augen waren auf mich gerichtet.

„Schön, wie ihr in meiner Abwesenheit über mich lästert.“

Ich drückte mich mit Absicht etwas krasser aus und versuchte ernst zu wirken. Doch Flo grinste mich nur an und stieß Basti in die Seite. Mit dem Kopf nickte er in meine Richtung.

„Der verarscht uns nur, guck mal, wie er sich das Lachen so gar nich mehr verkneifen kann“, amüsierte sich Flo und ich musste tatsächlich losprusten. Dann erhoben sich meine Jungs und knuddelten mich.

„Wir haben uns echt Sorgen um dich gemacht du Arsch.“

„Sebastian, hast du mich gerade Arsch genannt?“, fragte ich den Rotschopf empört. Er zuckte etwas eingeschüchtert mit den Schultern und nickte.

„Is doch so…“, grummelte er dann. Auch Lena kam dann zu mir und umarmte mich.

„Egal, was war…schön dich wieder hier zu haben.“

Ich kletterte hinter Basti auf meine Couch und öffnete mir ein Bier.

„Wer hat euch Chaosbande eigentlich in meine Wohnung gelassen?“

„Schatzi, ich hab deinen Zweitschlüssel“, erinnerte mich  Flo ziemlich selbstsicher.

„Stimmt, da war ja was…sorry, bin noch etwas durcheinander…“, entschuldigte ich mich.

„Wo zur Hölle hast du gesteckt?“, fragte Basti dann endlich. Jetzt wurde auch ich wieder ernster.

„Das ist ne lange Geschichte…ich bin mit Juka nach Tokio geflogen, weil sein Papa im Sterben lag…und naja, die Sache ist nicht gut verlaufen. Ich hoffe ihr verzeiht mir, aber Juka hat mich in seiner Situation mehr gebraucht als ihr.“

Keiner sagte etwas und wieder schauten mich alle an. Ich verdrehte die Augen.

„Jetzt sagt schon was, ich werd sonst noch sentimental. Dachtet ihr echt ich lasse euch im Stich?“

„Naja, wir haben schon das Schlimmste befürchtet. Ich hatte angst, du hast uns nich mehr lieb…dabei ist du doch unser Lieblingsleader“, bemerkte Flo.

„Das wäre ich aber auch nicht ohne euch. Habt ihr selbst gesehen.“

Mir steckte der lange Flug noch ganz schön in den Knochen und ich merkte, wie mich so langsam die Müdigkeit überkam.

Auch meine Freunde schienen etwas geschafft zu sein und verabschiedeten sich von mir. Außer Flo natürlich, der wohnte ja quasi hier. Er baute noch einen Gute-Nacht-Joint und wir kuschelten uns nebeneinander auf’s Sofa. Mein Kopf sank an seine Schulter und schon lullte mich der süßliche Rauch des Joints ein. Mein Freund hielt mir den Glimmstängel an die Lippen und ich nahm einen tiefen Zug.

„Ich glaub, du bist genau rechtzeitig zurückgekommen…“, bemerkte mein bester Freund nahezu nebenbei, doch ich erkannte die unausgesprochene Botschaft hinter seinen Worten.

„Was hast du angestellt Schnuckelchen?“

Flo seufzte und nahm einen tiefen Zug.

„Nich viel…nur sollte ich wohl wieder mehr ans Essen denken, anstatt mir das Gehirn wegzuballern. Nur wenn du nich da bist, is keiner da, der mich daran erinnert…sorry…ich bin ein furchtbarer Mitbewohner.“

Ich nahm Flo den Joint aus der Hand und ließ meinen Kopf in seinen Schoß sinken.

„Furchtbar liegt wohl im Auge des Betrachters. Ich find es ganz schön unfreundlich, dass du dich ohne mich abschießt…“

Jetzt grinste er, als er merkte, dass ich keinerlei Groll hegte.

„Es is nur manchmal komisch, sowas mit Basti zu bequatschen. Du weißt ich liebe euch beide gleich viel, aber in Sachen Drogen isses eben doof und ich glaub nich, dass er es geil fände, wenn ich ihm sag…übrigens, ich bin heut übel zugekokst…“

„Ach Flo…hast du noch was da?“

Er nickte und ich ließ ihn aufstehen. Aus dem Regal holte er eine längliche Holzschachtel, sowie einen kleinen Spiegel. Dann zog er ganz dekadent einen Hundert Euro Schein aus seiner Hosentasche. Grinsend schüttelte ich mit dem Kopf.

„Hab ich meinem Vater aus dem Geldbeutel gezockt…war gestern zu Hause, wollte noch ein paar Sachen holen und er hatte sein Portmonee auf’m Küchentisch liegen…“

Er bereitete die Lines vor und tat den ersten Zug.

„Wollt schon fragen, wen du ausgeraubt hast. Meinst du er hat es gemerkt?“, fragte ich und zog das weiße Pulver durch die Nase.

„Mir doch egal und selbst wenn er mich verdächtigt, soll er mir doch die Bullen auf den Hals hetzen. Die wissen ja nich mal wo ich wohne…“

Ich streckte meine Arme nach ihm aus und zog ihn wieder auf das bequeme Sofa.

„Ich päppel dich morgen ein bisschen auf Süßer. Machen wir noch bissl Musik? Denn jetzt kann ich auch nich mehr pennen“, bemerkte ich.

„Mhh gleich…können wir noch kurz so liegen?“

Ich schluckte und erst jetzt wurde mir wirklich bewusst, dass es Flo richtig beschissen zu gehen schien. Das kam tatsächlich nicht oft vor, weil er ähnlich wie ich seine Gefühle nicht gern vor anderen zeigte. Doch hin und wieder kam es vor und ich war froh, bei ihm zu sein.

„Klar…magst du mir erzählen, was los is?“

„Beschissenes Leben, keinen Job und ich fress mich bei dir durch…Hauptsache ich geb mein Geld, was ich meinen Eltern klaue, für Drogen aus…ich komm grad echt nich klar…“

„Flo…mach dir zwecks wohnen und so echt keinen Stress. Das mit dem Job bekommen wir auch zusammen hin. Gern schreib ich auch mit dir Bewerbungen oder so…außerdem find ich, isses an der Zeit, dass du Mal mit deinem Kami redest…“, versuchte ich ihn aufzumuntern. Er löste sich aus meiner Umarmung und funkelte mich misstrauisch an. Ich grinste nur unschuldig.

„Lukas…hast du etwa was zu ihm gesagt?“, fragte er etwas entrüstet, während er noch zwei Lines vorbereitete.

„Niemals…als würde ich mir sowas anmaßen…“

„Manchmal hasse ich dich…“, grummelte er und zückte den Schein erneut.

„Damit kann ich leben. Manchmal muss man dich halt zu deinem Glück zwingen Schnuckelchen.“

Flo funkelte mich noch immer mit seiner Grummelmiene an und schnappte sich die Gitarre. Erst spielte er nur, doch dann sang er auch für mich. Ich mochte es sehr, wenn er das tat und obwohl er kein Mann der liebenswerten Worte war, zeigte er mir so hin und wieder, dass ich ihm ebenso viel bedeutete. Ich applaudierte und leerte mein Bier.

„Willst du noch eins?“, fragte ich und mein Freund erwiderte die Frage mit einem Nicken.

„Musst du morgen nich arbeiten?“

„Doch, aber wen juckts…mein alter Herr checkt das doch eh nich…“

Flo grinste und prostete mir zu.

„Lukas…du hast dich schon lang nich mehr geritzt oder?“

Ich biss mir kurz auf die Unterlippe, weil ich es im Normalfall mied über dieses Thema zu reden. Doch bei Flo war es okay.

„Nee. Liegt wohl daran, dass es mir gut geht.“

„Freut mich…du hast es mehr als verdient und ich schwöre dir, tut er dir irgendwann noch Mal weh, kann ich für nichts garantieren.“

„Flo, lass den Mist…es funktioniert oder eben nich. Gerade läuft es gut und ich genieße es.“

„Ja schon, nur ich hab es immer gehasst, wenn du das tust…ich hab Nici dafür gehasst, weil sie oft der Auslöser war…“

Ich seufzte und zündete mir eine Zigarette an.

„Gib nich Nici die Schuld…das war ich ganz allein. Aber lass uns bitte das Thema wechseln.“

„Okay. Machen wir jetzt noch bissl Musik?“

Ich nickte und so hockten wir bis der Morgen anbrach im Wohnzimmer und jammten. Als mein Wecker klingelte, hüpfte ich nur unter die Dusche, versorgte mich mit Kaffee und hoffte, dass ich denk Tag irgendwie überstand. Mein bester Freund grinste mich voller Genugtuung an. Ich streckte ihm den Mittelfinger entgegen.

„Bis später Schatz“, flötete er und ließ die provisorische Hausfrau raushängen.

„Ich lass dir bissl Geld da. Wäre lieb, wenn du einkaufen gehst und wer weiß, vielleicht bekochst du mich später.“

„Einkaufen ja, kochen…mal sehn.“



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