Zum Inhalt der Seite

Grauzone

Was sonst noch passiert ist
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Eine beschwerliche Reise

Kapitel 17
 

Eine beschwerliche Reise
 

Früh am nächsten Morgen bereitete ich alles zum Aufbruch vor. Gist hatte ich noch am Abend gebeten, die Crew zusammenzutrommeln und sich um Vorräte zu kümmern. Er überwachte nun das Beladen der Morrigan und ich ging noch einmal zum Haus zurück, um die Tür zu verriegeln.

Etwas überrascht stellte ich fest, dass William Johnson dort auf mich wartete. Sein Anblick ließ meine Laune ein klein wenig sinken. Ich konnte mich noch nicht an die Tatsache gewöhnen, nun mit den Templern zusammen zu arbeiten. Zumal ich mir sicher war, dass er mich nicht sonderlich gut leiden konnte, warum auch immer.

„Ihr seid noch hier, das ist gut“, begann er, ohne Zeit auf eine Begrüßung zu verschwenden. „Ich hörte, dass ihr aufbrechen wollt. Im Auftrag vom Colonel.“

„Er bat mich um einen Gefallen, das ist alles.“ Ihn ging das nun wirklich nichts an. Oder etwa doch? Ich hatte keine Ahnung wer hier wem unterstand.

„Gefallen oder nicht. In der Gegend, in welcher das Schiff liegt, kam es in letzter Zeit oft zu Angriffen auf britische Schiffe. Zum einen durch Franzosen, aber auch durch Piraten.“ Er zog unter seiner Jacke einen Umschlag hervor, den er mir reichte. „Ihr seid nicht bei der Royal Navi, daher könnte euch das hier helfen, wenn ihr euch aufgrund von Angriffen verteidigen müsst.“

Ich nahm den Umschlag an, öffnete ihn aber nicht. „Was ist das?“ fragte ich nur und sah Johnson an. Warum sollte er mir helfen wollen? Einem Fremden.

„Es ist kein Freibrief für alles, aber das Dokument sagt aus, dass ihr im Dienst der Navi steht. Sollte es also nötig sein, andere Schiffe zu versenken...“

„Danke.“ Aber noch immer verstand ich nicht, warum er mir das gab. „Ist die Gegend so gefährlich?“ Ich trat zur Tür und verschloss sie sorgsam. Auch wenn ich einen Großteil an Habseligkeiten auf der Morrigan hatte, wollte ich es möglichen Einbrechern nicht zu leicht machen.

„Drei Schiffe haben wir allein in der letzten Woche verloren. Es ist Krieg. Die Franzosen werden immer dreister.“

Das erklärte zumindest, warum Monro mich schickte. Jemanden, der nicht unter britischer Flagge segelte. „Ich werde die Augen offen halten.“ Ich ging davon aus, dass er nun gehen würde, doch als ich mich wieder Richtung Hafen wandte, folgte er mir.

„Wie macht sich Miss Berg?“ fragte er und ich blieb stehen. Das ging ihn nun wirklich nichts an. Und woher wusste er, dass sie für mich arbeitete? Erzählten die Templer sich untereinander denn wirklich alles?

„Ich kann mich nicht beschweren.“ Genaueres würde ich ihm sicher nicht sagen.

„Gut, denn bei ihr weiß man nie wirklich, was sie tut. Nicht, dass sie euch in Schwierigkeiten bringt.“

„Was meint ihr damit?“

„Ihr scheint sie noch nicht sonderlich gut zu kennen. Sie steckt voller Überraschungen, daher solltet ihr vorsichtig sein. In ihrer Umgebung passieren manchmal sehr seltsame Dinge.“

War das so? Langsam ging ich wieder weiter und dachte kurz über diese Worte nach. Es gab seltsame Zufälle, die passiert waren, während oder nach dem sie an einem Ort aufgetaucht war. Der Angriff auf die Morrigan, nach dem sie die Kiste mit den Templersachen gefunden hatte. Der Überfall auf die Finnegans, kurz nach ihrem Verschwinden.

Natürlich konnte das wirklich alles nur Zufall sein, doch es gab da noch mehr. Wie hatte sie es die ganze Zeit über geschafft, hier zu überleben, wenn sie nur gelegentlich arbeitete und ohne Geld hier her gekommen war? Warum hatte man sie für tot gehalten, wo sie doch äußerst lebendig war? „Es gibt sicher eine Erklärung dafür.“ Es musste eine geben. Und ich würde herausfinden was es war.

Wir erreichten den Anleger und Johnson blieb stehen. „Ihr habt vor sie mitzunehmen?“ Einen Moment verstand ich nicht wie er darauf kam. Mein Blick huschte über die Männer, die sich bei der Morrigan tummelten, teils an Deck, teils noch am Steg, doch Selena konnte ich nicht entdecken.

Dann sah ich sie und musste lächeln. Kein Wunder, dass ich sie nicht sofort erkannt hatte. Sie stand neben ein paar Kisten, den Rucksack zu ihren Füßen und anstatt eines Kleides trug sie „Hosen?“ Bei diesem Wort drehte sie sich um, mit einem Lächeln auf den Lippen. Kurz sah sie an sich herunter, sagte jedoch nichts. „Ihr segelt also mit, sehe ich das richtig?“ Auch wenn es offensichtlich war. Sonst hätte sie kaum eine Tasche dabei und sich Hosen angezogen.

„Wenn ihr mich an Bord ertragen könnt und die Morrigan nicht eifersüchtig wird.“ Was für eine Vorstellung. Ein eifersüchtiges Schiff. Aber vielleicht war das der Grund dafür, dass viele eine Frau nicht an Bord haben wollten. Ein Schiff war immerhin auch eine 'sie'. „Und wenn ihr keine anderen Aufgaben für mich habt, Master Johnson“, wandte sie sich ihm zu und ich sah, dass sich seine Miene etwas verfinsterte.

„Mich wundert es nur, dass ihr euch traut, alleine auf dieses Schiff zu gehen.“

„Ich bin nicht alleine, Sir, und in den vergangenen Jahren habe ich einiges darüber gelernt, wie man sich verteidigt.“ Hatte sie das? Von wem? Diese kleine Unterweisung von Liam konnte kaum ausreichend sein, um sich zu behaupten.

„Auf ein Wort?“ fragte Johnson und machte eine leichte Geste zum Zeichen, dass er sich mit ihr unter vier Augen unterhalten wollte. Er wirkte verärgert. Mir konnte es egal sein, wenn die Beiden ein Problem miteinander hatten, solange es nicht dazu führte, dass ich weitere Probleme mit ihr hatte. Da das Gespräch nicht für mich bestimmt war, kletterte ich an Bord.

„Bestes Segelwetter würde ich sagen“, begrüßte mich Gist und strahlte. „Und die Vorbereitungen sind so gut wie abgeschlossen. Es fehlen nur noch zwei Mann, dann sind wir fertig zum Auslaufen.“

„Sehr gut.“ Ich warf einen Blick hinunter zum Steg, wo sich Selena mit Johnson unterhielt. Er wirkte noch immer leicht verärgert. Sie dagegen schien bester Laune zu sein.

„Ist das dort unten Selena? Was hat sie hier zu suchen?“ Da gab es wohl noch jemanden, der etwas gegen ihre Anwesenheit hier hatte. Man konnte ihm deutlich ansehen, dass ihm der Gedanke nicht gefiel, sie dabei zu haben. „Ihr habt sie doch hoffentlich nicht eingeladen, mit uns zu segeln, oder?“

„Genau das habe ich getan. Und ich werde diesbezüglich keine Kritik dulden. Auch wenn es heißt, dass eine Frau an Bord Unglück bringt, werde ich sie mitnehmen. Von solchem Aberglauben halte ich nichts.“

Gist zog die Augenbrauen hoch. „Nun es ist eure Angelegenheit. Ich hoffe nur, ihr wisst genau, was ihr da tut. Mit ihr zu reisen ist... anstrengend.“ Da hatte er wohl recht, doch ich würde es ihm sicher nicht bestätigen.

Um eine Erwiderung kam ich herum, denn Selena verabschiedete sich gerade von Johnson und kam zum Schiff herüber. Der Rucksack, den sie dabei hattet, war größer, als der, mit dem sie hier in den Kolonien angekommen war. Und er war offensichtlich auch schwerer. Sie versuchte an der Stiege hoch zu klettern, doch hatte sie deutlich Probleme dabei. Natürlich, als Frau hatte sie nicht das nötige Geschick oder die Kraft sich hoch zu ziehen. Um es für sie nicht all zu peinlich zu machen, bot ich ihr die Hand und zog sie hoch.

Kaum dass sie festen Stand hatte, ließ ich sie los. Nicht, dass es zu irgendwelchen falschen Eindrücken kam. „Nun, ihr wisst wo ihr eurer Gepäck lassen könnt“, sagte ich und deutete auf die Kapitänskajüte. Einen anderen Ort gab es für sie nicht. Dort hatte ich sie im Blick und niemand von der Crew hatte dort etwas zu suchen.

Wortlos ging sie hinein und ließ die Tür hinter sich zufallen. Der Blick, den mir Gist dabei zuwarf, zeigte deutlich seine Verwunderung. Ich ignorierte ihn vorläufig und ging hinauf zum Ruder.

„Ich hatte schon einmal das 'Vergnügen' mit ihr zu reisen“, setzte er seinen Versuch fort, mich umzustimmen. „Es ist nicht all zu lange her und es war keine vergnügliche Reise.“

„Von wo ward ihr unterwegs und wie?“ Denn ich glaubte nicht, dass er sie auf einem Schiff getroffen hatte.

„Von Boston nach New York. Per Pferd. Ich bin ein guter Reiter.“ Er klang etwas stolz, als er das sagte, „Was man von ihr nicht gerade behaupten kann. Sie wäre gestürzt, hätte ich nicht eingegriffen.“

„Was ist passiert?“ hakte ich nach, denn alles, was ich über sie an Informationen sammeln konnte, war eine Möglichkeit, ihr auf die Schliche zu kommen.

„Ihr Pferd ist mit ihr durchgegangen. Oder, es war zumindest gerade dabei.“ Ich hätte gerne noch mehr erfahren, doch das Schlagen einer Tür sagte mir, dass Selena die Kajüte wieder verlassen hatte. Sie sollte besser nicht erfahren, dass man sich über sie unterhielt. Kurz sah sie sich um und kam zu uns nach oben.

„Fertig machen zum Ablegen, Männer“, rief ich, „Leinen los und alles an Bord.“ Gist gab den Befehl weiter, wenn auch mit etwas anderen Worten, weit weniger freundlich, und ich sah aus dem Augenwinkel, wie Selena in sich hinein grinste. Wieder verstand ich den Witz nicht, über den sie sich amüsierte.

Langsam glitten wir aus dem Hafen und Selena wandte sich an Gist. „Stimmt etwas nicht, Master Gist?“ Auch ich sah zu ihm und erkannte, dass er so aussah, als würde ihn etwas stören.

„Nun, euch hier zu sehen ist recht überraschend und das ihr erneut Hosen tragt noch viel mehr.“ Erneut? Ich kannte sie schon in solchen Kleidern, doch wann hatte er sie so gesehen?

„Eine Hose ist an Deck weit praktischer als ein Kleid“, gab sie trocken zurück und richtete sich nun an mich. „Darf ich erfahren wohin die Reise geht oder ist es ein Geheimnis, dass ihr lieber für euch behalten wollt?“

„Keineswegs.“ Der erste Teil der Reise war kein Geheimnis. Vom zweiten würde ich ihr jedoch nichts erzählen. „Wir segeln zu einem Hafen im River Valley.“ Kurz meinte ich zu sehen, wie sich ihre Augen bei diesen Worten verengten, doch es konnte auch eine Sinnestäuschung sein.

„Wie lange werden wir unterwegs sein?“ Stimmt, dass hatte ich vergessen ihr zu sagen. Zudem wusste ich es selber nicht genau.

„Ein paar Tage, denke ich. Je nach Wind und Wetter.“ Darauf schwieg sie. Auch Gist hielt den Mund und so verbrachten wir die ersten Meilen ohne uns zu unterhalten. Nur ab und an gab ich einen Befehl. Wir hatten wirklich gutes Reisewetter und ich ließ volle Segel setzen.

Immer wieder sah ich zwischen meinen beiden Begleitern hin und her. Es war offensichtlich, dass zwischen ihnen nicht gerade die beste Freundschaft herrschte. Während Selena leise vor sich hin lächelte und die Fahrt sichtlich genoss, schien Gist nach etwas zu suchen, über das er sich ärgern konnte.

Irgendwann fragte er gerade heraus, wie es mit ihrem Training lief. Die Frage erwischte sie kalt und ich lauschte nun gespannt. Sie hatte erwähnt, in den letzten Jahren dazugelernt zu haben. Vielleicht erfuhr ich nun von wem.

„In letzter Zeit weniger gut“, kam es leise von ihr. Das Thema war ihr wohl unangenehm. „Ich hatte nicht die nötige Zeit und niemanden zum Üben.“

„Würdet ihr gegen mich antreten?“ fragte ich spaßeshalber. Sicher würde sie ablehnen. Sie hatte mich gegen Liam kämpfen sehen und sicher ahnte sie, dass ich sie nicht so sehr schonen würde.

„Ich hätte keine Chance.“ Sie lächelte. „Im Ernst, um gegen euch zu bestehen, müsste ich Jahre lang jeden Tag trainieren und selbst dann wäre ein Sieg eher Glück als wirkliches Können. Da müsste ich schon auf unfaire Mittel zurückgreifen.“

„Unfaire Mittel?“ fragte Gist und verschränkte die Arme, „Was soll das sein? Wollt ihr ihn vergiften?“

„Nein“, war alles was sie dazu sagte. Ihre Stimme klang auf einmal traurig und sie wandte den Kopf ab, so das ich ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte. Trotz meiner Neugierde hoffte ich, Gist würde nun den Mund halten. Es war doch klar, dass seine Worte bei ihr etwas ausgelöst hatten, an das sie nicht erinnert werden wollte.

„Was meint ihr dann?“ Selena seufzte bei der Frage und verließ ihren Standort. Erst dachte ich, sie würde ins Heck verschwinden, um ihre Ruhe zu haben, doch sie trat auf Gist zu. Ich änderte meinen Stand ein wenig, um Beide im Blick zu haben. Was immer jetzt auch passierte, ich wollte nichts davon versäumen.

„Ich meine damit, dass ich auf Waffen zurück greifen müsste, die nicht sofort als solche erkennbar sind.“

Sie trat sehr dicht an ihn heran und er spannte sich an, in Erwartung eines Angriffs, der nicht kam. Sie sah nur zu ihm auf. „Wisst ihr, ich bin nur eine Frau und da muss ich auf Methoden zurück greifen, die etwas ungewöhnlich sind.“

Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, wohl aber das von Gist, dessen Augen sich weiteten, als sie ihm ganz sachte die Hand auf die Brust legte. Eifersucht keimte in mir auf, doch dann sah ich, was sie wirklich tat. Gist, der nur Augen für die Hand auf seine Brust hatte, merkte nicht, wie sie mit der anderen Hand nach seinem Dolch griff.

„Ich weiß ja nicht, wie ihr das seht, Master Gist, aber es ist ab und an, und auch wirklich nur in ganz besonderen Fällen möglich, jemanden, mit etwas unfairen Mitteln, zu bezwingen.“ Während sie redete, zog sie langsam den Dolch und drückte ihn leicht an seine Seite. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie ihn töten können. Sie zielte mit der Klinge genau unter den untersten Rippenbogen. Ein kräftiger Stoß und es wäre vorbei mit dem guten Christopher.

„Glaubt mir, Gist. Ich stecke voller Geheimnisse und es gibt einige unfaire Mittel auf die eine Frau zugreifen kann.“ Die Klinge weiter an seiner Seite löste sie sich von ihm und gewährte einen Blick auf seine derzeitige Lage. Etwas beschämt sah er an sich runter. Er hatte sich ablenken lassen. „Noch Fragen?“

Schweigend nahm er den Dolch entgegen, den sie ihm hinhielt, und ich musste mir ein Lachen verkneifen. Die Waffen einer Frau... So war das also. Gut, dass ich darüber nun Bescheid wusste.

„Also, seid ihr sicher, dass ihr mit mir trainieren wollt? Einen meiner Tricks kennt ihr nun.“ Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah mich an. Ein leicht schelmisches Lächeln auf den Lippen.

„Darauf würde ich nicht hereinfallen.“ Auch wenn es gelogen war. Sollte sie versuchen mich auf eine ähnliche Weise um den Finger zu wickeln... Vermutlich würde ich darauf eingehen. Noch immer mochte ich sie. Mit ein Grund warum ich nichts gegen ihre Anwesenheit hier hatte. Es war besser, wenn sie das nicht wusste und auch, dass Gist nichts davon erfuhr. „Mich würde dennoch interessieren, ob ihr euch verbessert habt.“

„Kaum und ich habe nicht vor, mich hier an Deck mit euch zu duellieren. Hier habt ihr immerhin den...“ Das Wort das sie nun benutzte hatte ich noch nie gehört und ich war mir sicher, dass es kein Englisch war. Es klang wie Heimvorteil, doch ich hatte keine Ahnung, was es bedeutete.

„Den – Was?“ fragte ich und selbst Gist sah ratlos aus.

„Sagen wir es so. Ihr seid Seemann und auf einem Schiff zu Hause. Ich dagegen bin eher an Land unterwegs und kann mich bei stärkerem Seegang nur schwer auf den Beinen halten. Ihr habt daher einen Vorteil, den ich nicht ausgleichen kann.“

Und das nannte man nun... Wie hatte sie es ausgedrückt? Heimvorteil. Ein seltsames Wort. Ob die Umschreibung nun zutraf oder sie es sich ausgedacht hatte, sie weigerte sich jedenfalls, mit mir zu üben. Schade. Ich hätte gerne gesehen, ob sie sich verbessert hatte oder nicht.

Jetzt, wo ich über die ganze Sache nachdachte, merkte ich erst, dass sie das Rapier nicht dabei hatte. Nur der schlanke Dolch, den sie von mir dazu bekommen hatte, hing an ihrem Gürtel. Ob sie das Rapier noch besaß? Vielleicht hatte sie es verkauft, aus Geldmangel. Das wäre schade, aber es gehörte ihr und ich hatte nicht das Recht dazu, ihr deswegen einen Vorwurf zu machen.

Wir kamen gut voran und als es zu dämmern begann, gingen wir in einer geschützten Bucht vor Anker. Da wir im Landesinneren segelten, war es sicherer, nachts nicht weiter zu fahren. Hier gab es viele Felsen und die Gefahr aufzulaufen oder etwas zu rammen war einfach zu groß.

Da es langsam Zeit wurde, sich auf die Nacht vorzubereiten, teilte ich eine Nachtwache ein und ging selbst mit Selena in die Kajüte. Gist folgte unaufgefordert. Etwas das Selena offensichtlich missfiel. Sie versuchte es nicht zu zeigen, doch mir war klar, dass sie ihn lieber nicht in ihrer Nähe haben wollte.

So schnell es ging, ohne unhöflich zu sein, sorgte ich dafür, dass er wieder ging. Sein Platz war entweder an Deck oder in seiner eigenen Koje unten bei der Crew. Ihm würde ich es nicht gestatten, hier alleine in der Kajüte zu bleiben. Soweit vertraute ich ihm dann doch noch nicht.

„Ich lasse euch ein paar Minuten alleine“, sagte ich zu Selena, nach dem ich für ein sparsames Abendessen gesorgt hatte. Sie beschwerte sich nicht über den Zwieback, warf mir jedoch einen leicht enttäuschten Blick zu, als ich mir einen etwas kräftigere Schluck Rum genehmigte. „Ihr könnt euch für die Nacht umziehen, ich... warte solange draußen.“

Ich persönlich hätte nichts dagegen ihr zuzusehen, wenn sie sich umzog, doch ich war mir sicher, dass es ihr nicht gefallen hätte. Mir selbst machte es nicht mehr all zu viel aus mich in ihrer Gegenwart zu entkleiden. Zumal sie besser als irgendwer sonst wusste wie ich aussah.

Gist stand draußen. Es wirkte so, als habe er gelauscht und ich runzelte die Stirn. „Gist?“ Er wirkte nicht die Spur verlegen.

„Seid ihr sicher, dass es eine gute Idee ist, sie dabei zu haben? Eine Frau in der Kajüte des Kapitäns sorgt für Gerüchte.“

„Macht euch darüber keine Gedanken. Beim letzten Mal gab es auch keine.“ Zumindest hatte ich davon nichts mitbekommen. „Und glaubt ihr nicht, dass ich drinnen bleiben würde, wenn sie sich auszieht, wenn zwischen ihr und mir irgend etwas wäre?“

„Warum habt ihr sie dann mitgenommen? Sie ist nur jemand auf den man aufpassen muss, sollte es gefährlich werden.“

„Ich hoffe, dass es ruhig bleibt und außerdem ist sie mein Problem, nicht das eure. Ich habe nicht vor, mich auf weitere Diskussionen einzulassen.“ Ich sah ihn streng an „Also, wenn ihr sonst nichts zu tun habt, legt euch schlafen oder aber achtet an Deck darauf, dass nichts passiert.“

Kurz funkelte er mich an, dann verschwand er unter Deck. Ich sah ihm nach, dann warf ich einen Blick in die Kajüte. Selena war nicht zu sehen. Ich schlüpfte hinein und fand sie auf der Bank, wo sie sich unter die Decke verkrochen hatte. Ob sie etwas von dem gehört hatte, was Gist gesagt hatte?

Bevor ich mich schlafen legt, nahm ich noch einmal den Rum zur Hand. Solange ich nicht alleine war, wollte ich von Albträumen lieber verschont bleiben. Dennoch hatte ich ein leicht schlechtes Gewissen, als ich ihren Blick spürte. Während meiner Genesungszeit hatte ich nur ein einziges Mal nach Rum gefragt. Sie hatte entschieden abgelehnt, mir welchen zu geben. Nun konnte sie ihn mir nicht mehr vorenthalten.

Noch bevor es draußen zu dämmern begann, wachte ich auf. Erneut hatte Liam im Traum auf mich geschossen. Wie lange würde ich solche Träume noch ertragen müssen? Ein Blick zur Bank beruhigte mich. Selena schlief und hatte nichts mitbekommen.

Leise stand ich auf und zog mich an. Hunger hatte ich keinen, nahm mir dennoch einen Zwieback und... Rum. Wie gut, dass ich einen recht großen Vorrat davon hatte. Auch gut, dass ich ihn nicht offen stehen hatte. Ein Kapitän, der sich betrank, war kein gutes Vorbild.

An Deck war es ruhig und von Gist noch nichts zu sehen. Das Wetter war über Nacht umgeschlagen. Der Wind hatte gedreht und wir kamen nun weniger schnell voran. Da ich vor hatte, möglichst an diesem Tag unser erstes Ziel zu erreichen, ließ ich den Anker lichten und vorerst nur halbes Segel setzen. Damit waren wir zwar langsamer, doch es war auch noch nicht wirklich hell.

Nach einer gefühlten Stunde tauchte Gist an Deck auf. Seine schlechte Laune vom Vortag schien verflogen. Mit einem „Guten Morgen, Kapitän“, begrüßte er mich, stellte sich an meine Seite und ließ den Blick über den nahen Küstenstreifen gleiten. „Glaubt ihr, dass wir heute ankommen? Der Wind hat gedreht.“

„Ich hoffe es. Der Colonel braucht die Waren und...“ kurz sah ich mich um und senkte die Stimme ein wenig. Die Crew musste nichts von dem zweiten Auftrag wissen. „Diese Banditen könnten ihr Lager abbrechen, bevor wir eintreffen. Ich möchte so schnell wie möglich ankommen und ihnen das Handwerk legen.“

„Nun, dann sollten wir auf volle Fahrt gehen, meint ihr nicht? Wenn es möglich ist die Halunken auszuschalten, sollten wir keine Zeit verlieren.“ Da gab ich ihm Recht und wir setzen auch noch die letzten Segel.

Als die Sonne aufging, kamen aus der Kajüte Geräusche. Kurz darauf betrat Selena das Deck. Noch immer trug sie Hosen. Wirklich seltsam, dass sie solche Kleider vorzog, wo sie doch alles andere als, nun ja, weiblich waren. Diese Hosen passten ihr zu dem sehr gut, was darauf schließen ließ, dass sie sie extra für sich hatte anfertigen lassen.

„Ihr seid schon auf den Beinen?“ rief ich zu ihr runter und sie wandte sich mir zu. Etwas langsamer als am Vortag kam sie zu uns hoch, hielt sich dabei am Geländer fest.

„Es fällt schwer zu schlafen, wenn es draußen hell ist. Mir jedenfalls.“ Sie schlief insgesamt nicht so viel. In der Zeit, die sie mich gepflegt hatte, hatte sie mit sehr wenig auskommen müssen und ich hatte nur selten mitbekommen, dass sie schlief. Auch jetzt war ich mir sicher, dass sie lange wach lag.

„Habt ihr gefrühstückt?“ Ich ging davon aus, dass sie es so hielt wie früher. Da hatte sie meist vorher gefragt, bevor sie sich etwas zu essen genommen hatte.

„Die Frage gebe ich zurück. Habt ihr etwas gegessen?“ Die Frage ärgerte mich ein wenig. Es war nur gut gemeint und von ihr kam dieser leicht vorwurfsvolle Blick, als wüsste sie genau, wie mein Frühstück ausgesehen hatte. Daher schwieg ich.

Gist versuchte den ganzen Vormittag über, die Stimmung zu heben, doch meine Laue war recht weit im Keller. Selbst Selena schwieg. Warum hatte sie mitkommen wollen? Sie tat nichts, außer an Deck zu stehen und sich die Landschaft anzusehen, die an uns vorbei zog.

Am Nachmittag erreichten wir den Hafen. Schon aus der Entfernung sah ich das beschädigte Schiff. Es lag etwas abseits und ja, es war wirklich stark beschädigt. Dass es überhaupt bis hier her gekommen war, war ein Wunder.

Kurz bevor wir anlegten, verschwand Selena unter Deck. Schade. Ich hätte sie gerne mit an Land genommen. Damals hatte sie in Halifax unbedingt von Bord gehen wollen und nun versteckte sie sich. Verstand einer die Frauen...

So ging ich allein, übergab das Kommando an Gist und machte mich auf die Suche nach dem Kapitän des beschädigten Schiffes. Mit ihm musste ich die Warenübernahme klären. Ich fand ihn bei seinem Schiff, wo er die Reparatur beaufsichtigte.

Nach dem ich ihm erklärt hatte, dass Monro mich schickte, um die Waren, die er für ihn transportierte, zu übernehmen, war er erst skeptisch, doch als ich ihm von Gist erzählte, war er überzeugt. Ihn kannte er offenbar. Schnell regelten wir den Transport zu meinem Schiff und ich machte mich auf die Suche nach einem Waffenhändler. Die Morrigan brauchte neue Kanonenkugeln. Ich wollte kein Risiko eingehen.

Als ich zum Schiff zurückkam, war die Warenübernahme so gut wie abgeschlossen. Gist konnte ich nirgends entdecken und ging davon aus, dass er unter Deck war und das Verladen überwachte. Daher war ich überrascht zu sehen, wie er aus der Kajüte kam. Da drin hatte er nichts zu suchen und er sah verärgert aus.

„Was ist los, Gist? Ihr seht so aus als wäre etwas passiert.“ Ich versuchte mir möglichst nicht anmerken zu lassen, dass es mich störte, dass er mit Selena alleine gewesen war. Meine Anweisung für ihn war klar gewesen. Auf das Schiff aufpassen.

„Euer Gast“, er sprach das Wort mit hörbarer Verachtung aus, „Wird langsam etwas unverschämt. Wisst ihr, dass sie eure Sachen durchsucht?“

„Woher wisst ihr, dass sie es tut? Ich kann mich nicht erinnern, euch gebeten zu haben, sie zu bespitzeln oder aber in meiner Abwesenheit in die Kajüte zu gehen.“

„Ich wollte nach dem Rechten sehen, nach dem es da drin geklappert hat. Sie war gerade dabei, eine Kommode zu durchwühlen.“

„Die Große auf der linken Seite?“ fragte ich und er nickte. „Das ist in Ordnung. Sie hatte Hunger und weiß wo sie etwas zu essen findet. Ich mache mir da keine Sorgen und ihr solltet es auch nicht.“ Dann hatte sie zumindest etwas zu Mittag gehabt. Mehr als ich von mir behaupten konnte.

„Und ihr lasst sie einfach gewähren? Sie könnte euch bestehlen. Habt ihr euch nie gefragt, wie sie es fertig bringt, ohne eine feste Anstellung hier zu überleben?“ Das schon wieder. Auch Liam hatte mich davor gewarnt, ihr zu sehr zu trauen. Es gab zwar seltsame Zwischenfälle in ihrer Umgebung, doch das hieß nicht, dass sie etwas damit zu tun hatte oder stahl.

Wir liefen aus und ich setzte den Kurs auf das Bandenversteck. Die Zeit hatten wir und ich wollte gerne noch etwas länger unterwegs sein. Immerhin hatte ich noch eine Aufgabe zu erledigen. Eine, von der Gist nichts wusste.

Aus der Kajüte kamen immer mal wieder Geräusche, doch ich ging nicht hinunter, um nachzusehen. Es gab nicht viel, was Selena dort tun konnte und so ging ich davon aus, dass sie ihrer üblichen Beschäftigung nachging und aufräumte.

Als es zu dämmern begann, fing Gist erneut an zu nerven. „Sie ist seit Stunden dort drin alleine“, und „Ihr solltet wirklich kontrollieren, was sie dort treibt.“ Konnte er es nicht einfach gut sein lassen? Nein, er redete weiter und irgendwann wurde es mir wirklich zu dumm.

„Wenn ihr ihr sowenig vertraut, warum geht ihr dann nicht und seht nach was sie tut?“ Es war nun schon seit einer guten halben Stunde ruhig in der Kajüte. Vielleicht hatte sie es sich einfach nur in ihrer Ecke bequem gemacht und kritzelte in ihr Buch.

„Es ist nicht meine Aufgabe mich um...“ Ich ließ das Ruder los und das Rad drehte sich frei. Kurz schwankte die Morrigan, doch mir war das egal.

„Gut, ich sehe nach. Aber, wenn alles in Ordnung ist, will ich nicht mehr über das Thema reden. Nie wieder.“ Ich winkte einen Matrosen heran, der das Ruder übernehmen sollte, und stapfte nach unten. Gist folgte. Er wollte sich wohl davon überzeugen, dass ich ihn nicht über das, was ich zu sehen bekam, belog.

Leise öffnete ich die Tür zur Kajüte und fand sie leer vor. Von Selena war nichts zu sehen. So ging ich hinein und fand sie, zusammengerollt auf der Bank. Allem Anschein nach tief schlafend. „Was habe ich gesagt?“ sagte ich leise, um sie nicht zu wecken. „Nichts weswegen ich mir Sorgen machen müsste.“

Ebenso leise kehrte ich zur Tür zurück, schob Gist hinaus und schloss die Tür hinter uns wieder. „Seht ihr, Gist. Sie tut nichts Verbotenes. Ihr könnt unbesorgt schlafen gehen. Ich bleibe noch eine Weile hier.“ Ich konnte eh nicht schlafen. Besser gesagt, ich hatte Angst davor einzuschlafen.

Wortlos ging er unter Deck und ich stieg wieder zum Ruder hinauf, ließ den Matrosen aber weiter steuern. Es konnte nicht schaden jemanden zu haben, der außer mir und Gist dazu in der Lage war, ein Schiff zu manövrieren. War ja möglich, dass wir Beide ausfielen.

Bevor ich mich selbst schlafen legte, ließ ich Anker werfen und teilte die Crew in Gruppen auf. Ein paar brauchte ich auch nachts an Deck. Der Rest konnte sich ausruhen und in ein paar Stunden sollten die Männer abgelöst werden. Dann verschwand ich in der Kajüte.

Bis auf eine Laterne waren alle Lichter gelöscht. Die Kerze darin würde die Nacht über reichen und mehr Licht brauchte ich nicht. Eine Weile stand ich nahe der Rückbank und sah auf Selena runter. Woher kam nur dieses Misstrauen von Gist? War ich schlicht zu blauäugig ihr gegenüber?

Da ich zu keiner Antwort kam, zog ich mich aus und benebelte vorm Zubettgehen noch meinen Verstand. Dieses Gefühl von Benommenheit tat gut. Es blendete die Realität und die Vergangenheit aus, machte alles erträglicher. Ich hoffte, dass es für eine Nacht reichte.

Es reichte nicht. Ich rannte durch die Straßen von Lissabon, sah Kinder in Hauseingängen kauern oder auf die Straße fliehen, wo sie von Trümmerteilen getroffen oder einstürzenden Mauern erschlagen wurden. Ich wollte weiter, doch jemand hielt mich an der Schulter fest. Vor mir riss der Boden auf und ich fiel... fiel...

Abrupt richtete ich mich auf. Mein Herz raste und ich spürte kalten Schweiß auf der Haut. Mein Mund war wie ausgetrocknet und mir war ein wenig übel. Neben mir, auf dem Rand der Koje, saß Selena und zog gerade ihre Hand zurück. Also hatte sie gemerkt, dass ich schlecht schlief und mich geweckt. Sicher hoffte sie, dass ich ihr davon erzählte, doch das konnte ich nicht.

Ohne sie anzusehen, schob ich die Decke zur Seite und sie stand hastig auf, um mir Platz zu machen. Ich brauchte dringend etwas zu trinken. Die Wirkung meines Schlummertrunks hatte nicht gereicht und um noch ein wenig Schlaf zu bekommen, brauchte ich Nachschub.

„Schlechte Träume?“ fragte Selena vorsichtig, als ich die Rumflasche aus der Kommode holte. Ohne zu antworten nahm ich einen tiefen Zug und schloss einen Moment die Augen. Das tat gut, aber würde es reichen? Kurz warf ich ihr einen Blick zu und obwohl es wirklich recht dunkel war, konnte ich sehen, dass sie sich Sorgen machte. Trotzdem nahm ich einen weiteren Schluck. „Ich weiß dass ihr schlecht träumt.“

„Warum fragt ihr dann?“ fuhr ich sie an und knallte die Flasche auf den Tisch. Ihre Fürsorge ging mir auf die Nerven. Darum hatte ich sie nicht mitgenommen. Wut keimte in mir auf, verstärkt durch den Alkohol. Es war schlimm genug, dass mich diese Träume verfolgten, da musste sie nicht auch noch den Finger in die Wunde legen.

„Schön“, kam es von ihr und ich starrte sie an. „Dann lasse ich euch das nächste Mal in eurem Elend allein.“ Sie wandte sich ab und wollte zur Bank zurückkehren. „Langsam frage ich mich, warum ich hier bin.“ Nun, dafür war sie nicht hier. Ich brauchte niemanden, der mir nervige Fragen stellte. Und schon gar nicht brauchte ich jemanden, der mich wie ein Kind behandelte.

Sie schaffte es nicht bis zur Bank. Ihre Worte ärgerten mich und ich war wütend, dazu angetrunken. Ich packte sie am Oberarm und drehte sie zu mir. Diese Respektlosigkeiten sollte ich ihr langsam austreiben. Was glaubte sie, wer sie war? Sie war nur ein Dienstmädchen. Ein freches, unverschämtes Dienstmädchen und sie hatte kein Recht dazu, mich so zu behandeln.

Doch warum war sie dann hier? Warum hatte sie mitkommen wollen? Noch immer hielt ich sie fest, doch ich sah ihr nicht in die Augen. Mein Blick wanderte tiefer und glitt über ihr Nachthemd, unter dem sich deutlich ihre Brüste abzeichneten. Es wäre so einfach den Stoff zu zerreißen und ich hätte sie nackt vor mir. Der Gedanke erregte mich.

„Nur zu“, sagte sie und ich glaubte mich verhört zu haben. Das hatte sie nicht gesagt. Ich sah ihr in die Augen, um sicher zu gehen, dass ich mich verhört hatte. Ihr Blick war kalt und voller Abscheu. „Sorgt dafür, dass ich auch noch das letzte bisschen Respekt vor euch verliere.“

Ich ließ sie los, doch nur um ausholen zu können. Ich war wütend. Sehr wütend und die Art wie sie mit mir redete, machte es nur schlimmer. Wann hatte sie mir je Respekt entgegengebracht? Der Schlag traf sie mitten ins Gesicht. Durch den Alkohol hatte ich meine Kraft weniger gut kontrollieren können und sie wohl härter getroffen, als beabsichtigt. Sie ging zu Boden und hatte wirklich Glück, vorher nicht mit dem Kopf gegen die Kommode zu knallen.

Das hätte mich wachrütteln sollen, doch tat es das nicht. Schon war ich bei ihr und drehte sie auf den Rücken. Sie zappelte und versuchte mich zu schlagen, doch ich wischte die Hand einfach zur Seite. Mit meinem Gewicht drückte ich sie gegen den Boden und hielt mit einer Hand beide Hände von ihr fest. Sie hatte so dünne Handgelenke, dass das keine große Sache war. Es war allzu leicht sie zu überwältigen. Ein Schlag hatte genügt und sie lag am Boden. Von wegen, sie könne auf sich aufpassen.

Noch immer war ich wütend und holte erneut aus. Doch dann hielt ich inne. Selena schrie nicht. Auch hatte sie aufgehört zu zappeln. Ich spürte ihre Anspannung. Sie hatte den Kopf zur Seite gedreht, die Augen fest zusammengedrückt und wappnete sich für den bevorstehenden Schlag. Das war es nicht, was mich veranlasste die Hand sinken zu lassen. Es war der rote Fleck, der sich auf ihrer Wange abzeichnete. Dort, wo ich sie getroffen hatte.

Verdammt, was hatte ich da getan? War ich nun schon so weit gesunken, dass ich eine Frau schlug? Hatte sie nicht angedeutet, dass ihr genau so etwas schon einmal passiert war? Und ausgerechnet ich, derjenige, der sie schützen wollte und der in gewisser Weise in ihrer Schuld stand, fiel nun über sie her, wie ein wildes Tier.

Als sie mich unsicher und ängstlich von unten her anblinzelte, senkte ich den Blick. Ihr Nachthemd war verrutscht. Ich hockte zwischen ihren Beinen und der Stoff war so weit nach oben gerutscht, dass er gerade eben noch ihre Scham verdeckte. Ich wandte mich ab und stand auf. In diesem Moment fand ich mich selbst ekelhaft. Die Rumflasche stand noch immer auf dem Tisch und ich war versucht, noch einen Schluck zu nehmen, doch das würde es nicht besser machen.

Ohne noch etwas zu sagen ging ich zur Koje zurück und kroch hinein. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich hörte ein Rascheln und kurz darauf drang ein vertrauter Geruch an meine Nase. Es war die Salbe, die sie bei mir angewandt hatte. Das machte es nur schlimmer. Ich musste hier raus, doch es war besser zu warten, bis sie wieder schlief, falls sie sich schlafen legen würde. Wären wir in einem Hafen, sie würde ihre Tasche packen, sich anziehen und verschwinden. Ich würde nicht einmal den Versuch machen, sie daran zu hindern.

Die Minuten verstrichen quälend langsam, doch ich hörte nichts von der Bank. Schlief sie? Lag sie wach und wartete darauf, dass ich es mir anders überlegte und sie doch noch... Daran sollte ich wirklich nicht denken, auch wenn es schwer war.

Nach einer gefühlten halben Stunde stand ich leise auf. Selena hatte sich unter der Decke zusammengerollt und schlief, oder sie tat so. Ich konnte das nicht unterscheiden. Selbst auf die Entfernung sah ich den dunklen Fleck auf ihrer Wange. Der würde sicher ein paar Tage zu sehen sein und mich jedes Mal daran erinnern, was passiert war.

Möglichst ohne Lärm zu machen zog ich mich an und verließ die Kajüte. Sollte sie nur so tun als würde sie schlafen, würde es sie beruhigen, wenn ich nicht mehr da war. Wenigstens sie sollte noch etwas Ruhe bekommen. Auch wenn ich nicht wirklich munter war, ich hielt es keine Sekunde länger mehr aus, mit ihr in einem Raum zu sein. Dazu kam, dass mir nun entschieden schlecht war. Eindeutig zu viel Alkohol. Und es machte sich ein dumpfer Schmerz hinter den Schläfen breit. Das würde eine sehr lange Nacht werden.

An Deck sah ich mich um. Die Notbesetzung starrte aufs Wasser oder zum nahen Ufer, doch in unserer Umgebung tat sich nichts. Ich konnte nirgendwo andere Schiffe ausmachen. Auch wenn es riskant war, hier in der Nacht unterwegs zu sein und meine Aufmerksamkeit nicht gerade die Größte war, ließ ich den Anker lichten und das Hauptsegel setzen. So waren wir langsam unterwegs, aber immerhin fuhren wir. Ich musste meinen Auftrag erledigen und dann schnell zurück nach New York. Es war ein Fehler, Selena mitzunehmen. Sie wusste nun, dass sie mir nicht trauen konnte.

Es begann gerade zu dämmern, da tauchte Gist auf. „Was ist denn mit euch passiert, Kapitän?“ fragte er und mir wurde bewusst, wie ich aussehen musste. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht mich vernünftig einzukleiden und natürlich hatte ich auch nicht daran gedacht, mich um die Haare oder eine Rasur zu kümmern.

Mir war nicht danach, ihm die Wahrheit zu sagen und so band ich mir nur die Haare neu und strich mir, ein wenig müde, übers Gesicht. Na, all zu stoppelig war ich nicht. Im Moment sollte ich eh besser kein Rasiermesser in die Hand nehmen. Gist ließ nicht locker. Mit einem leichten Lächeln hakte er nach. „Ihr seht aus, als hättet ihr nicht geschlafen. Wurdet ihr wach gehalten?“

„Mir ist nicht danach, darüber zu reden.“ Ich wollte mich nun nicht auch noch mit ihm in die Haare bekommen, zumal ich sicher war, dass ich eine Schlägerei mit ihm im Moment eher verlieren würde. Ich warf ihm einen Blick zu der deutlich machen sollte, dass es mir ernst war und so schwiegen wir eine ganze Weile.

Langsam wurde es heller, doch es war bewölkt. Das sah nach einem trübem Tag aus. Ganz so, wie ich mich fühlte. Gist schlug irgendwann ein Frühstück vor. Mir war entschieden schlecht und in meinem Kopf wurde der Schmerz immer schlimmer. Dennoch bat ich ihn, mir von den Vorräten Dörrfleisch zu holen und einen Krug Wasser. Auf meiner Zunge war ein Pelz und ich hatte einen üblen Geschmack im Mund. Danach kaute ich auf dem Streifen Fleisch herum und versuchte nicht hinterm Ruder einzuschlafen.

Kurz nach Mittag entdeckte ich einen Anleger. Es war nur ein schmaler Steg, der ins Wasser führte, doch da nirgendwo ein Boot zu sehen war und am Ufer nur eine alte, halb eingestürzte Hütte stand, war mir klar, dass das hier der Ort sein musste, den ich suchte. Der Steg war einfach zu neu, um zu der Hütte gehören zu können.

„Sieht so aus, als hätten die Banditen vor sich hier in der Gegend häuslich nieder zu lassen“, sagte ich zu Gist und auch er sah zu dem Steg und der Hütte.

„Gut möglich, aber es könnte auch sein, dass hier in der Nähe Franzosen stecken, die hier Waren verstecken.“ Das konnte natürlich auch sein. Der Steg reichte weit genug ins Wasser, um ein Schiff von der Größe der Morrigan anlegen zu lassen.

„Ich werde mir das ansehen. Wenn die Strolche hier in der Nähe sind, werde ich sie finden.“ Und sie erledigen. Zwar war ich müde, doch ich musste einfach etwas Sinnvolles tun. Verbrecher jagen war sinnvoll.

„Wollt ihr das alleine erledigen? Ich meine... Ihr könntet doch sicher ein wenig Unterstützung gebrauchen.“ Ja, das konnte ich, doch ich wollte alleine gehen. Ich brauchte Bewegung und ich hatte keine Lust, mir weitere Fragen anzuhören.

„Ich gehe allein. Eure Aufgabe ist es, das Schiff zu sichern und alles für einen schnellen Aufbruch bereit zu halten. Ich weiß nicht wie lange ich brauchen werde, aber falls es nötig wird, dann müsst ihr die Morrigan in Sicherheit bringen.“

Kurz schwieg ich und sah zum nahenden Ufer. Ein kleiner Sandstrand und danach dichter Wald. Es würde nicht leicht werden dort etwas zu finden. „Und noch etwas. Ich möchte nicht, dass Selena das Schiff verlässt. Was immer sie euch auch sagen mag, ihr werdet sie nicht von Bord lassen.“ Nicht, bevor ich mich bei ihr entschuldigt hatte und hier wollte ich sie nicht aus den Augen verlieren.

„Was ist zwischen euch und ihr vorgefallen?“ versuchte er es noch einmal, doch ich ignorierte die Frage. Er konnte sich gerne seinen Teil denken. Ich würde ihm nichts erzählen. Das war privat und es war mein Problem. Wir erreichten den Anleger und ich sprang von Bord. Hoffentlich konnte ich das schnell erledigen.

An Land erkannt ich, dass es neben der Hütte einen schmalen Weg gab, der in den Wald führte. Er war wirklich sehr schmal, doch so angelegt, dass man gut auf ihm gehen konnte. In sanften Windungen führte er langsam einen Hügel hinauf und ich lauschte immer wieder. Außer Vögel konnte ich eine Weile nichts hören, doch dann... Stimmen. Zu dem roch ich etwas.

Ich suchte mir einen geeigneten Baum und kletterte vorsichtig hinauf. Durch die Äste erkannte ich, dass nicht all zu weit entfernt eine kleine Lichtung war und dort standen vier Zelte um ein Lagerfeuer herum. Das was ich gerochen hatte war zum einen das Feuer. Zum anderen das, was darüber hing und meinen Magen knurren ließ. Eintopf. Ein offensichtlich guter Eintopf.

Ein Mann stand daneben und rührte in dem Kessel. Auf dem Boden hockten zwei weitere und unterhielten sich. Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch es klappte nicht. Meine Kopfschmerzen wurden nur schlimmer und so beschränkte ich mich aufs normale Beobachten. Wenn es nur drei waren, dann würde ich sie schon klein kriegen. Sie sahen harmlos aus, doch ich erkannte die Kleidung. Wieder dieselbe Bande. Langsam glaubte ich nicht mehr an Zufälle. Das alles sah nach einem wirklichen Planer aus. Jemandem, der wusste wie man Leute einsetzte und sie kontrollieren konnte. Jemanden, der Kontakte zu den Verbrechern hatte. Jemandem, wie Hope.

Ich wusste, dass sie in New York zum Teil mit Taschendieben zusammenarbeitete und sie hatte überall Augen und Ohren. Die Bandenmitglieder, die ich nun schon kennengelernt hatte, waren teilweise keine einfachen Schläger gewesen. Es würde passen, dass sie mit der Bruderschaft unter einer Decke steckten.

Vorsichtig kletterte ich vom Baum und suchte mir einen guten Punkt, um angreifen zu können. Diese Gasgranaten hatte ich bislang noch nicht wirklich zum Einsatz bringen können. Eine gute Gelegenheit zu testen, wie sie in der freien Natur wirkten. Es würde alles um so vieles leichter machen, wenn sie sich nicht wehrten.

Die Granate traf nicht so zielgenau wie ich erhofft hatte, doch sie kam nahe genug heran, um alle drei außer Gefecht zu setzen. Erst als sich keiner von ihnen mehr rührte trat ich näher und beendete die Angelegenheit. Gerade als ich den Letzten der drei ins Jenseits befördert hatte, hörte ich hinter mir ein Knacken. Instinktiv rollte ich mich zur Seite, doch ich war zu langsam. Ein scharfer Schmerz durchfuhr meinen linken Arm und ich kam nicht so elegant auf die Beine, wie ich gehofft hatte.

Zwei Männer standen da und starrten mich wütend an. Der schlankere und kleinere mit Säbel, der Zweite, groß und breitschultrig, mit einem schweren, zweihändigen Hammer. Gegen eine solche Waffe hatte ich noch nie kämpfen müssen und hatte keine Ahnung wie man ihr am Besten auswich. Sicherlich würde sie mir alle Rippen auf einmal brechen, sollte sie mich treffen. Vielleicht hätte ich Gist doch mitnehmen sollen.

Zeit für eine Strategie bekam ich nicht. Schon griff der Schlanke erneut an und ich wich zurück, zog meine Klinge. Schnell war mir klar, dass der Große eher langsam war, seine Schläge mit dem Hammer aber eine enorme Wucht hatten. Er nutzte das Gewicht der Waffe, was ihn aber auch angreifbarer machte, da er zum Ausholen Zeit benötigte.

Der Andere dagegen war schnell und versuchte mich seinem Kumpanen zuzutreiben. Die Beiden waren ein eingespieltes Team und ich war nicht komplett einsatzbereit. Der linke Arm schmerzte bei jeder Bewegung doch ich brauchte ihn, um das Gleichgewicht zu halten. Meinen Dolch zum Abwehren zog ich gar nicht erst. Ich hätte die Klinge kaum halten können.

Meine einzige Chance war es, die Beiden voneinander zu trennen und dann die Abwehr zu durchbrechen. Das war leichter gesagt als getan. Immer wieder musste ich den Hieben des Hammers ausweichen und wurde langsam müde. Schlafmangel, Kater und zu wenig zu Essen waren wirklich keine gute Grundlage für eine solche Auseinandersetzung. Ein kräftiger Schlag und mir wurde die Klinge aus der Hand geschlagen.

Jeder normale Bandit würde in so einer Situation aufgeben. Ich war kein Bandit. Ich war ehemaliger Assassine und ich hatte ein Ass im Ärmel. Im wahrsten Sinne. Hinter mir hörte ich ein „Erledige den Bastard.“ wandte mich jedoch nicht um. Meine Aufmerksamkeit galt nur dem Kerl vor mir, der mit seiner Klinge zustoßen wollte, um mich damit aufzuspießen.

Viel Zeit hatte ich wirklich nicht und als ich auswich, spürte ich, wie die Klinge über meine Jacke glitt. Mit einer schnellen Bewegung der rechten Hand fuhr ich die verborgene Klinge aus und überwand das Stück, das ihn und mich voneinander trennte. Ich traf und die Klinge drang ohne großen Widerstand durch Haut und Fleisch.

Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Die Augen des Mannes weiteten sich, dann sackte er in sich zusammen. „Nein!“ kam ein Schrei von hinter mir und ich hörte die schweren Schritte des anderen. Als ich herum wirbelte sah ich, wie er im Lauf den Hammer hob, das wutverzerrte Gesicht und auch, dass er alles auf diesen einen Schlag setze.

In letzter Sekunde sprang ich zur Seite. Der Hammer zischte knapp an mir vorbei und brachte den Kerl aus dem Gleichgewicht. Diese Gelegenheit nutzte ich und rammte auch ihm die Klinge in den Leib. Die Waffe glitt ihm aus der Hand und landete mit dumpfem Aufschlag am Boden. Er selbst blieb auf den Beinen.

Auch als ich die Klinge zurückzog stand er noch immer, leicht schwankend, doch noch nicht gewillt sich dem Unausweichlichen zu fügen. Seine Finger tasteten nach der Stelle, wo ich ihn durchbohrt hatte und er starrte auf das Blut auf seinen Fingern. „Nein...“ kam es noch einmal leise von ihm bevor auch er zusammenbrach und es auf der Lichtung still wurde. Sehr still.

Nur mein eigener Atem war zu hören und ich war überrascht, wie schnell ich atmete. Ich war am Ende meiner Kräfte und spürte meinen Herzschlag deutlicher als je zuvor. Das war wirklich knapp gewesen. Eine Weile sah ich auf die Toten hinunter, bis ich mir einen Ruck gab. Ich konnte hier nicht ewig stehen bleiben.

Hastig durchsuchte ich die Zelte nach Briefen, Karten oder anderen Dokumenten, die helfen konnten weitere Banditen aufzuspüren. Danach tastete ich die Leichen ab. Plündern war nichts, dass ich gerne tat, doch es war notwendig. Jeder, der auf diese Leichen stieß, würde eher von anderen Banditen ausgehen, wenn alles von Wert verschwunden war.

Einer der Banditen hatte ein großes Tuch in der Tasche. Das stopfte ich durch den Schnitt in der Jacke auf die Wunde, um die Blutung etwas zu stoppen, dann nahm ich meine Waffe und stand unschlüssig vor dem blubbernden Eintopf. Was für eine Verschwendung, den verkommen zu lassen, doch mir war der Appetit vergangen.

Es war nicht so einfach später wieder auf die Morrigan zu klettern. Mein Arm behinderte mich. Die Wunde pochte und musste dringend richtig versorgt werden. Den ganzen Weg zurück hatte ich das Tuch darauf gedrückt und war nur froh, dass es nicht durchweichte. Wieder an Deck ignorierte ich den fragenden Blick von Gist und ging direkt in die Kajüte. Ob ich nun Hilfe bekam oder nicht, dort war alles, was ich brauchen würde, um mich notfalls selber zu verbinden.

Im ersten Moment sah ich Selena nicht und fürchtete, sie sei doch irgendwie von Bord verschwunden. Dann entdeckte ich sie vor der Kommode, in der ich meine Kleider verwahrte. Ein kurzer Blick durch den Raum sagte deutlich, dass sie die Zeit für weitere Aufräum- und Putzarbeiten genutzt hatte. Es sah schon fast wieder so aus, wie ich es von früher her kannte. Vorsichtig trat ich an sie heran, blieb aber auf Sicherheitsabstand. „Ihr räumt auf?“

Sie fuhr zusammen und sah zu mir hoch. So leise hatte ich mich nun auch nicht bewegt, dass sie mich nicht hatte bemerken können. Möglicherweise hatte sie nur nicht mit mir gerechnet. Die Stelle im Gesicht, die letzte Nacht noch rot gewesen war, hatte sich in ein leichtes Grün verfärbt. Es sah weniger schlimm aus, als befürchtet.

Unwillkürlich streckte ich meine Hand nach ihr aus, doch sie wandte sich ab. „Was soll ich sonst machen? Es ist so ziemlich das Einzige, dass ich an Bord tun kann.“ Sie klang frustriert und ich merkte, dass sie noch immer nicht gut auf mich zu sprechen war.

Als sie aufstand und sich an mir vorbei schieben wollte, hielt ich sie auf. Sofort verzog sie ihr Gesicht, als ich ihren Arm berührte und ich ließ sie los, versperrte ihr aber den Weg. Sie sah mich nicht an, hatte den Kopf gesenkt und vermied es überhaupt in meine Richtung zu sehen.

„Warum wolltet ihr mitkommen?“ fragte ich vorsichtig. Sie wirkte so unglücklich und sie hätte sich diese Reise nicht aufbürden müssen. Es war ihre freie Entscheidung mich zu begleiten.

„Das frage ich mich auch“, gab sie zurück und wandte sich ab. Da sie nicht an mir vorbei kam, kehrte sie in die Ecke zurück, wo auch ihr Rucksack lag. Fort von mir. Eindeutiger hätte es nicht sein können.

Mit einem leichten Seufzer begann ich meine Waffen abzulegen, um die Jacke ausziehen zu können. Das Tuch war sehr blutig, genau wie das Hemd. Gerade wollte ich mir den Schnitt genauer ansehen, da landete auf dem Tisch neben mir eine Tasche mit Verbänden und ich sah auf.

Wortlos schob Selena meine Hand zur Seite und begutachtete die Wunde. Ich wollte etwas sagen. Sie musste sich nicht darum kümmern. Es war halb so schlimm, doch im Grunde konnte ich mich glücklich schätzen, dass sie sich darum kümmerte. So hielt ich still als sie die Wunde reinigte und einen Verband anlegte.

Die ganze Zeit über hob sie nicht einmal den Blick und wandte sich ab, kaum dass sie fertig war. Ganz vorsichtig legte ich dieses Mal eine Hand an ihren Arm, etwas tiefer als das Mal davor. Offenbar hatte ich dort in der letzten Nacht etwas zu fest zugepackt. „Danke“, sagte ich leise und ließ sie wieder los.

Noch immer sah sie mich nicht an, verschwand aber auch nicht gleich wieder in ihrer Ecke. „Wenn... es euch recht ist und ihr es mir hinlegt, wasche ich das Hemd morgen aus.“ Kurz flackerte ihr Blick in meine Richtung, doch sie vermied es, mich direkt anzusehen. „Natürlich wäre es besser, das gleich zu tun, bevor das Blut eintrocknet, aber das möchte ich euch lieber ersparen.“

„Dann müsstet ihr den Verband erneuern. Dabei sitzt der hier gerade gut.“ Sie hatte ja auch Übung darin, mich zu verbinden. „Es reicht, wenn ihr es morgen versucht. Wenn es nicht mehr zu retten ist, habe ich ein Hemd weniger. Es gibt Schlimmeres.“

Vorsichtig blinzelte sie zu mir herüber, als würde sie meinen Worten nicht glauben. Dann nahm sie ihr Verbandszeug und kehrte zu dem Rucksack in der Ecke zurück. Ja, es gab wirklich Schlimmeres. Das zerstörte Vertrauen zwischen uns. Nichts würde das je wieder in Ordnung bringen können. „Das letzte Nacht tut mir leid.“ Mich zu entschuldigen war das Mindeste, dass ich tun konnte.

Selena drehte sich um und sah mir nun endlich in die Augen. Meine Worte hatten sie überrascht und sie wusste offensichtlich nicht, wie ernst es mir damit war. Sagen tat sie nichts, doch dann lächelte sie. Ganz leicht nur, doch es erleichterte mich ungemein. Dieses Lächeln war ein Anfang.

„Wollt ihr weiterhin hier bleiben oder kommt ihr mit an Deck?“ Immerhin konnte sie sich nicht ewig hier verkriechen. Vorsichtig zog ich die Jacke wieder an. Den Schnitt würde ich in den nächsten Tagen reparieren müssen, oder ihn reparieren lassen. Mit Nadel und Faden war ich nicht so geschickt. Noch immer tat die Bewegung weh und ich musste wirklich langsam sein.

„Geht schon vor, ich komme gleich nach“, kam es nach kurzem Zögern von ihr und ich war erleichtert. Wenn sie mit nach oben kam, war das ein gutes Zeichen.

Sie brauchte wirklich nicht lange. Nur zwei Minuten nach mir kam sie an Deck, in ihre Jacke gewickelt und stieg zu Gist und mir zum Ruder. Anstatt sich neben mich zu stellen, setzte sie sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden. Wieder so ein seltsames Verhalten. Ich würde sie wohl nie verstehen.

Der Wind war abgeflaut und so ließen wir uns zum Großteil von der Strömung mitziehen. Außer uns waren keine größeren Schiffe zu sehen. Nur ein kleines Ruderboot mit einem Angler darin. Es sah nach einem ruhigen Nachmittag aus. Das konnte mir nur Recht sein. Für heute hatte ich genug Scherereien gehabt.

Irgendwann begann Gist Vorschläge zur Verbesserung der Morrigan zu machen. Dafür fehlte derzeit zwar das Geld, doch ich hörte mir gerne an, was er verändern würde. Nahtlos ging das Gespräch zum Thema Waffen über und ich merkte, wie Selena aufhorchte. Eine Frau, die sich für Waffen interessierte, war nicht alltäglich

„Wenn ich mich recht erinnere, habt ihr eher ein Händchen für Schusswaffen als für Schwerter“, denn ich erinnerte mich daran, dass sie etwas von Pfeil und Bogen erzählt hatte.

„Ich ziehe die Entfernung vor, da bieten sich Schusswaffen an.“ Wieder lächelte sie leicht, auch wenn sie mich nicht ansah. Es gefiel mir um so vieles besser, wenn sie lächelte.

„Wie gut seid ihr?“ fragte Gist und sie zuckte mit den Schultern.

„Ein stehendes Ziel ist leichter, als eins in Bewegung und je näher ich dran bin. um so einfacher wird es.“ Sie streckte sich und lehnte sich etwas nach hinten, stützte sich mit den Händen am Boden ab. „Und ich habe es schon geschafft auf 20 Meter eine Kugel zu treffen. Das ist einige Jahre her, doch mit etwas Übung und dem richtigen Bogen würde ich es wohl wieder schaffen.“

Zwanzig Meter. Es schien sie stolz zu machen, doch es kam ganz auf die Größe der Kugel an. Bei einem Apfel würde ich schon sagen, dass es ein guter Treffer gewesen war. Bei einem Kürbis eher weniger.

„Bogen?“ Gist klang, als hielte er es für lächerlich, einen Bogen zu nutzen. „Wer schießt denn noch mit Pfeil und Bogen?“

Langsam wandte sie ihm den Blick zu. „Die Mohawk Indianer, zum Beispiel, und ich ziehe eine leise Waffe vor. Mit einer Pistole oder einem Gewehr alarmiert ihr jede Wache im Umkreis und sollte der Schuss daneben gehen ist euer Ziel gewarnt. Es geht schneller einen neuen Pfeil zu ziehen, als eine Pistole zu laden. Leise Waffen sind unauffälliger und ich ziehe nicht gerne Aufmerksamkeit auf mich.“

„Nicht?“ Die Frage war so provozierend, dass es mich wirklich wunderte, dass Selena nicht darauf antwortete. Sie lächelte nur wieder und sah aufs Meer. „Wo habt ihr schießen gelernt?“ Hakte er nach und sie sah ihn wieder an. Genau diese Frage wurde ihr schon einmal gestellt und genau wie damals antwortete sie nicht. „Bei der Navi?“ Da ich keinen Streit mit ihr wollte hielt ich mich aus dem Gespräch heraus. Es interessierte mich wann und wo sie es gelernt hatte, doch ich würde nicht danach fragen. „Eine Frau, die weiß wie man kämpft, muss es von jemandem gelernt haben der...“

„Gist!“ Die Lautstärke hinter diesem einen Wort sagte deutlich, dass sie wütend war. „Es ist egal, wo ich es gelernt habe oder wann. Meine Vergangenheit geht niemanden etwas an.“ Sie stand auf und ging ganz nach hinten ins Heck. Sicher, um weiteren Fragen zu entgehen. Ich konnte es ihr nicht verübeln.

Kurz zögerte ich, dann gab ich das Ruder schweigend an Gist und folgte ihr. „Warum schweigt ihr?“

Sie fuhr zusammen, als ich die Frage stellte. Wie konnte man so schreckhaft sein? „Weil es ihn nichts angeht“, erwiderte sie und sah mich an, „Außerdem... Ihr schweigt genau so.“ Da hatte sie wohl nicht ganz unrecht, weswegen ich ihrem Blick auswich. „Seht ihr? Genau das meine ich.“ Wieder wandte sie sich dem Meer zu. „Warum sollte ich euch alles erzählen, wenn ihr weiterhin schweigt? Das wäre ungerecht und ich habe nicht vor, weiter in euch vorzudringen, solange ihr es nicht aus freien Stücken erzählen wollt. Dem Ärger gehe ich lieber aus dem Weg.“

Die Anspielung verstand ich sofort und ich ignorierte den Seitenhieb. Den hatte ich wohl verdient. Dennoch musste sie verstehen, warum ich nicht reden wollte und das ihre Fragen mit Schuld an dem Ausbruch gewesen waren. „Es gibt Dinge, über die ich lieber nicht rede.“ Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Reling und senkte den Blick „Und ich glaube nicht, dass ihr das hören wollt.“ Von Toten hörte man nicht gerne und auch nicht von untergehenden Städten.

„Geht mir genau so, auch wenn ich gemerkt habe, dass es gut tut sich hin und wieder jemandem anzuvertrauen.“ Vorsichtig legte sie mir eine Hand auf den Arm und ich hob den Blick. „Aber nur, wenn es jemand ist, dem man auch vertrauen kann.“ Wieder ein Seitenhieb. „Drei Menschen denen ich vertraut habe sind tot. Ich möchte nicht, dass ihr der nächste seid.“

Mit diesen Worten ließ sie mich stehen und kehrte in die Kajüte zurück. Das war nicht das, womit ich gerechnet hatte. Waren dies die seltsamen Zufälle, die in ihrer Umgebung passierten oder war es eine versteckte Warnung an mich? Möglich war es und wenn es stimmte, konnte ich das Misstrauen der Anderen ihr gegenüber nachvollziehen. Auch warum Monro wollte, dass sie beobachtet wurde. Es klang jedoch so, als würde ihr der Tod dieser drei Menschen nahe gehen und auch, als würde sie nicht wollen, dass mir etwas zustieß.

Für den Rest des Tages sah ich sie nicht mehr. Gist versuchte aus mir heraus zu bekommen was Selena gesagt hatte, doch sie hatte Recht. Das ging ihn nichts an. Ich fragte ihn stattdessen, ob er etwas mehr über diese seltsamen Dinge wusste, die um sie herum passierten.

„Zum Teil. Ich hatte einen guten Bekannten. Samuel Smith.“ Bei diesem Namen zog sich mein Inneres zusammen, doch ich sagte nichts. „Sein Sohn, Arthur, war in Boston stationiert. Ein guter Mann. Sehr ehrenhaft und ein Freund von William Johnson. Er wurde vor etwa zwei Jahren ermordet. Miss Berg war nicht nur zur selben Zeit am selben Ort, sie war seine Begleitung an dem Abend.“

Seine Begleitung. Irgendwie störte es mich, obwohl es zwei Jahre zurück lag und Smith nun tot war. Doch warum hätte sie etwas damit zu tun haben sollen? „Wie ist er ums Leben gekommen?“

„Er wurde vergiftet.“ Gift... Würde zu einer Frau passen. Hatte Selena daher so auf die Behauptung von Gist reagiert als er fragte, ob sie mich vergiften wollte? Dann fiel mir etwas ein. Vor ein paar Jahren hatte ich einen Brief in die Hände bekommen. Der Absender hieß Arthur Smith und wohnte in Boston. Dieser Smith hatte mit dem Orden zu tun. Das konnte nun kein Zufall mehr sein.

„Kannten sie sich gut?“ Auch wenn es nun keine Rolle mehr spielte, wollte ich so viel wie möglich über ihre Vergangenheit erfahren. Sie selbst würde es mir sicher nicht erzählen, selbst wenn ich sie fragte.

„Ich glaube schon. Sie waren immerhin gemeinsam auf diesem Empfang und ich glaube sie hat des öfteren das Fort besucht, in dem er stationiert war.“ Dann musste er einer von den dreien gewesen sein. Wer waren die anderen Beiden? Gehörte der junge Finnegan mit dazu? Diese Frage würde Gist mir nicht beantworten können und so ließ ich das Thema vorerst fallen.

Obwohl ich in der Nacht nicht viel Schlaf bekommen hatte und entsprechend müde war, ging ich erst nach Anbruch der Dunkelheit nach unten. Wie nicht anders zu erwarten schlief Selena schon. Besser ich ließ sie in Frieden.

Als ich mich auszog fiel mir der Verband wieder ein. Er hatte sich verfärbt. Da er über dem Hemd war konnte ich es nun nicht ausziehen und sicher würde ich alleine keinen guten Ersatz hin bekommen. Mit einem tiefen Seufzer ging ich zu ihr rüber und hockte mich vor die Bank.

„Miss Berg?“ vorsichtig rüttelte ich an ihrer Schulter, doch sie murrte nur und zog die Decke höher. „Selena?“ versuchte ich es noch einmal und sie blinzelte.

„Was ist los?“ fragte sie verschlafen und es tat mir leid, sie geweckt zu haben. Sicher konnte sie eben so gut Schlaf gebrauchen wie ich.

„Tut mir leid, euch zu wecken. Hätte ich gewusst, dass ihr schon...“ Was hatte ich erwartet? Das sie auf mich wartete? Hätte ich am Mittag einfach das Hemd ausgezogen, hätte sie nun weiter schlafen können. Ich hatte sie in dem Moment nur nicht noch einmal darum bitten wollen. „Könntet ihr den Verband erneuern?“ Wenn sie nun ablehnte, musste ich sehen wie ich es alleine hin bekam, doch sie richtete sich auf und strich ihre Haare aus dem Gesicht.

„Sicher.“ Sie klang so müde, dass es mir wirklich leid tat, sie geweckt zu haben. Als sie die Decke zur Seite schob stand ich rasch auf. Besser ich ließ ihr so viel Freiraum wie möglich. Nicht, dass sie sich bedrängt fühlte. Sie griff nach ihrer Jacke, die sie überzog und nahm ihren Rucksack. Wortlos deutete sie zum Tisch und ich folgte der Aufforderung.

Das frische Verbandsmaterial und die kleine Flasche, in der sie etwas zum Reinigen hatte und das enorm brannte, legte sie neben mir auf die Tischplatte und ich lehnte mich etwas an. Sicher würde sie die Wunde wieder mit dem Zeug abtupfen.

Vorsichtig löste sie den Verband und legte ihn zur Seite. „Zieht das Hemd aus“, sagte sie ohne mich anzusehen und ich zögerte. Der Ton, den sie angeschlagen hatte, ähnelte einem Befehl. Da ich mich nicht rührte, sah sie mich an und ihr wurde wohl klar, was mich irritiert hatte. „Ich meine...“

Doch sie musste den Satz nicht beenden. Natürlich musste ich das Hemd ausziehen. Das hatte ich eh vor gehabt, nur diese direkte Art von ihr und dieser Unterton... Fast so wie vor einigen Wochen bei den Finnegans.

Ohne sie anzusehen zog ich mir das Hemd über den Kopf und mir stieg dabei etwas in die Nase, das mir nun doch unangenehm war. Das Hemd stank. Ich selber konnte nicht viel besser riechen und ich wusste, wie sehr sie es gehasst hatte, wenn ich angefangen hatte nach Schweiß zu riechen.

Glücklicherweise sagte sie nichts dazu, obwohl ich ihr ansah, dass sie es bemerkt hatte. Schweigend wischte sie die Haut um die Wunde herum sauber und tupfte sehr vorsichtig die Wundränder ab. Dann verband sie die Stelle neu. Ihre Bewegungen wurden immer langsamer. Mir kam es so vor, als würde sie dagegen ankämpfen etwas zu sagen und als sie fertig war, schloss sie einen Moment die Augen.

Als sie sie wieder öffnete, zuckte sie zurück. Es sah so aus als hätte sie gerade ein Gespenst gesehen oder aber, dass ihr aufgefallen war, etwas falsch gemacht zu haben. „Was ist los?“ fragte ich, denn ich verstand die Reaktion nicht. Vorsichtig tastete ich den Verband ab, doch da schien alles in Ordnung zu sein. „Selena?“

Sie starrte mich an, Fassungslosigkeit im Blick. Kurz wischte sie sich über die Augen und starrte mich erneut an. Irgend etwas stimmte nicht. Ich trat einen Schritt auf sie zu, doch sie wich zurück. „Stimmt etwas nicht?“

„Nein, ich...“ Wieder wischte sie sich über die Augen, „Ich sollte mich wohl wieder hinlegen. Schlafen. Ich... fange an zu halluzinieren.“ Sie wandte sich ab und kehrte langsam zur Bank zurück, wobei sie den alten Verband zusammenknüllte. Konnte es sein, dass sie gerade unbewusst das getan hatte, was ich als Adlerauge kannte? Das war nicht möglich. Ihre Reaktion deutete darauf hin, aber so etwas passierte nicht ohne guten Grund. Es musste einen Auslöser dafür geben und den konnte sie nun nicht gehabt haben, es sei denn...

„Ihr traut mir nicht. Ist es das?“ Ich griff nach meinem Hemd und sah sie an. Wenn sie mir nicht traute, und zugegeben, derzeit war ich nicht sehr vertrauenswürdig, da ich sie angegriffen hatte und sie überwachen sollte, konnte es sein, dass sie mich genau so wahrgenommen hatte. Als einen Feind. Das plötzliche Auftauchen einer rötlichen Aura musste erschreckend sein, wenn man nicht wusste, was es zu bedeuten hatte. Ich musste sicher gehen. „Was habt ihr gesehen, dass euch solche Angst macht?“ Denn sie hatte Angst.

Sie sah sich in der Kajüte um, als suchte sie nach einem Ausweg. „Bitte, ich bin müde. Da passiert so etwas schon einmal“, wich sie aus. Also war es nicht das erste Mal, dass es vorgekommen war. Da ich sie weiterhin fragend ansah, setzte sie noch hinzu: „Ich möchte nicht, dass ihr mich für verrückt haltet.“

Dann hatte sie keine Ahnung, von dem was gerade mit ihr passiert war. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte mich wieder an den Tisch. „Ihr seid seltsam. Das war mir vom ersten Moment an klar, doch für verrückt halte ich euch nicht.“ Kurz konzentrierte ich mich auf sie und ihre Aura trat hervor. Noch immer war sie instabil, schwankte zwischen rot und blau, wechselte ins weißliche und wanderte wieder zu blau.

„Ab und an kommt es mir so vor, als würde ich Dinge klarer sehen. Es ist schwer in Worte zu fassen, aber... Es macht mich etwas nervös.“ Also doch. Sie hatte die Begabung, konnte sie aber nicht gezielt einsetzen. Im Normalfall müsste ich nun meinen Mentor benachrichtigen, doch ich war kein Assassine mehr und ich hatte keinen Mentor.

„Manche Gegenstände werden hervorgehoben“, begann ich und ließ sie nicht aus den Augen. „Menschen und Tiere sind von einem leichten Schimmer umgeben und ihr seht Dinge, als würdet ihr durch eine Wand sehen.“ So in etwa konnte man es beschreiben.

Einen Moment lang starrte sie mich nur an, dann nickte sie zögernd. Was nun? Es konnte Zufall sein, doch wie Gist und Monro gesagt hatten, gab es einfach zu viele Zufälle in ihrer Umgebung. „Seit wann habt ihr diese...“ Wie sollte ich es nennen? Gabe? Denn genau das war es.

„Es fing hier an.“ Sie sah zu Boden, als wäre es an genau der Stelle passiert, wo sie nun stand. „Kurz nach dem...“ Sie brach ab und ich beendete den Satz in Gedanken. Kurz nach dem ich einen Menschen getötet hatte.

Wie sollte ich nun mit ihr umgehen? Nicht jeder war in der Lage, diese Gabe zu nutzen und bei ihr war es ohne vorheriges Training aufgetreten. Sollte ich sie unterweisen? Ein solches Talent musste genutzt werden. Es konnte auch für sie wertvoll sein. Leider hatte die Sache einen Haken. Sie wäre in der Lage, mich zu durchschauen.

Ich musste in Ruhe darüber nachdenken. Das Für und Wieder gegeneinander abwägen und ich musste mir wirklich sicher sein, dass sie die Gabe besaß. Doch nicht mehr heute. Es war einfach zu viel passiert, als das ich mich auch noch damit beschäftigen wollte. So ging ich zur Kommode rüber, um mir einen Schlummertrunk zu genehmigen. Den konnte ich nun wirklich gebrauchen und er würde ein wenig den Schmerz in meinem Arm betäuben.

Als ich die Klappe öffnete, stand eine einzelne Flasche dort wo am Abend zuvor noch acht gewesen waren. Was sollte das nun wieder? „Selena?“ Ich nahm die Flasche heraus und versuchte gegen den Drang anzukämpfen sie zu zerschlagen und mit dem Stumpf auf sie los zu gehen. „Wo ist der Rum?“

„Ich habe es nur gut gemeint“, kam es kleinlaut von ihr, doch das war keine Antwort auf meine Frage. Sie hatte nicht das Recht dazu, mir meinen Alkohol weg zu nehmen. Sie war nicht meine Mutter oder irgend jemand, dem ich unterstand. Es verhielt sich genau anders herum.

„Wo - ist - er?“ ob ich trank oder nicht, war ganz allein meine Entscheidung und ich ließ mir da nicht rein reden. Sie hatte ja keine Ahnung, was ich durchgemacht hatte. Sie konnte das nicht nachvollziehen. Ich brauchte den Rum, um schlafen zu können.

Sie ging zu der Kommode in der ich meine Kleider hatte und holte hinter den Hemden einen Schlüssel hervor. Darum hatte sie sich also gekümmert, als ich sie dort hatte sitzen sehen. Von wegen aufräumen. Sie hatte die Flaschen weggeschlossen und den Schlüssel versteckt. Eine Flasche hatte sie mir gelassen. Immerhin etwas, doch warum mischte sie sich auf so eine Weise in mein Leben ein?

Sie drehte den Schlüssel in ihren Fingern und sah elend aus. Natürlich merkte sie, dass ich wütend war und das war etwas, das sie wohl nicht gewollt hatte. „Ihr müsst das verstehen“, sagte sie leise. „So wie letzte Nacht, wollte ich euch nicht noch einmal erleben.“

Das war hart und sie hätte nicht deutlicher sagen können, wie wenig Kontrolle ich über mich hatte, wenn ich getrunken hatte. Natürlich hatte der Rum eine große Rolle dabei gespielt, doch nicht nur. Einen Moment lang sahen wir einander nur an und sie wirkte als rechnete sie damit, ich würde sie erneut schlagen. Ich hatte große Lust es zu tun, doch das hätte ich nicht auf den Rum schieben können. Sie wollte nicht, dass ich mich noch einmal betrank und ihr dann weh tat. Ich wollte es auch nicht. Langsam stellte ich die Flasche zurück und ging zur Koje. Das würde eine lange Nacht werden.

Nur wenige Stunden nach dem ich eingeschlafen war, weckte mich einer meiner Träume. Verdammt. Schon wieder eine kurze Nacht mit zu wenig Schlaf. Es wäre ein leichtes aufzustehen und mir doch einen Schluck oder zwei zu genehmigen. Selena schlief, soweit ich das beurteilen konnte. Sie würde es nicht bemerken, doch wer garantierte mir, dass ich mich nicht wieder daneben benahm?

So setzte ich mich auf und lehnte mich an die Wand. Draußen war es noch dunkel und ich hörte nur leises Plätschern von Wellen. Wieso nur kamen diese Träume immer wieder? Lag es daran, dass ich mich noch immer schuldig fühlte oder war es meine Strafe für das, was ich getan hatte? Wann würde es endlich nachlassen?

Eine ganze Weile starrte ich nur an die Decke und versuchte meinen Kopf leer zu bekommen. Es dauerte bis ich das Geräusch von der Bank realisierte. Selenas Schlaf wurde unruhig, bis sie aufschreckte. Ich sah nicht zu ihr rüber. Also schlief auch sie schlecht. Erst als ich hörte, wie sie ihren Platz verließ, sah ich zu ihr. Sie hatte sich die Decke um die Schultern gelegt und ging zur Kommode, holte die Rumflasche heraus und kam zu mir.

Wortlos ließ sie sich auf der Bettkante nieder und hielt mir die Flasche hin. „Wolltet ihr mich nicht davon fern halten?“ Versteh einer die Frauen. Erst machte sie so ein Theater deswegen und nun wollte sie, dass ich doch trank?

„Schon.“ Sie sah auf, vermied es aber, mir direkt in die Augen zu sehen. „Aber ich möchte nicht, dass ihr um euren Schlaf kommt. Wenn das hier die einzige Möglichkeit ist, euch vor euren Träumen zu schützen, muss es wohl sein.“

„Warum liegt euch so viel daran?“ Langsam verstand ich wirklich nichts mehr. Ich war alles andere als freundlich zu ihr gewesen und sie versuchte noch immer dafür zu sorgen, dass es mir gut ging.

„Ich sehe es nicht gerne, wenn jemand leidet. Und ihr leidet im Moment, da ihr nicht schlafen könnt.“ Das klang logisch. Da sie mir noch immer die Flasche hin hielt, nahm ich sie entgegen, trank aber nicht.

„Ihr schlaft ebenfalls schlecht.“ Sie konnte sicher genau so gut einen Schluck vertragen wie ich, nur dass sie keinen Alkohol anfasste.

„Nicht nur ihr habt einiges erlebt. In den letzten Jahren habe ich so manches Mal dem Tod ins Auge gesehen. Das verfolgt mich. Doch ich glaube, dass ihr weit aus Schlimmeres durchgemacht habt, als ich.“ Ihr Blick glitt über meinen nackten Oberkörper und ich spürte förmlich wie er die Narben entlang wanderte. „Es muss schrecklich gewesen sein“, sagte sie leise und in mir krampfte es sich zusammen. Es klang so, als wüsste sie, woher ich diese Narben hatte. Dabei hatte ich nichts erzählt. Wie konnte sie also irgend etwas wissen?

Als sie mir nun in die Augen sah, wirkte sie traurig und wandte sich rasch ab. „Ihr redet im Schlaf.“ beantwortete sie die unausgesprochene Frage. Vielleicht hatte sie es mir angesehen, oder aber sie wollte der Frage zuvor kommen. „Nicht oft, aber als ihr krank ward habt ihr im Fieber vor euch hin gemurmelt. Ich kann nur ahnen, was ihr wirklich erlebt habt.“

„Wie viel wisst ihr?“ Denn wenn es stimmte, was sie sagte, dann konnte ich alles Mögliche erzählt haben. Und ich erinnerte mich nicht daran. Es war möglich, dass sie alles wusste. Von Lissabon, meinem Verrat, der Bruderschaft...

„Genug, um den Rum zu verstehen.“ sie sah wieder auf, doch ich wich ihrem Blick aus. „Nicht genug, um euch verstehen zu können. Es ist unangenehm und auch schmerzhaft sich zu erinnern oder über das zu sprechen, was man erlebt hat, aber es tut gut sich jemandem anzuvertrauen.“

Möglich, dass es stimmte, doch ich konnte nicht darüber reden. Nicht mit ihr. Sie wusste schon viel zu viel. Auch als sie aufstand hob ich den Blick nicht. „Denkt darüber nach. Auch darüber, ob ihr mir wirklich vertraut. Wenn ihr eine Entscheidung getroffen habt, lasst es mich wissen. Gute Nacht.“

Mit leisen Schritten kehrte sie zu ihrer Bank zurück und legte sich hin. Eine ganze Weile saß ich noch da und starrte auf die Flasche in meiner Hand. Dann stellte ich sie auf den Boden und zog die Decke hoch. Vertraute ich ihr? Konnte ich ihr wirklich vertrauen? Sie bot mir immer wieder an, ihr alles zu erzählen und wenn ich ehrlich war, ich würde schon gerne einmal wirklich darüber reden. Nur wollte ich nicht, dass sie mich für das verachtete, was ich getan hatte.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück