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Wünschenswert, Teil 1: Perfektion

Autor:  june-flower
Oft versucht, nie erreicht: Perfektion des Menschen. Perfektion in Anblick, Verhalten, Geist. In Charakter und Wort.

Beginnen tut es mit dem perfekten Körper. Die richtige Größe, die richtige Figur, der richtige Anblick. Was dem einen gefällt, missfällt dem anderen - also wo Maßstäbe ansetzen? An dem Ideal, welches man täglich in den Nachrichten sieht: Models, Schauspieler, Sportler?
Was falsch ist an sich macht der Spiegel deutlich, wenn man ein anderes Bild im Hinterkopf hat als das, welches man sehen müsste: sich selbst, so wie man dasteht. Dass Spiegel nur die Realität zeigen, neigt der Mensch zu vergessen. Und weil der Mensch oft vergisst, merkt er sich stattdessen andere Dinge - Dinge, die perfekter sind. Wie die Sterne sind Ideale meist zu weit weg, um sie zu erreichen, und wenn man ein Leben lang danach strebt. Der Zwang, der Realität zu entfliehen, äußert sich, wie der Teufel, im Detail.

Das perfekte Verhalten. Was tun? Freundlich sein, und bestimmt, höflich und nachdrücklich zugleich. Hinter sich aufräumen, aber anderen nicht hinterherräumen, Ordnung halten, aber kein Fanatiker sein. Bescheiden sein, aber sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, Strebsam sein, aber kein Streber. Pause machen können, aber nicht faulenzen, sich auf dem Laufenden halten, aber nicht im Strom der Informationsgesellschaft versinken. Individuum sein, jedoch kein Außenseiter. Beliebt, aber nicht gefürchtet, bewundert, nicht gehasst. Beachtet jedoch nicht mit Zuwendung überhäuft. Auf einem Seil balancieren können, einem engen Grat zwischen zwei bodenlosen Abgründen, Abgründen voll mit den leblosen Körpern derer, die es nicht schafften. Dennoch den Mut nicht zu verlieren. An die Zukunft denken, das Jetzt nicht vergessen, lieben und geliebt werden und Menschen helfen. Wollen sie, dass man ihnen hilft? Und wenn nein, woran merkt man das? Wenn ja, ist es gut für sie, es zu tun? Seilakt zwischen zwei Extremen. Undefiniert.

Der perfekte Charakter. Menschen, die etwas erarbeitet haben, den Ruhm gönnen. Menschen, denen etwas in die Wiege gelegt wurde, bewundern, ohne Eifersucht zu verspüren. Sich nicht entmutigen lassen. Hindernisse zu nehmen wissen. Sich selbst verstehen in der sternenlosen, nebligen Nacht des Lebens. Selber arbeiten können, etwas erstreben, wissend, dass es einen Sinn hat. Und die Enttäuschung, die darauf folgt? Mit perfekter Gelassenheit noch einmal versuchen. Wieder scheitern, besser scheitern, eine Spur hinterlassen im Schnee. Egal ob im Neuschnee oder im grauen, zertretenen Matsch der Straße. In Kauf nehmen, von einem vorbeifahrenden Auto durchnässt zu werden, alle wütenden Gedanken verdrängen. Absicht ist keine Absicht Gottes. In sich selbst zur Ruhe kommen, in den Träumen dahintreiben, das Licht der Rettung in sich selbst und in anderen sehen können. Und nicht aufgeben, daran glauben, dass eines Tages jeder Mensch so weit gekommen sein wird, um zu sehen, dass nur ein winziger Schritt fehlt.

Sich fragen: Wie perfekt muss ich noch werden, um perfekt zu sein? Und sich der Antwort gleichzeitig schmerzlich bewusst zu sein: Perfektion existiert nicht im Menschen. Niemals. Nie. Unerreichbar wie eine andere Galaxie zu Fuß. Schmerzlich die Erkenntnis, dass der Mensch fehlbar ist. Und dass es niemals anders sein wird. Verzweifelnd reißen wir unsere Herzen auf, legen sie bloß, legen uns selbst bloß und stehen nackt und fröstelnd vor dem Spiegel. Tränen könnten Schmerzen lindern, aber zum weinen sind wir nicht mehr fähig. Wir möchten perfekt sein, um denen, die wir lieben, keine Last mehr sein zu müssen. Unser Vorhaben ist gescheitert. Das Ticken der Uhr läuft weiter. Wir schliessen die Augen, atmen tief durch und stürzen uns wieder in den Alltag, voll der Fehler, Mühen, Sorgen und Probleme.

Um zu vergessen, dass wir Menschen sind.


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