Abschnitt 4
Autor: lufie
Ihm lag nicht viel daran, mit diesem Irrtum aufzuräumen. Wozu auch. An seinem Status hätte es ohnehin nicht viel geändert. An seiner Beliebtheit schon gar nicht. Dazu hätte er vielleicht ein wenig sportlicher sein müssen. Oder wenigstens ein neueres Handy besitzen müssen. Ein bisschen Sinn für Humor hätte auch nicht geschadet. Die Volkshochschule drei Straßen weiter bot Kurse an. Kurse, um die eigene Sozialkompetenz zu verbessern. Selbstbewusstsein trainieren. An der eigenen Ausstrahlung arbeiten. Besser reden. Besser Kontakte knüpfen. Und so weiter. Er wusste nicht, was seine Mitschüler über ihn dachten. Früher hätte er es gern gewusst. Er hätte sich dreimal um die halbe Welt gedreht, um wenigstens einen Bruchteil davon zu erfahren. Früher hatte er auch ernsthaft darüber nachgedacht, sich eines dieser Handys mit den tausend Funktionen und Spielereien zu kaufen. Seit er Lois kannte, war er froh, dass er es nicht getan hatte. Wenn er es sich recht überlegte, hatte er heute den ganzen Tag über mit niemandem gesprochen. Nicht mit den Lehrern, nicht mit seinen Banknachbarn, mit niemandem. Und er ärgerte sich nicht einmal darüber. Es kümmerte ihn nicht mehr. Seit er Lois kannte, hätte er eigentlich Privatunterricht nehmen können. Zumindest eine Veränderung, die sich eingeschlichen hatte. Vielleicht sogar eine Besserung.
Er kramte nach seinen Schlüsseln, drückte die Gartentür mit der Schulter auf, als er plötzlich stehen blieb. Etwas stand vor der Eingangstür. Etwas Großes, Eckiges, Undefinierbares. Er kniff die Augen zusammen, langsam stieg er die wenigen Stufen nach oben, ohne das Etwas aus dem Blick zu verlieren, den Schlüssel mit der Faust umklammert. Über das Etwas war ein Stück Stoff gespannt. Ein Spannbettlaken. Ein mintgrünes. Jemand hatte es an den Seitenkanten mit einigen Wäscheklammern befestigt, darunter schaute weißes, abgeschabtes Plastik hervor. Von drinnen hörte er es rappeln. Er blieb stehen. Kein Briefumschlag, kein Zettel, keine Nachricht. Wieder rappelte es. Raschelte. Knisterte. So langsam er konnte, fast wie in Zeitlupe, ging er in die Hocke und entfernte vorsichtig eine Wäscheklammer, eine orangefarbene. Noch eine. Noch eine. Dann hob er das Laken ein Stück an. Eine Nase schaute ihn an. Eine weiße Nase mit dichten weißen Barthaaren, die ununterbrochen auf- und ab wackelte, schnüffelte und schnupperte. Dann zwei schwarze Knopfaugen. Weißes flauschiges Fell, schwarze Flecken, wie mit einer halben Kartoffel darauf gedruckt. Große durchscheinende Ohren, von winzigen Äderchen durchzogen. An den Gitterstäben hing doch ein Zettel, mit zwei Streifen Tesafilm befestigt. „Für Mads“ stand darauf.
Er streckte den Finger aus. Die weiße Nase schnupperte daran. „Hallo, Mr. Knibbles“, sagte er. Die Nase schnupperte weiter. Er überlegte, wonach sein Finger riechen könnte. Nach Papier. Nach Schlüssel. Nach Amonniumsulfat aus dem Chemieunterricht vielleicht. Wahrscheinlich aber nach labbrigen Pommes aus der Kantine. Mr. Knibbles biss herzhaft in den Finger. Er mochte wohl Pommes. Es tat kaum weh. Mads entfernte die restlichen Wäscheklammern und nahm das Laken ganz herunter. In der rechten Ecke des Käfigs stand ein Pappkarton. Jemand hatte eine Tür und ein Fenster hineingeschnitten. Um das Fenster waren Fensterläden gemalt. Zwei grüne Wachsmalstiftfensterläden. Ob Lois sie gemalt hatte? Oder eine ihrer Schwestern? Mads setzte sich in den Schneidersitz. Er betrachtete Mr. Knibbles. Mr. Knibbles betrachtete ihn. Mr. Knibbles kratzte sich am Ohr. Mr. Knibbles hoppelte nach links, hoppelte nach rechts. Knabberte an einem Stück Möhre. Mads spürte, wie die Kälte seinen Rücken nach oben zog. „Hm“, sagte er. Mr. Knibbles blickte auf. „Soll ich dir das Haus zeigen?“, fragte Mads. „Wo du schon mal da bist...“ Mr. Knibbles legte den Kopf schief.
Wenig später stand der Käfig mitsamt Mr. Knibbles auf dem Küchentisch. Mit ein wenig Geschick und Kombinatorik konnte Mads noch seinen Teller, seine Tasse und das Nutellaglas darauf unterbringen, aber mehr brauchte er meistens ohnehin nicht. Sein Vater würde den Gedanken nicht gut finden, dass ein Kaninchen auf dem Küchentisch wohnen sollte. Aber sein Vater würde überhaupt den Gedanken, dass ein Kaninchen bei ihnen wohnen sollte, nicht gut finden. Ganz und gar nicht gut. Um nicht zu sagen abgrundtief schlecht. Aber sein Vater würde erst in vier Tagen wieder kommen. Und bis dahin musste Mads nun wenigstens beim Essen nicht mehr den Kühlschrank anstarren. Er konnte sogar mit jemandem gemeinsam essen. Das konnte er zwar auch, wenn er den Fernseher anschaltete, auf irgendeinem Sender gab es immer jemanden, der gerade aß, aber es war nicht dasselbe. Sein Vater würde kein Verständnis dafür haben, das wusste er jetzt schon. Aber vielleicht würde er so viel zu tun haben, dass er vor lauter E-Mails-Gechecke und Smartphone-Gewische vergaß, sich darum zu kümmern, Mr. Knibbles wieder loszuwerden. Das hoffte er. Mit Argumenten würde er nicht sehr weit kommen, und wenn sie noch so stichhaltig waren. Am Ende hatte doch sein Vater das letzte Wort. Aber auch erst in vier Tagen. Mittwoch.
Mads verschränkte die Arme auf dem Tisch, sie passten geradeso neben den Käfig. Mr. Knibbles schaute ihn an aus seinen runden Augen. Er saß ganz still, als warte er auf etwas. Nur sein linkes Ohr drehte sich zuweilen in eine andere Richtung wie der Ausguck eines U-Boots. Mads fragte sich, warum Lois ihn weggegeben hatte. Aus ihren Erzählungen hatte er entnommen, dass sie es gemocht hatte, dieses kleine gefleckte Kaninchen. Sie hatte es zu ihrem zehnten Geburtstag bekommen und seitdem gehütet wie einen Schatz. Diesen Eindruck bestätigten die grünen Wachsmalstiftfensterläden und Mr. Knibbles doch recht beachtlicher Bauchspeck. Woher also dieser Sinneswandel? „Woher“, murmelte er. „Weißt du es?“ Er schaute zu Mr. Knibbles. „Du müsstest sie doch eigentlich besser kennen als ich.“ Er streckte wieder den Finger zwischen den Gitterstäben hindurch und streichelte ihn zwischen den Ohren, dort, wo das Fell am flauschigsten war. Es hatte etwas mit dem Eigentlich zu tun. Mit diesem großen düsteren Eigentlich, hinter dessen Bedeutung er nicht kam. Einfach nicht kam.