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Der Glasgarten

von

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Spiegelglas

~ Spiegelglas ~
 


 


 

Aya schniefte leise und wischte sich mit der Hand über die Augen und Wangen, strich sich die verräterischen Tränen fort.

Er sah zur Tür, sah den Amerikaner gerade eintreten. Ken war herumgefahren und trotz allem Ernst fragte sich Aya, wie Crawford wohl reagieren mochte… wie Ken und Omi reagieren würden, wenn sie ihn sahen… den trauernden Teufel.

„Er“, erwiderte Aya aufschlussreich mit dem Blick auf Crawford. Schuldig war es nicht… Schuldig würde es nie wieder sein.
 

„Oh.“

Omis Hand hatte sich in Rans Kleidung gehakt und er stand immer noch dicht neben Ran, als er an diesem vorbei zur Tür spähte, zum Amerikaner hin, der diese gerade leise schloss.
 

Ken behielt seine kniende Haltung bei, er hatte keine Lust aufzuspringen, nur weil der Leader des anderen Teams herein kam. Er empfand eher eine gewisse Lethargie, als er aufblickte, erkannte wer vor ihm stand und wieder wegblickte um mit der Katze weiter zu spielen.
 

Und Brad… er war zwar überrascht und gleichzeitig wütend über sich selbst, da er sich nicht auf seine Vorhersehung verlassen konnte… nicht wenn sie ihm ständig zeigte, wie Schuldig starb… anstatt ihm zu zeigen, was auf ihn zukam, damit er vorbereitet war.

Aber was sollte er dagegen tun…?

Wieder hatte er trotz der Kälte nur wenig Schützendes an, entledigte sich lediglich seiner Schuhe und ging zur Küche… sich vierpfötiger Verfolgung gewiss…
 

Eigentlich war es eine sechspfötige Verfolgung, denn sobald es sich herausstellte, dass diese unschuldige Katze einem weniger unschuldigen Amerikaner hinterherlief, erhob sich auch Ken und folgte den beiden in die Küche… vielmehr in die Nähe derer, denn ihm war Crawford nicht geheuer, vor allen Dingen JETZT nicht.
 

Aya nickte Crawford bei dessen Eintreten zu und wandte sich zur Kaffeemaschine, vollendete das Ritual, indem er für den Amerikaner Kaffee aufsetzte.
 

Brad spürte beinahe sofort, dass ihm die Anwesenheit der Killer im Auftrag ihrer Majestät… witzelte er selbst in Gedanken an Kritiker, mit hämischem Einschlag, hier nicht recht waren.

Sie hatten kein Recht hier zu sein. Keiner von ihnen, außer Ran.

Das drückte auch sein Blick aus, als er sich eine der Tassen herausnahm und sie mit einem lauten Geräusch, selbst immer noch schweigend, auf die Ablage abstellte.

Es zerstörte ihr Friedensabkommen – Ran und seins.
 

Ran nahm diese Wut wahr… oder auch wieder nicht, denn er konnte und wollte sie nicht umsetzen. Es war ihm egal.

So dauerte es auch etwas, bis er das nun fertig gekochte Wasser in die Tassen goss und sie mit sich in den Wohnraum nahm, wohl innerlich das Bedürfnis verspürte, sie alle an einen Tisch zu setzen… warum auch immer.
 

Omi sah Ran mit einem bedauernden Blick nach, als dieser mit gesenkten Schultern und niedergeschlagenem Blick aus dem Küchenbereich verschwand und Ken ihm folgte. Er konnte sagen, dass Ken Angst vor dem Amerikaner hatte, doch wer hätte das nicht, so wie dieser sie maß, als wären sie… Ungeziefer.

Doch er blieb, denn er brauchte… Antworten. Wie es Nagi ging.
 

Ken half Ran unauffällig und setzte sich erst, als dieser sich auf der Couch niederließ. Erst dann machte er es sich selbst gemütlich, nahm die warme Tasse zu sich und freute sich über diesen kleinen Trost.
 

Brad hingegen schenkte sich seine Tasse Kaffee ein, den Ran ihm in kleinen abgezirkelten Bewegungen arrangiert hatte. Er brauchte sie dringend, denn die letzte Nacht war verstörend und von Albträumen durchsetzt gewesen.
 

Blaue, wachsame Augen beobachteten den Amerikaner bei seiner Tätigkeit und versuchten vorsichtig einzuschätzen, wie weit er wohl gehen konnte, ohne dass der andere Mann ihn umbrachte. Da dieser ja sowieso nichts davon hielt, dass er mit Nagi etwas hatte, waren die Chancen dementsprechend hoch.

Schweigend suchte er im Kühlschrank nach Milch und nahm sich den Zucker aus dem Vorratsschrank, an den er sich noch erinnerte und stellte das Friedensangebot neben Crawford auf die Anrichte.

„Nagi… er…“, begann er, stockte dann jedoch. So kam er nicht weiter. „Wie steht es um ihn… isst er?“ Etwas ungelenk, da er nicht wusste, wie er ein ‚Wie geht es ihm?’ so formulieren sollte, dass es nicht lapidar klang… und das zeigte, dass er sich wirklich um ihn sorgte.
 

Diesen Umstand registrierte auch Brad. Er lehnte sich an die Anrichte und taxierte den Jungen für Momente des Abwägens. Dann kam er zu dem Schluss, dass es sowieso keinen Sinn hatte sich jetzt auf sein Misstrauen zu berufen. Mit einem kleinen Seitenblick zur Sitzgruppe, auf der Ran saß, nahm er den Zucker und gab einen halben Löffel davon in seinen Kaffee.

„Wenig. Zu wenig.“

Vermutlich würde das den anderen nicht zufrieden stellen. Ihm selbst würde das als Antwort nicht ausreichen, wenn man sie ihm so präsentieren würde.

„Ich werde ihn nicht dazu zwingen. Er muss durch diese Zeit durch und… dieses Nichtessen ist ein Zeichen seiner Trauer.“

Ran ging es ebenso, nur war es bei Ran deutlicher zu sehen.
 

Omi akzeptierte das mit einem Nicken, zumindest, dass Nagi sich alleine aus dem Hungern lösen musste. Dass er jedoch alleine aus seiner Trauer herauskam…

„Vielleicht wäre es ihm eine Stütze, wenn er jemanden hätte, der für ihn da ist, wenn er trauert“, stellte er so in den Raum, nüchtern als Vermutung, keinesfalls als Frage, einfach so. Doch er wollte, dass Crawford wusste, dass er ehrlich zu ihm in diesem Punkt und dass er Nagi nicht einfach sich selbst überlassen wollte.
 

„Er ist nicht allein“, war alles was Brad dazu sagte. Er ging zur Fensterfront und blickte hinaus.

„Ich habe eine Frage an dich.“
 

Omi musste die Enttäuschung herunterschlucken, die ihn befallen hatte anhand der Worte des anderen Mannes… doch dessen letzter Satz gab ihm zu denken.

„Was für eine Frage?“
 

„Ich habe diese Frage Ran auch schon gestellt in ähnlicher Form. Seid ihr dafür verantwortlich, dass Schuldig tot ist? Oder um es deutlicher zu machen… ist es für Kritiker angenehmer so?“ Er nahm einen Schluck aus der Tasse, völlig ruhig und konzentriert, blickte hinaus in den Himmel.

„Rein theoretisch betrachtet, war die Verbindung zwischen Schuldig und Ran nicht nur ein kleiner Dorn in Kritikers Auge. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit…?“

Er wandte den Blick leicht nach hinten, aber nur kurz. „Bevor du beginnst, dich darüber aufzuregen, denke lieber in Ruhe darüber nach.“
 

Omi hatte nicht vorgehabt, sich darüber aufzuregen, denn… so schmerzend der Verdacht auch war, so wahrscheinlich war er. Er konnte es nachvollziehen, hätte vermutlich genauso gedacht wie der ältere Mann auch.

Er dachte in der Tat in Ruhe darüber nach und kam zu keinem schlüssigen Ergebnis.

„Manx… hatte damals den Verdacht, dass Schuldig oder generell ihr Ran beeinflusst oder dass er sich in eurer Gefangenschaft befindet - als Ran dich ‚verkauft’ hat. Doch Teil des Handels war ebenso, dass sie Schuldig in Ruhe lassen würden.“

Er schwieg einen Moment. „Ich kann dir nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass sie es nicht geplant haben… ich kann es dir noch nicht einmal mit zehnprozentiger Sicherheit sagen. Wir haben nur mit Manx, Birman und Perser Kontakt und wissen nicht, was sie wirklich planen. Allerdings… schien Manx zufrieden damit zu sein, Ran sicher zu wissen. Sie würde es ihm nicht antun… doch was Kritiker tun, um ihre Feinde auszulöschen, das wissen wir nicht. Nicht auf den ersten Blick.“ Omi schwieg wieder, überlegte, wie er das, was er sagen wollte, in Worte fasste, die unverbindlich, aber ein Versprechen waren.
 

„Ich kann dir garantieren, dass niemand - wirklich niemand - der Ran den Menschen genommen hat, den er geliebt hat, ungestraft davonkommen wird.

Natürlich weiß ich, dass Weiß nur ein kleines Licht ist, nur eine Gruppierung und dass ich nur ein Hacker bin, aber ich bin bereit, meinen Teil zu leisten, damit diejenigen nicht ungestraft davon kommen“, sagte er schließlich.
 

„Der Kreis derer, denen ich vertraue und meine Rache anvertraue,… ist kleiner geworden. Jemand hat uns beschissen und auch wenn du die Wahrheit sagst… ich kann dein Angebot nicht annehmen. Noch jemanden zu verlieren wäre… für das Team die Zerstörung.“

Er setzte nicht ‚für mich’ anstelle von ‚Team’… hätte es aber genauso gut tun können. Auch wenn er wusste, dass er somit etwas offenbarte, was er niemandem sonst zu zeigen pflegte… so war es dennoch Schwäche, die er sich nicht eingestehen wollte, aber musste. Er war entmachtet. Sie hatten ihm das Liebste genommen, das Wertvollste… „…und dafür werden sie büßen“, sagte er ruhig, doch seine Augen brannten, vor Wut und vor Hass.
 

„Ich bin mir sicher, dass sie das werden“, bestätigte Omi und richtete seinen Blick auf Ran, der wie ein Häufchen Elend auf der Couch saß und Ken ansah, der ihn gerade etwas erzählte. Banshee hingegen war bei ihnen, saß neben Crawfords Kaffeetasse und sah den anderen Mann ruhig an.

„Kritiker… hat Schwarz, seitdem Ran bei Schuldig ist… war… gemieden, könnte man sagen. Unsere Aufträge haben sich nicht mehr vorrangig damit beschäftigt, euch zu töten.“
 

„Das was sie uns zeigen und dass was sie uns Glauben machen, ist nicht das, was sie planen und dann in die Tat umsetzen.“ Ihm ging es nicht einmal direkt um Kritiker, zu viele in dieser Stadt und weit von dieser Stadt entfernt trachteten nach ihnen.

„Wir haben einen falschen Auftrag erhalten. Was sagt dir das?“
 

„Dass euch jemand unbedingt tot sehen will und euch auf die Schliche gekommen ist. Ihr seid enttarnt“, erwiderte Omi grimmig. Natürlich konnte es nur das sein… natürlich war es nichts anderes. „Ihr solltet untertauchen, besser heute als morgen… wer weiß, wie viel sie von euch schon wissen.“
 

„Ja, das sollten wir“, pflichtete Brad mit einem hintergründigen Lächeln um die Mundwinkel bei. Dann wäre wohl der Kontakt zwischen dem jungen Takatori und Nagi kein Problem mehr für ihn. Schließlich gäbe es dann keinen Kontakt mehr.

Keine Gefahr mehr für Nagi, derer der Junge ausgesetzt war. Somit konnte er nicht Gefahr laufen, nicht noch jemanden sofort zu verlieren. Sie würden sich eine Zeit lang still verhalten, vielleicht sogar… würde er Nagi aus diesem Job heraushalten, so wie er es in letzter Zeit mit Jei begonnen hatte, damit sie… normaler wurden.
 

„Die Frage ist dann nur, was mit Ran geschieht… ihr seid die einzige Verbindung, die er zu Schuldig noch hat, in verquerer Weise. Aber das liegt sicherlich nicht in deinem Interesse, nicht wahr?“, fragte Omi ruhig, völlig ohne Vorwurf. Es war nun einmal so, warum sollte er es verschweigen, wenn man es so deutlich sah?

Ran hasste Crawford, doch nun tolerierte er ihn mit einem Nicken, nun kochte er für ihn Kaffee… was gab es Deutlicheres?
 

Brad überdachte diesen Einwand eine Zeit lang, nippte dann an seiner Tasse.

„Du kannst doch nicht wirklich glauben, dass er sich an mich hängt, nur weil ich die Verbindung zu … Schuldig war… denn Schuldig ist nicht mehr, also gibt es auch keine Verbindung mehr. Es wäre… nur mehr Schmerz. Besser ist es… zu verschwinden.“
 

„Da kennst du Ran schlecht, wenn er trauert“, sagte Omi mit einem Blick aus dem Fenster. „Wenn er schon soweit geht und dich… akzeptiert, dann wird er auch noch weitergehen. Er war schon immer ein extremer Mensch. Aber wie sich das entwickelt, das kann ich dir auch nicht genau sagen.“
 

„Ich denke, ich weiß, was zu tun ist“, sagte Brad plötzlich und wandte den Blick flüchtig zur Seite auf den neben ihm stehenden. „Wir nehmen ihn mit, wenn wir untertauchen. Wir… assimilieren ihn!“ Ein Scherz, wenn er auch keine Miene verzog, aber das Gespräch war einfach zu absurd.
 

Crawford hatte Erfolg mit dem Witz, denn für einen Moment, nein, eigentlich sehr lange, glaubte Omi ihm das auch noch. Die Augen weit starrte er das Orakel an und hatte die passende Antwort auf den Lippen, dass sie ihnen Ran nicht entführen würden… dann jedoch wurden seine Augen noch weiter und Omi musste tatsächlich über diesen kleinen Witz lächeln. Wie… menschlich von Crawford. Wie… erstaunlich in einer schrecklichen Situation wie dieser.

„Die Frage ist, ob er sich so einfach assimilieren lässt“, mutmaßte Omi und richtete seinen Blick auch auf Aya. Trauer durchzog ihn anhand dessen evidenter Verzweiflung und er wurde etwas ernster. „Und ob er euch dann nicht in den Wahnsinn treibt.“
 

„Das hat er schon. Auf die eine… oder andere Art.“

Brad richtete seinen Blick in den weißen Himmel, an dessen Horizont bereits graue Wolken hingen, die ihnen wohl flockigen Niederschlag bescheren würden.

„Hast du nicht an manchen Tagen daran gedacht, dass alles nicht geschehen wäre… wenn dieser unselige Aufenthalt in diesem Keller gewesen wäre? Wäre Schuldig nicht in dieser Psychiatrie gewesen… hättet ihr ihn nicht für eure Experimentchen auserkoren…“

Er ließ den Satz in der Luft hängen, fühlte sich ebenso, nicht in diesem Raum, sondern wieder je an diesen Ort versetzt.

‚Gib ihn mir’ hatte Schuldig ihm gesagt, nicht im Zorn, sondern ruhig, bestimmt, ohne den üblichen schrägen Humor, ohne das sadistische Glimmen in seinen Augen. „Hatte er gewusst, dass es so kommen würde?“, wisperte Brad leise.
 

Wir?, fragte sich Omi und war für einen Moment versucht, aufzubegehren und zu sagen, dass es Kritiker waren, nicht sie, die ihn auserkoren. Doch was machte das schon? Vor allen Dingen, was brachte es? Sie waren ja schließlich das ausführende Organ gewesen.

Omi dachte für einen Moment nach.

„Nein. Ich bin der Meinung, dass es Schicksal war. Aufgrund von Schuldigs Beharrlichkeit und dem Tod von Ayas Schwester wäre es früher oder später dazu gekommen… die Frage ist jedoch, wie es geendet hätte. Anders vielleicht als jetzt.“

Er betrachtete sich die nachdenkliche Miene des älteren Mannes. „Vielleicht wäre es nur später dazu gekommen, dass sie beiden engere Bekanntschaft miteinander machen, aber sie… schienen einfach zusammengepasst zu haben. Die Topf-Deckel-Theorie.“
 

„Dabei sind sie sich seit Jahren über den Weg gelaufen. Seltsam… ausgerechnet jetzt diese Topf-Deckel-Theorie ins Feld zu führen.“

Brad hielt nicht viel vom Schicksal… obwohl er es eigentlich besser wissen müsste.

Ein bitterer Zug legte sich um seine Mundwinkel. Momentan hatte das Schicksal Spaß daran, ihm wieder und wieder Schuldigs Ableben vor Augen zu führen… in doppelter Sichtweise.
 

„Ja, aber manchmal braucht es einen minimalen Anstoß, damit besagte Theorie wirksam wird. Ein Wort, eine Geste, irgendetwas. Rans Schwester wäre sowieso gestorben, da habe ich keinen Zweifel dran. Was danach gewesen wäre… schwer zu sagen. Und wer weiß, vielleicht hätte sich Schuldig Ran dann während eines Auftrages gegriffen.“ Er zuckte ebenso bitter wie der andere Mann auch mit den Schultern. „Aber eigentlich ist es müßig, darüber zu sprechen, denn… so hoffnungsvoll das Ganze angefangen hat, so hoffnungslos endet es jetzt.“
 

„Gegriffen?“, knurrte Brad beinahe schon belustigt und er drehte sich nach einem Skepsis vortäuschenden Blick um, sich erneut einen Kaffe einschenkend.

Danach öffnete er den Kühlschrank, inspizierte den Inhalt, der unangetastet war. Die Lippen zusammengepresst, fixierten seine Augen die zusammengesunkene Gestalt auf der Couch, deren Magen wohl sehr leer war.
 

„Sage ich doch… so einfach ist das mit Ran nicht, wenn es ihm nicht gut geht.“ Auch Omi hatte den Kühlschrankinhalt erkundet und seine Schlüsse gezogen. Er kannte Ran und er wusste, wie wenig der andere Mann aß, wenn es ihm schlecht ging. Und wenn es sein musste, würde er Ran das Essen mit einem Trichter einflößen, wenn der rothaarige Esel nichts zu sich nehmen wollte. Frustriert wanderte sein Blick zu besagtem Esel zurück.
 

„Ich weiß… wie… einfach unser Findelkind ist“, knurrte Brad verhalten, leise, mehr zu sich selbst. Er wusste nur zu gut wie schwierig Fujimiya war. Der Kühlschrankinhalt war nicht sonderlich aufgefüllt, eigentlich reichte es gerade für Reis und vielleicht etwas Obst.

„Er isst zu wenig, und das, was er dann ist, sollte zumindest gehaltvoll sein, wenn schon die Menge nicht hoch ist.“
 

Omi stellte fest, dass Crawford ihn immer mehr überraschte. Gut, er hatte diesen Namen, diesen speziellen, wütend verärgert ausgesprochen, doch dass er Ran überhaupt so nannte.

Findelkind.

Das klang… liebevoll.

Omi fragte sich allen Ernstes, wie die Beziehung zwischen den beiden Männern aussah, konnte er sich doch nicht vorstellen, dass sich Crawford und Ran annähern würden. Nicht, nachdem Ran den anderen Mann so hasste.

Dass der Amerikaner sich noch zusätzlich darum sorgte, was Ran aß, setzte dem Ganzen die Krone auf.

„Wenn du ihm etwas kochst, wird er es sicherlich essen“, sagte Omi hilfreich.
 

Brad lehnte sich an die Ablage und zog seinen Kaffee zu sich, nahm einen Schluck und hob ironisch die Brauen. „Hat dir deine neugierige Nase, die so vorwitzig den Kühlschrank mitinspizierte, nicht erkannt, dass es außer Reis in diesem Haushalt nicht viel zu kochen gibt?“

Er nickte zur Sitzgruppe hinüber und maß das sanfte, und doch so schalkhafte Gesicht des anderen. „Er hat heute nicht eingekauft, wie ich es ihm aufgetragen habe.“
 

„Kein Wunder, dass er nicht eingekauft hat, wenn du es ihm aufträgst. Dafür ist er einfach nicht der Typ“, erwiderte Omi trocken. „Aber sag mir, was du ihm kochen willst und ich besorge es.“ Kaum zu glauben, dass er einmal mit Crawford gemeinsame Sache machen würde, kaum zu glauben, dass sie sich einmal gegenüberstehen und sich einig sein würden.

Wenn der Anlass nicht so verzweifelt sein würde, hätte es Omi fasziniert.
 

„Scheinbar kennst du ihn da schlecht“, murmelte Brad leise, zu Ran blickend. „Momentan folgt er meinen Ratschlägen, was mir die Sache erleichtert.“

Er öffnete, die Tasse noch in der Hand, einige der Schränke. Das hieß, morgen stand ein Großeinkauf im Raum. „Das wird heute nichts.“

Ihm kam eine Idee und er zog sein Mobiltelefon aus seiner Gesäßtasche, rief eines der besseren Restaurants in der Nähe an, bestellte ein kleines Arrangement verschiedener Speisen und eröffnete der Frau am Ende der Leitung, dass er alles in einer halben Stunde abholen kommen würde.

„Kannst du das erledigen?“, fragte er. „Wie lange seid ihr schon hier? Hat er geduscht?“ Nach den Haaren zu urteilen wohl nicht. Also würde er sich darum kümmern, sofern es ihm gelang. „Nimm deinen Freund mit, dann fällt es dem Rotfuchs leichter, sich meinem Ratschlag zu ergeben“, drückte er sich ironisch aus und zeigte somit, dass er nur Gutes im Sinn hatte, das aber selbst vom dem anderen verkannt wurde.
 

Findelkind…

Rotfuchs…

Wie viele Namen hatte der Amerikaner noch für Ran?, fragte sich Omi nachdenklich, bevor er sich Crawfords Worte durch den Kopf gehen ließ. Er beschloss, jetzt noch nicht darüber nachzudenken und nickte verschlagen, bevor er nach Ken rief.

„Wir haben einen Auftrag, komm“, sagte er in allerbester Planermanier und lächelte Ran sanft an, der ihn mit verwirrtem Blick maß. Wenn Crawford schon seine soziale Ader entdeckte… vermutlich, um das Findelkind, das ihm Schuldig dagelassen hatte, zu behüten, dann würde er die beiden jetzt auch alleine lassen… in der Hoffnung, dass es Ran danach etwas besser ging.
 

Brad nannte dem kleinen Blonden die Adresse.

Nachdem die beiden die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatten, begann Brad den Tisch zu decken, kam zwischen seinen Tätigkeiten kurz zu der Gestalt auf der Couch.

„Ich… kann es verstehen, Ran, wenn du keine Lust hast dich aufzuraffen… dennoch, sie machen sich Sorgen um dich, dein unaufgeräumter Aufzug macht sie hilflos.“ Er kannte das nur zu genüge. „Nagi hat mich mit den gleichen Augen vor einigen Tagen angesehen, bis Jei mir in seiner erfrischend offenen Art gesagt hatte, dass ich wie einer stinken würde, den man in Alkohol eingelegt und auf der Straße liegen gelassen hätte.“ Er verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. „Soweit ist es bei dir nicht, keine Sorge“, räumte er ein.
 

Aya sah dumpf hoch und blinzelte langsam. Er war gerade wie so oft in der letzten Zeit in seine eigenen Gedanken versunken und musste sich nun wieder auf die Worte des anderen Mannes konzentrieren, die ihm so fern schienen.

„Geht ja auch schlecht, wenn ich nichts trinke“, erwiderte er schließlich, in dem Versuch, einen Witz zu machen, doch er scheiterte daran.

„Sie sind überraschend vorbeigekommen“, sagte Aya, als würde das seinen Aufzug erklären und die Tatsache, dass er sie verängstigte.
 

„Ich denke“, Brad wandte sich wieder der Küche zu, gab somit dem anderen die Möglichkeit vielleicht den Gedanken zu erwägen ins Badezimmer zu streunen. „…in dieser Zeit… kämen sie immer überraschend.“

Er verstand das Bedürfnis nach dem Alleinsein und dann wieder … brauchte er dringend Nagi oder Jei um sich. Es waren seltene Momente.
 

Aya lehnte sich zurück und starrte den anderen Mann nachdenklich an. Ja, das kämen sie, doch er wollte nichts ändern. Anscheinend hatte er sich wirklich schon aufgegeben, hatte den Willen verloren, irgendetwas zu tun.

„Du hast noch soviel Kraft“, sagte er mit einem schmerzlichen Lächeln.
 

Brad erwiderte diesen Blick sehr lange.

Was sollte er sagen? Dass es Ran war, der Brads inneren Schmerz und seine Trauer spiegelte? Dass Brad es selbst nicht konnte? Dass Ran Brads innerer Spiegel war?

„Ich weiß, wofür ich diese Kraft brauche“, nämlich um mich um dich zu kümmern, das hatte Schuldig gewusst, deshalb hatte er ihm auch diesen Wunsch veräußert.
 

„Du hast ein Ziel vor Augen… beneidenswert“, sagte Aya wie zu sich selbst… doch gerade so laut, dass Crawford es auch mitbekam. Er selbst hatte keines mehr… was denn auch für eins? Zu überleben, damit er sehen konnte, wie alle anderen ihm vor der Nase wegstarben?
 

„Ja, und das ist keine poetische Metapher“, weit weniger ruhig, sondern mit einer gewissen Schärfe.

„Du hast Zeit, bis die beiden mit dem Essen da sind, ansonsten müssen wir wohl wieder das kleine Spiel mit der Dusche oder der Badewanne vollziehen.“ Brad wandte sich nun vollends ab, verlor eben dieses Ziel aus den Augen.

„Schuldig liebte dich, geh also etwas sorgfältiger mit dir selbst um.“ Er stapfte in die Küche, innerlich aufgewühlt und machte sich – den Kopf voller Gedanken weiter auf, den Tisch zu decken.
 

War es Aya noch egal gewesen, dass Crawford ihn begleiten wollte, so rüttelten ihn dessen letzte Worte mehr auf, als es jede Drohung gekonnt hätte. Beschmutzte er wirklich Schuldigs Andenken? War es das? Sollte er sich also besser um sich kümmern?

Es dauerte seine Zeit, doch schließlich erhob sich Aya schweigend und ging ins Bad. Schuldig zuliebe würde er sich also aufraffen, jeden Tag wieder, sich hochschleppen und Dinge tun, die er nicht tun wollte - aber wer wusste schon, vielleicht kam dann irgendwann wieder Normalität in sein Leben?
 

Er schloss die Tür hinter sich und ging mit traumwandlerischer Sicherheit zur Badewanne. Er ließ Wasser einlaufen und gab den Badezusatz hinzu, den sie am letzten Abend verwandt hatten.

Schwaden stiegen schließlich aus dem heißen Wasser auf, als er sich der Kleidung entledigte und in die Wanne stieg. Es schmerzte, ja, doch das war gut. Es übertünchte das Drücken auf seiner Seele, diesen Schmerz, den er nicht loswerden konnte, für einen Augenblick.

Aya schloss die Augen und tauchte unter… hinein in die stille Welt des Wassers und der Einsamkeit.
 

Während der Zeit, die Ran im Bad verbrachte, ließ Brad wie schon die Tage zuvor frische Luft durch einige der Fenster in die Wohnung, schloss sie wieder und setzte sich mit leiser angenehmer Musik auf die Couch, fand sich beinahe sofort mit der Aufmerksamkeit der Katze bedacht.
 

Es dauerte lange, bis Aya die Kraft fand, sich aus der Wanne zu hieven und den Rest der morgendlichen Runde zu absolvieren… wie einstudiert rasierte er sich schließlich, kämmte und fönte er seine Haare, putzte die Zähne… alles weit weg.

Seine Haut war rot vom heißen Wasser, als er auf der Bank saß, nackt, seine langen Haare offen und um sich herum fliegend. Eine Strähne hatte er in der Hand und starrte sie gedankenverloren an. Er erinnerte sich an den Handel und an seinen Frust, dass er sich die Haare nicht schneiden durfte. Was gäbe er jetzt darum, dass Schuldig ihm noch so einen verrückten Handel aufschwatzte?

Alles?
 

Der Fön verstummte nach einiger Zeit und Brad erwartete die beiden Weiß Mitglieder bald schon zurück. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass kleine zarte Flöckchen vom Himmel segelten, fast schon wie Fussel, oder Daunenflöckchen. Er erhob sich mit einem lautlosen Seufzen und streifte in den hinteren Teil der Wohnung, besah sich das Bücherregal, streifte mit den Fingern über einige der Buchrücken – Themen, die typisch Schuldig waren.

Er ließ seinen Blick zum Bett gleiten.

Auf selbigem lagen zwei Bademäntel und aus einem inneren Impuls heraus nahm er beide an sich und ging in Richtung Badezimmer. Er klopfte an.
 

Nichts antwortete ihm in die Stille hinein, da Aya es noch nicht einmal wahrnahm, was um ihn herum passierte. Seine Gedanken waren in die Vergangenheit abgedriftet, bis zu den Anfängen in diesem Bad. Er konnte die Erinnerungen schon beinahe fühlen… die Szenen sehen, die sich hier abgespielt hatten. Schöne, schreckliche, verzweifelte… sanfte, leidenschaftliche, alles zusammen.
 

Und in diese Szenerie hinein öffnete Brad die Tür, fand sich in einiger schrittweiter Entfernung dem Mann gegenüber, dessen Haarflut sein Gesicht verdeckte und keinen Einblick bot. Auch wenn Fujimiya es nicht hören wollte und manches Mal auch nicht auf sich herab beschwor, im Kampf zum Beispiel, aber jetzt, jetzt sah er verletzlich und schutzlos aus. Und jetzt war es nicht die ergebene Haltung, die halbe Bewusstlosigkeit, die diesen Eindruck erweckte.
 

Brad lehnte die Tür nur an und kam näher, legte einen der Bademäntel über die Schulter des Mannes. Den anderen legte er neben Ran auf die Bank. „Sie werden gleich hier sein.“

Mehr sagte er nicht, es hatte keinen Zweck, den anderen zu drängen, ebenso hatte es keinen Zweck, ihn in seinen Erinnerungen stören zu wollen.
 

Sie…?, fragte sich Aya für einen Augenblick, noch in den Erinnerungen an die unsäglichen fünf Tage gefangen, die er hier verbracht hatte… zum Urlaub machen. Doch dann begriff er, dass er der Vergangenheit nachgehangen hatte und nickte leicht. Sein Team. Omi und Ken.

Seine Hände befühlten den weichen Stoff des Bademantels und seine Arme wanden sich schließlich in die Ärmel. Alles ungelenk und starr, nicht wirklich koordiniert.

Er hüllte sich in den Stoff und zog den Gürtel fest um seine Mitte.

„Warum sind sie überhaupt gegangen?“, fragte er mit einem Stirnrunzeln.
 

Brad hatte sich bereits zum Gehen gewandt. „Unschwer zu erraten, meinst du nicht? Ich sagte doch, du machst ihnen Sorgen.“ Damit war er auch schon aus der Tür.
 

Was seine Frage nicht im Geringsten beantwortete, befand der rothaarige Japaner für sich und stemmte sich hoch. Er legte die schmutzigen Sachen in den Wäschekorb und streunte schließlich zum Kleiderschrank, suchte sich neue, bequeme Kleidung heraus, die allesamt Schuldig gehörte und nach ihm roch. Er wollte nicht loslassen… noch nicht. Er konnte es nicht.

Aya sah sich um und steuerte schließlich den anderen Mann an, der von einer kleinen, penetranten Dame verfolgt wurde.

„Wenn ihr... das Haus auflöst und wegzieht, würdest du dann Banshee mitnehmen?“, fragte Aya.
 

„Nein“, kam sofort, ohne Widerrede. Fast schon Zorn glimmte in den hellbraunen Iriden, als er diese Worte hörte.
 

Ein Nicken antwortete Crawford, als Aya sich umdrehte, den Sinn dieses Neins erst später verwirklichte und sich auf die Fensterbank setzte. Er hatte gefragt, damit Banshee nicht Gefahr lief zu verhungern, wenn es gar nicht mehr ging, wenn er nicht mehr konnte, doch nun musste er sich um sie kümmern. Wenn er sich schon nicht mehr um sich selbst kümmern konnte, dann um die Kleine. Um ihr Kind, wie sich Crawford einmal ausgedrückt hatte.

Dieses Kind hatte er weggeben wollen, doch nur, weil er sich sorgte, nicht, weil er auch noch den letzten Teil von Schuldig aus seinem Leben löschen wollte.
 

Wenig später läutete es und Brad öffnete die Tür, nachdem er sich versichert hatte, wer dort auf Einlass begehrte.

Ken war vollbepackt mit Tüten und kleinen Boxen, manövrierte seine Last sofort in die Küche.
 

Der Geruch von Essen drängte sich Aya auf, selbst dort, wo er saß: weit entfernt von den Wiedergekommenen. Jetzt wusste er, was Crawford geplant hatte, war jedoch nicht im Mindesten überzeugt davon.
 

Ganz im Gegensatz zu Omi, der mit berechnend funkelnden Augen das Essen auf den Tresen stellte. Crawford hatte genug bestellt und es roch einfach fantastisch. Zumindest sein Magen knurrte verlangend bei dem Gedanken daran, wie es allerdings mit Rans aussah…

Doch sie waren zu dritt. Sie würden den anderen Mann schon überzeugen, dass er aß.
 

Brad ging es ähnlich wie Ran, aber der Geruch des Essens spornte ihn zumindest etwas an und sein Magen knurrte verhalten. Er hatte heute auch noch nichts gegessen und da er vermutet hatte, dass Ran auch noch nichts gegessen hatte, wollte er sich selbst mit Hilfe von Ran dazu überreden zu essen. Sie packten alles schweigend aus und verteilten es auf den Tresen.

Als alles soweit war und Ken noch Getränke organisierte… „Wer holt ihn?“, fragte er in ihre kleine Runde leise hinein. Das war kein leichter Job…
 

„Ich sehe, was meine blauen Augen anrichten können“, erwiderte Omi ergeben und streunte in Richtung Fensterbank. Er ließ sich Ran gegenüber auf den warmen Marmor und betrachtete sich das abgewandte Profil des trauernden Mannes.

„Hey… Ran“, sagte er sanft und violette Iriden schenkten ihm die Aufmerksamkeit, die er verdiente.

„Omi“, lächelte Aya schwach zurück und der blonde Junge nickte anerkennend. Genauso hieß er. Schön, dass Ran das noch erkannte.

„Riechst du das?“, fragte er immer noch, als würde er mit einem kleinen Kind sprechen, das er nicht verängstigen durfte und Aya nickte.

„Riecht gut, oder?“

Wieder nickte Aya.

„Willst du nicht zu uns kommen und etwas essen? Es wird dir sicherlich schmecken.“

Da war es, das altbekannte Kopfschütteln, die erste Weigerung, die sie schon so oft durchlaufen hatten. Dass Ran aber auch nie schlau daraus wurde…

„Hast du keinen Hunger?“, fragte Omi weiter, jetzt, da er Rans Aufmerksamkeit hatte und der rothaarige Japaner nickte. „Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen, Ran?“

Ein gequälter, schmerzender Blick traf Omi und verletzte ihn bis ins Mark. Ja, ich weiß, dass du trauerst, Ran, erwiderte er in Gedanken, sagte jedoch nichts. Ich weiß, dass es dir nicht gut geht, doch du darfst dich nicht aufgeben.

„Wann?“, wiederholte er seine Frage noch einmal.

„Gestern… morgen irgendwann. Ich weiß es nicht.“

„Steh auf, Ran.“

„Omi, ich will nicht“, kam es leise von der gegenüberliegenden Seite, doch der blonde Weiß hatte kein Mitleid… so gar keins.

„Du wirst essen.“

„Nein.“

Ah, jetzt waren sie beim Trotz.

„Ran…ist das dein letztes Wort?“ Omis Ton war zuckersüß und Ran sah sie Warnung, die er enthielt, dennoch nickte er.

„Warum machst du uns alle so traurig, Ran?“, fragte Omi leise und sah mit großen, blauen Augen zu seinem ehemaligen Anführer empor.

„Du weißt ganz genau, was wir uns für Sorgen um dich machen, dass du etwas isst und dass du überlebst. Willst du uns wirklich so wehtun, Ran?“ Ja, es war unfair und ja, es war gemein, doch was sollte Omi machen? Aufgeben?

„Omi…“

Der Junge stand auf und fasste Rans Hand, strich über die Finger. „Komm, Ran.“ Besagter Mann war gerade wieder dabei, den Kopf zu schütteln, doch Omi hatte bereits gesehen, dass der Widerstand in den Zügen seines Freundes gebröckelt war, so umfasste er erstaunlich stark dessen Handgelenk und zog ihn stolpernd von der Fensterbank hinunter mit sich in die Küche.

„Setz dich“, befahl er keinen Widerstand zulassend und Aya wusste, dass ihm nichts anderes übrig blieb. Schweigend setzte er sich und starrte auf besagtes Essen.
 

Es war nicht so, dass er Omis Leistung nicht zu schätzen wusste, deshalb sandte er einen entsprechenden Blick an dessen Adresse und nickte unauffällig.

Gut, nur musste er selbst auch einige der Speisen hinunterbekommen. Fast schon grimmig häufte er sich einiges auf seinen Teller und schob es sich nacheinander in den Mund.

Den lauernden Blick auf Ran gerichtet.
 

Dieses Mal bemerkte Aya sogar den Blick, der sich in ihn bohrte und jeden seiner eigenen Bissen überwachte, die sich von seinem Teller in den Mund schoben. Unwillig… jeder einzelne, gezwungen könnte man fast sagen.

Aya hatte fast die gleiche Menge an Essen auf dem Teller wie Crawford, zumindest hatte Omi ihm entgegen seines schwachen Protests sowohl ein Steak, als auch viel zu viel Salat und… Pommes auf den Teller geladen. Er wusste nicht, wie er das alles zur Zufriedenheit seines Teamkollegen essen sollte, knabberte er doch gerade mal an einem der Kartoffelstäbchen, obwohl er keinen Hunger hatte.

Sein Blick schweifte über den Tisch. Wer sollte das alles essen?
 

Über diesen Punkt brauchte er sich nicht viele Gedanken machen, denn Ken kümmerte sich fast schon mit Hingabe um die Vertilgung der Speisen.

Zwar nicht unanständig, doch sehr beharrlich…
 

Brad fand, dass Ran Fortschritte machte, auch wenn er unwillig aß… aber dennoch, er aß! Schuldig… du wärst stolz auf uns, meinte er in Gedanken zynisch.

Und genau in diesem Moment fiel sein Blick etwas in sich zusammen, bröckelte die Stärke wie alter Putz von seiner äußeren Wand. Er tat nichts weiter außer starren, bis er den Blick auf das Wasserglas senkte es vor sich ergriff und daraus trank – zur Tarnung.
 

Nicht nur ein Augenpaar hatte den Wechsel im Verhalten des Amerikaners gesehen, doch im Gegensatz zu Ran senkte Omi den Blick nicht. Er wollte lernen, wollte diese skurrile Situation begreifen, die sie hier zusammenbrachte. Hier sah er den Unmenschen als Menschen, als jemanden, der sich sorgte und der es schaffte, Ran in den Hintern zu treten.

Ja… vielleicht war er doch nicht allzu schlecht für Nagi, befand Omi schließlich und begann, seine Meinung über den Amerikaner teilweise zu revidieren.

Aus einem Anfall an Kindlichkeit heraus klaute er Ken das letzte Stück Fleisch von seinem Teller und schob es sich dreist in den Mund, grinste dabei.
 

„Ich… glaubs ja nicht“, blaffte Ken und schmälerte seinen Blick. Ohne viel Federlesen, stemmte er sich hoch, seinen Enterhaken griffbereit und schlug diesen in eine der Bratkartoffeln samt Kräuterquark als deliziöses Häubchen. Er holte seine Beute ein und schwupps war es in seinem Mund verschwunden.
 

Violette Augen sahen langsam auf, als sie merkten, dass etwas auf dem noch gut gefüllten Teller fehlte. Es war ein altes Spiel zwischen ihnen: wer war am Schnellsten und hielt den Rekord im Essensklau. Ken, dicht gefolgt von Youji, da er selbst sich oft schlichtweg geweigert hatte, mitzumachen.

Doch nun… ja, irgendetwas in Aya sagte ihm, dass er sich auch versuchen sollte. Irgendetwas stieß ihn in die Richtung an.

Den Blick fest auf Ken gerichtet, traf seine Gabel auf Omis Pommes und häufte sie auf seinen Teller… gut, es waren nur zwei, doch der empörte Aufschrei des blonden Jungen war ihm Beute genug. Blaue Augen starrten ihn ungläubig an, als er eine von ihnen hochnahm und sich in den Mund schob.

„Du… hinterhältiger Mistkerl!“, wetterte Omi und startete den Gegenangriff, doch Aya war schneller und brachte seinen Teller aus der Reichweite seines Nachbarn. Blieb nur noch… Crawfords Teller.
 

Der dem Treiben mit einem… geradezu todbringenden eisigen Blick zusah. Alles in ihm sagte, dass er dieses Spiel lächerlich fand und sich aber… keiner trauen sollte ihn miteinzubeziehen oder gar ihm etwas vom Teller zu nehmen. Für diesen Unfug war er zu alt. Definitiv.

Aber Ran taute auf…
 

In der Tat… Aya lächelte leicht und es war das erste, ehrliche Lächeln seit Tagen. Doch dafür war die Situation einfach zu amüsant. Omi und Ken, die beide ihre Gabeln wie auf Beute wartende Falken in den Händen hielten, seinen, für sie unerreichbaren Teller gierig anstarrten, bevor sie Crawford in Augenschein nahmen. Vorsichtig nur, da der Schwarz… alles ausstrahlte, nur keine Ungefährlichkeit. Sein Blick sagte etwas anderes, versprach grausame Bestrafung.

Aya schnitt sich ein weiteres, kleines Stück Fleisch ab und kaute langsam.
 

„Kritiker scheint euch zu wenig Taschengeld zu geben, wenn gleich Futterneid aufkommt“, knurrte Brad und begann still vor sich hin zu essen, das Messer in der Hand so leicht wie eine Feder… und so… flink vor allem.
 

Zwei Augenpaare beobachten das scheinbar ungefährliche Messerspiel, wandten sich dann wieder ihren eigenen Tellern zu, während Aya dieses Lächeln immer noch auf seinen Lippen trug. Es schien… passend zu sein und er konnte sich noch nicht einmal über die Bemerkung des Amerikaners aufregen - weil es stimmte.

Aya beobachtete Crawford beim Essen und seine Gabel kroch rein aus einem spielerischen Reflex in Richtung Amerikaner… warum genau… das durfte man ihn nicht fragen.
 

Wenn er es nicht genau wissen würde so hätte er geglaubt, Schuldig hatte sich Rans bemächtigt und ihm diese Flausen in den Kopf gesetzt. Aber Schuldig war tot.

Er verstand nicht ganz, was hier vor sich ging. Nein, Korrektur. Er wollte es nicht verstehen.
 

An anderer Stelle wollte es ebenso wenig verstanden werden, denn Omi konnte nur mit Grauen fasziniert zusehen, wie Ran mutig das in Angriff nahm, wovon sie beide großen Abstand hielten. Omi hielt gespannt die Luft an, fixierte den Amerikaner, der Ran durchdringend anstarrte. Es würde alles gut werden… oder? Es würde hier gleich keinen Krieg geben… oder?
 

Schlange und Mungo. Klarer Fall. Er würde warten… lauern… bis der Zugriff kam, erst dann würde der Augenblick gekommen sein.
 

Es war, als müsste Aya diesem inneren Drang, Crawford zu überlisten ein Ventil geben, als müsste er beweisen, dass er immer noch Meister des Spiels war. Seine Hand schoss mit wohldosiertem Kraftstoß vor und zielte auf das letzte Gemüsestück des Orakels.
 

Zielte und traf. Doch der Rückzug wurde verhindert, indem Brad seine Hand wie das Maul einer Schlange hervorschießen ließ und um Rans Handgelenk schlang.

Mit einem bösen Lächeln zwang er sie nach oben, samt Gabel, samt Gemüse und happste sich das letzte Stück von selbiger.

Mit einer erhobenen Braue ließ er Ran los und schluckte das Stückchen kommentarlos hinunter.
 

So war das aber nicht gedacht gewesen…

Aya hatte ja mit einigem gerechnet, aber damit nun wirklich nicht. Er blinzelte verwirrt, wusste nicht einzuordnen, wie sich Crawford gerade verhalten hatte, wie er selbst sich gerade verhalten hatte.

Er sah bewusst nicht auf seine Hand hinab und auf das prickelnde Gefühl des Zwangs, dem sie gerade noch unterlegen war, sondern zog sie gesittet, mit einem pflichtschuldigen Funkeln in den Augen zu sich zurück und spießte fast Kens Hand auf, als dieser sich erdreistete, noch etwas von seinem Teller zu klauen. Doch zu langsam!
 

„Au!“

Ken zog einen Flunsch und seine Augen weiteten sich empört. Aber… da hatte er wohl Rans verletzten Stolz zu spüren bekommen.

Na immerhin gings ihm für wenige Augenblicke besser und wenn sie drei hier die Animateure spielten… war es doch einerlei, Hauptsache, das Ergebnis stimmte!
 

Omi sah Ken verstohlen von der Seite an, noch verstohlener aber Crawford und dessen Gesichtsausdruck. Er war sich nicht mehr ganz so sicher, ob nicht doch etwas zwischen Crawford und Ran war, von dem sie nichts wussten… doch war das möglich? Angesichts Schuldigs Tod? Nein… konnte es nicht.

Schweigend erhob er sich und holte die letzte Tüte aus dem Kühlschrank - der Nachtisch. Schälchen fand er auch nach einigem Suchen und legte die passenden Löffel auf den Tisch. Beerenlasagne mit Schokoladenbisquitteig und weißen Schokoladenraspeln. Eine Spezialität des Hauses, war ihm gesagt worden.
 

Brad beendete sein Mal ohne weitere Attacken, verzichtete jedoch auf den Nachtisch und erhob sich nach einer Weile, nahm Banshee auf, die vor ihm auf dem Boden herumturnte und sich schier seine Schienbeine hinaufhangeln wollte.

„Bis morgen, ich muss los“, nickte er den anderen zu, verweilte etwas länger bei Ran, bevor er sich abwandte und in die grünen Augen der Katze sah.

Bis morgen… Grünauge.

So hatte er Schuldig früher genannt. Früher.
 

o~
 

Es schneite schon seit Stunden… dicke, weiße Flocken waren erst sacht, dann immer dichter auf die Stadt niedergefallen und hatten Aya in ihren Bann gezogen, wie er hier am Fenster saß, über der warmen Heizung. Banshee, die auf seinem Schoß lag, schnurrte zufrieden ob der Hände, die sie so gekonnt verwöhnten und kraulten. Ihre kleinen Krallen schlugen sich mal mehr, mal weniger müßig in den weichen Stoff der Nickihose, die sich Aya frisch geduscht angezogen hatte.

Er tat das mittlerweile jeden Tag: aufstehen, duschen, aus dem Fenster starren, die Kleine versorgen. Doch das war auch das Einzige, was ihm gelingen wollte und wozu er sich noch aufraffen konnte. Vielleicht… zum Essen, wenn Crawford kam. Der andere Mann war eben einfach zu penetrant, als dass er sich weigerte, etwas zu essen; es machte einfach weniger Stress, wenn er die Portionen, die vor ihm lagen, herunterwürgte oder wenn er einkaufen ging.
 

Leise innerlich fluchend kam eben jener penetrante andere Mann - wie schon die Tage zuvor regelmäßig von Statten gegangen - durch die Tür. Er hatte unterwegs für sie beide Essen mitgebracht und nun war er halb eingeschneit, da er nicht mit dem Wagen sondern mit den öffentlichen Verkehrsmitteln hergekommen war. Im Prinzip kam er aus dem Büro und nicht von zuhause.
 

Winterliche Kühle wehte zu ihm, als die Tür aufging und Aya noch nicht einmal den Kopf wenden brauchte um zu sehen, dass es nicht Schuldig war - sondern Crawford, der nun durch die Tür trat. Dennoch wandte er den Blick nach einer kleinen Weile zu dem anderen Mann, der wütend vor sich hinstarrte und dessen Haare und Kleidung unter einer beachtlichen Schicht an noch nicht geschmolzenem Schnee steckten. Crawford sah so aus, als ob er das Wetter hassen würde wie die Pest. Nun… vielleicht würde Aya das auch tun, wenn er einen Schritt vor die Tür machen würde.
 

Darauf achtend, dass er das Essen nicht über den Boden verteilte, mühte sich Brad ab um aus den Schuhen zu kommen und brachte seine Last dann in den Küchenbereich. Erst dann ging er ins Bad um sich den Schnee vom Leib zu klopfen und missmutig in den Spiegel zu blicken. Seine Haare waren hinüber, standen in alle Richtungen.

Heute war kein guter Tag, beschloss er spontan und zog sich den Mantel aus. Er hatte noch das Jackett darunter das ebenfalls von seinem Körper gezerrt wurde. Beide Dinge nahm er aus dem Bad mit um sie an der Garderobe zurück zu lassen.

Erst dann ging er zu Ran, den steten Schneefall bemerkend, die dicken Flocken. „Nagi lässt dir Grüße ausrichten. Er wollte mitkommen, war sich aber nicht sicher, ob dir das recht wäre.“ Brad wischte sich wieder durch die Haare, da ein vorwitziger Wassertropfen sich seine Schläfe hinabhangelte.
 

„Er kann gerne kommen“, sagte Aya automatisch. Er hatte die letzten Tage an vieles gedacht, unter anderem auch an Nagi und wie es dem Jüngeren ging. Dass er bereit war, hinaus zu gehen und zu ihm zu kommen, zeugte davon, dass es ihm besser ging und dass er weitaus mehr mit seinem Leben zurechtkam, als es Aya im Moment in der Lage war.

„Bist du gelaufen?“, fragte er schließlich, als ihm der Aufzug des anderen Mannes bewusst wurde, doch Aya wusste selbst, wie absurd der Gedanke war. Crawford schien ihm einfach nicht der Typ dazu zu sein.
 

„Ja“, hob Brad spöttisch eine Braue, halb fragend, halb belustigt, auch wenn es nur ein müder, ein versöhnlicher Abklatsch des früheren, beißenden Spotts war.

„Ich war im Büro um einige Dinge zu überprüfen“, vor allem Kontakte, die ihren Sinn verloren hatten und gekappt werden mussten.

Er ging zum Eingang zurück und holte den Aktenkoffer den er dort abgestellt hatte. Das perfekte Tarnmittel wenn man in der Masse der Angestellten untergehen wollte. Aber der Inhalt war doch etwas… interessanter als so mancher Aktenberg.

Der Koffer fand seinen Ruheplatz auf dem Wohnzimmertisch und wurde auch sogleich geöffnet. Brad nahm ein Gerät heraus und begann damit die Wohnung nach möglichen Wanzen abzusuchen.
 

Aya sah dem Ganzen schweigend zu. Er wusste erst nicht, was der andere Mann dort tat, dann wurde es ihm jedoch bewusst. Wanzen? Hier?

Konnte gut sein, wer wusste das schon… Aya selbst interessierte das nicht. Es war einfach zu spät, um sich darum Gedanken zu machen. Schuldig… war nicht mehr da. Einem Komplott zum Opfer gefallen, das einzig und allein dazu gedient hatte um Schwarz zu schwächen oder auszuschalten. Schuldig…

Ayas Gedanken schweiften wieder ab und hefteten sich an glücklichere Erinnerungen, als er vor der Gegenwart floh.
 

Brad hatte auch ohne seine verhinderten Fähigkeiten gewusst, dass er den anderen damit nicht glücklicher machte, wenn er hier mit diesen Geräten aufwartete. Aber er brauchte Gewissheit, ansonsten hätte er Ran sofort eingepackt und ihn umgesiedelt, ob er wollte oder nicht.

Aber es war „Alles sauber“, murmelte er befriedigt und verräumte alles wieder. Erst da fiel ihm das Essen wieder ein. „Mist“, rutschte ihm – sonst so zurückhaltend mit Schimpfwörtern – heraus und sein Blick wanderte zur Küchenablage. Sein Magen hatte ihn daran erinnert, dass er heute bis auf eine unter Nagis Argusaugen gefrühstückte Suppe noch nichts zu sich genommen hatte.
 

Es waren in der Tat ungewohnte Laute, die an Ayas Ohr drangen und die ihn Crawford mustern ließen. Ihm wurde immer vorgeworfen, er esse zu wenig, doch was war mit dem Amerikaner? Er war… dünner. Nein, dünner war vielleicht das falsche Wort. Seine Wangen wirkten hohler, eingefallener, das Orakel selbst weniger muskulös. Seine Haltung wirkte etwas zusammengesunken.

Er litt.

Ja, da wusste Aya. Crawford trauerte ebenso stark wie er selbst auch.

Wortlos erhob sich der rothaarige Mann und kam in den Küchenbereich zurück, besah sich dort das mitgebrachte Essen.

„Du isst zu wenig“, sprach er die Worte aus, die er schon so oft gehört hatte.
 

Es kam etwas monoton, abgespult und Brad wandte das Gesicht von seiner Inspektion der Tüten fast überrumpelt zur Seite. Rans Gesichtsausdruck wirkte undurchschaubar, nicht wirklich interessiert. Aber das spielte keine Rolle.

„Mit diesem Problem stehe ich nicht alleine da.“

Brad hob das Essen aus den Tüten und begann damit Besteck aus den Schubladen zu holen.
 

Aya wartete noch einen Moment, bevor er sich daran machte, in alter Gewohnheit Schüsseln auf den Tisch zu stellen und das Essen auf sie zu verteilen. Es roch… wie alles andere auch: gleich lecker, aber uninteressant für ihn und seinen Magen, der keine einzige Regung tat. Es war da um ihn am Leben zu erhalten, nicht mehr und nicht weniger.

Wortlos setzte sich Aya und nahm die Stäbchen auf, wartete jedoch noch auf Crawford.
 

Sie aßen wie stets langsam und ohne Unterhaltung. Brad war die Stille nicht unangenehm, nie gewesen und er musste gestehen, auch wenn es ihm schwer fiel, dass der Mann der ihm gegenüber saß ihm da nicht unähnlich schien.

Trotzdem fühlte Brad Unruhe in sich. Er konnte jedoch nicht genau sagen woher sie kam, nicht den Finger darauf legen. Obwohl der Verdacht nahe lag, dass es seine fehlende Voraussicht war. Als hätte man ihm die Augen verbunden oder ihm wahlweise beide ausgestochen, was treffender war in der Umschreibung, denn der Schmerz in seiner Brust war nicht minder heftig. Das Ironische daran war, selbst wenn sein Sehvermögen tatsächlich nicht mehr vorhanden gewesen wäre… die Bilder in seinem Kopf… ließen sich nicht ins Dunkel stürzen.
 

Es dauerte wie immer lange, bis sie das Essen beendeten und das Geschirr wie auch das Besteck in die Spülmaschine räumten. Tätigkeiten, die sie zusammen ausführten, die Aya aber früher niemals… niemals mit Crawford zusammen gemacht hätte. Doch so vieles hatte sich geändert innerhalb nur weniger Tage. So vieles war schrecklicher geworden, trostloser, verzweifelter.

Aya wurde sich bewusst, dass er kaum noch weinte, dafür aber umso häufiger von der eigentlichen Welt abdriftete in seine eigene Illusion, die ihm so heilsam schien. Denn in dieser Illusion lebte Schuldig noch, in dieser Illusion waren sie noch glücklich und zu zweit… da war er nicht alleine und das Loch in seiner Brust, in seiner Seele gab es auch nicht.

Wie auch jetzt, wie auch jeden Abend, an dem Crawford etwas länger blieb als bis nach dem Essen und sie im Wohnraum saßen. Jeder tat das, was er für richtig hielt. Niemand störte den anderen dabei. Vielleicht war es auch für Aya gerade deswegen tröstlich, dass er jemanden um sich hatte, der ihm seine Präsenz nicht aufdrängte, sondern einfach da war.
 

Brad ließ sich auf der Fensterbank nieder, zog ein Bein nach oben und blickte in die Nacht hinaus. Nur Schnee, man konnte kaum bis zu den ersten Häusern blicken so stürmte es draußen. Er würde noch ein wenig warten, bis er ging.

Nur wenige Lampen erhellten an einigen Stellen die Wohnung und er verließ seinen Platz, setzte sich auf die Couch und machte es sich gemütlich. Die leise Hintergrundmusik ließ ihn sich schwermütig fühlen, doch er verdrängte dieses Gefühl, wischte es beiseite und schloss die Augen. Er würde sie nur kurz ruhen lassen.
 

Eine merkwürdige Atmosphäre lag über der Wohnung, eine winterliche Stille, die alleine durch die fallenden, dicken Flocken bestärkt wurde, die außerhalb fielen und die ganze Stadt in eine weiße Schicht tauchten. Was gäbe Aya darum, diese Atmosphäre mit Schuldig genießen zu können? Was gäbe er darum, noch einmal in diese grünen Augen schauen zu können, diese Lippen berühren zu können… oder wie viel würde er darum geben, diesem Mann noch einmal nahe zu sein.
 

Aya fühlte nur drückende Leere in sich. Nichts anderes als das. Die gleiche drückende Leere, die ihn auch am Schlafen hinderte, die ihn antriebslos zurückließ… antriebs- und willenlos. Nicht mehr bereit zu leben, sagte er sich.

Ganz im Gegensatz zu dem Mann, der ruhte… doch die Couch war dafür wirklich zu unbequem, das wusste Aya aus eigener Erfahrung. Sollte er sich ins Bett legen… sollte er schlafen, damit er Kraft gewann, die er brauchte.
 

Es brauchte seine Zeit, bis Aya den Gedanken umsetzen konnte und aufstand… bis er zu Crawford ging und den anderen Mann an der Schulter berührte. Wann hatte er ihn zum ersten Mal freiwillig berührt?

Gerade eben, antwortete es ihm und Banshee maunzte leise, aufgeweckt durch seine Ankunft.

„Wach auf“, sagte er ruhig.
 

Brad bewegte sich etwas, räusperte sich und wischte sich über die Augen. Er war tatsächlich eingeschlafen und fühlte sich nicht wirklich erholt. „Wie spät ist es?“, fragte er leise, noch schlaftrunken. „Ich… muss los.“ Jetzt aufzustehen war die Hölle. Alles tat ihm weh und er glaubte, dass es nicht nur die Couch war, sondern auch der Schlafmangel der letzten Tage.
 

„Du bleibst. Leg dich ins Bett, du siehst fertig aus“, erwiderte Aya im gleichen Ton wie vorher. Leise, ruhig, nicht bevormundend. Er wusste nicht, ob Crawford den Weg überstehen würde, wenn er jetzt ging.
 

Brad setzte sich auf und stöhnte verhalten, rieb sich die eingeschlafene Schulter, aber die Augen bekam er nicht wirklich auf. „Ich muss gehen, Nagi…“, murmelte er, stand bereits auf.
 

„Geh ins Bett“, wiederholte Aya, dieses Mal jedoch eindringlich. „Ich rufe den Kleinen an.“
 

Wie er ins Bett gekommen war, wusste er nicht mehr, er war einfach zu müde, und hatte sich überreden lassen. Seine Kleidung landete einigermaßen geordnet neben dem Bett und er zog die Beine aufs Bett, legte sich auf die Seite. Er spürte wie der Sog des Schlafes ihn erfasst hatte und genoss das Gefühl, welches er lange nicht mehr gehabt hatte… das Gefühl, mitzubekommen wenn er einschlief.
 

Währenddessen griff Aya zum Telefon und wählte die Nummer des Schwarzhaushalts. Er wusste, wie spät es war, dass es mitten in der Nacht war, doch der Junge machte sich sicherlich Sorgen um seinen Anführer.

Gedankenverloren lauschte er dem Freizeichen.
 

Nagi saß halb liegend im Bett, das Telefon neben sich, kein Licht brannte, aber er lauschte beharrlich fremden nicht hierher gehörenden Geräuschen. Er hatte Angst.

Brad war nicht nach hause gekommen und angerufen hatte er auch nicht. Ganz entgegen seiner sonstigen Art. Die Furcht, dass sie nacheinander denselben Leuten zum Opfer fielen, wie Schuldig eines dieser Opfer war, hämmerte wie ein Schlagbolzen in seiner Brust, als just das Telefon klingelte. Hektisch nahm er es an sich und fast schon atemlos und mit einem unsicheren Laut meldete er sich mit einem „Ja…“
 

„Ich bin es… Ran“, meldete sich der rothaarige Mann ruhig. Nagi klang panisch. „Crawford geht es gut, er schläft gerade. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“
 

„Ja?“, hakte er untypisch nach und die Unsicherheit war wieder in seinen Worten zu hören.

„Ich… ich hatte Angst… ich dachte… sie hätten Brad auch geholt… und…“, er stockte. „Ich weiß es ist irrational, aber…“ Was redete er da eigentlich?

„Sag ihm nicht, dass ich mir Sorgen gemacht habe. Es… geht ihm nicht gut, er schläft kaum.“
 

„Das sieht man ihm an“, bestätigte Aya, wurde sich aber im gleichen Moment auch bewusst, dass es ihm ebenso ging und dass man es ihm ebenso ansehen musste.

„Sie… haben ihn nicht geholt, Nagi. Er ist hier und in Sicherheit. Er wird bis morgen schlafen, das versichere ich dir.“ Er schwieg für einen Moment, dachte daran, was Crawford ihm vorher gesagt hatte, ganz am Anfang dieses Abends.

„Wie sieht es mit dir aus?“
 

Zunächst zögerte Nagi, denn nur langsam beruhigte sich sein Herz, beruhigte sich sein Inneres und die Anspannung fiel etwas von ihm ab. Er ruckelte sich zurecht und kuschelte sich mehr in die Decken ein, die er um sich gehäuft hatte.

„Ich fühle mich nicht mehr sicher hier. Aber es geht schon, Jei achtet auf die Umgebung… aber falls… er sagte, dass die, die dich angegriffen haben auch nicht auszumachen waren. Verstehst du… ich… wir haben keinen Schutz mehr.“ Er fühlte sich so matt und ausgezehrt.
 

„Ja… ich verstehe. Crawford hat Ähnliches gesagt.“ Aya überlegte einen Moment lang.

„Er bringt euch da raus, vertrau ihm“, fügte er schließlich an, zuversichtlicher, als er sich selbst fühlte. „Vergiss nicht, dass du auch Kräfte hast, Nagi. Du kannst dich und das Anwesen verteidigen.“

Schuldig hatte sich auch verteidigen können, sagte eine kleine Stimme in ihm. Und er war trotzdem gestorben.

Aya schloss die Augen und presste den Daumen und den Zeigefinger der linken Hand auf die Lider. Es tat weh… es schmerzte, darüber nachzudenken. Vor allen Dingen darüber nachzudenken, dass er alleine war… gänzlich. Ganz im Gegensatz zu Nagi, der noch Omi hatte.

„Ist Omi bei dir?“
 

Omi? Wiederholte Nagi überrascht.

„Nein, natürlich nicht. Ich… habe ihn länger nicht mehr gesehen“, sagte er bedauernd. Er fühlte sich allein und auch wenn Jei bei ihm war, die Furcht, dass jeden Moment ein Angriff kommen konnte, zerrte an ihm und machte jedes Geräusch zu einem Schatten der böses wollte.

„Brad vertraut Kritiker nicht, dass sie diesen Pakt einhalten, er hält sie immer noch für mögliche Täter.“
 

„Möglich, dass sie es sind… aber Weiß gehören nicht dazu. Omi ist nicht Kritiker… er ist auch nicht vorrangig ein Weiß.“ Dass er jemals so etwas sagen würde… aber es war alles Vergangenheit. Alles.

„Willst du ihn sehen? Soll ich ihm Bescheid geben?“
 

„Ich… ich… weiß nicht. Er… mitten in der Nacht?“

Es war so untypisch für ihn, zu stottern, seine gewohnte Sicherheit war zum Teufel und er fühlte nur innerlich diese Unruhe, dieses Zittern, seit Schuldigs Tod.
 

„Er wird Verständnis haben.“ Omi hatte immer Verständnis und nun schlief Crawford hier, also konnte er doch zu Schwarz fahren, oder?

Aya blinzelte, als er sich der aktiven Gedanken bewusst wurde, die gerade regelrecht in seinem Hirn arbeiteten. In diesem Moment war er in der Lage, sich um die Belange anderer Menschen zu kümmern, er lebte und existierte nicht nur vor sich hin.

„Soll ich ihn anrufen und zu dir schicken?“
 

„Ja.“

Es kam zu verhuscht, sehr leise, so undeutlich wie nur möglich, nicht dass es zu sehr nach Zustimmung klang. Und wenn doch Kritiker ihre Zuflucht fanden?

„Ran… es tut mir so leid. Ich hätte nie gedacht, dass sie… jemand Schuldig doch noch kriegen würde. Warum gerade er? Warum wollten sie ständig nur ihn?“ Er schluchzte auf und legte auf, als hätte ihn sein eigenes Geräusch erschreckt.
 

Ja… warum wollte jeder Schuldig? Kritiker… diese Männer, die ihn angegriffen hatten und vielleicht auch, die Schuldig getötet hatten? Warum ihn? Weil er außergewöhnlich war? Außergewöhnlich stark gewesen, denn es gab ihn nicht mehr.
 

Das leise Tut des Hörers drang an sein Ohr, aber nicht zu Aya selbst hindurch, so wie er hier stand, mitten in dem großen Raum. Der außergewöhnliche Mann war tot.

Aya rieb sich ein weiteres Mal über die Augen und drückte die Tränen zurück, die in ihnen standen. Hör auf, das bringt nichts. Gar nichts. Wer achtet schon darauf, dass du heulst? Niemand. Außerdem… kommt er davon auch nicht zurück. Er wird nie wieder zurückkommen. Nie.
 

Zeit, Omi anzurufen.

Mit einem großen Kloß im Hals wählte Aya die Nummer des blonden Jungen. Es klingelte dreimal, bevor abgenommen wurde und eine abgehetzte Stimme am anderen Ende der Leitung Omis Aufmerksamkeit zusicherte.

Er schilderte knapp die Situation und vereinbarte mit dem Anderen einen Treffpunkt in der Nähe dieses Hauses aus, in einer halben Stunde, da es zu gefährlich war, Omi die Adresse am Telefon durchzugeben.

Er hatte richtig gelegen, Omi war sofort bereit, zu Nagi zu fahren.
 

Aya legte auf und warf einen prüfenden Blick auf den Amerikaner.

Crawford schlief tief und fest auf Schuldigs Seite des Bettes. Ein bitteres Lächeln umspielte die Lippen des rothaarigen Mannes und er wandte sich um. Er zog sich lautlos einige, wärmende Kleidungsstücke über, stieg schließlich in seine Stiefel, steckte die Waffe in seine Manteltasche und verließ ebenso leise zum ersten Mal seit zwei Tagen die Wohnung. Die Hände tief in den Taschen von Schuldigs Mantel vergraben, stapfte er durch den Schnee.



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