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Der Glasgarten

von

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GAME OVER II

Brad hatte sich bereits vor Asamis Leuten in Position gebracht. Er traute dem Mann nicht. Bereits zwei Stunden, bevor der Club öffnete, saß in einem Appartement im Gebäude gegenüber im dritten Stock und beobachtete das Treiben sowohl am Vordereingang, der weniger frequentiert war, als auch den Nebeneingang. Händler brachten kleinere Getränkelieferungen und hin und wieder öffnete sich der Eingang um Menschen hinein oder hinauszulassen.

Brad beobachtete durch das Fernglas die Personen, die sich dem niedrigen Gebäude näherten und blieb an einer Frau hängen. Sie trug unverschämt hohe Stiefel, eine hellblaue Jeans und eine schwarze Bluse. Eine taillierte Lederjacke rundete das Outfit ab. Was ihm aber am meisten auffiel, waren die langen schwarzen Haare und das überaus attraktive Gesicht. Er zoomte heran. War sie das?
 

Das war doch... wie hatte sie geheißen... Fuchoin... Sophie... Shanghai...
 

War das Zufall?
 

Zufälle gab es in seinem Weltbild nicht.
 

Er verfolgte, wie sie in die Seitenstraße einbog, die große schwarze Handtasche von ihrer Schulter nahm und an die Tür klopfte. Es dauerte etwas bis ihr geöffnet wurde. Die Tür fiel wieder ins Schloss und sie wartete. Sie ging einige Schritte auf und ab und Brad hatte Zeit, sie zu beobachten. Was machte eine Unternehmerin in diesem Club? Heute...?

Wenig später öffnete sich die Tür und sie wurde eingelassen.
 

Brad überlegte kurz und warf schließlich das Fernglas hin, bevor er das Apartment verließ.

Steckte sie mit Asugawa unter einer Decke? Oder aber arbeitete sie ebenso für den Clan?

Auf jeden Fall war sie nicht das, was wie vorgegeben hatte zu sein.
 

Brad stieß die Tür zum Treppenhaus auf und rannte die Stufen hinunter. Er überquerte die Straße und trat in die Seitenstraße ein. Wie die Frau zuvor klopfte er mit der Faust an der Tür. Kurz darauf öffnete sie sich.

Ein junger Japaner sah ihn ruhig an. „Wo ist die Frau, die gerade hier rein ist?“
 

„Welche Frau?“ fragte der Mann und wollte die Tür bereits wieder schließen. Crawfords Vorraussicht zeigte ihm, dass er als zweiten Schritt eine Waffe ziehen würde. Dem kam Crawford zuvor. Er zog seine eigene, trat den Mann mit einem gezielten Tritt in die Flanke zur Seite und beugte sich samt Waffe an dessen Schläfe hinunter. „Wohin? Ich frage kein zweites Mal“, sagte er ruhig.
 

„Sie...sie... zum Boss... gehören sie zu Asamis Leuten?“
 

„Nicht ganz... Wo ist dein Boss?“
 

„Durch den Club und dann die Treppe rauf.“
 

„Steh auf...“ Brad zog ihn an seinem Shirt nach oben und schubste ihn vor sich her. „Du gehst vor.“ Brad hielt seine Waffe an seinem Oberschenkel. Der Club war nicht voll ausgeleuchtet. Der Mann hielt sich die Flanke, tat aber, was Brad von ihm wollte.

Keiner der anderen Angestellten fand es ungewöhnlich, dass der Mann einen Besucher zu seinem Boss führte.

Sie durchquerten zwei Tanzbereiche und zwei Bars bevor sie eine Treppe nach oben gingen. Sitzmöglichkeiten aus bequem aussehenden Sofas luden hier zum Verweilen ein. Aber Brad war nicht deshalb hier. Er hatte gesehen, dass es hier eine Glasscheibe, gab die einen guten Blick auf die Tanzfläche bot. Wenn es noch einen anderen Weg hier raus gab, war die Frau bereits weg, soviel war sicher. Wenn sie überhaupt hier war.
 

Der Mann klopfte an und Brad öffnete die Tür. Er schubste ihn in den Raum hinein und fand sich konfrontiert mit einem Mann, der wohl Sowas Sohn war. Brad hatte von Sowas jähzorniger, gewalttätiger Ader gehört und man erzählte sich sein Sohn hatte stets darunter zu leiden gehabt. Die Narbe, die über dessen rechte Gesichtshälfte verlief und das Auge nach unten zog zeugte von dieser Gewalt. „Wo ist die Frau...?“
 

Steam deutete mit dem Kopf auf eine andere Tür. „Irre ich mich oder wollten sie erst zu späterer Stunde hier einfallen?“ fragte Sowas Sohn ihn gelassen.

„Asami wollte später kommen... ich wüsste nicht, dass ich mein Kommen angekündigt hätte.“

„Zu schade...“ sagte der Mann und lächelte anzüglich.
 

Brads Blick fiel wieder auf die Tür. „Ist das der einzige Ausgang?“
 

Steam setzte zu einer Antwort an, aber der Amerikaner war schon auf dem Weg zur Tür.

„Für Sie schon, Mr. Crawford“, flüsterte Steam als der Mann durch die Tür verschwand.

„Mach das Blitzlicht an und die Musik darf auch nicht fehlen“, wies Steam seinen Mitarbeiter an und verriegelte mittels eines Schalters hydraulisch die Tür.
 


 

o
 


 

Finn fand das alles andere als spaßig. Er hatte nicht gesehen, wer ihm auf den Fersen war. Als er das Büro betreten hatte konnte er kaum mit Steam sprechen. Sie waren gerade dabei zu erörtern, wie viele neue Rekruten sein Vater eingekauft hatte, als ihr Gespräch abrupt endete. „Du wirst verfolgt“ war das Einzige, was er sagte, bevor er Finn einen Fluchtweg bot.

Gut, es war nicht das erste Mal, dass er diesen Weg nahm, aber nicht mit dieser Dringlichkeit im Nacken. Er rannte den langen Flur entlang, nahm eine Abzweigung zu seiner linken und entledigte sich seiner hohen Stiefel. Diese steckte er sich in die Umhängetasche. Seine Augen hatten sich noch nicht an die spärlichen Lichtverhältnisse angepasst, deshalb beschloss er zunächst auf seinen Verfolger zu warten. Hinter der nächsten Biegung des schlauchartigen Flures wartete er. Eines der Notausgangsschilder warf sein kaltes Licht in den Gang. Ein Schatten bewegte sich auf ihn zu und Finn ging zum Angriff über.

Er war neugierig, wer es auf ihn abgesehen hatte. Ein einzelner Mann um diese Zeit ohne ein Heer von Handlangern?

Er verpasste ihm einen Kinnhaken, der ihm die Nase gebrochen hätte, wäre er nicht geblockt worden. Die langen Haare der Perrücke störten ihn ein bisschen, aber es war nicht das erste Mal, dass er mit derlei Widrigkeiten zurechtkommen musste.
 

Der Mann war definitiv kräftiger gebaut als er, vielleicht etwas größer. Deshalb war es klüger, ihn auf Abstand zu halten und seinen eigenen Vorteil geltend zu machen: Geschwindigkeit und eine fast schon an Akrobatik anmutende Wendigkeit. Er sprang außer Reichweite, drehte sich noch während des Sprungs und trat den Angreifer gegen die Brust, was dieser mit einem Ächzen und einem Aufprall an der gegenüberliegenden Mauer quittierte. Doch das setzte ihn nicht außer Gefecht. Er kam wieder hoch und kam ihm nach. Jetzt hatte Finn aber genug – beschloss er, als der Mann ihn mit einem Magenschwinger die Luft aus den Lungen presste. Er war ihm an Kraft überlegen. Finn spuckte die brennende Galle in seinem Mund aus. Der Mann wollte ihn am Hals packen. Dann setzte zu allem Überfluss noch die Musik ein und Finn konnte sich nicht mehr auf sein Gehör verlassen. Das stroboskopartige Zucken des Schwarzlichts war wirklich nicht sehr hilfreich. Trotzdem war es noch nicht an der Zeit, ernst zu machen. Wer war der Kerl? Sich mit Finn alleine anzulegen war wahrlich keine intelligente Leistung. Vor allem, warum hatte er keine Waffen dabei? Wusste er überhaupt, mit wem er sich angelegt hatte? Innerlich rollte Finn mit den Augen. Entweder er hatte keinen blassen Schimmer oder er besaß die Vermessenheit, ihn lebend gefangen nehmen zu wollen.
 

Er machte sich mit einem Rückwärtssprung und einem Fußtritt frei und traf ihn dabei an der Schläfe, was seinen Angreifer zu Boden sinken ließ. Er war widerstandsfähig, dass musste ihm Finn lassen. Der Mann taumelte, ließ sich auf die Hände sinken und Finn holte zum finalen Schlag aus. Er kippte auf die Seite und es war Ruhe. Sich aufrichtend sah Finn sich um. Das zuckende Licht machte es schwer, den Mann zu erkennen. Ein kleiner Fisch, der von Sowa angeheuert worden war? Aber Sowa begnügte sich nicht damit, einen einzelnen Mann ins Feld zu führen. Ebenso wenig hielt es Asami. Und der Clan hielt ihn für tot. Selbst wenn nicht, dann hätte er wohl eher die restlichen Mitglieder von SIN am Hals, als einen einzelnen Mann. Ihm kam der flüchtige Gedanke, dass sich die Polizei für ihn interessieren könnte, verwarf ihn jedoch. Das war lächerlich und unter seiner Würde. Ein Spezialkommando hätte ihm dann doch eher geschmeichelt, aber nur ein Mann? Für wen hielten sie ihn denn?
 

Während er sich darüber den Kopf zerbrach, ging er zu seiner Tasche zurück. Auf dem Weg dort hin verfluchte er leise meckernd das zuckende Schwarzlicht und die Musik und fischte in der übergroßen Handtasche nach seinen Sneakers. Er griff sie sich und noch während er hineinschlüpfte spürte er, wie sich ihm jemand näherte. Er wirbelte noch in der Hocke herum in der Absicht, den Angreifer von den Füßen zu ziehen, als dieser auswich und seinerseits zum Gegenangriff überging. Er drängte seinen Verfolger in den langen Gang zurück. Er hörte kaum seinen eigenen Atem durch die Dauerbeschallung der Lautsprecher. Das zuckende Licht zeigte ihm lediglich, wo genau das weiße Hemd des anderen war. Finn zog aus den überlangen Ärmeln seiner Jacke zwei Stilette und rannte auf den Mann zu. Dieser griff in einen der Dolche, während der zweite noch immer auf seine Leber zielte, jedoch abgefälscht wurde, als der Mann sich drehte und Finn einen platzierten Hieb gegen den Kiefer versetzte, was ihn an die gegenüberliegende Wand schleuderte. Der Kerl hatte einen harten Schlag, stellte er fest und duckte sich intuitiv vor dem nächsten Schwinger zur Seite. Trotzdem prallte sein Kopf unsanft gegen die Mauer.

Das Licht sprang an und er rutschte die Wand hinunter, rollte sich sofort von dem Mann weg, der ihm nachsetzen wollte. Jemand rief etwas und Finn sprang auf die Füße, drehte sich um und fand sich mit Steam konfrontiert, der gerade eine Waffe sinken ließ.

„Was...?“ Finn hob fragend und vielleicht auch vorwurfsvoll die Hände. „Was sollte das? Glaubst du, ich werde mit dem nicht fertig?“, fuhr er Steam entrüstet an.

„Lang genug hat’s ja gedauert“, kam die lapidare Replik.

„Ich hatte nicht vor ihn gleich auszuschalten. Schließlich will ich wissen, wer mir auf den Fersen ist.“ Finn ging zu dem Mann, der auf dem Bauch lag. Das Gesicht war ihm abgewandt.

„Das kann ich dir sagen. Crawford... falls du ihn nicht kennst: Er gehört zu ner Gruppe, die sich Schwarz nennen. Erledigen besonders heikle Aufträge wie man so hört. Wende dich nur an die, wenn du wirklich Asche hast. Die machen nix, ohne dafür ordentlich zu kassieren.“

Noch während Finn dem Gesagten zuhörte, fror er innerlich ein. Brad... Nein NEIN! Nur einer konnte so... wütend oder so ... bescheuert sein, sich ihm allein zu stellen.

Er drehte ihn schnell auf die Seite. „Scheiße...NEIN.“ Seine Hand zitterte, als er den Puls zu fühlen versuchte. Immer noch kräftig. Er untersuchte ihn akribisch auf die Wunde, fand aber nur einen... „Was...? Hast du ihn betäubt?“

„Klar!“ Finn sah anhand dieser gut gelaunten Antwort auf. Ihm selber war seine gute Laune abhanden gekommen. „Es gibt einige Leute, die für den da ziemlich viel bezahlen würden“, hörte er durch das Rauschen in seinem Kopf, das an Intensität nach diesen Worten sprunghaft zugenommen hatte. „Wenn ich euch beide abliefere, gehören meine Geldsorgen der Vergangenheit an.“
 

Finn stützte seine Hand auf sein Knie und legte seine Stirn hinein. Er lachte leise. Aber es war kein frohes Lachen. Er sah durch seine gespreizten Finger hindurch Steam an.

Der hob einlenkend die Hand. „Sieh mich nicht so an. Ich meine ja nur. Sicher bin ich nicht der Einzige in dieser Stadt, der auf diesen Gedanken kommen könnte. Du musst zugeben, dass die Gelegenheit so schnell nicht wieder kommt.“ Steam wackelte mit den Augenbrauen.

Steam kam näher, während Finn sich aufraffte und begutachtete, was er selbst angerichtet hatte. Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken, dass er es jetzt endlich geschafft hatte, sich mit Brad persönlich anzulegen.

Die Hand blutete stark, ebenso die Flanke. Er riss Brads Hemd auf und besah sich die Wunde genauer. Das Stilett hatte ihm die Flanke aufgeschnitten, aber das sollte wieder zu flicken sein. Er konnte es sich zumindest schön reden – den Schlamassel, in dem er steckte – nein, den er angerichtet hatte.

„Ich wusste ja, dass die ganze verdammte Stadt hinter dir her ist, aber nicht, dass jemand Schwarz angeheuert hat. Wem hast du in die Suppe gespuckt, hmm?“

Finn verwirrten die Worte, sie kollidierten mit seinem Traum. Aber das hier war kein Traum, es war bittere Realität.

Es verunsicherte ihn dennoch, denn er war sich nicht sicher, ob Steam tatsächlich das unwissende Lämmchen war, das er vorgab zu sein, aber das spielte jetzt keine entscheidende Rolle mehr.

„Ich brauch einen Wagen.“ Finn stand auf und ging zu seiner Tasche. Er kramte sich sein Shirt heraus, griff sich das Stilett und schnitt lange Bahnen aus dem Stoff. Danach band er diese um die blutende Hand des Amerikaners.

„Wozu?“

„Um ihn hier weg zu bringen.“

„Der bleibt schön hier. Dich laufen zu lassen... nun... ich schulde dir noch etwas..., aber...“

Noch ehe er es bemerkte, war Finn aufgestanden und drückte ihm mit dem Fuß beinahe den Kehlkopf ein. Er röchelte und versuchte mit seinen Händen den Fuß von sich wegzuschieben. „Probier es ruhig, aber jeder Versuch bringt dich einem jämmerlichen Erstickungstod näher.“ Steam ließ seine Waffe nicht fallen, aber Finn würde ihm schneller einen Strich durch die Rechnung machen als Steam sie gegen ihn richten konnte. Seine Hand wurde ruhiger und Finn nahm den Druck etwas zurück.

„Lassen wir die Nettigkeiten doch für einen Moment außen vor. Ich brauche einen Wagen. Und ich werde ihn mitnehmen. Und du wirst mir dabei helfen. Ist das bei dir angekommen?“ Finn lächelte ihn aufmunternd an.
 

„Das Röcheln werte ich jetzt als Zustimmung.“ Er nahm seinen Fuß zurück und wartete noch einen Augenblick, bevor er Steam die Waffe aus der Hand nahm und sie innerhalb von Sekunden zerlegte. Die Einzelteile lagen vor Steam verstreut. Die zweite Patrone steckte er ein.

„Was willst du von ihm?“ Steam warf ihm Autoschlüssel zu, die Finn auffing und einsteckte. „Fass mit an.“

„Wir müssen hinten raus“, wies Steam ihn mürrisch an, während Finn ihm Crawford auf die Schulter hievte. Gott war der schwer.

„Ich hab gehört, wenn Schwarz einem auf den Fersen sind, dann kann man sein Testament aufsetzen. Das überlebt keiner“, faselte Steam, während sie den Gang entlanggingen. Unterwegs sammelte Finn seine Sneakers samt Tasche ein und schlüpfte endlich hinein. Das war viel besser.

„Das ist doch ihr Anführer oder nicht?“

„Kann schon sein“, brummte Finn, nicht wirklich an einem Gespräch interessiert.

„Ist dann der ganze Trupp nicht irgendwo hier? Das sind doch vier oder nicht?“

„Wenn sie hier wären, hätten sie ihn nicht allein gelassen und es wäre nicht soweit gekommen.“

„Versteh ich nicht.“

„Er macht wieder mal einen kleinen Alleingang“, entfuhr es Finn angesäuert. „Und siehst du nun, wo dich das hinführt, hä?“ Er schnickte Crawford mit den Fingern ans Ohr. Steam bekam davon nichts mit. Sie gingen so schnell es ihnen möglich war in Richtung Notausgang. Finn öffnete ihnen die Tür.

„Nimm den Landrover. Wir legen ihn hinten rein.“

Sie passierten zwei Lieferwagen und Finn schloss den Wagen auf. Es dauerte etwas, bis sie Crawford hinein gelegt hatten.

Finn schlug die Tür zu. „Was ist jetzt mit deinem Vater?“

„Er schickt dem Clan zwanzig Mann, verteilt über vier Wochen. Die erste Lieferung in vier Tagen. Sie schiffen sie ein und verladen sie gleich vor Ort über die Pharmacontainer.“

„Sind sie schon vorbereitet?“

„Ja. Sie werden in Kälteboxen geliefert.“

„Keine Rohware mehr?“

„Nein, zu heikel.“

Finn warf seine Tasche auf den Beifahrersitz und stieg ein. Er ließ den Motor an und fuhr aus dem Hinterhof in eine Seitenstraße. Erst einmal weg. An einer roten Ampel hangelte er nach seinem Mobiltelefon und warf einen Blick auf den Rücksitz. Da rührte sich noch nicht viel.
 

Er blätterte die Telefonnummern durch. Einen Moment zögerte er, bevor er die Wähltaste drückte.

Er brauchte Hilfe. Aber es war mehr als nur peinlich und beschämend, gerade diese Nummer wählen zu müssen. Nicht nur das, er scheute diese Konfrontation, weil sie mit Gefühlen einherging, die er lange verdrängt hatte, um sie zu vergessen. Um alles hinter sich zu lassen. Er seufzte geplagt. Das Telefon steckte er in eine Halterung an der Konsole.

„Ja“, meldete sich die strenge Stimme seines Vaters. Schneidend, hart wie Stahl. Finn hatte sie lange nicht mehr gehört. Er zögerte einen Moment.

„V...Vater? Ich bin' s... ähm Kaito. Ich...“

„Kaito. Was ist passiert?“ kam die barsche Replik und Finn schloss in der Schlange auf.

„Wie...wieso sollte etwas passiert sein...?“

„Mein Sohn, wo bist du?“

Mein Sohn? Jetzt plötzlich erinnerte er sich daran, dass er noch einen Sohn hatte? „Ich..? Im Wagen... ich bin unterwegs.“ Gott, wieso stellte er sich so dämlich an.

„Ich brauche deine Hilfe. Du... in deiner Vergangenheit warst du doch medizinisch tätig.“

„Ich bin Arzt. Was ist los? Bist du verletzt?“
 

Hörte er aus der barschen Stimme Besorgnis heraus, oder war das Wunschdenken?

„Nein. Nein. Aber ein Bekannter von mir. Ich... ich...“

„Kaito, hör auf zu stammeln.“

„Mein Schützling ist verletzt. Er braucht medizinische Hilfe. Er muss genäht werden und ist betäubt.“

Finn hörte im Hintergrund Stimmen. Wo war sein Vater?

„Warte einen Moment. Ich rufe dich unter der Nummer sofort zurück.“

„Nein...“ rief Finn aus, aber sein Vater hatte aufgelegt. Na herrlich. Falls sein Vater nicht auf seiner Seite stand, dann konnten sie jetzt das Signal verfolgen und wer auch immer seinen Vater unter Druck setzen mochte, würde ihn bald finden. Mit der nächsten Ampelschaltung schaffte er es über die Kreuzung und bog ab.

Er kaute sich halb die Nägel ab, bis ein Anrufer angekündigt wurde und er abnahm.

„Fahr nach Roppongi. Dort gibt es eine Wohnung für derlei Fälle. Ich treffe dich dort. Ich schicke dir die Adresse auf dein Mobiltelefon. Fahr in die Tiefgarage unter dem Komplex. Wir treffen dich dort.“

„Wir?“

„Hisoka und ich.“

„Hisoka ist da?“ Sein großer Bruder war da? Er hatte Hisoka schon so lange nicht mehr gesehen. Aber was würde sein Bruder über seinen Aufzug sagen? Und sein Versagen?

Er schämte sich schon jetzt in Grund und Boden. Und doch war Scham besser als die alte Wut, der verzehrende Hass, den er einmal auf seinen Vater gehegt hatte.

„Sei vorsichtig.“

Sein Vater legte auf. Schon der Gedanke an das Wort ‚Vater’ wühlte in ihm etwas Unaussprechliches auf. Er konnte dieses Gefühl nicht benennen, dass zu einer Vergangenheit gehörte, die ihn immer noch verfolgte. Respekt vor dem Mann, den er als Kind angehimmelt hatte, aber auch Wut darüber, was er aus reinem Pflichtgefühl heraus getan hatte, konkurrierten um die Vorherrschaft.

Er verdrängte diese unnützen Gedanken und die damit einhergehenden Gefühle, denn es gab im Augenblick wichtigeres zu tun. Er wusste nur zu gut, wie sprunghaft er manchmal war und wie sehr er sich von Gefühlen ablenken ließ. Manchmal fragte er sich, wie er so lange in diesem Geschäft hatte überleben können.
 

Es dauerte eine halbe Stunde, bis er sich durch den Verkehr gewühlt hatte und in die Tiefgarage einfahren konnte. Er parkte nahe dem Aufzug auf einem freien, aber wohl vermieteten Parkplatz. Er stieg aus und sah sich zunächst um. Er besah sich die Ein- und Ausgänge, kontrollierte die Feuertreppe und checkte die wenigen Wagen, die hier abgestellt waren. Vier Kameras leuchteten die Korridore und die Parkplätze aus. Das gefiel ihm zwar nicht sonderlich, aber er tröstete sich mit dem Gedanken daran, dass sie nur eine Frau mit langen, schwarzen Haaren aufzeichneten.
 

Mit seinem Rundgang deshalb nur marginal zufrieden öffnete er die Tür zum Rücksitz und kletterte vorsichtig über den liegenden Körper. Er strich Crawford die Haare zur Seite.

Sein Gesicht war blass, ein Blick unter die Lider verriet, dass die Pupillen viel zu eng waren. Was war in der Betäubungspatrone gewesen?

Er wusste, dass Sedativa bei PSI erheblichen Schaden anrichten konnten, mehr noch als Stichverletzungen.

Seine Hände waren blutig davon, als er Brad die Hand und die Flanke verbunden hatte. Das Blut klebte in der Zwischenzeit unangenehm an seinen Händen und er wischte es sich etwas gründlicher an der dunklen Hose ab. Die Blutungen schienen wenigstens zum Stillstand gekommen zu sein.

Sanft strich er über die entspannten Gesichtszüge. Er hatte für ihn getötet und er würde für ihn in den Tod gehen, wenn es nötig sein sollte. Falls er jemals in die Hände ihres Telepathen fallen sollte, oder ihres Empathen, dann gab es nur einen Ausweg – er musste dafür sorgen, dass gewisse Informationen sein eigen blieben. Bisher war es ihm gelungen, seine Gedanken für sich zu behalten. Kein Telepath würde in seine Gedanken dringen und sein Innerstes nach außen kehren.
 

Er berührte mit seinen blutigen Fingern die leicht geöffneten Lippen, nahm dann seine Hand wieder zurück. „Würdest du lachen, wenn sie mich foltern? Würdest du es genießen?“ Er sah in das schlafende Gesicht, das ihm keine Antwort gab. Er wusste nicht, wie Brad reagieren würde, aber er kannte Schuldigs Arbeiten, die diese spezielle spielerische Note hatten, mit denen er seine Opfer tötete. Er wusste auch um die Grausamkeit von Berserkers Vorgehen. Und er hatte gedacht, Crawford zu kennen, den eiskalten Bastard, der kalkulierende Kopf der Gruppe. Aber er hatte sich getäuscht. Kälte hatte er an diesem Abend und in dieser Nacht nicht verspürt, nur ein alles verzehrendes Feuer, dessen Keim er in ihm hinterlassen hatte. Die Saat war aufgegangen, seither hatte es keine Nacht gegeben, in dem ihn keine Albträume heimgesucht hatten. Immer wiederkehrende Variationen ein und der gleichen Situation – er fiel in die Hände von Schwarz – Schuldig spielte mit ihm und Crawford wohnte diesem grausamen Spiel bei und amüsierte sich mit kalter Verachtung an seinen Schmerzen, an seiner Verzweiflung und dem Flehen nach Gnade. Jeder der Träume endete mit seinem Flehen und einem grässlichen Lachen, dass ihn bis ins Mark traf. Das die Träume nicht der Wahrheit entsprachen, wurde ihm erst nach dem Erwachen bewusst, schon allein der Tatsache wegen, dass er niemals flehen würde und schon gleich gar nicht um Gnade.
 

Ihnen in die Hände zu fallen und Schwarz’ Folter ausgesetzt zu sein, die er geistig nicht überstehen würde, versetzte ihn seit einiger Zeit in eine irrationale Angst, die ihn selbst aus seinen Albträumen in den Tag folgte. Es gab eine Zeit, in der er sich allen überlegen gefühlt hatte, aus dem Gedanken heraus, dass er der einzige war, der die Fäden im Hintergrund zog, dass er Schwarz kannte, dass er wusste, wie sie tickten. Und doch wurde ihm nach der Nacht, in der er mit Crawford geschlafen hatte klar, dass er gar nichts wusste. Er war zu nahe ans Licht geflogen und er brannte seither lichterloh. Vorbei war die Selbstsicherheit, vorbei die Arroganz.
 

Er verharrte über Brad gebeugt bis er einen Wagen hörte, erst dann sah er über die Rücklehne und das Heckfenster nach draußen. Der Wagen hielt und er konnte sehen, wie sein Bruder ausstieg und sein Vater folgte. Er hatte immer noch diesen strengen Blick drauf und trug einen Anzug, sein Bruder Shirt und Jeans. Sie öffneten den Kofferraum. Finn sah metallene Koffer und er krabbelte über Crawford zurück nach draußen.

Er sah sich vorsichtig um bevor er näher ging. Hisoka bemerkte ihn als erstes. Er drehte sich zu ihm und legte den Kopf schief. Sein Vater bemerkte dies und wandte sich ebenso in seine Richtung. Seine Lippen bildeten einen missbilligenden Strich. Finn sackte das Herz in die Hose.

Er kniete sich auf ein Bein hinunter und senkte den Kopf. „Vater. Bruder.“

Er hörte wie sein Vater näher kam. Seine Schritte waren im Gegenzug zu denen seines Bruders zu hören.

Er spürte eine Hand auf seinem Kopf. „Steh auf, mein Sohn. Wir haben uns jetzt um etwas Wichtigeres zu kümmern als um alte Rituale. Dafür ist später noch Zeit“, sagte er milde.

Finn erhob sich und sah sich mit seinem Bruder konfrontiert. Er zögerte keine Sekunde, sondern ließ sich in eine harsche Umarmung ziehen. „Gott was zum Teufel hast du nur an?“

„Tarnung. Ich war unterwegs...“

„Siehst scharf aus!“

Finn fielen fast die Augen aus dem Kopf, als sein Bruder, der höflich und so zurückhaltend in diesen Dingen war, das sagte. Manche Dinge hatten sich wohl doch geändert.

„Hisoka“, tadelte sein Vater.

„Er ist im Wagen. Könntest du ihn nehmen?“ kam Finn wieder zu dem zurück, was sie hier so unerwartet zusammengeführt hatte.

Finn ging, nachdem sein Vater ihn angewiesen hatte, zu ihrem Wagen, hängte sich die Umhängetasche um und nahm zwei der Aluminiumkoffer an sich. Sein Vater griff sich auch eine Tasche und schlang sich eine zweite über die Schulter. Er schloss den Wagen ab. Finn kam zu ihnen, stellte die Koffer am Aufzug ab und ging zurück zu dem Geländewagen, wo sich Hisoka mit Crawford abmühte. Er schnappte sich noch seine Handtasche und verschloss den Wagen.

Finns Blick lag besorgt auf Crawfords Schopf. Er kaute auf seiner Unterlippe herum, als sie in den Aufzug stiegen. Sein Blick fokussierte sich auf Brads Gesicht, es juckte ihn in den Fingern, es zu berühren. Als er aufsah und sich mit dem forschenden Blick seines Vaters konfrontiert sah, richtete er sein Augenmerk auf die verschlossenen Aufzugtüren.
 

Offensichtlich wusste sein Vater genau, wohin sie mussten.

„Wer hat ihn erwischt?“

Finn blinzelte.

„Ich... ich hab ihn erwischt.“

„Das gibt Ärger“, brummte Hisoka.

„Du hast ja keine Ahnung“, wisperte Finn.

„Oh ich glaube, die haben wir schon, mein Sohn. Mr Crawford war schon das eine oder andere Mal bei uns in Behandlung, könnte man sagen. Warum hast du ihn angegriffen?“

Sie stiegen aus dem Aufzug aus und gingen einen kurzen Flur entlang.

Sein Vater öffnete die Tür mittels einer Karte und gab einen Code ein.

„Er hat mich angegriffen. Es war dunkel. Wenn ich gewusst hätte, dass er es ist, hätte ich ihn nicht verletzt.“ Frustriert sah Finn sich um.

Wo waren sie hier? Eine Wohnung? Er hatte sich etwas weniger Nobles als Behelfsversorgungszentrum für verwundete Killer vorgestellt.

Hisoka sah sich kurz um und ging dann vom Eingang aus nach Links. Sie kamen in einen offenen Wohnraum und legten Crawford auf einer ausladenden Couch ab.

Finn trug seine Last ebenfalls dorthin und legte die Koffer auf den Tisch ab. Er machte Platz für Hisoka.

Sein Vater öffnete die Koffer, während Hisoka die erste Untersuchung vornahm. Finn wandte den Blick ab. Crawford in dieser hilflosen Lage zu sehen, quälte ihn.

„Die ganze Geschichte“, wies sein Vater an während Finn unruhig vor der Fensterfront auf und ab tigerte.

„Ich war auf Asamigebiet. Eine Stippvisite bei Sowa, um...“

„Du bist zu Sowa gegangen? Diesen Dreckskerl? Was... hast du mit Sowa zu schaffen?“
 

„Nein. Ich stehe in Kontakt mit seinem Sohn. Er liefert mir Informationen über den Nachschub an Männern, die sie an die Sakurakawas liefern. In einigen Tagen geht wieder eine Lieferung über die Bühne. Ich plane, ihnen den Nachschub abzuschneiden. Es sind bereits zwei Sektionen in Kyoto. Das sind zu viele.“
 

„Gut, und weiter?“
 

„Keine Ahnung. Steam dreht sich plötzlich um und sagt, ich solle abhauen, weil mir jemand auf den Fersen ist. Also bin ich raus in den Darkroom und kurz darauf ist mir wohl Crawford gefolgt. Es war dunkel, nur Schwarzlicht und Steam, dieser Idiot, hat die Musik so laut aufgedreht, dass ich nichts verstanden hätte, selbst wenn Crawford mir etwas zugebrüllt hätte.

Er griff mich unentwegt an und schließlich bin ich zum Gegenangriff übergegangen. Er wehrte das Stilett mit der Rechten ab und griff voll rein. Gott, ich hätte ihn töten können. Ich zielte auf seine Leber, aber ich bin abgerutscht und es hat die Flanke getroffen.

Aber er ließ immer noch nicht ab. Dann ging das Licht an und Crawford lag da. Steam hat ihn betäubt.“ Er kramte die zweite Patrone aus seiner Hose hervor und legte sie auf den Tisch neben die Koffer.

„Er sagte, für ihn würde man momentan viel bekommen.“ Finn verstummte.
 

„Er wollte ihn verkaufen?“
 

Finn holte tief Luft und wandte sich dem Fenster zu. Sie würden ihn kriegen, wenn er ihn nicht davor bewahren konnte. Aber wie sollte er das jetzt noch schaffen? Er hatte sich selbst ins Aus befördert und das nur, weil er Gefühle für diesen Mann hegte, die ihn selbst verletzlich machten. Das konnte er sich nicht leisten. Er war nie der emotionslose Killer gewesen, zu dem Chiyo ihn heranzüchten wollte. Nicht wenn es um Bradley Crawford ging. Dieser Mann war seine Achillesferse und nur durch ihn war er imstande zu tun, was nötig war, und nur durch ihn war er zu Fall zu bringen. Sein ganzes Leben drehte sich um diesen Mann und auch sein Tod würde sich wohl darum drehen.

„Ja“, sagte er tonlos.

„Sie sind bereits in der Stadt.“
 

„Sie sind hier? Seit wann?“ Sein Vater schien geschockt.
 

„Seit Jahren. Ich konnte ihren Spion einige Jahre ablenken, aber das geht jetzt nicht mehr. Ich bin raus.“
 

„Warum bist du dann nicht gleich zu uns gekommen?“
 

Warum nicht? Konnte sich das sein Vater nicht denken? Er hatte ihn vor Jahren im Stich gelassen – er war noch ein Kind gewesen. Und was war aus ihm geworden? Er prostituierte sich, um andere zu manipulieren und seine Ziele zu erreichen. Er tötete wie eine giftige Spinne, die ihre Opfer in ein Netz verwob, aus dem sie nicht mehr entkamen. Sein Vater trug mit Schuld daran, aber ihm das jetzt zu sagen trug nicht dazu bei, Hilfe für Brad von ihm zu bekommen. Die Hand, die einen fütterte zu beißen war nicht gerade klug. Wie oft hatte er daran gedacht, seinen Vater zu töten, als Chiyo ihn für Ungehorsam oder nicht korrekt ausgeführte Aufträge bestraft hatte? Wie oft hatte er sich vorgestellt, alle dafür zu töten – später, wenn er älter sein würde, hatte er sie alle dafür betrafen wollen.
 

Doch als er dann endlich älter geworden war, hatte er nicht mehr an Rache gedacht, sondern nur noch an seinen Schützling, den es zu bewahren galt. Denn der Moment, an dem er Crawford begegnet war, diesem Jungen, der mit Problemen gekämpft hatte, derer er kaum Herr geworden war und der Dinge gesehen hatte, die ihn nach außen hin ebenso einsam gemacht hatten wie Finn zum damaligen Zeitpunkt selbst, hatte den Hass auf die Welt in den Hintergrund treten lassen. Diese Begegnung hatte sein Denken verändert und den Wunsch geprägt, stärker zu werden, hatte seinen Willen gefestigt, alles dafür zu tun, dieses Wesen zu beschützen. Er hatte die Ausbildung ertragen, denn er hatte ein Ziel vor Augen gehabt. Nicht der Wunsch, diesem Jungen nahe zu sein, war damals wichtig gewesen sondern alleinig sein Wohl. Das hatte sich über die Jahre geändert.
 

Jetzt wollte er ihm nahe sein, wollte auf sich aufmerksam machen. Chiyo hatte ihn davor gewarnt. Vielleicht wäre es gelungen, wenn er weniger Emotionen in sich tragen würde, wenn sie es geschafft hätte, sie ihm auszutreiben. Dann hätte er sich nicht so nahe an ihn geschlichen, wie ein hungriger Lakai an die reich gedeckte Tafel seines Herrn. Dabei hielt er sich zumindest eines zu gute: er hatte nie auch nur im Ansatz die Hoffnung besessen, dass Crawford seine Gefühle erwidern würde. So viel war ihm immer bewusst gewesen. Deshalb war es auch zu verlockend gewesen, als sie sich im Cafe begegnet waren und der Amerikaner Interesse bekundet hatte. Keine großen Gefühle, aber dennoch körperliche Annäherung, die seinen Hunger etwas stillen konnte. Die Falle, die sich vor ihm aufgetan hatte, war unübersehbar gewesen, und trotzdem war er mit Freude hineingetappt. Als wäre er blind gewesen – denn der Hunger, den er danach verspürt hatte, konnte seither nicht mehr gestillt werden. Er war verloren in diesem Sehnen und es gab für ihn keinen Ausweg, denn er kannte sich selbst zu gut, er würde Brad Crawford nicht ziehen lassen, ihn nicht der Übermacht von Rosenkreuz überlassen. Dazu war er zu geduldig und wenn die Droge seinen Geist vernebeln würde, wenn er verrückt wurde wie die anderen vor ihm, die dem Serum zu lange ausgesetzt waren, dann würde er sich Crawford nehmen und ihn nicht mehr aus seinen Händen lassen. Bevor dies geschah, musste er dafür sorgen, dass Crawford vor ihm sicher war und das würde bedeuten, dass er sich selbst töten musste. Liebe konnte nicht erzwungen werden, jetzt wusste er das, aber wenn die Droge sich seiner bemächtigte, gab es keine Ratio mehr. Er würde ihn zerstören.
 

„Kaito?“ unterbrach Hisoka die düsteren Überlegungen seines Halbbruders.
 

Finn sah durch die Fensterfront und ihm kam die Höhe im Moment sehr verlockend vor. Vielleicht wäre es gar nicht so unklug, es gleich jetzt hinter sich zu bringen. Sein Vater konnte sich vor Augen führen, was aus ihm geworden war, und wenn noch ein Funken eines liebenden Vaters in ihm steckte, würde er genauso leiden, wie er all die Jahre gelitten hatte. Hinzu kam natürlich noch die Schande eines derartigen Selbstmordes.
 

Er wandte sich nicht um aber er antwortete, wenn auch mit leiser Stimme.

„Weil ich euch nicht mit reinziehen will. Kiguchi ist immer noch drin. Er versucht, den Jungen im Auge zu behalten. Ich habe momentan keinen Kontakt zu ihm.“
 

„Wer ist dieser Spion?“
 

„Somis rechte Hand. Er nennt sich Superbia und war schon vor mir für SIN rekrutiert worden. Sein Name unter Somi ist mir nicht bekannt. Aber er gehört schon lange zu Rosenkreuz. Er hat auch unter SZ Furore gemacht, wie mir meine Kontakte zugetragen haben.“
 

„Wie lange ist er schon beim Clan?“
 

„Lange Zeit. Dass er ein Telepath ist habe ich erst vor ein paar Jahren entdeckt. Das war auch der Grund, warum ich mich dem Risiko des Serums ausgesetzt habe.“
 

„Du hast es genommen?“, hakte Hisoka nach und sein Tonfall barg einen versteckten Vorwurf über diese Tatsache.
 

„Ich nehme es immer noch“, gestand er. „Nur dadurch war ich für ihn nicht lesbar. Ohne das Serum hätte ich niemals in seine Nähe kommen können. Anfangs war es Superbia, den ich täuschen wollte, dann war es taktisch sinnvoll, dass ich mich vor Schwarz verbergen konnte. Wenn Superbia meine Gedanken lesen könnte...“
 

„Was würde er dann wohl wissen...?“ hörte Finn eine Stimme in seinem Rücken, die so sanft und neutral klang, dass es ihm beinahe noch übler wurde. Er erstarrte und fühlte sich wie mit Eiswasser übergossen. Er wagte sich nicht umzudrehen, denn er wollte seinen wahr gewordenen Albtraum nicht in die grünen Augen blicken.
 

Eine Falle. Er stand immer noch dort, sein Körper taub, und starrte in die Nacht hinaus. Die Lichter waren so schön, so verlockend von hier aus. Ein schöner Ort zum Sterben. Hoch über der Stadt, die Wohnung gehörte dem Mann, den er sein Leben lang begleitet hatte, wie ihm jetzt bewusst wurde. Das war keine x-beliebige Wohnung, nein, sie gehörte dem Mann, den er verletzt hatte. Er hatte ihn nach Hause gebracht. Und hier stand er nun mit dem Rücken zur Wand.

Das war es also. Sein Ende.

Seine Familie, wenn man das so nennen konnte, hatte ihn verraten. War das nicht ein passender Schluss für sein Leben? Es fing mit dem Verrat an dem Kind an und hörte mit dem an dem Mann auf. Sein Schützling von ihm selbst verletzt, vielleicht trug er für immer Schäden davon. Er selbst sah sich Folter gegenüber.
 

Er spürte einen Druck in seinem Kopf wie von tausend Messern. Schmerz, der gleißend hell hinter seiner Schädeldecke explodierte, ließ Tränen in seine Augen schießen. Wie viele Lügen hatte er in seinem Leben gehört, wie viele geglaubt und noch mehr eingeflüstert? Blinzelnd presste er die Kiefer zusammen und öffnete mit einer schnellen Bewegung die Tür zur Terrasse. Hinter sich vernahm er hektische Betriebsamkeit, die ihn zum ersten Mal in seinem Leben nichts mehr anging. Er sprang auf das Geländer und hörte nur die harschen Rufe seines Vaters und seines Bruders. Sie wussten, was er tun würde. Aber ein letztes Mal würde er noch...

Und wieder beging er einen Fehler, er verschenkte kostbare Zeit und das nur, weil er einen letzten Blick auf sein Leben werfen wollte.
 

Er drehte sich auf dem Geländer herum und sah Brad auf der Couch liegen. Seine Augen waren geschlossen. Finn lächelte.

Er erhob sich und sprang. So viele Momente nicht gelebt, so viele Augenblicke, denen er nachtrauerte. Arme, die sich um ihn schlangen, ihm Schutz und Geborgenheit gespendet hatten. Einmal hatte er fühlen dürfen, wie es war, nicht einsam zu sein, einmal genießen dürfen, einmal es leben.
 

Und einige Dinge, die nie seine Gedanken verlassen durften.
 

Er spürte die raue Luft um sich, als er den Zenit überschritt und den Fall antrat, als sich schmerzhafte Klauen um seinen Körper schlossen und er ruckartig zurückgerissen wurde. Sie schnitten in sein Fleisch, rissen an ihm, als wollten sie mit brachialer Gewalt vermeiden, dass er so einfach davon kam. Er prallte hart gegen einen Widerstand und wurde in die Dunkelheit gerissen.
 


 


 

Wird fortgesetzt...
 

Vielen Dank fürs Lesen!

Ich bedanke mich fürs Beta bei ‚snabel’ ^__^
 

Gadreel



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Jin-A
2013-02-20T18:00:50+00:00 20.02.2013 19:00
O_________________________O
*Herzattacke*
Ich wäre fast gestorben vor Angst, Kaito könnte sterben O.O Boaaaa meine Güte sind das zwei heftige Kapitel gewesen. Schon beim Traum von Finn dachte ich, ohoh was kommt jetzt. Mich würde echt interessieren, wie Schuldig auf Kaito zu sprechen wäre, wenn er seine Gedanken lesen könnte.

Diese kulturelle Ehrerbietung und das Harakiri von Kaito, gaben seinem Wesen in diesem Kapitel echt Pepp. Ich muss wirklich sagen, dass er inzwischen einer meiner liebsten Charaktere geworden ist.

Und irgendwie habe ich aus dem letzten Satz von Brad ein gewisses verständnis für Kaito rausgehört. Zuvor hat er immer den Hass auf Kaito betont, aber mit dem Wissen um die Bedeutung der Tatoos hat man das Gefühl vermittelt bekommen, das Brad sich überhaupt nicht mehr sicher ist, was er eigentlich denken soll von Kaito. und dann dieses "Was würde er dann wohl wissen...?" von ihm wirkte wie ein Versprechen ihn erst anzuhören, bevor seine Entscheidung für oder gegen ihn richtet. Und dann will er sich umbringen....argggg...

Mitte März wird herzlich herbei gesehnt ^^

LG Jin-A (alias Yakarta bei LJ)
Antwort von:  Gadreel_Coco
23.02.2013 13:15
Hi Jin-A ^_-

Ich liebe Finn auch sehr, aber er treibt die Menschen in seiner Umgebung manchmal an den Rand der Verzweiflung. Und der Eindruck was Brads Gefühle für Finn betrifft täuscht nicht - er hat keinen Schimmer wie er mit ihm umgehen soll. Jetzt hat er ihn... und was nun? Und dann springt der Kerl auch noch als würde es nichts bedeuten über die Brüstung. Die Frage die sich mir oft stellt ist : wäre er gesprungen wenn Brad ihn zurückgehalten hätte? Wenn Brad wach gewesen wäre? Eine Frage die sich wohl nicht mehr beantworten lässt.
Ich glaube nicht, dass Brad Finn hasst, er will nur nicht dass sein Leben fremdbestimmt wird. Was ich durchaus nachvollziehen kann. ^.^
Mal sehen was noch so alles auf die Bande zukommt.

Vielen Dank! Und bis zum nächsten Mal ^__^

Liebe Grüße

Gadreel
Von:  Casino
2013-02-19T09:48:01+00:00 19.02.2013 10:48
NEIN!!! Hier kann doch nicht Schluss sein TT___TT
Warum tust du das? Nervenkitzel pur und du hörst hier auf. Folter~
Ich dachte beim lesen eben nur "Wenn sie hier aufhört, schrei ich!" und du hörst tatsächlich hier auf....
Ich hoffe das der nächste Teil bald kommt.
Von Oktober bis gestern war eine echt lange Zeit, wo doch alles gerade auf den Kollaps zusteuert.
Liebe Gadreel, es sind wieder zwei wundervolle Kapitel geworden, die mich vom ersten bis zum letzten Buchstaben gefesselt haben.
Ganz liebe Grüße
Casino
Antwort von:  Gadreel_Coco
20.02.2013 01:36
Hi Casino!
Ich war und bin noch in Prüfungsstress, deshalb verzögert sich alles ein bisschen.
Der nächste Teil kommt bald, ich habe ihn noch nicht zum Beta geschickt, das wird wohl erst nächste Woche passieren, aber ich hoffe, dass wir es hinbekommen, dass der nächste Teil Mitte März online geht. Vielen Dank! Liebe Grüße, Gadreel ^__^


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