- Eiskalt -
Zitternd schlang er die Arme enger um seinen Oberkörper, dabei immer bedacht,
Nathanaels nun recht schwere Tasche nicht fallen zu lassen, musste dabei wieder
an Nathanaels (er hatte beschlossen, dass ihm dieser Name besser gefiel, denn
irgendwie war der Junge trotz seines Jobs doch irgendwie sehr engelhaft)
spärliche Bekleidung denken. Am liebsten hätte er seine Mutter gebeten, den
Jungen für eine Weile bei sich aufzunehmen, aber er wusste, dass jener dies
niemals angenommen hätte, sei es aus Stolz oder aus peinlicher Berührtheit. Also
hatte Caspar getan, was er konnte, hatte Nathanael ein paar belegte Brote, zwei
Äpfel und eine Tafel Schokolade eingepackt, weil er so mager war und wenigsten
heute, oder besser gesagt morgen, sollte er nicht hungern müssen. Außerdem noch
einen kuschelig weichen Pullover, der dem Kleineren vielleicht ein wenig zu groß
sein, ihn auf jeden Fall aber wärmen würde. Auch das Notizbuch, dass Nathan
"vergessen" hatte, befand sich in der Tasche, die an seiner breiten Schulter
hing. Allein die Zeichnung, die er von dem Schwarzäugigen gemalt hatte, stand
noch bei ihm zu Hause in einem kleinen schwarzen Rahmen, da es das einzige Bild
von diesem war, das er besaß, und er sich einfach nicht davon hatte trennen
können.
In der Zeit, in der Nathanael verschwunden war, hatte er in dem Notizbuch
weitergeschrieben und nicht selten waren Zeilen wie "Ich vermisse ihn" oder
"Langsam macht es mich wahnsinnig" zu finden, doch als Caspar es eingepackt
hatte und auch jetzt noch, war ihm dies entfallen - vielleicht hatte ja auch das
Schicksal seine Finger im Spiel.
Nur die kleinen Tüten mit dem weißen Pulver darin, welche er alle samt und
sonders in der Toilette entsorgt hatte, waren nicht mehr in der abgewetzten
Tasche und da Caspar annahm, dass Nathanael es sofort bemerken und ihn fortan
ewig hassen würde, hatte er zu guter Letzt noch einen kleinen Brief in
feinsäuberlichen Lettern beigelegt. Für einen Außenstehenden waren die üblichen
Fragen wie etwa "Ich hoffe es geht dir gut?" sicherlich nur Belanglosigkeiten,
doch für den Blondschopf waren sie bitterer Ernst. Wie oft hatte er sich
gefragt, wie es dem Kleinen wohl gerade ging und hatte gleichzeitig befürchtet,
jener könnte schon längst leblos in irgendeiner dunklen Gasse liegen. Was jedoch
die Drogen anging, so hatte er sich mit keinem Wort entschuldigt, hatte im
Gegenteil sogar ausdrücklich geschrieben, dass es ihm nicht Leid tat und dass er
Nathanael die Drogen einfach niemals hätte geben _können_.
Während der Medizinstudent bibbernd die Kälte verfluchte, näherte er sich
Nathanaels Arbeitsplatz.
/Arbeitsplatz.../ Bei diesem Gedanken verdunkelte sich Caspars Gesicht wie eine
schwarze Gewitterwolke den Sommerhimmel. Verdammt, der Junge war hübsch und ganz
bestimmt nicht dumm - wie konnte es also sein, dass ihm in ihrer ach so
zivilisierten Welt und ihrem Land der Freiheit und grenzenlosen Möglichkeiten
nichts anderes blieb, als sich an schmierige Perverse zu verkaufen?
Im nächsten Moment erblickte er die schlanke Gestalt des anderen, atmete
erleichtert auf. /Endlich.../
Doch schon in der darauf folgenden Sekunde tauchte ein unangenehm aussehender
Mann mittleren Alters auf, wollte offensichtlich, dass der Jüngere mit ihm kam.
Ohne dass er es registrierte, begann Caspar loszurennen.
Nun konnte er auch die Stimmen der beiden hören, vernahm, wie Nathanael
verärgert rief: "Verzieh dich, ich bin fertig für heute!"
Vielleicht hätte er das nicht tun sollen, denn der deutlich betrunkene Mann
schien Abfuhren gar nicht gut zu ertragen und begann schon handgreiflich zu
werden, als der Braunäugige endlich die letzten Meter überwunden hatte und
seinen erklärten Erzfeind ohne lange zu fackeln niederschlug.
"Lass uns gehen", sagte er grob und zog den Jüngeren ohne eine Widerrede zu
dulden einfach mit sich. Normalerweise hätte er den Jüngeren im Gegenteil sogar
_gebeten_, doch nun war er einfach zu wütend, musste schnell hier weg um den
"Kunden" nicht noch aus reiner Mordlust umzubringen, die nun in ihm brodelte,
heißer als reinster Hass, konnte den Gedanken, dass sich diese engelsgleiche
Gestalt tagtäglich benutzen lassen musste, einfach nicht ertragen.
Caspar bemerkte nicht, wie die Zeit verging oder wie Nathanael ab und zu
versuchte, sich zu wehren und aus seinem stählernen Griff loszureißen, bis sie
auf einmal an seinem Lieblingsplatz angekommen waren und die kalte Wut in ihm so
plötzlich verschwand wie sie aufgetaucht war. Erschöpft und zitternd, doch nicht
vor Kälte, ließ er sich gegen den Stamm einer alten Eiche sinken, schloss für
einen Moment einfach nur die Augen und atmete tief durch, während er darauf
vertraute, dass der Kleine blieb, wo er war.
Schließlich hatte er sich weit genug gesammelt, um betreten zu flüstern: "Tut
mir Leid... Dir ist es sicher nicht recht, wenn ich deine Kundschaft verprügele,
aber..." Er brach ab, schüttelte angeekelt und wütend den Kopf. "Nein, verdammt,
es tut mir eben nicht Leid! Dieser Perverse hätte dich vermutlich sogar einfach
vergewaltigt, wenn ich ihn nicht niedergeschlagen hätte!!"
Alain beendete seine Schicht früher als sonst. Er hatte kaum mehr die Kraft nur
herum zu stehen und wäre sicher beim nächsten Kunden zusammengebrochen.
Seine Hand glitt wie von selbst in seine Hosentasche und griff nach einem
Messer, das er immer für den Notfall dabei hatte, als ein fetter, nach Alkohol
stinkender Mann auf ihn zuwankte und seine wurstfingrige Hand unter Alains Hemd
gleiten ließ. Er wies ihn mit einer Kälte zurück, von der er fürchtete, sie nie
mehr los werden zu können. Er hielt sie auch wie einen Schutzschild vor sich,
als Caspar überraschend auftauchte und ihn hinter sich her zerrte, ehe Alain
auch nur begriffen hatte, was geschehen war. Er brauchte sie, um sich gegen
Caspar zu wehren. Er wollte ihn nicht mit in die Sache mit seinem Vater
hineinziehen. Aber dies war nicht der Hauptgrund. Das einzige, das ihn davon
abhielt, schluchzend in die Arme des rettenden Engels zu werfen, war die Angst,
dass er sich falsche Hoffnungen machen könnte.
/Vielleicht ist `falsche Hoffnungen machen´ auch die falsche Formulierung/,
dachte er. Er machte sich keine "Hoffnungen" auf ein besseres Leben, unter dem
Schutz eines Mannes, der versucht hatte, ihm _echte_ Zuneigung
entgegenzubringen. Daran glaubte er schon lange nicht mehr. Doch er wollte
einfach mal wieder einschlafen, ohne sich sorgen zu müssen, ob er am nächsten
Tag wieder erwachen würde, oder erfroren, mit zerschnittener Kehle, oder einfach
von den allzeit präsenten Ratten getötet unbemerkt für immer in diesem Dreckloch
liegen würde.
Es bereitete ihm keine Mühe, mit Caspar Schritt zu halten. Als dieser keuchend
anhielt blieb Alain nur wenige Schritte vor ihm stehen und beobachtete
fasziniert, wie seine Haare im Licht einer Straßenlaterne golden glänzten, hörte
erst schweigend zu.
/Jetzt!/, schrie sein Verstand, /Bitte ihn jetzt, dich mitzunehmen!!/ doch die
Worte, die aus seiner Kehle drangen, waren nicht dieselben:
"Was sollte das?" hörte er sich selbst wie von fern fragen, "Wieso
vergewaltigen? Das ist mein verdammter JOB! Ich schreibe Ihnen auch nicht vor,
was Sie tun sollen und was nicht!
Wenn Caspar den Wechsel zum höflichen "Sie" überhaupt bemerkte, ignorierte er
ihn einfach.
"JOB?", ächzte Caspar. "Das... das ist kein _Job_, das ist-"
Caspar zuckte zusammen. Nein, er hatte nicht das Recht, das zu verurteilen, was
Nathanael tat. So schluckte er mühsam seine mit Fassungslosigkeit durchmischte
Wut herunter, sah den Jüngeren ernst an, musterte ihn von oben bis unten,
überging dessen Antwort, auch wenn sie höllisch schmerzte und er etwas dazu
hätte sagen müssen. Er sah blass aus und fror so erbärmlich, dass es dem
Einundzwanzigjährigen beinahe körperlich wehtat den Kleinen so zu sehen.
Schweigend stellte er die Tasche vor Nathanaels Füße, immer darauf bedacht, ihn
jetzt nicht zu berühren, da er dann für wirklich gar nichts mehr hätte
garantieren können, war er doch schon jetzt so unendlich erleichtert - nein,
_glücklich_ - ihn mehr oder weniger unversehrt zu sehen. Dann schloss er die
Augen, wisperte leise: "Du weißt, dass die Naht wieder aufplatzen wird, wenn du
dich überanstrengst, oder?"
Einen Moment war er von Caspars Antwort irritiert.
/Welche Naht.../, doch als hätte der Gedanke an die Wunde den Schmerz neu
entfacht, fühlte er das Brennen und wunderte sich, wie er sie so lange hatte
ignorieren können.
Hastig griff er nach der Tasche, die Caspar vor ihm auf den Boden gelegt hatte.
Er hörte, wie der Schwarzhaarige die Tasche schulterte, _spürte_ den zögernden
Blick auf seiner Haut, bevor jener mit hörbar zur Teilnahmslosigkeit gezwungener
Stimme antwortete: "Ich muss jetzt nach Hause."
Obwohl Caspar ihn am liebsten durchgeschüttelt hätte, blieb er still und wo er
war, lachte nur eiskalt auf: "Ja, natürlich, ich vergaß... dein _liebevoller_
"Vater" wartet sicher schon auf dich..."
Bitter wandte er sich ab.
/Sag es ihm!/, verlangte die hartnäckige Stimme in seinem Kopf /Bitte ihn, dich
über Weihnachten aufzunehmen!/, doch da Caspar sich schon abgewandt hatte
murmelte er leise ein paar Worte zum Abschied und ging eilig wieder zurück in
die Richtung, aus der er mit Caspar vor kaum 3 Minuten gekommen war.
Verzweifelt lauschte er mit geschlossenen Lidern, wie Nathanael davonlief, die
durch den Schnee knirschenden Schritte schnell immer leiser wurden.
Und in genau diesem Augenblick hielt Caspar es nicht mehr aus, zerfiel die Maske
der Unberührtheit zu Staub, konnte ihn nicht mehr länger davon abhalten, dem
Jüngeren zu folgen, ihm bis zu seinem zu Hause nachzulaufen.
Er wechselte die Tasche, die er nicht so schwer in Erinnerung gehabt hatte, von
der linken zu rechten Schulter und stapfte durch den noch immer dicht fallenden
Schnee davon. Verwundert drehte er noch einmal den Kopf, als eine seiner
Kolleginnen ihn zurückrief, als er wortlos an ihr vorbeilaufen wollte. Es war
die kleine Rothaarige, die vor einem Jahr ins Geschäft eingestiegen war.
"Fröhliche Weihnachten! Ich weiß, dass das erst übermorgen ist, aber ich hab mir
Urlaub genommen, also werden wir uns vorher nicht nochmal sehen.
Übrigens: ich heiße Pia.", rief sie ihm zu.
Alain blieb perplex stehen und starrte sie an. Erst als er sicher war, dass sie
nichts weiter sagen würde, keine hämische Bemerkung machen, und ihr Lächeln
immer schwächer wurde, wagte er es, das Lächeln zu erwidern.
Hastig drehte sie sich wieder weg und Alain ging, in einem merkwürdigen Gefühl
der Melancholie, den Blick nicht, wie sonst, zu Boden gerichtet, sondern den
fallenden Schneeflocken entgegen gehoben, den Kopf weit in den Nacken gelegt,
zielsicher durch einige düstere Gassen nach Hause. Doch je weiter er sich von
dem weihnachtlich geschmückten Straßen entfernte und immer weiter in die
stinkenden Slums vordrang, desto mehr veränderte sich das Gefühl, desto weiter
senkte sich sein Blick, und als er nicht einmal in der Ferne Lichter blinken und
Weihnachtsmusik dudeln hören konnte, rannte er, ohne gemerkt zu haben, wann er
damit angefangen hatte, die Augen auf seine Schnee aufwirbelnden Schuhspitzen
gerichtet.
Ohne auch nur einmal aufzusehen, bog er in einige der kleineren Gassen ein.
Vor einer alten Bauruine, einem bedrohlich düsterem Rohbau, noch ohne Treppen,
Türen oder Fensterscheiben, blieb er stehen. Er warf einen hastigen Blick über
die Schulter zurück ehe er sich durch die mit nicht abgeholtem Sperrmüll und
liegen gelassenem Baumaterial verbarrikadierte Türöffnung zwängte.
Drinnen war es genauso kalt wie draußen, doch hier war er wenigstens vor
schneidendem Wind geschützt. Hohes, lautes Quieken ließ ihn herumfahren, als
eine der vor der Tür liegende Küchenzeile umkippte. Ratten huschten zwischen
seinen Füßen hindurch, krallten sich in seine Beine, wenn er versehentlich einer
auf den Schwanz trat.
Wütend fluchend bahnte er sich seinen Weg durch die fliehenden Tiere zu einem
der Metallpfosten, die das Dach stützen sollten. Einige Augenblicke tastete er
blind an dessen Rückseite entlang, bis er das alte Seil fand, dass er dort
befestigt hatte.
Die ersten zwei Wochen, in denen er hier gelebt hatte, hatte er im Erdgeschoss
ausgehalten, doch dann beugte er sich den Gesetzen der Tierwelt und kletterte an
einem Pfosten hinauf, in den ersten Stock, um den aggressiven Ratten und hin und
wieder hier unten übernachtenden Obdachlosen zu entkommen.
Dort hatte er fast ein Jahr gelebt, als er eine neue Entdeckung machte, die ihn
dazu brachte, noch weiter oben zu leben: einen großen Stapel liegen gelassenen
Baumaterials, vor allem Steine, Balken und Seile. Daraus hatte er sich ein
eigenes "Haus" gebaut. Eine 5 m² große Nische, im hintersten Winkel des
Geschosses, hatte er mit einer Mauer aus Steinen, die er einfach übereinander
gelegt hatte, abgetrennt, mit Balken überdacht und seine, vom Sperrmüll geholte,
kaputte Matratze und seine ganze Habe, unter anderem eine beeindruckende
Sammlung verschiedenster Klingen (von Küchenmessern, die er bei "Hausbesuchen"
mitgenommen hatte, über Taschenmesser bis zu seinem persönlichen Stolz: einem
schönen, mittelalterlichen Dolch (natürlich alles gestohlen)) darin versteckt.
Ein paar Schritte davon entfernt stand eine rostende Metallwanne, bis zum Rand
mit, von einer dicken Eisschicht überzogenem, Regenwasser gefüllt. Ein
"Trampelpfad" in der dicken Schicht aus Staub und der durch die leeren
Fensteröffnungen hereingewehte Schnee zeigten deutlich, welchen Weg Alain
normalerweise zurücklegte.
Er kletterte an dem Seil nach oben, war jedoch zu faul es einzuziehen.
/Nachher!/, dachte er, /Wenn ich geschlafen hab. Es ist schon ewig keiner mehr
hier gewesen!/
Müde schleppte er sich zu seiner Schlafkammer, zündete einen der überall
herumliegenden Kerzenstummel an. (In Gedanken eine Entschuldigung, an Gott
gerichtet, formulierend. Seine Kerzen stahl er meistens in einer Kirche, da
diese nicht so gut bewacht wurden wie die Kaufhäuser.)
Dann zog er sich aus, nahm einen Stein von einem, im krassen Gegensatz zum Rest
der Etage, ordentlich gestapelten Haufen und stapfte nackt auf die Wanne zu.
Davor ließ er sich schwerfällig auf die Knie sinken und schlug immer und immer
wieder auf die Eisschicht ein, bis sie splitternd zerbrach. Das Eis fischte er
heraus und stieg in die Wanne.
Nach den Minusgraden draußen war das noch ungefrorene Wasser richtig angenehm
und er kniete sich, einen leisen Seufzer nicht unterdrücken könnend, in die
Wanne.
Seine Tasche, die er direkt neben sich gelegt hatte, zog er nun zu sich heran
und holte daraus eine Haarbürste hervor. Sofort meldete sich sein schlechtes
Gewissen. Er würde Morgen gleich losgehen und sie Caspars Mutter zurück geben!
Morgen! Oder übermorgen...
Er versuchte eine Weile sich wenigstens die schlimmsten Knoten aus den Haaren zu
kämmen, aber da er so was nicht oft tat (so etwa aller drei Jahre, wenn er nicht
einen Friseur unter seinen Kunden hatte), verhedderte er sich hoffnungslos und
gab es bald wieder auf.
Den Kopf hängen lassend versuchte er sich zu entspannen. Er änderte diese
Haltung vorerst auch nicht, als er leise Schritte näher kommen hörte. Erst als
die Person, die offensichtlich nicht gehört werden wollte, hinter ihm stand, hob
er den Kopf und griff unauffällig nach einer wasserdichten Blechdose, die am
Grund der Wanne gelegen hatte.
"Was willst du, Vater?", fragte er leise, während er die Dose unter Wasser
öffnete, und das Schweizer Messer, das darin gelegen hatte, herausnahm und
öffnete. "Ich habe das Geld noch nicht. Oder bist du nur gekommen, um zuzusehen,
wie ich in diesem Dreckloch hocke, immer hungrig. Wie ich Tag für Tag um meine
Existenz kämpfe, wenn auch nicht immer mit ganz legalen Waffen? Warum kommst du
immer wieder? Es ist immer dasselbe. Wann fängt es dich wohl zu langweilen an,
mit mir zu spielen; wann werde ich so uninteressant wie Paco, wann ende ich so
wie er? Wann wirst du mich töten?
Und jetzt erzähl mir nicht, bei mir wäre es etwas anderes, nur weil ich dein
Sohn bin! Das hat dich nie interessiert. Ich weiß, dass du gekommen bist, um
mich zu bestrafen. Für das, was Gestern geschehen ist, hab ich recht?" Mit einer
zitternden Hand schob er seine Harre beiseite und bot seien ungeschützten Nacken
dar. Die Schritte kamen näher. Alain verkrampfte sich, als zwei Finger über die
Narben und offenen Wunden, die fast alle entzündet waren, strich. Er hasste die
Art seines Vaters, zu Bestrafen. Keine dieser Wunden war tödlich, keine
besonders tief oder anders gefährlich, soweit er das beurteilen konnte, doch sie
schmerzten. Wenn sein Vater besonders übel gelaunt war, hatte er immer gute
Ideen. Besonders gern mochte er Salz.
/Noch ein Schritt.../ dachte Alain. Und wirklich, der Mann trat nun ganz an ihn
heran und beugte sich leicht über Alain. Dieser konnte aus den Augenwinkeln eine
grob menschliche Form ausmachen. Das genügte ihm.
Im Hocken drehte er sich blitzschnell um. Sein Messer zog einen tödlich
surrenden Halbkreis durch die Luft, zielte auf die Kehle seines Vaters.
Doch eine Hand des anderen schnellte vor und hielt Alains Finger auf, stoppte
die Klinge, zwei Zentimeter vor dem ungeschützten Hals.
Alains Blick wanderte aufwärts und sah erstarrt in ein Paar Augen.
Unterdrückt keuchend hielt Caspar inne. Der Kleine war verdammt schnell und
kannte sich viel besser aus als er, sodass der Student ihn nicht nur einmal aus
den Augen verloren und gerade noch so wiedergefunden hatte. Gleichzeitig hatte
er innerlich schon zum millionsten Mal seinem Kampfsporttrainer gedankt, der ihn
über Jahre hinweg solange gedrillt hatte, bis seine Bewegungen kraftvoll
geschmeidig und leise wie die eines Tigers waren, denn sonst hätte er sich ohne
Zweifel schon längst verraten.
Vor ihm ragte nun eine Ruine dessen auf, was wohl mal ein Rohbau für ein Haus
hatte sein sollen, konnte nicht verhindern, dass seine linke Augenbraue besorgt
nach oben zuckte. /HIER wohnt er?/
Nach einer Weile wagte er es, dem Jüngeren in das düstere baufällige Gebäude zu
folgen, musste sich erst an die Lichtlosigkeit dieses Ortes gewöhnen, während er
angeekelt und unterdrückt fluchend vor den quiekenden, beharrten Ratten zur
Seite wich.
Schließlich hatten sich seine Augen der Dunkelheit angepasst und zeigten ihm ein
noch leicht schwingendes Seil, das aus der übernächsten Etage herabhing. Caspar
zögerte nicht, war innerhalb weniger Sekunden das wenig vertrauenerweckende aber
dennoch zuverlässig haltende Seil hinaufgeklettert, folgte einem Trampelpfad im
Schnee in ein anderes "Zimmer". Nur dass ihn dieses Mal statt reiner Dunkelheit
flackerndes Kerzenlicht erwartete, das ihn unwillkürlich an seine Wohnung
erinnerte.
Auf dem Boden erkannte er Nathanaels Sachen, sodass ihm der Atem stockte. Der
Kleine würde sich doch hier nicht mit einem weiteren Kunden treffen - ...oder?
Im selben Moment vernahm er ein plätscherndes Geräusch, wie von jemandem, der
sich gerade in einer Badewanne wusch, zuckte erschrocken zusammen, während er
herumfuhr und ungläubig auf die gutvertraute, schmale Gestalt blickte, die
tatsächlich in einer Badewanne saß - nur dass sie, im Gegensatz zu der bei
Caspar zu Hause, uralt und am Rand mit Eis (!) bedeckt war...
Irgendetwas schnürte ihm die Kehle zu, ließ ihn nicht einmal den leisesten Laut
hervorbringen, selbst als Nathanael ihn ansprach, wobei er Caspar offensichtlich
für seinen... _Vater_ hielt. Hilflos kam er näher, erstarrte entgeistert als er
die schrecklichen Wunden im Genick des jungen Schwarzäugigen erblickte, strich
mit den zitternden Fingern seines ausgestreckten Armes darüber, als müsse er
sich so von ihrer Existenz überzeugen. Ein scharfer Schmerz durchzog seinen
Körper, ausgehend von seiner bebenden Hand, und es fühlte sich an, als würde er
in einem einzigen Augenblick all die Qualen durchleben, die Nathanael über die
Jahre hinweg hatte ertragen müssen.
Sein Mund stand offen, doch er bekam keine Luft mehr, und mit vor Entsetzen
nassglänzenden Augen beugte er sich über den Kleineren, wollte ihn einfach nur
in die Arme schließen und ihm leise Worte des Trosts zuhauchen - und hätte es
beinahe mit dem Leben bezahlt.
Nur seine in langjähriger, harter Arbeit geschulten Instinkte retteten ihn,
indem er seinen Körper ohne nachzudenken zurückwarf und er gleichzeitig die
heranrasende Hand packte, eisern umschloss, bevor ihm das Messer gefährlich
werden konnte. Erstarrt blickte er auf das Taschenmesser, entwand es ohne
hinzusehen den feingliedrigen Fingern, starrte unentwegt in die schwarzen Augen,
während das Messer auf den Boden prallte und in die Dunkelheit sprang.
Er konnte nicht fassen, dass Nathan ihn wirklich hatte töten wollen - selbst
wenn er ihn für jemand anderen hielt.
Schweigend machte er wieder den einen Schritt auf die Badewanne und den darin
hockenden Schwarzhaarigen zu - und sah die Pfütze gefrorenen Badewassers nicht.
Das Letzte, was er spürte, war ein scharfer Schmerz in seinem Genick, als es
unglücklich auf einen Haufen loser Ziegelsteine prallte. Dann wurde ihm schwarz
vor Augen.
Alain erwachte erst aus seiner Erstarrung, als Caspar fiel. Er stand hastig auf
und griff nach dem Arm des Studenten, verfehlte ihn jedoch. Er stieg aus dem
Wasser, überwand die Eispfütze in einem schnellen, aber viel umsichtigeren
Schritt als Caspar, und kniete neben ihm nieder. Eine Weile rüttelte er hilflos
an dessen Schulter, schlug ihn mit der flachen Hand ins Gesicht und versuchte
sogar, ihn mit einem vom halb gefrorenen Wasser feuchten Zipfel Caspars
Pullovers zu wecken. Erst als all das nicht half, kam er auf die Idee, den Mann
auf den Bauch zu drehen. Alain erschrak, als er die blutverklebten Haare
berührte. Sanft strich er sie beiseite. Eine fast 10 Zentimeter lange Platzwunde
zog sich über seinen Schädel, und nun, da Alain die auf die Wunde gedrückten
Haare zur Seite strich, rann das Blut ungehindert über Alains kalte Finger.
"SCHEISSE!", schrie er seine Angst hinaus. Er packte Caspar so sanft wie möglich
unter den Armen, hob seinen Oberkörper ein Stück an und schleifte ihn die paar
Meter bis zu seiner Wohnnische einfach über den, zum Teil mit Schnee bedeckten,
Boden. Währenddessen redete er leise, beruhigend auf Caspar ein, obwohl er
wusste, dass dieser ihn vermutlich nicht hören konnte.
Er legte Caspar auf seine Matratze, deckte ihn zu, riss ein Stück Stoff aus dem
Bezug und rannte barfuß wie er war zu der Wanne zurück, um den Stoffstreifen
nass zu machen. Vorsichtig wischte er etwas von dem Dreck, der von den Steinen
in die Wunde gelangt war, weg, wusch den Lappen abermals aus und wickelte ihn
zweimal um Caspars Kopf, so dass die Wunde wenigstens etwas geschützt war.
In seiner Angst war ihm gar nicht aufgefallen, wie kalt es hier war, und dass er
noch immer nackt herum lief. Hastig zog er sich an und ließ sich auf den Boden,
neben Caspar, sinken.
/Was, wenn er stirbt? Ich kann ihm hier nicht helfen!/
Nachdenklich spielte er mit einem der Eiskristalle, die sich in seinem Haar
gebildet hatten, da er sie weder abgetrocknet noch warm gehalten hatte. Er war
schon aufgestanden um ein Feuer anzuzünden, als er sich an Virginias
Abschiedsworte erinnerte:
"Wenn du Hilfe brauchst, oder dich einfach mal nur irgendwo aufwärmen willst,
komm doch einfach vorbei. Egal wann!" .
Er trat aus der "Hütte" und sah, durch eins der leeren Fensterlöcher hindurch,
zum Mond. Es musste kurz nach zwei Uhr sein.
Alain beschloss für sich, dass Virginia wohl _wirklich_ "egal wann" gemeint
haben musste, und holte Caspar, noch immer in die Decke gewickelt, ebenfalls
heraus. Dann zog er seine Tasche zu sich heran und leerte sie auf dem Boden.
Jede Menge Zeug, dass definitiv _nicht_ ihm gehörte kullerte heraus. Er war
froh, dass er seine Spritze wiederfand. Aber das Dankesgefühl, das in ihm
aufgestiegen war wie ein Ballon, zerplatzte, als er bemerkte, dass der Rest
fehlte.
Laut fluchend schüttelte er den Pullover aus, in der Hoffnung, die Tütchen
könnten sich darin verfangen haben, doch sie waren weg.
Noch immer vor sich hin fluchend zog er sich den Pullover über, biss in eins der
Brote und beäugte die Schokolade misstrauisch. Da er bisher, soweit er sich
erinnern konnte, so etwas noch nie gegessen hatte (er nahm einfach mal an, dass
es sich um etwas Essbares handelte) packte er sie wieder ein, warf sich die
Tasche über die Schulter und legte sich selbst von hinten Caspars Arme um den
Nacken.
/Der Mann wiegt bestimmt dreimal so viel wie ich!/, ächzte er in Gedanken, als
er Caspar mühsam zum Ausgang schleppte.
/Na toll!/. Kritisch sah er an dem Seil herunter...
~.~
Er hatte Caspar vorerst in den Schnee, vor die Ruine, gelegt und suchte ein
geeignetes Brett, das er als Schlitten verwenden konnte. Als er nichts fand,
trat er einfach die Rückwand aus einer der billigen Einbauküchen heraus und
legte sie neben den Studenten, um ihn besser rüber heben zu können. Eine der
noch daran genagelten Leisten ließ er gleich befestigt, um den improvisierten
Schlitten besser ziehen zu können.
"Du schuldest mir ne neue Tasche!", murmelte er dabei, missmutig auf das
Brandloch in der alten starrend.
~.~
Virginia meinte tatsächlich "egal wann".
Alain musste zwar diesmal sieben Mal klingeln, ehe sie den Kopf zum Fenster raus
steckte, aber sie lächelte Alain freundlich zu und ließ ihn sofort eintreten,
als sie ihn erkannte.
Ihr Lächeln verblasste jedoch, als sie ihren Sohn bemerkte, der blass und
regungslos auf dem Brett hinter Alain lag.
"Er ist hingefallen und hat sich den Kopf angeschlagen. Ich war's nicht!",
verteidigte er sich sofort, als er ihren ängstlichen Blick auf Caspar geheftet
sah.
Caspar stöhnte mit verkniffenem Gesicht auf. In seinem Kopf schien eine Horde
grüner Gnome Riverdance aufzuführen.
Seltsamerweise hatten sie alle das Gesicht eines schwarzäugigen Engels...
Als er jedoch die Augen öffnete und sich in dem Bett aufrichtete, welches er als
das seiner Mutter identifizierte, und tatsächlich den Kleinen sah, der neben dem
Bett saß und seinen Kopf und die Hände zum Schlaf darauf gebettet hatte, musste
er warm lächeln, strich ihm eine der verfilzten und dennoch schönen schwarzen
Strähnen aus dem blassen Gesicht, nahm die kleinere Hand in seine große.
Obwohl der Blonde sehr behutsam gewesen war, schlug der Jüngere sofort die Augen
auf, sah ihn einfach nur stumm an.
Und ebenso schweigend umarmte Caspar ihn, flüsterte ihm dann ins Ohr: "Danke,
dass du mich hierher gebracht hast - wie immer dir das auch gelungen ist..."
Dann legte er sich zurück, weil ihm doch ziemlich schwindelig war, ließ aber
nicht die Hand des anderen los, schloss die Augen und wisperte leise: "Weißt du,
ich habe als Kind immer davon geträumt, dass zu Weihnachten einen Engel kommt
und mit uns feiert... Und als ich dich das erste Mal sah... bist du mir genau
wie so ein Engel vorgekommen... Deswegen... Würdest du Weihnachten mit mir
verbringen?"
Er lauschte angespannt, drückte die Hand etwas fester, als könne er den
Schwarzäugigen so vom Gehen abhalten, wartete auf die Antwort, die so oder so
sein Leben verändern würde...
Virginia rannte die fünf Stufen zum Bürgersteig fast hinunter und half Alain den
regungslosen Körper ihres Sohnes in ihr Bett zu tragen. Mit schnellen, geübten
Bewegungen untersuchte sie die Wunde und desinfizierte sie gründlich.
Alain stand neben ihr und erklärte ihr leise was passiert war. Er schwieg, als
sie ihm, in mütterlichem Ton, zurechtwies, er hätte wegen seiner Verletzung gar
nicht baden dürfen.
Virginia bat ihn aufzupassen, dass Caspar sich im Schlaf nicht zu heftig
bewegte und rauschte hinaus um Tee und Suppe zu kochen.
Alain kniete neben dem Bett nieder, sodass er die Tür im Blick hatte und legte
den Kopf auf seine verschränkten Arme. /Du musst wach bleiben!/, sagte er zu
sich selbst. /Nur einen Moment die Augen schließen... Aber du darfst nicht
einschlafen./
Sein Kopf schien nur noch aus hämmernden Schmerzen zu bestehen, und wenn er
daran dachte, dass es Caspar noch viel schlimmer gehen musste, konnte er sich
ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen.
Er musste doch eingeschlafen sein, denn er erwachte erst, als jemand seine Hand
ergriff. Erschrocken fuhr er hoch und sah direkt in Caspars braune Augen.
Überrascht ließ er es geschehen, dass Caspar ihn umarmte und ließ ihn auch
ausreden, als dieser, kaum hörbar, seine Bitte hervorbrachte.
Dann jedoch zog er zweifelnd eine Augenbraue hoch und erwiderte, ebenso leise:
"Du musst dir den Kopf wirklich böse angeschlagen haben!", und entzog ihm die
Hand, die dieser noch immer umklammert hielt.
Er stand, entschlossen die Müdigkeit verdrängend, auf und ging in die Küche zu
Virginia.
Er wurde gleich freundlich empfangen, indem sie ihn besorgt musterte und ihm
drei Teller in die Hand drückte.
"In der Schublade mit dem roten Knauf findest du Löffel. Deck bitte schon mal
den Tisch! Brot ist in der weißen Metalldose neben dem Toaster. Du siehst halb
verhungert aus!"
Alain tat schweigend, was sie ihm aufgetragen hatte und stellte sich dann mit
auf dem Rücken verschränkten Armen neben sie.
"Caspar ist wach.", sagte er schließlich leise, während er einen Schritt zurück
trat, damit Virginia ungehindert eine der Schubfächer neben dem Herd öffnen
konnte.
Virginia schenkte ihm ein breites Lächeln.
"Schön! Dann kannst du ihm ja Bescheid sagen, dass das Essen fertig ist!"
Missmutig stapfte Alain aus der Küche. Er hatte keine Lust wieder allein mit dem
Mann zu sein. /Engel.../, dachte er kopfschüttelnd /Der spinnt doch. Oder er
ist wirklich blauäugig.../
Caspar war wieder eingeschlafen, doch Alain hatte keine Hemmungen ihn zu wecken.
Um ihn nicht berühren zu müssen, was dieser falsch auslegen könnte, warf er
einfach zwei der Kissen, die Virginia neben das Bett gelegt hatte, damit diese
sie nicht stören konnten, nach Caspar.
"Es gibt was zu Essen.", rief er Caspar noch zu, das Zimmer schon wieder
verlassend.
Die Bohnensuppe war sehr gut, doch Alain war nicht in der Stimmung dies zu
würdigen. Er würde es nicht mehr lange aushalten, ohne seine Drogen. Natürlich
beherrschte er sich, aber er wäre am liebsten aufgesprungen und rausgerannt.
"Nun... Nathanael", begann Virginia fröhlich, "Ich nehme mal an, dass du so
heißt... ich habe beschlossen, dass du über die Feiertage bei uns bleibst! Und
keine Widerrede! Ich hab dich jetzt für das Weihnachtsessen mit eingeplant und
ich hab sogar schon ein passendes Geschenk für dich gefunden!"
Alain versuchte zu widersprechen, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.
"Falls du glaubst, du müsstest unbedingt mit deiner Familie feiern, ist diese
natürlich auch herzlichst eingeladen!"
Alain zuckte hilflos mit den Achseln und murmelte eine kaum hörbare Zustimmung
und etwas, das man mit etwas gutem Willen, und davon besaß Virginia besonders
viel, als "Danke" auslegen konnte.
Er vermied es Caspar anzusehen und löffelte stumm weiter seine Suppe.
/Na toll!/, dachte er sarkastisch. /Weihnachten im fröhlichsten Familienkreis.
Und wann zum Teufel soll ich mich dann mit Simon treffen?/. Er musste seinen
Dealer unbedingt sehen, sonst würde er durchdrehen.
Aber er setzte seine Maske mit dem freundlichen Lächeln auf und sah sich
aufmerksam im Esszimmer um, noch immer vermeidend, in Caspars Richtung zu sehen.
Caspar aß schweigend, versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Das Essen
schmeckte gut, auch wenn Bohnensuppe nicht unbedingt sein Leibgericht war, aber
ob es nun ein Festmahl oder trockenes Brot war blieb sich im Moment gleich -
seine Geschmacksnerven schienen ohnehin auf unangenehme Weise betäubt und nichts
mochte ihm wirklich schmecken.
Es war nicht einmal Nathanaels Zurückweisung. Innerlich hatte er _gewusst_, dass
der Schwarzäugige niemals zugestimmt hätte, zu bleiben, wäre seine Mutter nicht
gewesen. Irgendwie konnte er es auch verstehen. Er erinnerte sich an die
grässlichen Wunden im Nacken des Jüngeren und dachte daran, dass jemand, der
solche Wunden hatte einstecken müssen, auch seelische Verletzungen davongetragen
haben musste. Vermutlich war Vertrauen ein Fremdwort für ihn... und ein...
_Kunde_ sicherlich niemand, bei dem man damit anfangen konnte, es zu erlernen...
Aber er konnte den schleichenden Wahnsinn in Nathanaels Augen glitzern sehen,
die unstillbare Gier nach vollkommenem Rausch. Und er wusste, dass, wenn der
Kleinere nicht von selbst zu ihm kam, er am Ende schließlich doch gegen die
Drogen verlieren würde. Und gegen ein... _Ding_ zu verlieren war weitaus
schlimmer, als von einem Mensch oder dessen Gefühlen besiegt zu werden...
Er dachte an den Augenblick zurück, in dem die weißen Tütchen mit dem Wasser im
Abflussrohr vor seinen Augen verschwunden waren.
Warum nur hatte er gewusst, dass es nichts bringen würde? Dass er mit dieser Tat
nicht auch Nathanaels Sucht wegspülen konnte?
Was zum Teufel nützten ihm ein Medizinstudium und die Grundlagen der
Psychologie, wenn er sie nicht auch im echten Leben verwenden konnte? Nicht
_hier und jetzt_ anwenden konnte?
Schweigend stand er auf und räumte sein Geschirr ab, schaute nur kurz noch
einmal ins Esszimmer hinein, den Anblick seines schwarzhaarigen Engels meidend,
erklärte einsilbig: "Mom, ich muss kurz weg - bin bald wieder da..."
Mit wenigen, abgehackten Griffen, die nichts mit der üblichen Eleganz eines
durchtrainierten Kampfsportlers gemein hatten, machte er sich den schwarzen
Mantel und einen leicht schimmernden, dunkelblauen Schal um und war auch schon
verschwunden, bevor seine Mutter ihm in den Flur folgen und ihn wie sonst üblich
an der Tür verabschieden konnte.
~.~
Er brauchte bei weitem nicht so lange, wie damals, als er Nathanael gesucht
hatte. Er wusste ungefähr wo er den Dealer finden würde und wenn er nicht da
war, dann trieben sich garantiert irgendwelche einschlägig bewanderten Gestalten
in der Nähe herum, die er fragen konnte. So dauerte es auch nicht einmal eine
halbe Stunde und zwei kurze Gespräche, bis er den Mann gefunden hatte, den er
suchte.
Wieder empfand er diese unterschwellige aber äußerst präsente Gefühl der
Aversion gegen diesen Typen. Er strahlte etwas seltsam aufdringlich Unangenehmes
aus, geradeso wie ein fast unerträglicher Geruch.
Der Dealer sah ihn nur abschätzig an. "So sieht man sich wieder... Ich nehme an
dieses Mal willst du Stoff statt Informationen, eh? Eigentlich handele ich ja
nur mit Leuten, die ich kenne, aber ich will mal nicht so sein. Willst du was
Bestimmtes?"
Caspar zögerte, dann fragte er: "Was hat er sonst genommen?"
"Oh, es ist für den Kleinen? Na ja, hübsch ist er ja, dass muss man ihm
lassen... Und für Geld oder Drogen tut er so ziemlich alles, schätze ich... Hab
ja gehört, er soll richtig talentiert sein, stimmt das? Zu dumm, dass ich mich
nicht auf meine Kunden einlasse... Ist schlecht fürs Geschäft...", plauderte er
mit unverbindlichem Tonfall. Offensichtlich machte ihm das ganze Spaß.
Der Blonde jedoch versteckte seine unbändige Wut hinter einer Maske der
Ausdruckslosigkeit, wiederholte mit starrem Gesicht unnachgiebig seine Frage.
"Ach, bald ist das Fest der Liebe, da muss es was Besonderes sein, meinst du
nicht auch? Hier... das ist besser. Viel besser. Ziemlich neu. Keine
Nebenwirkungen. Eine halbe Tablette reicht für ein bis zwei Stunden Vollrausch
vom Feinsten..."
Im Tausch gegen ein paar Geldscheine bekam er eine unscheinbare Pillendose, die
normalerweise Vitamintabletten enthielt, in die Hand gedrückt, versuchte dabei
so gut wie möglich Hautkontakt zu vermeiden.
Caspar fühlte sich merkwürdig. Eine seltsame Distanz hatte sich in ihm
ausgebreitet, ließ die Realität und jegliche Wahrnehmungen sonderbar dumpf
werden. Der Student hatte geglaubt, sich für diese Handlung die Hand abhacken zu
müssen oder dass er vielleicht würde kotzen müssen vor Abscheu. Doch nichts
davon trat ein. Stattdessen steckte er die Pillendose weg als würde ihn das
alles nichts angehen und ging grußlos, schwang sich drei Meter weiter auf sein -
natürlich - schwarzes Motorrad - eine wunderschöne Kawasaki ZX-10R für die er
wohl ewig gespart hatte mit einem dunkelblauen Tribal-Muster darauf, welches er
selbst aufgeklebt hatte.
Virginia ließ ihm kaum Platz zum Atmen, so mütterlich besorgt wuselte sie um ihn
herum. Alain grinste in sich hinein als sie in besorgtem, mütterlichem Ton auf
Caspars Unvorsichtigkeit schimpfte:
"Dass der Junge in SEINEM Zustand auch noch Motorrad fahren muss... der sollte
lieber im Bett bleiben und warten bis es ihm wieder richtig gut geht! Und ich
bleib wieder auf dem ganzen Nachtisch sitzen. Naja, dann muss er ihn halt
alleine essen, wenn er zurückkommt!"
Doch als sie das schadenfrohe Grinsen des Jungen sah, baute sie sich, die Hände
in die Hüften gestemmt, vor ihm auf.
"Und nun zu dir! Was hast du dir nur dabei gedacht..."
Alain hörte gar nicht mehr hin. Er beschränkte sich darauf eine reuevolle Maske
aufzusetzen, während er mit den Gedanken schon wieder weit weg war.
Wie kam der Mann nur auf "Engel"?
Er hatte in einem Kinderbuch (extragroße Schrift) von Engeln gelesen und sie
waren immer als edel, rein, unschuldig und wunderschön bezeichnet worden. Seine
Freier hatten ihn früher manchmal "schön" genannt, aber inzwischen war sein
Körper verbraucht. Im Winter, wenn die Kälte seine Haut austrocknete und aufriss
und die Menschen genug mit sich selbst und ihren Winterdepressionen zu tun
hatten, war es am schlimmsten.
Endlich ließ Virginia ihn in Ruhe und er schlenderte am Bücherregal entlang und
entzifferte die Buchrücken, bis sie mit dem Nachtisch zurück kam.
Es war schön, einfach dazusitzen, Tiramisu in sich rein zu schaufeln und dem
neusten Klatsch und Tratsch zu lauschen.
Als Virginia den Schlüssel im Schloss hörte lief sie sofort an die Tür und Alain
blieb allein und verunsichert auf dem Sofa zurück.
/Ich passe nicht hierher!/
Der langhaarige Blondschopf huschte wie ein Schatten durch den Nieselregen,
während sich die Nacht nun endgültig der Pulsader Amerikas bemächtigte. Durch
die schwarze Kleidung verschmolz er perfekt mit der Dunkelheit und nur sein
hellfarbenes Gesicht und die honigblonden Haare erschienen wie ein
verschwommener Fleck im verregneten Dunkel, sodass ihn ein ferner Beobachter
wohl für eine Geistererscheinung gehalten hätte.
Seine geschmeidige Beweglichkeit hatte er wiedergewonnen und man mochte es nicht
glauben, aber irgendwie fühlte er sich erleichtert. Innerlich hatte er mit
Nathanael abgeschlossen. Entweder er würde aus freiem Willen zu Caspar kommen
und bei ihm bleiben oder er würde es nicht tun. Es lag nicht in seiner Macht,
Nathanael zum einen oder zum anderen zu bewegen. Entweder Gott meinte es gut mit
ihm oder er interessierte sich nicht für das junge Menschlein, dessen Leben
durch einen seiner Engel völlig aus der Bahn geraten war.
/Jedenfalls kann keiner behaupten, mein Leben sei langweilig/, dachte er
ironisch und drehte den Schlüssel im Schloss.
"Bin wieder da!", rief er in die warme, aus allen Ecken Gemütlichkeit
ausstrahlende Wohnung hinein.
"Ah, Caspar! Wo bist du überhaupt gewesen? Du warst plötzlich einfach weg!",
rief sie und sah ihn vorwurfsvoll an. Das konnte sie wirklich sehr gut, wenn sie
es auch selten tat. Irgendwie vermutete Caspar, dass Frauen dieser Blick
angeboren war... Vielleicht ebenso sehr, wie der Instinkt, der gute Mütter
spüren ließ, wann ihren Kindern die größte Not drohte. Jedenfalls schien er bei
der seinen ausgezeichnet zu funktionieren. Wieso hätte sie Nathanael sonst so
unkonventionell zu einem gemeinsamen Weihnachten einladen sollen?
"Ich will dich nicht anlügen, Mom, aber glaub mir, dir würde es nicht gefallen.
Es hat etwas mit Nathanael zu tun - ich hoffe das reicht dir als Erklärung. Und
sei mir nicht böse, aber ich bleibe auch nur kurz - und werde dieses Jahr nicht
Weihnachten mit dir feiern können."
Jetzt war es heraus. Den Entschluss hatte er während des Fahrens gefasst. Wenn
er auf seinem Bike saß und den Fahrtwind an seinen Kleidern zerren spürte,
konnte er ohnehin am Besten denken. Und er spürte, dass seine Entscheidung
richtig war. Es würde nichts bringen, auf Nathanael einzustürmen. Wenn er
wirklich wollte, dann würde er von selbst kommen - und wenn nicht... nun, dann
hätte das Ganze ohnehin keinen Sinn. Schließlich wollte er ihn zu nichts
zwingen...
Seine Mutter sah ihn ehrlich enttäuscht an, aber er bekam auch ihr vollstes
Verständnis zu spüren. "Ich habe es befürchtet... Aber gut, du bist jetzt
erwachsen und ich kann dich nicht mehr behandeln wie ein kleines Kind. Du musst
selbst entscheiden, was du für das Beste hältst. Doch ich will hoffen, dass dich
wenigstens deine Schwester zu Gesicht bekommt, verstanden? Ihr seid immerhin
Geschwister!"
"Ja, Mom. Danke... Und ich ruf dich dafür an, in Ordnung? Dann kannst du mir
sagen, wie du so schnell ein Weihnachtsgeschenk für ihn auftreiben konntest...
Und was es überhaupt ist..."
Der schwarzäugige Engel, ungeschlagenes Hauptthema all seiner Gedanken, hockte
auf der Couch und Caspar musste nicht versuchen, sich an seinen Psychologiekurs
zu erinnern, um zu erkennen, dass ihm seine Umgebung nicht wirklich behagte.
Vielleicht fühlte er sich nach all der Zeit auf der Straße tatsächlich wohler in
einem abbruchreifen Haus als in der beschaulichen Stube einer achtbaren
amerikanischen Bürgerin.
"Nathanael", sagte er leise und schreckte den anderen ungewollt aus
irgendwelchen Gedanken. "Ich möchte kurz mit dir unter vier Augen sprechen."
Ohne eine Antwort abzuwarten ging er in seine ehemaligen Räumlichkeiten, die nun
zu einem Gästezimmer umfunktioniert worden waren. Das Zimmer war liebevoll
eingerichtet, sodass man fast die Tatsache vergessen konnte, dass man nur Gast
war und nicht wirklich hier lebte. Das große, weiche Bett war für den Kleinen
frisch bezogen worden und immer Zimmer hing der leichte, sanfte Geruch eines
Trockenblumen-Potpourris.
Der Kleinere setzte sich mit vor der Brust verschränkten Armen auf das Bett und
starrte stur an ihm vorbei.
Traurig über die förmlich greifbare Distanziertheit, warf er dem Jüngeren die
Plastikdose hin. "Da... was Besseres konnte ich nicht finden, aber ich hoffe es
genügt fürs Erste. Der Typ meinte, eine halbe Tablette sei genug. Mehr als eine
Ganze ist nicht zu empfehlen, auch wenn es angeblich keine Nebenwirkungen hat...
Keine Angst, ich verlange dafür keine Gegenleistung. Wahrscheinlich will ich nur
mein Gewissen damit beruhigen, auch wenn ich dafür deine Drogenkarriere
vorantreibe. Versprich mir nur, dass du nicht mit Achtzehn tot in einer Gasse
liegst, okay? Hm... das war's schon... Ich weiß nicht, ob es dich beruhigt, aber
ich werde Weihnachten nicht hier verbringen. Du kannst jederzeit rüberkommen,
wenn du magst, aber ich... ach egal", er brach ab, sah dem verloren wirkenden
schwarzhaarigen Elfen auf dem Bett kurz aber tief in die Augen, sprach dann
leise: "Man sieht sich... vielleicht."
Damit ging er wieder auf den Flur hinaus, verabschiedete sich noch kurz aber
herzlich von seiner Mutter und ging dann.
~.~
Weit kam er jedoch nicht. Seine Kawasaki stand nur wenige Meter weit entfernt im
Dunkeln, sodass man sie nicht gleich sehen konnte. Seufzend lehnte er sich gegen
das aufgebockte Motorrad, legte den Kopf in den Nacken und ließ sich weichkalte
Schneeflocken in sein Gesicht fallen. Und zum ersten Mal in seinem Leben
wünschte er sich, er wäre Raucher und könnte sich nun eine Zigarette anstecken.
Stattdessen blieb er reglos in der Kälte, sog einfach nur tief die eisige Luft
ein und versuchte mit ihrer Hilfe seine Gedanken zu klären - was ihm nicht
gelang.
Eine ganze Weile starrte Alain einfach nur auf die Dose in seiner Hand, ohne zu
begreifen, was das sein sollte. "V I T A M I N C", buchstabierte er... bis er
endlich begriff, was Caspar damit meinte.
/Ich will nicht mit 18 sterben!/, dachte er, ironisch lächelnd. /Ich hoffe, dass
das viel schneller geht! Außerdem weiß ich eh nicht, wann ich 18 werde... also
ist es schwierig sich an den Befehl zu halten./ Er stockte und legte den Kopf
leicht schief, als würde er auf irgendetwas lauschen.
Das Döschen noch in der geballten Faust rannte er plötzlich hinter Caspar her
aus der Wohnung, vorbei an der verwunderten Mrs. Blackwell.
Etwas verwirrt blieb er auf der Straße stehen und sah sich um. Es schneite schon
wieder und einige Augenblicke sah er fast gar nichts. Dann bemerkte er, einen
mattschwarzen Schimmer, fast unsichtbar im Schatten des Hauses. Zögernd trat er
näher und erkannte die Silhouette eines Mannes der den Kopf in den Nacken gelegt
hatte und ihn nicht zu bemerken schien.
"Ich brauche keine Almosen!", verkündete er. Er spürte selber, dass er klang wie
ein kleines, trotziges Kind, doch er konnte nichts dagegen tun. "Ich bezahle
mein Zeug entweder mit Geld oder mit... Naturalien." Einen Moment sah er ihn
störrisch an, verzog dann jedoch das Gesicht zu einem anzüglichen Grinsen.
"Oder hat es dir nicht gefallen?" Er hasste sich dafür und verstand nicht, warum
er das jetzt gesagt hatte, aber die Nähe des Mannes verunsicherte ihn. Er wusste
nicht, ob dieser es nun ehrlich meinte. Es kam oft vor, dass seine Kunden ihm
ihre "Freundschaft" anboten und ihn, wenn er darauf hereinfiel, ausnutzten und
über seine Leichtgläubigkeit lachten. Er hatte sich geschworen, dass ihm das nie
wieder passieren würde.
Eine Weile hatten sie sich nur schweigend angesehen. Caspar zitterte, doch Alain
schob es auf die Kälte.
"Außerdem musst du mir noch eine neue Tasche besorgen!", brach er abrupt das
Schweigen und hielt ihm die kaputte Umhängetasche vors Gesicht.
"Und du musst mir mal das Buch ausleihen, aus dem du deine Erklärung für das
Wort "Engel" hast... wahrscheinlich stimmt sie nicht mit der aus meinem Buch
überein!"
Er legte den Kopf schräg und beobachtete die Reaktion des anderen mit
hochgezogener Augenbraue. Dann musste er, gegen seinen Vorsatz, grinsen, so
komisch war Caspars ungläubiger Gesichtsausdruck.
Caspar blinzelte verstört. Hatte er jetzt schon wieder Halluzinationen, kaum
dass er Nathanael nicht gesehen hatte?
Ungläubig streckte er die Finger nach dem Jüngeren aus und die Kuppen trafen auf
weichwarme Haut. Wie vom Blitz getroffen zuckte seine Hand zurück.
/Ich muss verrückt geworden sein/, dachte er mit seltsamer Heiterkeit.
Gerade eben hatte er jegliche Hoffnung aufgegeben, den Kleineren je wieder zu
sehen, und nun stand er hier, wollte ihn "bezahlen" und verlangte im gleichen
Moment eine neue Tasche, was ja zwangsläufig eine neues Treffen bedeutete.
Unsicher machte er einen Schritt zurück, sodass er mit dem Rücken gegen einen
der beiden Lenkergriffe stieß - wenn er Halluzinationen hatte, dann fühlten sie
sich sehr real an. Aber nichtsdestotrotz war ihm dies alles zu unglaublich, als
dass er es wirklich glauben konnte.
Er schlug traurig die Augen nieder, war wie betäubt, während er sprach.
"Natürlich hat es mir gefallen, aber... ich bevorzuge es dennoch, wenn man mit
mir schläft um _meiner_ Willen und nicht... wegen meines Geldes. Deswegen
_kann_ ich nicht noch einmal mit dir schlafen... nicht so. Das mit deiner
Tasche... tut mir Leid. Ich werde natürlich für Ersatz aufkommen... Und eine
Bibel kannst du dir auch bei meiner Mutter ausleihen... sie hat so viele, sie
würde dir wahrscheinlich sogar mit Freuden eine schenken..."
Ruckartig drehte er sich um und setzte sich auf sein Motorrad. Seine Finger
zitterten, während er den Motor startete und die diversen Anzeigen
aufleuchteten. Doch er setzte sich weder den schwarzroten Helm auf, noch fuhr er
los.
Nach einer kleinen Ewigkeit sagte er leise, ohne dem Schwarzäugigen in die
dunklen Tiefen zu sehen: "Wenn du mitfahren willst, solltest du dir wenigstens
den Helm aufsetzen..."
Einen Moment tastete sein Blick unsicher über das Gesicht des Studenten, suchte
nach Anzeichen der Unehrlichkeit, einem verräterischem Flackern im Blick. Dann
verleierte er kurz die Augen und murmelte etwas wie "Wozu?", während er sich
hinter Caspar auf die Maschine setzte. Caspar wollte anfahren, doch da kam
Virginia, die die Szene offenbar aus einem der Fenster heraus beobachtet hatte,
aus dem Haus gerannt.
Sie wedelte wild mit einer Daunenjacke und ließ Alain nicht eher mit Caspar
mitfahren, als bis dieser, ergeben seufzend, die Jacke angezogen und bis zum
Hals geschlossen hatte. Dann küsste Virginia die Beiden noch auf die Wange und
rief Caspar noch die Ermahnung, vorsichtig zu fahren, nach, doch sie waren schon
um die nächste Kurve verschwunden.
Alain war der mütterlich besorgten Dame im Stillen doch dankbar, als der eisige
Fahrtwind sein Gesicht und die Hände zerschnitten. Es war schon fast einen Monat
her, dass er das letzte Mal auf einem Motorrad gesessen hatte, und Caspar fuhr
auch nicht unbedingt vorsichtig... Aber wahrscheinlich suchte er auch einfach
nur einen Vorwand um sich an dem Mann vor ihm festzuklammern. Er zögerte lange,
ehe er seine steif gefrorenen Finger unter Caspars Pullover schob.
Enttäuscht zog er seine Hände wieder unter dem Wollpulli des Studenten hervor,
als sie das Ziel erreicht hatten, und spürte sofort wieder, wie sie in der
eisigen Luft zu kribbeln und zu schmerzen begannen.
Er hatte seinen Entschluss gefasst. Er würde seine Schulden begleichen, sich von
Caspar noch das Geld für eine neue Tasche geben lassen und dann gehen.
/Warum weiß ich in seiner Nähe nie, ob ich wegrennen und mich verstecken soll,
ihn umarmen oder nach ihm schlagen?/
Aber erst mal verschob er seine Gedanken.
"Boa... wenn wir noch länger hier draußen rumstehen erfriere ich noch! Mach
endlich diese verdammte Tür auf!"
Während der Fahrt versuchte er sich auf die Straßen und die beleuchteten
Anzeigen seines Motorrads zu konzentrieren, doch es gelang ihm eher schlecht als
recht ob dieser verführerischen Nähe und als sich kalte, jedoch schnell wärmer
werdende Finger über seine Haut stahlen und eine ganze Bataillon Gänsehaut über
seinen Körper schickten, hätte er sich beinahe zu sehr in die Kurve gelegt und
damit womöglich ihrer beider Todesurteil unterzeichnet.
Caspar war nie ein übervorsichtiger Fahrer gewesen, liebte den Reiz des
schnellen Fahrens, den kalten Wind, der mit seinen eisigen Fingern über ihn
strich und ihn einhüllte, aber er war vor allem auch immer noch ein _sicherer_
Fahrer, der es nicht unbedingt auf einen Genickbruch und ein Leben im Rollstuhl
anlegte. Nun aber fiel es ihm mehr als nur schwer, sein Bike zu lenken und
einzig und allein der Gedanke, dass er mit Nathanael hinter sich um Himmels
Willen keinen Unfall bauen durfte, war vielleicht dafür verantwortlich, dass sie
halb erfroren, ansonsten jedoch unversehrt bei Caspars Wohnung ankamen.
Aber wie mühsam es auch gewesen war, sich zu konzentrieren, als der
Schwarzhaarige seine Finger zurückzog, wünschte er sich, die Strecke von seiner
Mom bis hierher wäre bedeutend länger. Erst als ihn sein Engel wider Willen
ungeduldig anfuhr schreckte er aus seinen Gedanken und dem Anblick des schmalen,
von fließendem Ebenholz umgebenen Gesichts, schloss mit zitternden Fingern die
Haustür und in der dritten Etage schließlich auch seine Wohnungstür auf.
War es draußen so eisigkalt gewesen, dass Nathanael seine zitternden Finger
hoffentlich der Kälte zuschrieb, so erschlug sie nun die Wärme, die in der sehr
kleinen aber gemütlichen Zweizimmerwohnung herrschte. Es war fast ein Tag
vergangen, seit Francis, wie seine Mutter ihn so gerne nannte (auch wenn Caspar
fand, dass es eher ein Mädchenname war, und ihn nicht mochte - wobei die
Alternative, immer wieder mit einer Theaterpuppe oder später mit einem Filmgeist
verglichen zu werden - besonders zu Grundschulzeiten - auch nicht immer so toll
gewesen war), die Wohnung auf dem Weg zu dem Jüngeren verlassen hatte und auch
wenn die Heizkörper auf eine niedrige Stufe heruntergedreht waren, hatten die
gut 20 Stunden völlig ausgereicht um aus seiner Wohnung eine Art - nach
Weihnachten riechende - Vorhölle zu machen, was die Temperaturen anging.
Er dirigierte Nathanael in sein Wohnzimmer und hechtete dann durch die Räume um
die Heizkörper auszumachen und hier und da Fenster aufzureißen. Als er in der
Küche war, fiel sein Blick auf ein Brotmesser, das in der Spüle lag, und für
einen Moment war er versucht, alle Messer zu verstecken, doch dann ließ er sie
wo sie waren. Wenn sich Nathanael wirklich um jeden Preis umbringen wollte, dann
würde er es auch tun - wenn nicht mit einem _seiner_ Messer, so mit dem, das er
in der Wanne plötzlich aus dem Nichts hervorgezaubert hatte. Außerdem glaubte er
nicht, dass es dem Kleineren gefiel, wenn Caspar ihm belehrend mit dem
Zeigefinger vor der Nase herumfuchtelte.
Schnell setzte er noch Wasser für Tee auf, nahm einen imaginären Schluck Mut und
Zuversicht und ging dann zurück ins Wohnzimmer. "Also... entweder du schläfst
hier auf dem Sofa oder du nimmst mein Bett und ich mach mich hier breit. Ganz
wie du willst", rief er betont fröhlich, um seine Unsicherheit notdürftig zu
übertünchen, während er sich scheinbar gelassen mit verschränkten Armen gegen
den Türrahmen lehnte und versuchte nicht gleich wieder bis über den Kopf in den
beiden schwarzen Tiefen zu versinken.
Im ersten Augenblick glaubte Alain, die Hitze würde ihn erschlagen, doch schon
wenig später fand er sie sogar sehr angenehm. Sein Körper kribbelte beim
Auftauen wie verrückt und er war froh, dass Caspar raus gegangen war und so sein
leises Schnurren nicht hören konnte.
Ein Geruch hing in der Wohnung, wie er ihn immer im Winter in den Häusern
wahrnehmen konnte. Er mochte es, wenn es überall nach Essen und Nadelzweigen
roch und die Kerzen, die in den Fenstern standen.
Er erschauerte als ein kalter Luftzug durch die Wohnung pfiff. Eine Gänsehaut
überzog seinen Rücken. Das Gesicht in eins von den Sofakissen gedrück,t lauschte
er auf das Geräusch von Caspars Schritten.
/Schläft er öfters hier auf dem Sofa? Oder warum riechen die Kissen so sehr nach
ihm?/
Bei dem Gedanken musste er grinsen.
Alain sah auf und begegnete Caspars Blick.
Anstatt ihm zu antworten streckte er sich einfach auf dem Sofa aus, drückte ein
Kissen besitzergreifend an sich und schloss die Augen.
Fast zwei Minuten blieb er so liegen und hörte, dass auch Caspar sich nicht von
der Stelle rührte. Dann stand er auf und sah sich aufmerksam in der Wohnung um.
"Wieso hast du die Fenster aufgemacht?", fragte er grinsend und gespielt
zitternd. Er ging an Caspar vorbei durch alle Räume und schloss die Fenster
wieder, lächelte den verdutzten Studenten entwaffnend an.
"Zieh doch lieber deine Jacke aus, wenn dir zu warm ist!"
Seine eigene warf er über die Garderobe und kam zurück ins Wohnzimmer.
Mit geschlossenen Augen ließ er sich an der Heizung entlang auf den Boden
gleiten und kuschelte sich an das heiße Metall, das ihm fast den Rücken
verbrannte; wärmte seine tauben Finger.
Das war so viel schöner als die eisüberzogenen Wände seiner Wohnnische.
Alain starrte den Weihnachtsbaum an, ohne ihn zu sehen.
Er hätte später nicht mehr sagen können, wie lange er so dagesessen hatte.
Irgendwann ließ er sich auf die Seite fallen und suchte sich eine gemütliche
Schlafposition.
Innerlich seufzte Caspar tief. Wusste Nathanael eigentlich, was er für eine
Wirkung auf den Blonden hatte?
Wahrscheinlich nicht. Oder es kümmerte ihn einfach nicht.
Nachdenklich, noch immer - oder besser: _wieder_ - schweigend betrachtete er den
Jüngeren, der sich an die Heizung schmiegte. Er selbst wäre nach wenigen
Sekunden wieder zurückgewichen vor der brennenden Hitze, aber Nathan schien sie
nichts auszumachen. Im Gegenteil. Doch auch wenn der Schwarzhaarige das heiße
Blech nicht als schmerzend empfand, so sah er doch deutlich wie sehr sich die
sonst ganz blasse feine Haut rötete.
Schnell verschwand er in sein Schlafzimmer, nahm kurzerhand sein eigenes
Bettzeug, weil es schneller ging und Kissen und Decke bereits bezogen waren,
machte dem Engel mit den gebrochenen Flügeln sein Nachtlager zurecht.
Dann ging er leise zu dem, wenn nicht schlafenden so zumindest vor sich hin
dösenden, Nathanael, lud ihn sich auf die Arme und trug ihn mit einem leichten
Lächeln zum Sofa, deckte ihn gut zu. Dem Mediziner in ihm blieb dabei nicht
verborgen, dass die Rötung der Haut bereits zu intensiv war, als dass sie
einfach wieder verschwunden wäre. Scheinbar ohne es zu registrieren hatte der
Kleine sich eine Verbrennung ersten Grades zugezogen. Nicht weiter schlimm und
dennoch schmerzhaft genug, sodass der Jüngere es hätte bemerken und schon aus
Reflex hätte zurückzucken müssen...
Vorsichtig strich er über eine der geröteten Stellen, spürte das Blut darunter
heftiger als gewöhnlich pulsieren, wie bei Schmerzen solcher Natur üblich. Das
war nicht gut. Ganz eindeutig nicht gut. Aber was sollte er schon dagegen tun?
Nathanael konnte alles tun und lassen wie es ihm gefiel. Wenn Caspar ihm helfen
wollte, so blieb ihm nichts weiter, als die Wunden nachträglich zu versorgen -
und natürlich würde er es morgen auch tun. Zumindest das würde er sich als
Medizinstudent nicht nehmen lassen, und wenn er den Jüngeren dafür fesseln und
knebeln musste!
"Schlaf gut", flüsterte er dem schönen Jungen ins Ohr, streichelte ihm kurz über
die Wange und strich dabei einige der verfitzten Strähnen aus dem blassen
Gesicht, stand dann auf und löschte das Licht. Sie konnten auch morgen noch
reden. Besser gesagt: sie _mussten_ reden.
Leise schloss er die verglaste Tür hinter sich. Erst jetzt spürte er seine
eigene Müdigkeit wieder, dafür mit umso größerer Heftigkeit. Das Motorradfahren
hatte ihn mehr erschöpft als er zugegeben hätte und auch der pochende
Kopfschmerz hinter seiner Stirn, an den Schläfen und im äußersten Hinterkopf,
kehrte wieder in sein Bewusstsein zurück, ließ sich nicht länger verdrängen.
Leise stöhnend holte er die zweite Schlafgarnitur samt den Bezügen heraus und
machte sein Bett, öffnete noch einmal kurz das Fenster. Als er sich jedoch
gerade seiner Bekleidung entledigt hatte und in seinen Schlafanzug schlüpfen
wollte, wurde ihm mit unerwarteter Intensität schlecht, sodass er es nur noch
geradeso schaffte unter die Bettdecke zu schlüpfen. Einige Sekunden später und
seine Beine hätten einfach nachgegeben.
Einen einzigen Vorteil hatte die Erschöpfung jedoch: Nachdem er sich ein paar
Mal herumgewälzt hatte, um eine einigermaßen erträgliche und vor allem möglichst
schmerzfreie Schlafposition zu finden, glitt er so schnell in einen unruhigen
Schlaf, dass ein Beobachter es wohl schlicht und einfach mit einem Zusammenbruch
verwechselt hätte.
Trotzdem sollte es keine erholsame oder gar lautlose Nacht für ihn werden...
Alain wachte nach ein paar Stunden, vor Kälte zitternd, auf und sah sich um.
Sein Rücken schmerzte und er lag nicht mehr neben der Heizung.
"Verdammter Arzt!", fluchte er leise vor sich hin, als er den Schlaf weit genug
abgeschüttelt hatte, um wieder klar denken zu können.
/Wahrscheinlich hat er mich hier hoch gelegt/. Er streckte sich und stand auf um
sich aus der Küche ein Glas Wasser zu holen.
Die Tischkante prallte schmerzhaft gegen seinen Hüftknochen, doch er war
trotzdem zu faul, das Licht an zu machen. In der Küche war es viel dunkler als
im Wohnraum, da das Küchenfenster von der Straße, und so von allen
Straßenlaternen, abgewandt war. Als er sich so weit an die Dunkelheit gewöhnt
hatte, dass er die Küche in ihrem nächtlich tristen Grau genauer erkennen
konnte, trat er an den Kühlschrank und öffnete ihn leise. "Warum muss er auch
den Tisch mitten in den Raum stellen...", grummelte er vor sich hin und rieb
sich die schmerzende Hüfte. "Das hätt` auch ins Auge gehen können!"
Einen Moment starrte er in den offenen Kühlschrank, dann schloss er ihn wieder.
/Was wollte ich eigentlich?/
Etwas verwirrt schloss er die Tür wieder und sah sich die Notizzettel an, die
Caspar überall mit Magneten festgepinnt hatte, zwar chaotisch durcheinander und
trotzdem ein schönes Gesamtbild ergebend. Zeichnungen, mit Kuli gekritzelt,
hingen da rum, irgendwelche Auflistungen, die Alain aber aufgrund der Dunkelheit
nur als Kontraste wahrnehmen konnte, Fotos und Zeitungsausschnitte.
Sein Blick fiel auf eine Kanne Tee, die neben dem Toaster stand, und er griff
danach. Schon hatte er angesetzt einfach aus der Kanne zu trinken, als er sich
daran erinnerte, dass er hier nur Gast war und sich wenigstens etwas besser
benehmen sollte, und öffnete sämtliche Schränke, bis er die Tassen gefunden
hatte. /Wer bewahrt Tassen auch schon unter der Spüle auf?/, entschuldigte er
sich bei sich selbst für sein langes Suchen. Er setzte sich auf die Anrichte und
trank den Tee, nachdenklich auf den Kühlschrank gegenüber starrend. Alain
lauschte auf jedes leise Geräusch, das Grummeln der Heizung, das Knarren des
Gebälks, den Wind, der an den Fenstern rüttelte und große, weiche Schneeflocken
dagegen trieb, und zuckte zusammen, als er ein leises Stöhnen vernahm. Vor
Schreck hätte er fast seine Tasse fallen gelassen, wenn sich seine Finger nicht
gleichzeitig so verkrampft hätten, dass es ihm unmöglich gewesen wäre sie
abzustellen. Einige Momente saß er einfach nur da und wartete, bis sein Herz
aufhörte wild gegen seine Brust zu hämmern und seine Hände sich wieder
entspannten, ehe er sich von der Anrichte gleiten ließ und hinüber in Caspars
Schlafzimmer ging.
Caspars Zimmer war vom Licht einer Straßenlaterne erhellt und Alain kniff die
Augen zusammen. Nach der Dunkelheit, die in der Küche geherrscht hatte, war ihm
selbst dieses Dämmerlicht unangenehm.
Als er das Zimmer wieder erkennen konnte sah er sich nach Caspar um.
Der junge Mann warf sich in seinem Bett unruhig hin und her, murmelte im Schlaf
vor sich hin. Ab und zu entschlüpfte seinen Lippen ein leises Stöhnen. Schweiß
rann über sein Gesicht. Die Decke hatte er von sich getreten und Alains Blick
wanderte zu dem offenen Fenster. Mit drei schnellen Schritten trat er vor um es
zu schließen. Zumindest sah so die Theorie aus. Tatsächlich verhedderte er sich
nach dem ersten Schritt in Caspars Pullover, den dieser achtlos auf den Boden
geschmissen hatte, und er stolperte mehr gegen die Scheibe, als dass er darauf
zu getreten wäre.
Hastig sperrte er den kalten Wind aus, schaufelte vorher noch den sich schon auf
der Fensterbank angehäuften Schnee nach draußen und drehte sich dann wieder zu
dem Schlafenden um. Zögernd trat er einen Schritt näher, legte die Hand auf
Caspars Stirn um ihn zu beruhigen. Er zog sie jedoch sofort zurück. Caspar
glühte.
Alain verließ den Raum und machte sich auf die Suche nach einem Badezimmer. Da
er keine Lust hatte, erst nach einem frischen Handtuch zu suchen, nahm er
einfach das, das neben dem Waschbecken hing, drehte das kalte Wasser auf und
tränkte den Stoff.
In dem Medizinschrank daneben kramte er eine Weile herum, bis er einsah, dass er
im Dunkeln nichts finden würde und entschloss sich das Licht an zu machen. Es
dauerte eine Minute, bis seine Augen sich an das künstliche, grelle Licht
gewöhnt hatten, doch dann fand er recht schnell, was er suchte: Unter Pflastern
(einige mit bunten Bildchen drauf, wie er kichernd feststellte) vergraben lagen
ein paar kleine, silberne Blechdosen. Alain war sehr dankbar dafür, dass Caspar
die Dosen alle extra beschriftet hatte, und er so recht schnell die mit der
Aufschrift "Fieber" fand. Er steckte sie in die Hosentasche, griff sich die
Packungsbeilage und wollte den Schrank schon schließen, als ihm die
"Beruhigung"-Dose ins Auge fiel. Hastig und mit einem leichten Anflug von
Schuldgefühlen schluckte er drei der Pillen und setzte sich in der Küche an den
Tisch, um unter der inzwischen erhellten Lampe besser lesen zu können. Das nasse
Handtuch hatte er in die Spüle geworfen und saß nun etwas unschlüssig über dem
in winziger Schrift bedrucktem Papier. Es dauerte fast fünf Minuten, bis er den
Text so weit genug entschlüsselt hatte. Mit einem Schulterzucken griff er sich
das Handtuch, füllte seine Tasse wieder mit Tee und tapste zurück in das dunkle
Zimmer des Studenten.
Alain traute sich nicht Licht anzumachen und stolperte natürlich, aus der hellen
Küche kommend, wieder über die überall verstreuten Dinge. Er spürte wie seine
stechenden Kopfschmerzen langsam nachließen und zog in Erwägung, noch einmal ins
Bad zu gehen und sich noch eine Tablette zu holen, doch in diesem Moment stöhnte
Caspar wieder leise. Wie um irgendetwas zu entkommen warf er sich hin und her.
Die Tasse klapperte leise, als Alain sie vorsichtig auf dem Nachttischchen
abstellte. Er beugte sich über den Blonden, strich ihm vorsichtig einige
schweißverklebte Strähnen aus dem Gesicht und legte ihm das kalte Handtuch auf
die Stirn. Dann nahm er ihn in den Arm, richtete ihn vorsichtig, versucht den
anderen nicht zu wecken, in eine aufrechte Position und schob ihm eine Tablette
zwischen die Lippen. Alain setzte sich am Kopfende des Bettes auf Caspars
Kissen, zog den glühenden Körper des anderen leicht an sich, so dass dieser sich
gegen seine aufgestellten Beine lehnen konnte, und flößte dem Mann einige
Schlucke des Tees ein, bis er sicher sein konnte, dass er auch die Tablette
mitgeschluckt hatte.
Dann ließ er Caspar wieder auf seine Matratze gleiten, seinen Kopf in Alains
Schoß gebettet und strich ihm beruhigend über die Wange, bis er nicht mehr ganz
so stark zitterte. Vorsichtig, um Caspar nicht aufzuwecken erhob sich Alain
wieder, holte die Decke des Älteren und deckte ihn ordentlich zu.
Er war schon fast zur Tür hinaus, als er noch einmal zurück sah.
Casper sah wirklich mitleiderregend aus, wie er da so allein in dem recht großen
Bett lag. Er hatte wieder angefangen zu murmeln und zu wimmern.
Seufzend drehte er sich um, ging zu seiner Couch zurück, zog sich Jeans und T-
Shirt aus und legte sich wieder hin, eng in seine Decke gewickelt und auf das
leise Wimmern aus dem Nebenzimmer lauschend.