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One Wish

von

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Kapitel I - Das Ende eines Sommers

Nun ist es also so weit... Equinox ist vollendet und es wird Zeit, zu neuen Ufern aufzubrechen, kurzum: Hier ist endlich das erste Kapitel meiner neuen Geschichte One Wish. Ich habe mich so sehr darauf gefreut, es zu schreiben, dass es mir jetzt ganz unwirklich erscheint. Aus den vielen Ideen, die mir dazu schon so lange durch den Kopf gegangen sind, ist endlich etwas Stoffliches geworden, und... ich mag es. Es ist vielleicht nicht ganz so, wie ich erwartet hatte, aber es ist eben doch immer noch etwas vollkommen anderes, eine Geschichte zu planen und sie zu schreiben. Ich hoffe, dass ein paar Verrückte diesen Neuanfang miterleben und wünsche jedem viel Spaß bei den ersten Zeilen von One Wish! Fünkchen - that's for you. ^_~
 

Es gab genau zwei Dinge, die Kitai mochte: Sonnenuntergänge in den Straßenschluchten von Atacca Falls und Vergnügungsparks bei Nacht. Er konnte stundenlang durch die überfüllten Gassen zwischen Buden, Billigrestaurants und garantiert magen- und rückgratfeindlichen Attraktionen schlendern, ohne dabei einen einzigen Cent ausgeben zu müssen. Denn bei seinen Besuchen auf dem alljährlichen Volksfest zu Ehren der Stadtgründung, der Sommerhitze, der trotz unverschämter Preise unverändert zahlungswilligen Besucher oder eben irgendwelcher anderen ehrenwerten Umstände ging es ihm keineswegs um Nervenkitzel, schlechtes Essen und teuren Alkohol.

Was Kitai wieder und wieder zwischen die grölenden und kreischenden Menschenmassen trieb (obwohl er Menschenmassen an und für sich nicht unbedingt viel abgewinnen konnte), das waren die Lichter, Tausende und Abertausende vielfarbiger Lichter. Überall blinkte, funkelte und glitzerte es, wurde Sternenregen aus kaltem blauem Plastik in die Lüfte gewirbelt, formten sich rasende Muster, Blumen und Feuer im Takt der dröhnenden Musik. Hier das psychotisch-kindliche Zirkusliedchen eines halsbrecherischen Kettenkarussells, dort ein Schlager, von rechts unmelodische Technorhythmen, deren viel zu laut eingestellte Bässe entfernt an die lieblichen Geräusche einer Großbaustelle erinnerten.

Inmitten dieser infernalischen Sinfonie vollkommen unstimmiger, deshalb aber nicht minder selbstbewusst lautstarker Musikuntermalung, der ewig gleichen, sinnlosen Werbe- und Anfeuerungsrufe der Schausteller und des grellen Licht- und Bilderspektakels schien es keinen Ort zu geben, der nicht irgendwie roch. Oder besser gesagt: stank. Es stank nach Öl, nach Bier und billigen Parfums, nach Schweiß und altem Fett, nach stark überstrapaziertem Plastik und dem Matsch der Lose, die als undankbare Nieten ein feuchtes Grab in der einen oder anderen Pfütze gefunden hatten. Außerdem roch es nach Sommer, dem trägen Sommer einer mittelgroßen Stadt, nach warmem Asphalt, heißgefahrenem Reifengummi und künstlichem Softeis. Nach Zuckerwatte, Gummibärchen und Liebesäpfeln, manchmal sogar noch dem Heu der Kinderreitponys, die zwischen Schiffschaukel und Achterbahn ein trostloses Leben fernab jeglicher Freiheit führten.

Von dieser gnadenlosen Reizüberflutung drang ab und an ein klein wenig Funkeln, Leuchten, Dröhnen und Wirbeln an Kitais Augen und Ohren und erzeugte dann ein ganz, ganz schwaches Kribbeln in seiner Brust. Manchmal blieb er stehen, verweilte kurz zwischen der auf mexikanisch getrimmten Berg- und Talbahn, auf der sich rot-weiße Halbkugeln durch ein Labyrinth aus stählernen Hügeln und blinkenden Plastikkakteen schlängelten und drehten, und dem von Comicmagiern und leicht bekleideten Neonelfen verunzierten Spiegellabyrinth. Atmete die von Gerüchen und dem sinkenden Vorhang der Sommerhitze schwer gewordene Luft ein. Ließ seinen Blick starr in die Ferne schweifen, dass die Lichter und Budendekorationen ihn nur noch als funkelnder, grellbunter Nebel von allen Seiten her einhüllten, frei von Konturen und klaren Linien.

Dieser Nebel verschluckte alles – die Menschen um ihn herum, das blecherne Lachen des Metallgeistes, der weiß und drohend über dem Eingang der nahe gelegenen Geisterbahn thronte, die Pommes- und Schießbuden, ja selbst die fernen, im Glanz der Jahrmarktattraktionen unwahrscheinlich blass wirkenden Lichter der verhältnismäßig niedrigen und auch sonst nicht unbedingt beeindruckenden Hochhausbauten Atacca Falls’. Und obwohl ein Großteil der normalsterblichen Stadtbevölkerung in dem sommerlichen Spektakel nicht viel mehr als ein nahezu unerträgliches, leider aber auch unvermeidbares Übel sah, war in Kitais Augen die Jahrmarktsaison das mit großem Abstand Beste, was sämtliche zwölf Monate des Jahres zu bieten hatten.

Alles andere war ihm mehr oder weniger gleichgültig.

Dies lag zum einen daran, dass Kitais Leben in besagter Kleinstadt namens Atacca Falls nun wirklich alles andere als abwechslungs- oder gar ereignisreich war. Jeder einzelne Tag war geprägt von einer unumgänglichen Ähnlichkeit zum Vorangegangen und Darauffolgenden. Manchmal war sich Kitai fast schon sicher, dass jener Mensch, der einst das Wort Alltag erfunden hatte, ein Einwohner von Atacca Falls gewesen sein musste. Gestern war heute und heute war morgen, Veränderung war ein Fremdwort, ein bedrohliches noch dazu, und es geschah nichts, was nicht irgendwann in jüngster Zeit schon einmal geschehen wäre.

Und die Einwohner von Atacca Falls waren glücklich damit.

Wenigstens diejenigen, die sich zu Kitais mehr oder weniger freiwilligem Bekanntenkreis zählen durften, und das waren (zum Glück!) nicht sonderlich viele. Kitais Umfeld beschränkte sich genau genommen auf seine Nachbarn, seine Familie und seine Klassenkameraden, oder anders ausgedrückt: Auf all jene Menschen, die entweder genügend Geld, genügend Lebensjahre oder genügend wohlhabende Lebensgefährten ihr Eigen nennen durften, um sich eines der freundlichen weißen Einfamilienhäuser leisten zu können, die samt Briefkasten, Gartenzaun und gepflasterter Garageneinfahrt wie ein freundlich helles Einfahrtstor jeden Besucher von Atacca Falls willkommen hießen. Es war eine Vorstadtsiedlung wie aus dem Bilderbuch. Eine vom Typus ganz tief aus der Klischeekiste gegriffen, wie man sie sonst nur aus schlecht gemachten Vorabendserien, Familiendramen und Horrorfilmen kannte.

In dieser Welt war Kitai aufgewachsen und er kannte nichts anderes. Nichts anderes als diese Gärten, Zäune, Briefkästen und Garageneinfahrten, hinter denen sich Tag für Tag das ereignislose – Verzeihung, das idyllische Leben der etwas besseren Gesellschaft Atacca Falls’ abspielte, und die sich eigentlich alle wie ein Ei dem anderen glichen, wenn man von der individuellen Note einiger Gartenzwergkolonien, Teichanlagen und Plastikflamingos einmal großzügig absah. Dekorationen wurden durchaus gern gesehen, solange sie nicht ins Auge stachen, schön konservativ und auf gar keinen Fall geschmackvoll waren. Immerhin bestand ja die Gefahr, sich von den Nachbarshäusern positiv abzuheben, und das durfte nun wirklich nicht sein!

Individualität – dieses Wort klang in den Ohren der Vorstädter sogar noch bedrohlicher als Veränderung. Es war bloßes Gift für das makellose Antlitz der strahlenden Häuserfassaden, es war wie eine Rattenplage, die bekämpft werden musste. Und die Tötungsmaschine für das Ungeziefer funktionierte bestens, sie wurde Tag für Tag aufs Neue geölt, und wer sich nicht fügte, wurde entweder gefügig gemacht oder strich nach kurzer Zeit freiwillig die Segel. Für einen Menschen wie Kitai, der in dieser lebensfeindlichen Umgebung groß geworden war, gab es keinen Zweifel an der Funktionsfähigkeit dieses Systems. Auch nicht an dessen Zweckmäßigkeit. Und so reagierte er darauf eben auf die einzig mögliche Weise: Er passte sich an.

So gut das eben möglich war.

Kitai hatte kein Problem damit, zu lächeln, wenn er lächeln musste. Er hatte immer ein paar freundliche Worte auf den Lippen, er war durch und durch sympathisch und er wusste es auch. Woher genau diese Wirkung kam, konnte er sich nicht erklären, wahrscheinlich war sie das Ergebnis jahrelangen harten Trainings. Aber wen wunderte es, dass in einer so oberflächlichen Welt wie der Vorstadt von Atacca Falls nichts anderes als Oberflächlichkeit der Schlüssel zu… eigentlich allem war? Manchmal kam es Kitai ein bisschen so vor, als ob sein ganzes Leben tatsächlich eine Art Theaterstück oder Fernsehserie wäre. Drehbuch samt Dia- und Monologe schrieb er bereits im Voraus, um sich dann später als glorreicher Hauptdarsteller aus der Ferne brillieren zu sehen. Denn Schauspielen konnte er, ganz ohne jeden Zweifel. Was ihm eher Probleme bereitete, war das oft zitierte wahre Leben.

Es war nämlich so, dass Kitai irgendwann im Laufe seines Lebens vergessen hatte, wie man lacht. Er konnte nicht sagen, wann und aus welchem Grund das geschehen war (genau genommen kamen mehrere Ereignisse in Frage, von denen er keines mit Sicherheit ausschließen oder als einzig wahre Ursache bestimmen konnte), aber es war nun einmal eine Tatsache: Kitai konnte nicht lachen. Er tat es natürlich trotzdem ab und zu, nicht ganz so häufig, wie er lächelte, aber doch immer noch oft genug, um seine positive Ausstrahlung nicht zu gefährden. Doch letztlich war das eine wie das andere nicht mehr als das bloße Nachahmen einer emotionalen Regung, deren eigentliche Bedeutung er längst vergessen hatte.

Natürlich kam es ab und an vor, dass selbst Kitai etwas hörte, das er ernsthaft lustig fand. Aber auch das stellte er dann mehr sachlich fest, er registrierte es, ohne tiefer davon bewegt zu werden. Er konnte es nicht so recht erklären, aber irgendetwas schien da auf seinen Schultern zu lasten, das zu schwer war, als dass er es einfach hätte abstreifen und unbeschwert weiterleben können. Nichts, was er tat, war unbefangen, alles folgte stets einer planvollen Logik, aber vielleicht bekam er ja gerade deshalb immer das, was er wollte. Wenigstens in dieser kleinen Welt, in der er lebte.

Das alles war übrigens nicht immer so gewesen. Kitai wusste, dass es andere Zeiten gegeben hatte, und dieses Wissen war das Einzige, was ihn ab und an immer noch schmerzte. Ansonsten hatte er sich in sein Schicksal gefügt, und es war ihm nicht einmal sonderlich schwer gefallen. Kitai störte sich nicht an Oberflächlichkeit, ganz im Gegenteil. Er war froh, wenn er Menschen auf Distanz halten konnte, ohne dass sie es merkten oder sich daran störten. Im Grunde genommen hätte sein Leben genau so und nicht anders verlaufen sollen: Hier und dort ein bisschen Smalltalk, ein einstudiertes Lächeln, eine treffende, aber harmlose Pointe, und für den Rest des Tages durfte er dann seine Ruhe haben.

Leider gab es ausgerechnet in diesem Punkt eine grundlegende Diskrepanz zwischen dem, was Kitai wollte, und dem, was Kitai hatte. Er war nun einmal das genaue Gegenteil von unauffällig, und irgendwann in seinem Leben war er an diesen Punkt gekommen, an dem es nur noch zwei Möglichkeiten für ihn gab, nämlich im Mittelpunkt oder im vollkommenen Abseits zu stehen. Im Grunde genommen war alles an ihm irgendwie seltsam, und das fing schon mit seiner äußerst ungewöhnlichen Entstehungsgeschichte an.

Die Evolution des Kitai Kawashima begann in einem Vorort von Berlin, genauer gesagt in einem kleinen Lokal, in dem eine Studentin in Geldnöten einem japanischen Geschäftsmann einen Vermouth Cassis servierte. Es war nicht die letzte Nacht und nicht der letzte Cocktail, den die beiden miteinander teilen sollten, und knapp neun Monate später erblickte Kitai das Licht der Welt. Die größte Angst unserer armen Studentin, nämlich in noch größere Geldnöte zu geraten, sollte sich übrigens nicht bewahrheiten, denn ihr nobler Geschäftsmann hatte gegen einen so entzückenden kleinen Thronfolger ganz und gar nichts einzuwenden. Und als er der armen Studentin einige Wochen später anbot, ihm zu einer sogar noch besseren Anstellung in die Vereinigten Staaten von Amerika zu folgen, gab es für sie kein Halten mehr.

Kitai konnte sich an seine frühesten Tage in Deutschland nicht mehr erinnern, obwohl ihn seine Eltern ganz pflicht- und traditionsbewusst sogar gleich dreisprachig erzogen hatten. Trotzdem hatte ihm diese Herkunft einen gewissen Stempel aufgedrückt, und längst nicht jeder fand es cool, irgendwie europäisch und dabei irgendwie auch noch asiatisch zu sein. Er wusste nicht mehr, wie oft man ihm schon das böse Wort mit N hinterhergerufen hatte, bevor er überhaupt dessen Bedeutung kannte. Später in der Schule hatte er dann erfahren, dass er gewissermaßen eine Allianz des Bösen war, eine Mischung aus Holocaust und Pearl Harbour, und das war nicht unbedingt eine gute Voraussetzung, um Freunde zu finden, wenigstens in der älteren Generation.

Das andere Problem lag irgendwo in Kitais Genen. Niemand hatte es bislang erklären können, aber weil es auch nicht gefährlich zu sein schien, hatte man irgendwann aufgehört, nach der Ursache zu forschen. Kitai hatte die asiatischen Gesichtszüge seines Vaters geerbt, aber der Rest war ein einziges Rätsel. Sein Haar weder so schwarz wie das des großherzigen japanischen Geschäftsmannes, noch schimmerte es rötlich braun wie das seiner Mutter. Es war schneeweiß. Auf den ersten Blick oder im Dunkeln hätte man es vielleicht für ein sehr helles Blond halten können, aber bei genauerem Hinsehen war Weiß nun einmal Weiß und blieb Weiß, auch wenn so etwas nicht zu einem jungen Menschen passte.

Zwar zu einem jungen Menschen, dafür aber leider nicht zu einem Halbjapaner passte hingegen die Farbe seiner Augen. Seine Iriden waren von einem hellen Türkis, und nicht nur deshalb wirkte sein Blick unheimlich kalt. Dies schien aber glücklicherweise niemand zu bemerken, schon gar nicht, wenn er lächelte, denn wer in Atacca Falls sah einem anderen Menschen schon wirklich in die Augen, wenn er mit ihm sprach? So oder so war Kitais Aussehen eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, und zu allem Überfluss gab es dann auch noch… es. Und das war überhaupt das größte Mysterium von allen.

Ganz genau auf der Mitte von Kitais Stirn prangte etwas, von dem kein Arzt, kein Fachmann hatte sagen können, was es war und woher es kam oder was man dagegen tun konnte. Irgendwann hatte man sich auf eine Pigmentstörung geeinigt, aber warum diese Pigmentstörung eine exakt symmetrische Form hatte, ein nach oben offener Halbkreis mit einem tropfenförmigen Fleck und zwei kleineren Punkten darüber und einem weiteren Punkt darunter, dafür hatte niemand eine Erklärung gefunden. Ein bisschen sah es aus wie ein geschlossenes Auge, und wer es sah, musste unweigerlich an eine Tätowierung denken. Eine Tätowierung in der Vorstadtsiedlung, noch dazu im Gesicht? Undenkbar!

Für all diese Probleme hatte Kitai eine einzige zufriedenstellende Lösung gefunden: die Flucht nach vorne. Das Etwas versteckte er hinter seinen Haaren, und dann bewies er seinen Nachbarn und Mitschülern, dass er angepasster sein konnte als sie alle zusammen. Jeder hatte irgendein Talent, und Kitais Talent war ein sicheres Gespür dafür, wie er auf andere Menschen wirken musste. Was er gewann, war die Bewunderung seiner Mitschüler und die simpel gestrickten Herzen seiner Nachbarn. Er hatte gute Noten, er hatte Stil, er hatte Geld, er wickelte auch die strengsten Lehrer ganz locker um den Finger, kurzum: Es war eben einfach cool, mit Kitai befreundet zu sein.

Dummerweise gingen mit Sympathie Verpflichtungen einher. Beispielsweise die Verpflichtung, auf Partys zu gehen, obwohl Kitai Partys als reine Zeitverschwendung ansah. Oder die Verpflichtung, Stufensprecher zu werden und sich deshalb für Dinge einsetzen zu müssen, die ihn nicht im Geringsten interessierten. Oder seine Unterhaltungen mit Mrs. Carrigan. Diese Liste hätte sich beliebig lange fortsetzen lassen, und manchmal, nur manchmal, verspürte Kitai das dringende Bedürfnis, wegzulaufen. Er dachte nicht ein einziges Mal ernsthaft darüber nach, aber diese beklemmende Sehnsucht blieb, und in solchen Momenten ließ Kitai gerne die sattgrünen Vorgärten hinter sich und floh in die Straßenschluchten der Downtown, wo er manchmal bis nach Einbruch der Dunkelheit umherstreifte. Seine Mutter hasste diese Ausflüge in das Reich der Unterprivilegierten, und ihr zweiter Ehemann hasste sowieso alles, was Kitai tat.

Aber wie hätte Kitai ahnen sollen, dass dieses harmlose bisschen Rebellion gegen die erdrückende Vollkommenheit der Vorstadt seine leere, aber heile kleine Welt in tausend Stücke schlagen sollte?
 

Es war an einem drückend warmen Spätsommernachmittag, als Kitai die weiße Tür ihres weißen Einfamilienhauses öffnete und über den weißen Steinweg auf das weiße Gartentor zuschlenderte, nicht ahnend, dass in wenigen Stunden nichts, aber auch gar nichts mehr so sein würde, wie es war, wie es immer schon gewesen war und wie es wohl auch immer hätte sein sollen. Mrs. Carrigan zupfte gerade ein welkes Blatt von einem ihrer üppigen Rosensträuche, blickte aber auf, als sie die Tür ins Schloss fallen hörte, und deutete Kitai mit einer wiegenden Kopfbewegung, näher zu treten. Dieser erkannte auf einen Blick, dass er sich ihrem Befehl nicht widersetzen konnte – nicht jetzt, nicht heute – und näherte sich mit einem Lächeln. Ihm war klar, dass er vorsichtig sein musste. Wenn man Mrs. Carrigan eines zugute halten konnte, dann, dass man bei ihr immer, aber auch wirklich immer wusste, woran man war. Dafür sorgte sie auf ihre ganz eigene Art und Weise.

Mrs. Carrigan war ein suburbanes Phänomen, ein kurioses Überbleibsel längst vergangener Zeiten, die es in solcher Form vielleicht niemals wirklich gegeben hatte. Sie war originell, gewiss, auf ihre besondere Weise vielleicht sogar einmalig – aber diese Originalität basierte ausgerechnet auf dem Fundament vollkommener Durchschaubarkeit. Es war nämlich so, dass die gute Mrs. Carrigan über gewisse Indikatoren verfügte, mit deren Hilfe sie der Außenwelt die überwältigende Bandbreite von genau drei verschiedenen Gemütszuständen vermittelte. Ob sie das nun willentlich tat oder vielmehr von irgendwelchen tyrannischen Regungen in ihrem Unterbewusstsein getrieben wurde, wollte Kitai eigentlich gar nicht wissen. Er hatte die Gesetzmäßigkeiten hinter dem Phänomen erkannt, und das genügte ihm vollkommen.

Zum einen war da die Sache mit den drei Schürzen. Ihre Lieblingsschürze, eine intensiv türkisblaue mit großen violetten und pinkfarbenen Tropenblumen, trug Mrs. Carrigan ausschließlich in einem seltenen Zustand zuckersüßer Euphorie, wenn der Himmel besonders blau und ihre Geranien besonders üppig waren. Die zweite war grün, eine satte Farbe wie die von jungem Gras, und sie war von einem zarten Blütenmuster umrankt. Diese Schürze kam am häufigsten zum Einsatz, nämlich immer dann, wenn Mrs. Carrigan gewohnt neutral bis freundlich gestimmt war, stets mit einem leichten Hang zur Gleichgültigkeit gegenüber allem und jedem, das nicht zufällig in ihrem Zierrosenbeet blühte. Dann und wann kramte sie jedoch auch ihre emotionale Schlechtwetterschürze aus den Untiefen ihres Kleiderschrankes hervor, ein formloses Ungetüm mit violett-braun-grau-blassrosa Längsstreifen, und dann war Gefahr im Verzug.

Neben diesem farblichen Frühwarnsystem gab es auch diverse rhetorische Signale, die gegebenenfalls zu einer dezenten Politik der Zurückhaltung anrieten. Oder eben zu einem netten Sonntagnachmittagsplausch, je nachdem. Ihre Mimik hingegen blieb stumm. Das große Problem war nämlich, dass Mrs. Carrigan immer, aber auch wirklich immer lächelte. Kitai hatte sie einmal von der Beerdigung eines alten Schulfreundes heimkehren sehen, und selbst da hatte sie noch ein Lächeln auf ihren Lippen getragen – ein trauriges zwar, aber immerhin. Zum Glück war es nun aber so, dass Mrs. Carrigan nur drei Begrüßungsformeln kannte, die zur Farbe ihrer Schürzen und ihrer momentanen Laune quasi parallel geschaltet waren.

Im Rausch höchster Freude flötete Mrs. Carrigan jedem halbwegs bekannten Gesicht ein beschwingtes „Guten Tag, mein/e Beste/r!“ über ihren makellosen Gartenzaun hinweg. In ihrem eher gleichmütigen Gefühlszustand wurde ein simples „Hallo, mein/e Beste/r!“ daraus, was dann im Fall eines akuten Stimmungstiefes wiederum zu einem kahlen, nackten „Hallo!“ synkopiert wurde. Behielt man dies im Hinterkopf, war der Umgang mit Mrs. Carrigan ein Kinderspiel, wenigstens für einen Menschen wie Kitai. Nur leider machte sie das nicht weniger unerträglich.

Schon gar nicht dann, wenn Mrs. Carrigan Streifen trug.

„Hallo!“, nickte sie Kitai zu, und der nickte zurück.

„Hallo!“, lächelte er, und Mrs. Carrigan lächelte zurück. Kitai spürte, dass er sie ein wenig besänftigt hatte. Mrs. Carrigan mochte es, wenn man sich ihrer Stimmung anpasste.

„Also, hast du das wieder gesehen?“, kam sie ohne lange Umschweife auf den Punkt und zupfte mangels weiterer welker Blätter an einer wasserstoffblonden Strähne ihrer Dauerwelle, die sie wahrscheinlich sogar noch älter aussehen ließ, als sie sowieso schon war. „Ich wohne nun schon so lange mit dieser Mrs. Clifford Zaun an Zaun und ich habe mich wirklich noch nie über sie beschwert“ – das sagte sie übrigens jedes Mal – „aber was zuviel ist, ist zuviel. Schlimm genug, dass eine Frau in ihrem Alter sich noch im Bikini sonnen muss, aber dass sie dabei Champagner trinkt… Champagner, am frühen Nachmittag! Es würde mich nicht verwundern, wenn sie ihre Hunde mit Kaviar füttert. Diese unerträglichen Kläffer!“

Sie rollte mit den Augen, dass ihre tuscheschweren Wimpern zu flattern begannen, und Kitai gab einen angemessenen Laut der Entgeisterung von sich. Er wusste, dass es Mrs. Carrigan im Grunde genommen rein gar nichts anging, was ihre Nachbarin im Schutz des hinter dem Haus gelegenen Garten so alles anstellte – er wusste aber genauso gut, dass Mrs. Carrigans Fenster im ersten Stock nicht umsonst so blitzblank geputzt waren. Vielleicht fürchtete ihr schlichtes Gemüt die Nähe einer dekadenten Millionärswitwe, vielleicht brauchte sie aber auch nur einen kleinen Ärger dann und wann, um glücklich zu sein.

Mehr oder weniger glücklich.

„Sie sollten sich wirklich über den Lärm dieser Hunde beschweren“, sagte er mitfühlend, während er in Gedanken feststellte, dass sich so etwas Glück mit einem Ort wie diesen einfach nicht vertrug. Zufriedenheit, vielleicht, aber nicht Glück. Das war ein viel zu starkes, viel zu gewagtes Wort, das mehr verlangte als diese schneeweiße Leinwand, auf der sich Tag für Tag, Woche für Woche derselbe Film abspielte. „Ich glaube, ich könnte da nicht so geduldig bleiben.“

„Ach, das kommt alles mit dem Alter, Junge“, seufzte Mrs. Carrigan und lächelte dabei. „Ich möchte keinen Ärger in diesen schönen Flecken Erde bringen, weißt du? Frieden ist ein Geschenk, und schlechte Gedanken bringen Rosen zum Welken. Es ist schon alles gut, so wie es ist.“

Kitai nickte, und ganz plötzlich hatte er das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Er war froh, dass sich Mrs. Carrigan mit einem letzten Nicken – wenn sie schlecht gelaunt war, verabschiedete sie sich prinzipiell nur mit einem Nicken – wieder von ihm ab- und ihren zartrosafarbenen besten Freunden zuwandte und er unauffällig den Ort des Geschehens verlassen konnte, ohne damit jemandem zu nahe zu treten. Seine Mutter war noch nicht von ihrer Arbeit im Büro der Firma heimgekehrt, deren Leitung ihr geliebter japanischer Geschäftsmann schon nach kurzer Zeit im Land der unbegrenzten Möglichkeiten übernommen hatte. Ihr Zweitehemann trieb sich wieder einmal in seinem besten Anzug irgendwo in der Innenstadt herum, um nicht zugeben zu müssen, dass er seine Stellung in einer drittklassigen Versicherungsagentur schon vor fast zwei Monaten verloren hatte und sich von seiner Frau beziehungsweise deren Vermögen durchfüttern ließ. Wenn Kitai pünktlich zum Abendessen wieder auf der heimischen Hausmatte antrat, gab es also keinerlei Einwände gegen einen kleinen Ausflug in die City von Atacca Falls, die diese Bezeichnung ja im Grunde genommen gar nicht verdiente.

Die nächste Bushaltestelle war weniger als fünf Minuten von Kitais Haus entfernt. Er wechselte die Straßenseite und grüßte Mr. Wright, der wie jeden Tag damit beschäftigt war, sein Auto zu putzen, einen metallicgrünen Buick Wildcat aus den Sechzigern. Nebenan widmete sich Mr. Cunnigan seinem Gartenzaun, suchte auf Knien mit jahrelang geschultem Röntgenblick nach jeder winzigen Unebenheit, jedem noch so kleinen Fleck in dem makellosen Weiß. In der rechten Hand hielt er eine Dose mit wetterfestem weißen Lack, und er war so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er Kitai überhaupt nicht bemerkte.

Kitai war allerdings auch ganz froh, dass er nicht weiter aufgehalten wurde, denn gerade als die Bushaltestelle in Sicht kam, deren Häuschen – natürlich! – ebenfalls weiß gestrichen war und durch eine gläserne Rückwand noch heller und freundlicher wirkte, bog der Bus um die Ecke und Kitai musste sogar ein bisschen rennen, um ihn noch zu erreichen. Es war keine sonderlich lange Strecke, die er auf diese Weise zurücklegte, aber die Luft war immer noch drückend warm und so war er außer Atem, als er sich auf einen der zahlreichen freien Sitze fallen ließ. Es gab nicht viele Bewohner seiner kleinen Vorstadtsiedlung, die mit dem Bus in die Stadt fuhren. Wenn sie es überhaupt einmal taten.

Die Stadt war ein Ausbruch aus der Routine, aber vielleicht war sie ja auch gerade deshalb zu einer Art Zufluchtsort für Kitai geworden. Die Klimaanlage des Busses surrte knapp einen Meter über ihm und blies ihm einen kalten Luftzug in den Nacken. Er versuchte, ihm wenigstens ein bisschen zu entgehen, indem er mit dem Kopf näher zur Scheibe rückte. Trotz der Hitze flirrte die Luft über dem Asphalt schon seit einigen Tagen nicht mehr. Die wahre Ursache der schweißtreibenden Temperaturen waren Gewitter, die aber meist erst bei Nacht über die heile Welt von Atacca Falls’ Suburbia hereinbrachen. Diese Gewitter mehrten sich, und Kitai wusste, dass sie bald eine kühlere Witterung mit sich bringen würden.

Der Herbst näherte sich mit großen Schritten, und der Sommer ging zuende.
 

Die Hochhäuser in Atacca Falls waren, wie bereits erwähnt, eigentlich gar nicht wirklich hoch, sondern einfach nur höher als die meisten anderen Häuser der Stadt, außerdem viereckig und kahl und ein wenig schmutzig, wie sich das eben für anständige Hochhäuser in etwas weniger guten Vierteln einer mittelgroßen Stadt gehörte. Aber gerade der allgegenwärtige Staub war es, der Kitai immer wieder in diese an und für sich eher triste Umgebung lockte. Wenn nämlich die Sonne unterging, dann wurde der schmutzige Boden in ein ganz blasses Rot getaucht, denn das Licht erreichte den Grund der Häuserschluchten kaum mehr, und ein eigentümlicher Geruch hing in der Luft, nach Asphalt und nach diesem Staub und nach der Wärme des Tages, die sich in den Häuserwänden verfangen hatte.

Es waren ganz besondere Stunden, die Abenddämmerung schien seltsam distanziert und doch viel intensiver, wenn sich das fahle Licht in den umherfliegenden Teilchen brach und dann verschwand. Kitai konnte nicht genau sagen, was ihn daran faszinierte, aber dieser unscheinbare Ort gab ihm vielleicht gerade wegen seiner Unscheinbarkeit die beruhigende Gewissheit, über nichts, aber auch gar nichts mehr nachdenken zu müssen. Er konnte nachdenken, wenn er wollte – natürlich, und oft genug schlenderte Kitai auch durch die schmalen Straßen und wälzte in Gedanken irgendein Problem umher, das ihm meist aber letztlich doch wieder entglitt und sich im Nebel der Gleichgültigkeit verlor. Er war aber nicht dazu verpflichtet.

Heute war jedenfalls einer dieser Tage, an denen er sich ganz der süßen Gedankenlosigkeit hingab. Er setzte einen Fuß vor den anderen und starrte auf das Flirren in der schweren Luft, ohne dass der Tanz der Staubkörner irgendwelche Assoziationen geweckt hätte, ohne auf den Weg zu achten, ohne überhaupt auf irgendetwas zu achten. Diese planlose Willkür konnte er sich an keinem anderen Ort der Welt gestatten, und dafür war er den Straßenschluchten von Atacca Falls unendlich dankbar. Er ging und ging, und als ihm irgendwann das Atmen schwerer fiel und seine Füße müde wurden, ließ er sich einfach an einer Hauswand hinabsinken, lehnte seinen Kopf gegen den rauen Putz und schloss die Augen.

Als er nach einiger Zeit, vielleicht waren es sogar einige Minuten, endlich wieder blinzelte, war das Erste, was er sah, das Blau des Abendhimmels. Es war von violetten Schlieren getrübt, und er sah auch nur einen ganz kleinen Ausschnitt davon, denn die Häuser standen eng beieinander und bildeten so eine Art Rahmen für das zarte Farbenspiel, allerdings einen reichlich schmucklosen Rahmen. Kitai folgte langsam der bröckelnden, schmutzig beigeweißen Wand des gegenüberliegenden Gebäudes, und dann sah er das Mädchen. Sie stand vor ihm und betrachtete ihn schweigend.

Im selben Moment fühlte Kitai einen tiefen Stich in seiner Brust.

Es war eine merkwürdige Situation: Kitai hatte eigentlich noch niemals für irgendeinen Menschen irgendetwas Tieferes empfunden, vielleicht höchstens noch für seine Eltern, aber daran erinnerte er sich nicht mehr so recht. Und nun sah er diesem wildfremden Mädchen ins Gesicht und es schmerzte ihn, warum auch immer. Er schaffte es nicht, seinen Blick wieder von ihr abzuwenden, er schaffte es ja nicht einmal mehr, zu lächeln, und das verwirrte ihn vielleicht am allermeisten.

Später konnte er nicht mehr sagen, wie viel Zeit tatsächlich vergangen war, in der sie sich stumm und reglos angesehen hatten, nur dies und nicht mehr. Er hatte lange nichts mehr so klar und deutlich wahrgenommen wie sie: Ihre tiefschwarzen Augen, ihre feinen asiatischen Gesichtszüge, ihre bleiche Haut. Der schnurgerade abgeschnittene Pony, der ihre Stirn bedeckte, und der Schimmer ihres langen schwarzen Haares. Ihre eigentümliche Kleidung, die mit zahllosen Bändern verziert war und auf ihre Weise unendlich kostbar aussah. Ihre schlanken weißen Finger. Kitai hätte unmöglich ihr Alter schätzen können, denn sie hatte etwas Kindliches, Puppenhaftes an sich, während in dem starren Blick ihrer Augen und in ihrer Haltung so viel… Würde und Erfahrung lag, wie man es selbst bei erwachsenen oder sogar bei alten Menschen selten fand.

Was Kitai erst nach einiger Zeit bemerkte, war, dass ihre bloßen Füße den Boden nicht berührten. Das Mädchen schwebte gute zehn Zentimeter über dem staubigen Asphalt, und darüber hinaus war ihre Gestalt in ein sanftes weißes Leuchten gehüllt, das so selbstverständlich zu ihr zu gehören schien, dass sich Kitai noch kein bisschen daran gestört hatte. Er dachte auch nur ganz kurz darüber nach, ob er nun wachte oder träumte, bevor er feststellte, dass es ihm gleichgültig war. Aber nicht auf die gewohnte Art und Weise. Es war nur einfach bedeutungslos, warum sie hier war oder ob sie eigentlich hier war, solange er sie nur weiterhin betrachten konnte.

„Ihr müsstet uns jetzt verstehen“, sagte sie schließlich, und der Klang ihrer Stimme ließ Kitai frieren. Er verstand nicht, was sie ihm sagen wollte, aber er verstand sowieso kaum noch etwas, so sehr überwältigte ihn die Erkenntnis, dass er seit sehr, sehr langer Zeit zum ersten Mal wieder… fühlte. Es war an sich kein sonderlich starkes Gefühl, aber es war mehr, als er erwartet hatte, und es war anders, es war neu, und es entzog sich ihm, sobald er danach greifen wollte.

Als er begriff, dass das Mädchen innegehalten hatte und offenbar auf eine Antwort wartete, beließ er es bei einem Nicken – zu mehr fühlte er sich außer Stande.

„Verzeiht, wenn Euch unser Erscheinen in Verwirrung versetzt hat“, fuhr die Schwarzhaarige fort und deutete eine Verneigung an. In ihren Bewegungen lag eine Eleganz, wie sie Kitai noch niemals zuvor bei einem Menschen gesehen hatte, nicht einmal bei einem der zahlreichen Sportler, die seine renommierte Privatschule bevölkerten. „Unser Name ist Chikyu no Omoikiru Kagi. Wir sind weit gereist, um Euch hier zu finden, und wenn wir den Pfad auch nur in den dunklen Untiefen des Geistes beschritten haben, so lastet doch unermessliche Erschöpfung auf unserem Körper. Es hat uns große Kraft gekostet, in diese, in die Eure Welt zu finden, und uns bleibt nicht viel Zeit, bevor wir in die unsrige zurückkehren müssen.“

„Du… du hast mich… ich meine… ich glaube, ich verstehe nicht ganz.“ Kitais Stimme klang ganz unbeschreiblich fremd in seinen eigenen Ohren, aber diese Unsicherheit, dieser plötzliche Mangel an Worten, die doch für gewöhnlich seine engsten Verbündeten waren, war nicht das Einzige, das ihn zutiefst verwirrte. Er begriff nicht einmal die Hälfte von dem, was dieses wunderschöne Mädchen ihm sagen wollte, und die andere Hälfte wollte er erst gar nicht begreifen, weil sie allem widersprach, an das er glaubte – was zugegebenermaßen nicht sonderlich viel war.

„Es beschämt uns, Euch diese Ratlosigkeit nicht nehmen zu können, aber bald…“ Sie stockte, und ein leises Keuchen drang über ihre Lippen, obwohl sie es sich ansonsten offenbar nicht gestattete, so etwas wie Anstrengung oder überhaupt irgendeine Gefühlsregung auf ihr Gesicht treten zu lassen. „Bald ist es zu spät für uns, und dann ist jede Hoffnung verloren. Es ist vermessen, sich gegen das Schicksal stellen zu wollen, doch die Hoffnung befähigt uns dazu, und diese Hoffnung seid Ihr.“

„Aber…“ Kitai schüttelte den Kopf und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, was ihm zum ersten Mal seit Langem wieder echte Mühe bereitete, aber am Ende dennoch gelang. Er schaffte es auch, verhältnismäßig ruhig zu antworten, vielleicht nur deshalb, weil die gesamte Situation einfach viel zu absurd war, um sie an Ort und Stelle zu hinterfragen oder sich gar gegen das zu verwehren, was da gerade eben mit ihm geschah. Kitai wusste, dass es ihn grenzenlos überfordern würde, wenn er jetzt auch nur begann, über irgendetwas von all dem nachzudenken, was er nicht verstand, was ihn verwirrte, was ihm unwirklicher vorkam als jeder seiner belanglosen Träume der vergangenen Wochen, und so sperrte sich irgendetwas in seinem Unterbewusstsein hartnäckig dagegen, es überhaupt erst zu versuchen. „Du… nein… Ihr sprecht, als ob Ihr… meine Hilfe benötigen würdet… oder irgendetwas in der Art. Aber ich verstehe nicht, wobei. Wie sollte ausgerechnet ich Euch… helfen können?“

„Ihr müsst mit uns kommen. Ihr, dessen Name Hoffnung ist, nur Ihr könnt die Lichter der Hoffnung aufs Neue entfachen. Das Schicksal ist noch ohne jeden Argwohn, noch wird es Euch zur Seite stehen, das haben wir gesehen. Bitte, Ihr müsst uns glauben. Es ist ein seltenes Geschenk, wenn die Pfade zweier Menschen sich kreuzen, deren Zusammentreffen das Schicksal einer Welt durch die Ströme der Zeiten hinweg bis ins fernste Morgenlicht verändern kann. Der Zeitpunkt ist jetzt und nur Ihr könnt diesen Weg beschreiten. So folgt uns… bitte.“

Kitai war vollkommen überwältigt. Das Mädchen hatte sich erneut vor ihm verneigt, wiederum nicht sonderlich tief, aber er spürte, dass sie kein Mensch war, der es gewohnt war, andere um irgendetwas zu bitten. Dass sie möglicherweise noch niemals um irgendetwas hatte bitten müssen, und dass in ihren Worten und dieser einfachen Geste eine derartige Bedeutsamkeit lag, dass es ihn erschaudern ließ. Sie blickte nur langsam wieder auf, und dann hob sie eine ihrer makellos weißen Hände und streckte sie Kitai entgegen. Ihre Bewegungen waren immer noch unglaublich elegant und geschmeidig, selbst die Art, wie sie ihre Finger spreizte, war schlichtweg… perfekt, sodass sie mehr wie ein vollkommenes Kunstwerk als wie ein wirklicher Mensch wirkte.

Wenn sie denn einer war.

„Wir bitten Euch“, wiederholte sie, und in ihren Blick trat etwas unbeschreiblich Eindringliches, das Kitai unweigerlich zurückzucken ließ.

„Ja, aber… ich muss doch zum Abendessen wieder zuhause sein“, entgegnete er wie gelähmt, und die Banalität dieses Satzes war so unbeschreiblich unpassend, dass es fast schon schmerzte.

„Wir sind uns darüber im Klaren, wie viel wir von Euch verlangen und wie wenig wir Euch davon überhaupt preisgeben können, aber die Zeit rinnt unaufhaltsam durch unsere Hände. Es wird der Augenblick kommen, da wir Euch alles in Ruhe erklären können, aber dies ist kein Augenblick von Worten, dies ist ein Augenblick der Entscheidung.“

„Was ist denn, wenn ich… mit Euch komme? Ich… ich habe diesen Mittwoch eine wirklich wichtige Prüfung in Deutsch, es… werde ich denn dann bis dahin wieder hier sein? Und ich müsste vielleicht noch zuhause anrufen, sonst…“

„Bitte!“ Zum ersten Mal war in der Stimme des Mädchens überhaupt irgendeine Regung abzulesen, und als Kitai sie genauer betrachtete, erkannte er auch schnell, um was für eine Regung es sich handelte, nämlich um Anstrengung. Der Körper der Schwarzhaarigen war gespannt, was ihre aufrechte, stolze Haltung jedoch kaum erkennen ließ, und ein leises Zittern lief durch ihre porzellanfarbenen Finger. Sie schloss die Augen, und mit einem Mal spürte Kitai, wie sich ihm ein Ring der Beklemmung um den Hals legte.

Er konnte es weder in Worte noch in Gedanken fassen, aber irgendein schwer vernachlässigter Teil von ihm begriff, dass dieser seltsame Moment, der nach so langer Zeit endlich einmal wieder anders war als all die anderen Momente, die er tagein, tagaus erlebte, einfach vorüberziehen würde, ohne jegliche Spur zu hinterlassen. Kitai hatte nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wer diese puppenhafte Schönheit war, die sich Kagi nannte, woher sie kam, was sie von ihm wollte oder beispielsweise auch warum sie im Gegensatz zu den meisten herkömmlichen Menschen nicht einfach stand, sondern lieber über dem Boden schwebte. Aber er wusste, dass sie weggehen würde, dass diese unwirkliche Begegnung spätestens mit seinem Erwachen am nächsten Morgen verblassen und jede Bedeutung verlieren würde, und dann…

Dann würde es weitergehen. Er würde wie an jedem anderen Tag das Haus verlassen, jedem Nachbarn ein paar freundliche Worte, ein flüchtiges Lächeln oder auch einfach nur ein kameradschaftliches Kopfnicken schenken, dann würde er in die Schule gehen, würde dort weiterlächeln und weiter und immer weiter, und der nächste Tag würde nicht viel anderes bringen, genauso wenig der darauf folgende und der Tag danach und überhaupt alle weiteren Tage bis zu seinem letzten, und vielleicht meinte Kagi ja gerade das und nichts anderes, wenn sie von Schicksal sprach.

Kitai schluckte. Dann hob er seine Hand und umschloss damit die weißen Finger des Mädchens, ohne recht darüber nachzudenken, was er damit eigentlich bezwecken wollte. Ohne überhaupt über irgendetwas nachzudenken, was so ziemlich allem widersprach, was sein Leben, was sein Handeln für gewöhnlich ausmachte. Da war ganz plötzlich eine Lücke im Drehbuch, eine Schwachstelle in seinem Plan, und jetzt wusste er nicht mehr, was er tun sollte.

Trotzdem lag ein Lächeln auf Kagis Lippen, als sie aufblickte und ihn ansah. Wie alles andere an ihr war auch dieses Lächeln schlichtweg zu perfekt, um noch menschlich zu wirken, und warmherzig war es schon gar nicht. Aber erleichtert… oder zufrieden, das konnte Kitai nicht so recht einschätzen, denn das Gesicht des Mädchens, ganz besonders ihre Augen, wirkten immer noch wie eine wunderschöne Maske. Kitai spürte, wie ein schwacher Windhauch durch sein Haar streifte, das ihm trotz häufiger Proteste seiner Mutter nach wie vor bis über die Schultern hinabfiel. Es war ein angenehmer, warmer Wind, der ihn gar nicht mehr darüber nachdenken ließ, wie ungewöhnlich kalt die Hand der makellosen Schwarzhaarigen war.

Im nächsten Moment zerbrach alles um ihn herum – die Häuser, die Straße, die tanzenden Staubkörner, die von der Abendsonne in ein schweres Rot getaucht wurden, ja selbst in ihm zerbrach irgendetwas. Es ging schnell, so schnell, dass ihm schwindelig wurde, und später hätte er beim besten Willen nicht mehr sagen können, was genau eigentlich geschehen war, nachdem ihm Kagi ein letztes Lächeln geschenkt hatte. Mehrere Sekunden lang hatte er das sichere Gefühl, zu fallen.

Er wollte schreien, aber es gelang ihm nicht, und danach kam Schwärze.
 

Kitai erwachte unsanft und zitternd, als ihm irgendetwas ins Gesicht schlug. Im ersten Moment spürte er nichts als Kälte, dann Nässe, und als er schließlich hochfuhr und gehetzt um sich blickte, nahm er zunächst überhaupt nichts anderes wahr als sehr viel Grün und noch mehr Regen. Es war ein Wolkenbruch der vehementesten Art, das Wasser fiel senkrecht und in großen, schweren Tropfen zur Erde und hatte diese auch schon völlig aufgeweicht, sodass die Wiese, in der er saß, eher einem endlos weiten See glich. Der dichte Vorhang des Regens legte einen Schleier auf die Umgebung, und so begriff Kitai erst nach einigen Sekunden völliger Orientierungslosigkeit, dass er sich inmitten einer weiten Landschaft befand, die sich in sanften, sattgrünen Hügeln bis hin zum wolkenverhangenen Horizont zog.

Dieser Horizont verschwamm jedoch, schon deshalb, weil Kitai wieder und wieder blinzeln musste, denn das Wasser lief ihm in die Augen und nahm ihm die ohnehin schon beschränkte Sicht. Seine Kleidung war vollkommen durchweicht und er fror erbärmlich, so sehr, dass er die Zähne fest zusammenbeißen musste, um nicht mit Selbigen zu klappern. Außerdem verstand er nicht, wo er war und wie er hierher gekommen war, er verstand rein gar nichts mehr und vor lauter Kälte gelang es ihm auch nicht, darüber nachzudenken. Alles, wonach er sich sehnte, war ein Unterstand, und so rappelte er sich mühsam auf und stolperte blind in irgendeine Richtung.

Bei jedem seiner Schritte gab die Wiese ein leises Schmatzen und Glucksen von sich, und Kitai war kaum mehr als zehn Schritte gelaufen, als zu allem Überfluss auch noch Wind aufkam. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht, wodurch er zwar auch nicht mehr nasser wurde, als er das ohnehin schon war, was das Vorankommen aber noch einmal erheblich erschwerte. Er senkte den Kopf und presste die Augen so weit zusammen, dass er gerade noch den Boden vor seinen Füßen erkennen konnte, schlang die Arme fest um seinen Körper und kämpfte sich taumelnd weiter.

Irgendwann sah Kitai überhaupt nichts mehr. Natürlich hätte er so oder so nicht gewusst, wo er war und wohin er hätte gehen sollen, aber letztlich war es doch weitaus mehr Glück als Verstand, dass er nicht einfach an der Hütte vorbeiwankte, tiefer hinein in diese eisige Hölle aus Matsch und feuchtem Gras und fallendem Wasser. Irgendein gnädiger Instinkt ließ ihn den dunklen Schemen hinter dem Wall aus Regen eben irgendwie doch noch wahrnehmen, und so sammelte Kitai noch einmal all seine Kräfte und stapfte auf diesen hölzernen Akt der Gnade zu, dessen dunkle Fassade in diesem Moment überhaupt nicht einladender hätte wirken können. Mit bebenden Fingern öffnete er die Tür, ohne überhaupt darüber nachzudenken, dass diese genauso gut auch hätte verschlossen sein können, und schob sich in das Innere der Zufluchtsstätte.

Der Raum, der ihn empfing, war klein, düster und beinahe vollkommen leer. In einer Ecke lag eine schäbige Matte auf dem Boden, daneben ein Häufchen Kleidung und ein Beutel aus schwarzem Leder. Inmitten des Zimmers stand ein sehr niedriges Tischen, aber keine Stühle. Das Holz der Wände war von einem sehr dunklen Braun, was den Raum noch gedrückter und enger wirken ließ, als er ohnehin schon war. Eine Heizung gab es nicht, was Kitai zwar zutiefst enttäuschte, aber eigentlich doch nicht weiter verwunderte. Dies sah beim besten Willen nicht nach einer bewohnten Hütte aus, sondern bestenfalls… nach einer Jagdhütte oder einer Grillstelle, jedenfalls kein Ort, an dem man sich über längere Zeit aufhalten wollte.

Aber wie um alles in der Welt war er hierher gekommen?

Kitai schüttelte den Kopf und schlüpfte mit zusammengebissenen Zähnen aus seinen triefenden Kleidern. Dann suchte er aus dem spärlichen Angebot an Ersatzwäsche einen bodenlangen Stoffmantel heraus, der zwar recht kühl und außerdem noch staubig, aber wenigstens einigermaßen trocken war, und hüllte sich in dessen schmutziges Schwarz. Die Haare trocknete er sich notdürftig mit einem seltsamen Oberteil, das ihm sowieso viel zu groß gewesen wäre, dann rollte er sich auf der Matte zusammen, so eng es nur irgendwie ging, und wartete darauf, dass ihm ein bisschen wärmer würde.

Er zitterte noch immer, und eigentlich rasten ihm auch tausend Gedanken im Kopf herum, aber sie schienen hinter einem Schleier verborgen, der noch viel dichter war als der Regen. Er war doch eben noch in einer der Straßenschluchten von Atacca Falls gesessen, und dann war dieses seltsame Mädchen herbeigeschwebt und hatte… ja, was eigentlich? Sie hatte irgendetwas gesagt, das er nicht verstanden hatte, etwas von Schicksal und Hoffnung und einigen anderen Dingen, die eher einem mittelklassigen Fantasyfilm entsprungen zu sein schienen. Dann hatte er ihre Hand genommen, und mehr wusste er nicht.

Doch – dass sie gelächelt hatte. Dass auf ihr wunderschönes Gesicht ein ganz merkwürdiges Lächeln getreten war, dieses Bild hatte sich in seine Erinnerung eingebrannt, deutlicher als alles andere. Aber jetzt war sie nicht hier, jetzt war da nur dieser furchtbare Regen und diese heruntergekommene Hütte und irgendwelche Felder, die er nicht kannte oder wenigstens nicht erkannte. Waren das etwa die wenigen Meilen zwischen Atacca Falls und Millside, die in der strömenden Gewalt des Wolkenbruches nur einfach spektakulärer aussahen, als sie eigentlich waren? Aber warum war er hier? Hatte er Atacca Falls verlassen? Hätte er sich daran aber nicht erinnern müssen? Was um alles in der Welt hatte dieses Mädchen mit ihm gemacht?!

Kitai hätte viel darum in gegeben, in diesem Moment einfach kurz die Augen zu schließen und in seinem eigenen Bett aufzuwachen, in diesem kleinen weißen Haus, das er zwar nicht mochte, in dem es aber wenigstens kuschelige Decken, warmen Tee und Fußbodenheizung gab. Seltsamerweise hatte er keine Angst, was ihm durchaus angebracht erschienen wäre, aber die Kälte machte ihm doch zu schaffen. Sie schien bis in sein tiefstes Inneres vorgedrungen zu sein und ließ ihn einfach nicht mehr los, aber seine Haare waren auch immer noch irgendwie nass und dieses schäbige Kleidungsstück nicht unbedingt sehr dick und wärmend.

Trotzdem hätten Kitai keine hundert Pferde mehr dazu gebracht, noch einmal einen Fuß vor die Tür zu setzen. Das aggressive Prasseln des Regens auf dem Holzdach der Hütte war hierbei sicherlich das überzeugendste Argument, außerdem war er erschöpft wie selten zuvor, obwohl er doch gar nicht so weit gelaufen war. Der Kampf mit den Elementen hatte ihm zugesetzt und eine bleierne Schwere lag auf seinen Gliedern. Ihm war immer noch kalt, furchtbar kalt, und so war er fast ein bisschen dankbar dafür, dass ihm schon bald die Augen zufielen und er in einen gnädigen Schlaf versank.
 

Kitai träumte nicht in dieser Nacht – wenn es denn überhaupt Nacht war, denn das Dunkel der Sturmwolken hatte es unmöglich gemacht, die genaue Tageszeit zu bestimmen. Er hätte auch nicht sagen können, ob er nun kurz oder lang geschlafen hatte, er wusste nur, dass er nicht mehr ganz so sehr fror, als er aufwachte. Seine Lider waren immer noch müde, er selbst war immer noch müde, und er begriff, dass ihn irgendetwas geweckt haben musste und er keineswegs schon ausgeschlafen hatte. Kurz überlegte er, ob er sich nicht einfach auf die andere Seite rollen und sich wieder dem Schlaf der Gerechten hingeben sollte, aber erstens fühlte er sich schon jetzt unangenehm verspannt und zweitens wurde er das Gefühl nicht los, das irgendetwas nicht stimmte.

Er gähnte und zwang sich endlich doch zu einem trägen Blinzeln. Zunächst sah er fahles Sonnenlicht, das durch den Spinnwebenvorhang eines kleinen Fensterchens in den immer noch finsteren Raum sickerte. Der Geruch von feuchter Erde lag in der Luft, doch das Hämmern der Tropfen auf dem niedrigen Dach der Hütte hatte aufgehört. Es war auch ein bisschen wärmer geworden, obwohl die triefende Schwere des Regens sich noch nicht ganz verzogen hatte, nur an seinem Hals fühlte Kitai eine eisig kalte Berührung. Er wandte seinen Kopf zur anderen Seite und begriff dann auch ziemlich schnell, worum es sich hierbei handelte, nämlich schlicht und ergreifend um kühles Metall.

Oder anders ausgedrückt: Neben ihm stand ein Mann, halb geduckt angesichts der niedrigen Decke, und hielt ihm die Klinge eines Schwertes an den Hals.

Es war nicht so, dass Kitai leicht zu erschrecken gewesen wäre – ganz im Gegenteil. Eine zeitlang hatte er sich schon fast damit abgefunden, dass ihn absolut nichts mehr erschüttern konnte, nicht der blutigste, subtil verstörendste Horrorfilm, keine menschliche Dummheit oder Grausamkeit und keine noch so niederschmetternde Hiobsbotschaft. Kitai hatte in seinem jungen Leben Dinge gesehen, die ihn mit der zwar frustrierenden, aber doch irgendwie auch beruhigenden Gewissheit erfüllt hatten, jetzt wirklich alles gesehen zu haben, und auch wenn sein alltägliches Leben ihn nicht unbedingt mit großen Aufregungen und Abenteuern konfrontierte, so war er doch beispielsweise in familiären wie auch schulischen Konfliktsituationen stets derjenige, der bis zuletzt einen klaren Kopf behielt.

Allerdings hatte alles seine Grenzen, und so schien Kitais gewohnt analytisch kühler Verstand angesichts dieser doch eher unerwarteten Begegnung wie eingefroren. Hinter seiner Stirn herrschte nichts als dumpfe Leere, und ganz kurz flackerte das Bild des seltsamen Fremden vor seinen Augen. In dem trüben Halblicht der Hütte fiel es ihm ohnehin schwer, die dunkle Gestalt zu erkennen, die da über ihm stand, und außerdem war das, was er zu sehen glaubte, so absurd, dass er mit jeder klammen Sekunde mehr und mehr daran zweifelte, wach zu sein.

Die unwirkliche Szenerie schien einem mittelklassigen Samuraifilm entsprungen zu sein, und ihr Hauptdarsteller trug einen abgenutzten schwarzen Männerkimono und schwarze Hosen. Seine Schuhe wären sicher ebenfalls schwarz gewesen, wenn er denn welche getragen hätte, auf jeden Fall aber war es sein sogar sehr langes Haar, das er hoch am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, wie es Kitai aus diversen Samuraimangas kannte, und das die rechte Hälfte seines Gesichtes fast vollständig bedeckte. Unter den nachtfarbenen Strähnen waren außerdem die gräulich weißen Bahnen eines Verbandes zu erkennen, und bis auf die Haut des Mannes war das auch das Einzige, das an ihm irgendwie hell war.

Das finstere, stechende Schwarz seiner einen sichtbaren Iris, das die Pupille regelrecht zu verschlucken schien, überraschte zwar nicht sonderlich angesichts der Tatsache, dass es Kitai ja offensichtlich mit einem Japaner zu tun hatte, trotzdem passte es ganz unsagbar gut in das düstere Gesamtbild. Selbst sein Schwert war aus schwarzem Metall geschmiedet, und der auch Griff des Katana war mit schwarzem Band umwickelt. Alles in allem sah sich Kitai hier mit einer Alptraumgestalt konfrontiert, wie sie im Buche stand, und auch deren Stimme trug eine lauernde, bedrohliche Kälte in sich, dass es ihn frieren ließ:

„Was willst du hier?“

Kitai war so gelähmt, dass er im ersten Moment gar nicht recht erfassen konnte, was der Samurai des Todes zu ihm gesagt hatte. Dann öffnete er den Mund, um sich irgendwie zu rechtfertigen, sich wie ein Ertrinkender an den rettenden Strohhalm der Worte zu klammern, die ihn jetzt noch dem sicheren Tod entreißen konnten, doch bis auf ein leises Keuchen blieb ihm jeder Laut im Halse stecken. Der Schwarzhaarige ließ ihm aber auch nicht lange Zeit, die richtige Antwort zu finden, und Kitai war sich nicht einmal wirklich sicher, ob es diese richtige Antwort überhaupt gegeben hätte. Er ging in die Knie, packte Kitai bei den Haaren und zog ihn mit einer mechanischen, fast schon… automatisierten Geste nach oben, während er ihm gleichzeitig die Klinge an die Kehle drückte.

Obwohl faktisch nur Sekundenbruchteile vergangen sein konnten, blieb Kitai doch noch genügend Zeit für genau zwei Erkenntnisse: Einmal, dass Töten für diesen düsteren Fremden so selbstverständlich sein musste wie für ihn selbst das Abendessen mit der Familie oder die allmorgendlichen Grußworte zu seinen Nachbarn. Und zweitens, dass er sterben würde. Er wurde gepackt und abgefertigt wie ein Vieh beim Schlachter, und es gab absolut nichts, was er dem hätte entgegensetzen können. Er wusste nicht, wo er war, wie und warum er an diesen Ort gekommen war und wieso da plötzlich dieser Wahnsinnige bei ihm war, der sich ganz offensichtlich dezent in der Epoche geirrt hatte, aber dies war sein Ende, das sinnloseste, absurdeste Ende, von dem er seit Langem gehört hatte.

Kitai stellte gerade fest, dass dies alles eigentlich schon wieder zum Lachen gewesen wäre, wenn er denn noch hätte lachen können, als ihm auffiel, dass er sich nun doch ein bisschen zu viele Gedanken für so eine kurze Zeitspanne gemacht hatte. Er spürte einen schneidenden Schmerz in der Haut an seinem Hals, dann ein Brennen und Wärme und einige andere unangenehme Empfindungen, die ihm lebhaft von einem Kontakt mit der schwarzen Klinge berichteten, auch wenn er es nicht sehen konnte. Ganz kurz überlegte er, ob sich so vielleicht der Tod anfühlte, entschied dann aber, dass dies lächerlich gewesen wäre und dass der Schmerz zwar unangenehm, aber nun wirklich alles andere als schlimm war.

Seine erstarrten Sinne ließen ihn alles in kleinen Stücken wahrnehmen, in unzusammenhängenden Kurzfilmen, und so begriff er auch erst jetzt, dass er die Augenlider fest zusammengekniffen hatte. Er öffnete sie, als er eine Berührung an seiner Stirn spürte, und sah das Gesicht des Mannes in Schwarz nun ganz nah bei seinem eigenen. Die Kälte in dessen Auge ließ ihn frieren, aber vielleicht hatte dieses leise Zittern in seinem Körper ja auch eigentlich vollkommen andere Gründe, und überhaupt lag in den Gesichtszügen des mutmaßlichen Samurai eine ganz eigentümliche Härte, die ihn nur noch ungleich bedrohlicher wirken ließ. Sein Blick schien Kitai zu durchbohren, schien geradewegs in das Innere seines Kopfes vorzudringen, und wiederum verstand er nicht sofort, was dieses schwarze Auge so eindringlich fixierte, bis die rauen Fingerkuppen des Mannes ein weiteres Mal über seine Stirn strichen.

„Das… ist doch nicht möglich“, murmelte er, fuhr dann im nächsten Moment wie unter einem Schlag herum und starrte zwei, drei Atemzüge lang das dunkle Holz der geduckten Tür an. Kitai war nun endgültig viel zu verwirrt, um überhaupt noch irgendetwas begreifen zu können, aber dann hörte auch er gedämpfte Geräusche von draußen – das Rascheln und Stapfen von Schritten im hohen Gras, undeutliche Stimmen, ein abgehacktes Lachen. Er sah, dass der Fremde sein Schwert hatten sinken lassen, dass dessen Körper zwar immer noch gespannt, seine Aufmerksamkeit aber in eine andere Richtung gelenkt war, und da begriff er, dass er vielleicht doch noch eine Chance hatte.

Kitai sammelte sich, dann vergrub er mit einer blitzartigen Bewegung seine Fingernägel in der Hand des Samurai. Er spürte auch hier Verbände, schob seine Finger darunter und krallte sich in der seltsam vernarbten Haut fest, und nun endlich zeigte sich der gewünschte Erfolg: Begleitet von einem hörbaren Lufteinziehen lockerte sich der Griff des Fremden um sein Haar, und mit einem Satz riss sich Kitai von ihm los und taumelte in eine der staubigen Ecken der Hütte. Er sah, wie der Schwarzhaarige neuerdings herumfuhr und ihn mit seinem einen sichtbaren Auge todbringend fixierte, und ganz kurz fragte er sich, ob das nicht vielleicht doch ein Fehler gewesen war. Dann sah er ein, dass er so oder so dem sicheren Tod ins Angesicht blickte und er keine andere Wahl hatte, als diesem letzten leisen Hoffnungsschimmer hinterherzukriechen, und so holte er tief Luft und begann zu schreien, so laut er nur konnte:

„Hilfe! Ich bin hier und er will mich umbringen, Hilfe, bitte, helfen Sie mir! Hilfe! Hilfe!!“

Es verstrichen einige gnädige Schrecksekunden, dann spannte der Samurai erneut seinen Körper an und setzte sich beunruhigend schnell in Bewegung, und so gab Kitai sein Schreien vorläufig auf und stürzte auf die Tür zu. Sein hölzerner Unterschlupf war klein, so lächerlich klein, aber jetzt erschienen ihm selbst diese knapp anderthalb Meter endlos lang, und der Boden unter seinen Füßen schien ein Laufband zu sein, das mit Höchstgeschwindigkeit gegen ihn lief. Er streckte die Arme aus, um den metallenen Griff zu erfassen, der verrostet und schief in seiner losen Fassung hing, doch noch beinahe im selben Augenblick traf ihn ein harter Stoß in den Rücken und irgendetwas riss ihm die Beine weg. Er keuchte, suchte nach einem Halt, doch seine Hand schrammte nur über das raue Holz der Wand, ohne ihn vor dem drohenden Fall zu bewahren.

Und so fiel er eben, schlug mit den Unterarmen hart auf dem Boden auf und wurde noch im nächsten Moment von einem Knie unsanft auf den feuchtkalten Stein gepresst. Eine raue Hand legte sich auf seinen Mund und ein warmer Atem streifte seine Wange:

„Noch ein Wort und du bist tot.“

Der Fremde sprach ganz ruhig, doch Kitai hätte sich dieser unmissverständlichen Anordnung höchstwahrscheinlich selbst dann nicht widersetzt, wenn er dazu noch imstande gewesen wäre. Ganz kurz streifte sein Bewusstsein wieder diesen magischen Punkt irgendwo zwischen Resignation und Aufgeben, dann aber hörte er, wie sich Schritte der Tür näherten. Kitai hielt den Atem an, um den er ob des nicht gerade kleinen Hindernisses in seinem Gesicht ohnehin beständig kämpfen musste, und verbrachte mehrere Sekundenbruchteile in bangem Hoffen. Dann gab die Tür ein empörtes Ächzen von sich und ein kaum merkliches Zucken lief durch den Körper, der ihn so erbarmungslos zu Boden drückte. Er wusste nicht, wer da vor der Tür stehen würde, ob es die Polizei oder irgendein empörter Förster oder einfach nur die Pfleger jener Anstalt waren, aus der dieser Wahnsinnige entkommen war, aber schon das Wissen darum, dass ebendieser Wahnsinnige wen auch immer zu fürchten schien, ließ doch eigentlich nur Gutes hoffen.

Wie gesagt – eigentlich. Denn auf das Ächzen der Tür folgte kein Scharren, kein Lichtschein, keine Gesichter und Arme und Beine, die sich ins Innere der Hütte drängten, sondern nur ein dumpfes Klicken, ein unangenehmes Quietschen, ein weiteres Ächzen und dann noch eines. Kitai hob langsam den Blick, vorsichtig, ohne auch nur einen Millimeter seines Körpers zu bewegen – und stellte fest, dass er eine Kleinigkeit übersehen hatte. Eine leider Gottes entscheidende und im wahrsten Sinne des Wortes hässliche Kleinigkeit. Sie war etwa fünfzehn Zentimeter lang und sieben Zentimeter hoch, bestand aus rostigem Metall und bebte und stöhnte unter den Hieben, die von außen her das Holz der Tür erschütterten, jedoch ohne diesen nachzugeben.

Im Geiste verfluchte sich Kitai dafür, dass er den Riegel nicht eher bemerkt hatte. Dann stellte er mit einem leisen Gefühl des Triumphes fest, dass die Gewalt von außen heftiger wurde und dass sich der rostige kleine Türwächter stetig zusammenkrümmte und sich auch nur noch mit letzter Kraft an seine fleckig rotbraunen Nägel krallte. Und schließlich war beides schlagartig aus seinem Blickfeld verschwunden, Riegel und Tür, und stattdessen wurde er hochgerissen und in Richtung des staubigen Fensterchens gezerrt. Im ersten Moment dachte er überhaupt nichts, und im nächsten dachte er nur, dass das nicht möglich wäre, dass diese kräftige Gestalt in Schwarz in dem engen und splitterigen Holzrahmen einfach stecken bleiben musste.

Sie tat es aber nicht. Mit einer behänden Eleganz, die selbst in Kitai ein leises Gefühl der Bewunderung weckte, schob sich der düstere Fremde durch den Vorhang aus staubigen Spinnweben und zerrte Kitai einfach hinter sich her. Dieser suchte nach einem Halt, nach Gleichgewicht, versuchte, die Kontrolle über seinen Körper zurückzugewinnen, doch der Kampf war vergebens. Bevor er so recht wusste, wie ihm geschah, schlug ihm das modrige Holz auch schon gegen die Schulter und in die Seite, und dann fiel er – nicht unbedingt tief, aber tief genug, dass der Aufprall ihm erst einmal die Luft aus den Lungen trieb.

Kitai wollte schreien, wollte irgendeinen Laut von sich geben, der die Aufmerksamkeit seiner Retter auf ihn gezogen hätte, doch der Fremde ließ ihm keine Zeit dazu. Er packte ihn, zerrte ihn zurück auf die Beine und dann hinter sich her, in einen Wald hinein, von dessen Existenz er in der vergangenen Nacht noch nicht einmal etwas bemerkt hatte. Das Unterholz peitschte ihm ins Gesicht, doch der schraubstockartige Griff seines düsteren Geiselnehmers ließ ihm gar keine andere Wahl als zu rennen, wenn er nicht auch noch stürzen wollte.

Aus den Augenwinkeln nahm Kitai wahr, wie ihnen mehrere dunkel gekleidete Gestalten in das dichte Netz aus Ästen, Wurzeln, Blättern, Nadeln, Moos und Farnen folgten, und erst dann fiel ihm auf, dass der Wald… seltsam war. Kitai hatte sich niemals näher mit Wäldern beschäftigt, er interessierte sich auch nicht dafür, ebenso wenig, wie er sich für das landschaftlich reizlose Umland Atacca Falls’ interessierte. Trotzdem war da irgendetwas in dem finsteren Gesamteindruck der misanthropischen Flora, die ihn mit klauenbewehrten hölzernen Fingern fernhalten wollte, das ihm fremd war.

Ihm blieb nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn der Schatten, der ihn so gewaltsam führte, packte ihn erneut, riss ihn nun doch noch zu Boden und presste ihn auf den rauen Teppich aus Blattwerk und Holz. Genauer gesagt: Er legte sich mit dem ganzen Gewicht seines nicht unbedingt zart gebauten Körpers auf ihn und hielt ihm erneut eine raue Hand vor den Mund, obwohl schon die erdrückende Last auf Kitais Lungen ausgereicht hätte, ihm so etwas Vermessenes wie Sprechen oder gar Schreien vollkommen unmöglich zu machen. Genau genommen konnte er kaum mehr atmen, und das bisschen Luft, das noch in seinen komprimierten Brustkorb passte, war schwer und feucht und roch nach Moos und verwitterter Rinde.

„Keinen Laut!“, zischte ihm der Mann in Schwarz dann auch noch überflüssigerweise ins Ohr, und ganz automatisch verzogen sich Kitais Lippen zu einem dezent erheiterten, schlichtweg perfekt sympathischen Lächeln. Eigentlich war es fast schon schade, dass es niemand außer dem Waldboden sehen konnte. „Wenn sie uns erwischen, sind wir beide tot!“

Kitai versuchte zu nicken, aber der Samurai des Todes verschloss nicht nur seinen Mund, sondern zog ihm mit seinem festen Griff aus irgendeinem Grund auch noch den Kopf in den Nacken. Er hörte ein Knacken im Unterholz, ein Rascheln, das leise Glucksen und Ächzen von Schritten auf feuchtem Laub. Wer auch immer ihnen gefolgt war, schien nun nicht mehr zu rennen, sondern zu schleichen – wenn auch nur mit mäßigen Erfolg. Oder vielleicht sollte es auch so und nicht anders sein. Vielleicht wollten die Verfolger ja gehört werden. Kitai versuchte irgendetwas zu erkennen, sah aber nicht mehr als die blauschwarzen Blätter und die dunklen, dornenbewährten Äste des Busches, hinter dem sich sein unliebsamer Begleiter wohl verbergen wollte. Er konnte nicht ausmachen, wo genau… wer auch immer nun sein mochte, die Geräusche schienen von überall und nirgends herzukommen, und aus irgendeinem Grund machte ihn das nervös.

Kitai fürchtete sich nicht – oder vielleicht tat er es doch und das Gefühl war nur so tief in ihm eingeschlossen, dass es ihn nicht mehr richtig berührte. Er spürte, wie sein Herz heftig gegen seine schmerzenden Rippen pochte, und auch der muskulöse Brustkorb über ihm hob und senkte sich verdächtig schnell. Vom Laufen? Dieser große, kräftige Wahnsinnige mit dem finsteren Auge sah nicht unbedingt so aus wie ein Mensch, der sich leicht in Angst und Schrecken versetzen ließ. Wenn überhaupt. Gut, er sah auch nicht so aus wie ein Mensch, der klar denken und logische Schlussfolgerungen ziehen konnte. Und er hatte ihm vor nicht allzu langer Zeit die Kehle durchschneiden wollen. Und er hatte sich nicht nur im Kontinent, sondern auch im Jahrhundert geirrt. Und außerdem liefen in den Wäldern von Atacca Falls keine mordlüsternen Scharen von Geisteskranken herum, die Jagd auf ihre mehr oder minder harmlosen Mitmenschen machten. Atacca Falls war entschieden zu langweilig, als dass man dort mehr als einem Psychopathen pro Tag begegnen konnte.

Aber vielleicht war das auch gar nicht Atacca Falls?

Mit einem wenigstens innerlichen Kopfschütteln schob Kitai diesen Gedanken beiseite, der erstens vollkommen irrational war und ihn zweitens absolut nicht weiterbrachte. Schön, dieser Wald war seltsam, diese Gegend war ihm gänzlich unbekannt, aber erstens hatten sich die Ereignisse viel zu waghalsig überschlagen, als dass er seine Umgebung eingehend hätte in Augenschein nehmen können, und zweitens kannte er von Atacca Falls sowieso nicht viel mehr als… ja, eben das, Atacca Falls, die Innenstadt, seine heile kleine Vorstadtwelt und die Randbezirke in Ansätzen, sofern es dort noch interessante Läden gab. Er kannte ein paar Ausflugsziele, natürlich, aber diese eintönige Wald- und Wiesenidylle hier sah nicht unbedingt nach einem Besuchermagneten aus. Es war nicht ungewöhnlich, dass ihm dieser Landstrich nicht vertraut vorkam.

Im nächsten Moment wurde Kitai aber sowieso wieder auf die Füße und aus seinen Grübeleien gerissen, und dann ging alles ganz schnell. Noch schneller. Das verhaltene Rascheln und das trockene Knacken des einen oder anderen zertretenen Zweiges steigerte sich zu einem unmelodischen Konzert ebendieser Geräusche, nur viel mehr davon und viel lauter, und dann brach irgendetwas durch das Gebüsch, hinter dem sie eben noch gekauert hatten. Der düstere Fremde fuhr herum, sodass sein langes, pechschwarzes Haar Kitai mitten ins Gesicht gewirbelt wurde. Diese flüchtige Berührung und das Protestgeschrei seines Kreislaufes, der von derart schnellem Aufstehen nicht allzu viel hielt, ließen ihn straucheln, nur ganz kurz, aber diese Unregelmäßigkeit brachte auch seinen wahnsinnigen Geiselnehmer aus dem Takt und Kitai konnte sich losreißen.

Die wiedergewonne Freiheit kam so plötzlich und so unerwartet, dass sie ihn zunächst noch vollkommen überforderte. Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte er in atemloser Starre, dann überlegte er sich ganz kurz, einfach stehen zu bleiben und auf seine Verfolger zu warten, die ihm doch wahrscheinlich nur helfen wollten. Dann begann er zu rennen. Er wusste nicht genau, warum er es tat und was er damit bezweckte, immerhin war er vollkommen orientierungslos, erschöpft und unbewaffnet, und es konnte doch nur wenige Sekunden dauern, bis ihn irgendjemand einholen würde. Außerdem war da so eine leise, boshafte Stimme in Kitais Kopf, die ihm sagte, dass die Geduld des schwarzen Samurai spätestens jetzt ihre wohl ohnehin sehr eng gesteckten Grenzen erreicht haben würde.

Trotzdem lief er, und letztendlich hatte ihn nach wenigen Sekunden niemand eingeholt, sondern er hatte vielmehr einen kleinen, aber doch bedeutsamen Vorteil entdeckt, den er gegenüber sämtlichen Verfolgern besaß: seine Größe. Allerdings im negativen Sinne, dass er eben nicht so groß und durchtrainiert und breitschultrig war wie sie. Kitai schlug mit einem leisen Seufzer des Bedauerns einen ganz besonders unwirtlichen Weg ein, duckte sich unter den langen Armen einiger Nadelbäume hinweg und stürzte sich dann todesmutig in ein regelrechtes Labyrinth von Dornenranken, die hier offenbar ein ertragreiches Parasitenleben führten.

Irgendjemand griff nach seinem Oberteil.

Zuerst drohte Kitai tatsächlich in Panik zu geraten, und das war bei ihm eine ganz merkwürdige Kette von Sinneseindrücken. Erst lief ein Schauer über seinen ganzen Körper, dann machte sich ein leiser Druck in der Bauchgegend breit und schließlich legte sich ein Ring um seinen Hals, der das Atmen einmal mehr zu einem Kraftakt werden ließ. Irgendetwas fehlte dabei immer noch, etwas, das über die reine Körperlichkeit dieser unangenehmen Empfindungen hinausging, aber vielleicht war auch gerade dieses Fehlen sein großes Glück, denn so fügte sich Kitai nicht in eine tückische Starre der Angst, sondern schaltete nach kürzester Zeit seinen logischen Verstand wieder ein.

Hinter ihm war niemand. Was ihn festhielt, war nichts anderes als eine Dornenranke, und es fiel Kitai nicht unbedingt schwer, das schwarze Oberteil zu zerreißen, das er sich aus den kärglichen Habseligkeiten des seltsamen Fremden geborgt hatte. Er legte ohnehin keinen gesteigerten Wert auf eine weitere Begegnung mit ihm, bei der er es hätte zurückgeben können. Gerade dieser Gedanke brachte ihn dann endgültig wieder zur Vernunft, ließ ihn aber leider auch begreifen, dass dieses kurze beschämende Zwischenspiel nicht ohne Folgen geblieben war. Wieder hörte er Geräusche, Schritte, Scharren, Glucksen, Ächzen, und ein neuerlicher Schauer lief ihm den Rücken hinab, als ihm bewusst wurde, dass er wertvolle, vielleicht entscheidende Sekunden verloren hatte.

Wieder begann er zu rennen. Das dichte Gewirr der graugrünen Ranken machte das Vorankommen nicht unbedingt sehr viel einfacher, aber Kitai starrte einfach vor sich hin, und wie so oft automatisierten sich seine Bewegungen und er verlor in gewisser Weise den Bezug zu seinem eigenen Körper. Er kannte dieses Phänomen, und manchmal ängstigte es ihn, sehr viel häufiger aber war es ihm von Nutzen. Das Reißen und Stechen der Dornen, die ihn festhalten, ihn mit ihren langen, dürren Armen gefangen nehmen wollten, registrierte er mehr beiläufig, jedenfalls hielt es ihn nicht auf. Dann taten sich die Ranken auch schon wieder auf und Kitai stolperte hinaus ins Freie.

Nun ja – mehr oder weniger. Da waren natürlich immer noch die braunen, tief hängenden und spitzgliedrigen Äste der Laubbäume und die… noch viel tiefer hängenden Äste der Nadelbäume. Und Wurzeln, viele Wurzeln. Kitai spürte, wie sich einer seiner Füße in einer solchen hölzernen Falle verhakte, die sich aus dem Erboden heraus ans dämmrige Tageslicht wand, und das ließ ihn auf einen Schlag auch wieder hellwach werden. Er taumelte gegen den rauen, harzigen Stamm irgendeines Baumes, stieß sich davon ab und nutzte den so gewonnen Schwung zu seinen Gunsten aus. Mit einer fließenden Bewegung duckte er sich unter einigen blaugrünen, nadelbewehrten Armen hinweg, sprang mit einem einen Satz über einen kleinen, aber unangenehm stachlig wirkenden Busch und machte der Form halber einen Bogen nach links, weil es ihm eben einfach… verfolgungsjagdtechnisch geschickter vorkam, den einen oder anderen Haken zu schlagen.

Genau in diesem Moment schoss ihm ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung die durchaus angebrachte Frage durch den Kopf, was um alles in der Welt er hier eigentlich tat. Warum er rannte, wohin er rannte, wo er war und wie er hierher gekommen war. Warum er sich verhielt wie ein entflohener Häftling. Und – was noch ungleich schlimmer war – ob und, wenn ja, was das alles hier mit den auch nicht unbedingt alltäglichen Ereignissen des zurückliegenden Mittages zu tun hatte. Er erinnerte sich an die drückende Schwere der sommerlichen Abendluft, dieses einmalige Flirren, das träge Rotgelb des Sonnenuntergangs, den man zwischen den Hochhäusern natürlich nicht sehen konnte, und an… an sie.

Da war dieses Mädchen auf ihn zugeschwebt, diese wunderschöne Schwarzhaarige, und er konnte nicht einmal mehr sagen, was genau sie ihm eigentlich erzählt hatte. Er hatte ihre Hand genommen, ganz so, wie sie es gewollt hatte, und jetzt war er hier. Sie hatte… hatte sie ihn nicht gebeten, ihr… irgendwohin zu folgen? Sie hatte es getan, da war er sich immer sicherer, und jetzt war er hier. Sie war aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht und jetzt war er hier. Konnte das ein Zufall sein? Natürlich. Aber sonderlich wahrscheinlich war das nicht. Andererseits… war es denn wahrscheinlicher, dass die Berührung zweier Hände ihn auf irgendeine mystische Art und Weise an diesen fremden Ort gezaubert hatte? Ein ganz normaler Junge, wie es immer so schön hieß, der von einer schönen Unbekannten in eine märchenhafte Welt voller Wunder und Geheimnisse entführt wurde. Genau das war es, was er vom wahren Leben erwartete.

Trotzdem gefror ihm das spöttische Lächeln auf den Lippen und auch seine Beine versagten ihm den Dienst, als ein plötzlicher Schwindel über ihn hereinbrach. Mehr instinktiv als planmäßig wankte er gegen einen Baum und sank daran herab. Er presste die Augen fest zusammen und schnappte nach Luft. Sein Hals und seine Lungen brannten wie Feuer, was er übrigens erst jetzt bemerkte, und sein Magen schien fortwährend Purzelbäume zu schlagen, aber dieser überwältigende Moment der Erschöpfung ging überraschend schnell wieder vorüber. Kitai wollte sich aufrappeln, aber seine Beine zitterten nach wie vor, und so blieb er eben sitzen und horchte darauf, wie sich seine Atemzüge langsam wieder beruhigten.

Die Augen hielt er immer noch geschlossen, und so bemerkte er auch erst relativ spät, dass jemand neben ihn getreten war. Er wartete darauf, dass er erschrecken würde, auf Furcht und auf Enttäuschung, doch er fühlte bestenfalls noch eine leise, zugegebenermaßen ein wenig bittere Resignation. Dann hob er den Blick und stellte fest, dass es nicht der Samurai des Todes war, der da neben ihm stand.

Und dass er sich leider ganz und gar nicht sicher war, ob es das besser machte.
 

Ende des Ersten Kapitels



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