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Remember me

Erinnerungen
von

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Verlorene Erinnerungen

„Ich bitte dich, Nodoka. Setz dich endlich hin!“ rief Genma Saotome, ein kräftiger Mann, der mit einem beigefarbenen Kopftuch versuchte, seinen kahlen Kopf zu verstecken, laut.

Ich blickte auf.

„Du machst mich ganz nervös!“

Die angesprochene Frau seufzte.

„Ich weiß, Liebling, entschuldige bitte. Es ist nur...“

Wieder ein Seufzer.

Nodoka Saotome ließ ihren Blick über alle Anwesenden schweifen. Ich tat es ihr gleich.

Mein Auge erfasste zuerst meinen Vater, der seine Brille abgenommen hatte und die Gläser mit seinem Trainingsanzug putzte. Schräg links von ihm saß Kasumi Tendo, die mit der Wäsche beschäftigt war und dem bevorstehenden Ereignis scheinbar völlig ruhig entgegensah. Ihr gegenüber hatte es sich ihre kleine Schwester Nabiki gemütlich gemacht. Sie schien genauso aufgeregt zu sein, wie mein Vater, denn sie – ihr Hobby hatte irgendetwas mit Zahlen zu tun – verrechnete sich ständig. Nun blieb mein Blick auf die in einem Kimono gekleidete Frau, meine Mutter, hängen. Ihre braunen Haare hatte sie hochgesteckt und in einer Ecke des Wohnzimmers stand, in einem Tuch eingewickelt, ihr Schwert, dass sie immer bei sich trug, wenn sie das Haus verließ. Sie war eine dieser Menschen, die auf alles eine Antwort wussten. Und dafür war ich in den letzten Wochen dankbar gewesen.

Ich selbst hatte es mir auf der Terrasse bequem gemacht, trotz der eisigen Temperaturen, die draußen herrschten.

Nach einem Moment des Schweigens setzte sich meine Mutter zu mir und nahm vorsichtig meine Hand in die ihre. Ein wolliges Gefühl breitete sich in mir aus, obwohl mir diese Berührung so fremd war.

„Es gibt Momente, da denkt man, dass alles was man sieht, hört, denkt oder dem man begegnet, nicht von dieser Welt ist. Aber dann fühlt man etwas. Etwas das man nicht beschreiben kann, weil man es nicht kennt und doch so überragend groß zu sein scheint.“

Sie hielt kurz inne.

„Doch der erste Instinkt ist immer der richtige. Merk dir das, Ranma!“

Verwirrt blickte ich zu meiner Mutter. Ich war mir sicher, dass sie vollkommen recht hatte, das irgendwo eine Logik dahintersteckte. Aber in dem Moment verstand ich kein Wort.

„Würdest du mir einen Gefallen tun, Ranma?“

Schon wieder seufzte sie leise.

„Bitte streite dich nicht mit Akane. Sei nett zu ihr, ja?“

Akane. Das war die jüngste Tendo-Tochter in diesem Haus. Mit ihr hatte ich diesen Unfall vor drei Monaten, der mein ganzes Leben verändert, umgekrempelt hatte. Ich hatte mir schon oft Gedanken um dieses mysteriöse Mädchen gemacht, mit dem ich wohl schon längere Zeit unter einem Dach lebte. Doch wie das Schicksal es wollte, konnte ich mich nicht erinnern.

Da ich aber nicht verstand, wieso meine Mutter mich um so etwas Selbstverständliches bat, wollte ich genauer nachfragen. Genau in diesem Moment tönte eine laute Männerstimme durch das Haus.

„Wir sind wieder da!“

Wie von einer Tarantel gestochen sprangen alle, die im Wohnzimmer saßen, auf und stürmten in den Flur Richtung Haustür. Meine Mutter drückte ein letztes Mal meine Hand, bevor sie ebenfalls in den Korridor eilte. Doch ich ließ mir Zeit, ich würde diese Akane schon früh genug kennen lernen. Meine Eltern hatten mich beauftragt, mich ein wenig um das Mädchen zu kümmern, „damit sie sich nicht so allein fühlt“, wie sie es so schön ausgedrückt hatten. An sich bestand darin kein Problem, bis auf ein kleine Schwierigkeit: Diese Hilfe die ich ihr anbieten sollte, hatte ich selbst dringend nötig.

Schließlich war ich ebenfalls in der Eingangshalle angekommen und starrte völlig überrascht die Heimkehrenden an.

Soun Tendo, der Hausherr, der seine jüngste Tochter aus dem Krankenhaus geholt hatte, in dem sie bis heute gelegen hatte, war ein Mann mittleren Alters, mit langen pechschwarzen Haaren und einem gleichfarbigen Schnurrbart unter der Nase. Er trug, wie mein Vater, ebenfalls einen dunkelgrünen Kampfanzug. In jeder Hand trug er einen braunen Koffer.

Neben ihm stand, etwas scheu, seine Tochter. Der Grund, weshalb ich so überrascht war, war der, dass ich wirklich mit einem Mädchen gerechnet hatte. Doch vor mir stand eine junge und bemerkenswert schöne Frau, ungefähr in meinem Alter. Ich wusste zwar nicht wie sie vorher ausgesehen hatte, aber es schien, als hätte ihr der Krankenhausaufenthalt sichtlich zugesetzt. Ihre blasse Haut schimmerte leicht und der zierliche Körper zitterte. Die schulterlangen blauen Haare waren leicht zerzaust und genauso glanzlos, wie ihre großen rehbraunen Augen, die uns ausdruckslos und, wie mir schien, auch etwas leblos musterten. Ich blickte auf ihre zarten Hände, mit denen sie, wahrscheinlich aus Nervosität, spielte. Meine Augen ruhten auf ihr, während mein Verstand ihren Namen schrie. Akane.

Meine Mutter lief einige Schritte auf sie zu und breitete leicht ihre Arme aus.

„Willkommen zuhause, Akane! Schön das du wieder da bist!“

Sie machte Anstalten sie in die Arme zu nehmen, doch Akane wich zurück. Mit den selben kalten Augen blickte sie zu ihrem Vater auf und stellte ihm die wohl für alle Anwesenden erschreckendste Frage.

„Ist das meine Familie...?“
 

Minuten später saßen wir alle um den großen dunklen Holztisch im Wohnzimmer. Die Tassen, in denen der Tee vor sich hindampfte, standen unberührt vor uns. Einen Moment lang beobachtete ich die grau-weißen Dampfschwaden. Sie schwebten durch die Luft, wie ein Tropfen auf glänzender Seide dahinglitt. Und je höher sie stiegen, desto mehr breiteten sie sich aus und veränderten ihre Form, mutierten zu einem anderen Etwas. Ich wusste nicht wieso, doch dieses Schauspiel beruhigte mich.

Für eine kurze Weile hing eisiges Schweigen in der Luft, man konnte die Spannung schon fast mit den Händen greifen. Ich sah mich um. Alle Blicke waren auf Soun gerichtet, teilweise vorwurfsvolle Blicke.

„Also haben wir jetzt zwei Kinder in diesem Haus mit ein und demselben Problem.“ brachte es Nabiki noch mal auf den Punkt. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch ihr kinnlanges schokobraunes Haar. Ihre fast schwarzen Augen hafteten während ihrer Feststellung auf ihrem Vater.

„Na das kann ja was werden...“

Nun starrten alle Anwesenden auf uns „Kinder“, wie es Nabiki, - sie war nur ein Jahr älter wohlgemerkt -, so schön ausgedrückt hatte. Abwechselnd von Akane zu mir und wieder zurück. Wieso kam ich mir in diesem Moment nur so winzig vor?

„Wie konntest du uns das nur vorenthalten, Tendo? So etwas wichtiges?“ wandte sich mein Vater empört an seinen alten Freund.

„Ich...“ begann dieser, wurde aber unterbrochen.

„Genma, mach Soun keine Vorwürfe. Er hat es bestimmt nicht böse gemeint. Er hatte sicherlich seine Gründe!“ versuchte meine Mutter ihren Mann zu beschwichtigen, was ich ihr hoch anrechnete. Dies war sicherlich kein Thema zum Kuchen essen. Trotzdem war ich der Meinung, sie sollten lieber nicht weiter auf Akanes Vater einreden, er schien nämlich sehr...

„Ich wollte doch nur...“ setzte der Hausherr wieder an, aber auch dieses Mal kam er nicht weit.

„Mach dir keine Sorgen, Vater. Es ist nicht schlimm. Wir verstehen ja, dass du durch den Wind warst.“

„Nein, es war ni...“

„Aber er hätte trotzdem etwas sagen sollen, Kasumi. Immerhin...“ widersprach Nabiki ihrer älteren Schwester.

„Würdet ihr mich zum Teufel noch mal endlich ausreden lassen?“ rief Soun laut in die Runde.

Peng. Das war wohl der eine Schuss zuviel gewesen. Dem Hausherrn war der Kragen geplatzt. Wir zuckten alle unter der Lautstärke zusammen. Er funkelte uns böse an, doch bevor er zu reden begann, holte er tief Luft und wandte sich an mich.

„Ranma. Würdest du Akane ihr Zimmer zeigen? Du weißt ja wo es ist.“

Mir war es recht. Ich wollte mir wirklich nicht noch einmal die ganze Geschichte anhören und all die mitleidigen Blicke auf mir spüren. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Akane Gefallen daran finden würde. Also nickte ich stumm und erhob mich, ohne den Blick von meiner Leidensgenossin abzuwenden. Im Flur wartete ich, bis sie mir folgte und führte sie anschließend in den ersten Stock. Ich spürte ihren Blick auf meinem Rücken und wurde unbewusst langsamer.

Woran das lag, dass ich mich in der Nähe dieser jungen, und für mich völlig fremden, Frau wohl fühlte, konnte ich beim besten Willen nicht erklären. Doch das es so war, störte mich nicht im Geringsten.

Wir hatten immer noch kein Wort miteinander gewechselt, als ich vor einer massiven Holztür stehen blieb und diese sachte öffnete. Mit einer leichten Handbewegung deutete ich Akane einzutreten. Wir stellten uns in die Mitte des Raumes und blickten uns um.

Auch ich hatte dieses Zimmer, dass vor kurzem ausgiebig gereinigt worden war, noch nie betreten. Ein leichter Hauch von Reinigungsmittel schwebte noch in der Luft und ließ Akane ihr Gesicht verziehen. Auch ich rümpfte die Nase.

„Was für ein grässlicher Gestank! Er erinnert mich ans Krankenhaus.“ erklang Akanes leise Stimme.

Ich ließ den Klang ihrer Stimme in meinen Ohren widerhallen und kam zu dem Schluss, dass sie wie die eines Engels glich.

Eilig durchquerte ich den Raum, um das Fenster zu öffnen. Dieses sprang knallend auf, nachdem ich es entriegelt hatte. Starker Wind wehte ins Zimmer und riss fast die gelben Gardinen von der Decke. Schützend hielt ich mir eine Hand vor das Gesicht, während ich mit der anderen versuchte, das Fenster zu schließen. Nach kurzem Abmühen hatte ich es endlich geschafft und wandte mich Akane zu. Sie hatte die Arme um sich selbst geschlungen. Ihr Körper zitterte stärker als zuvor.

„Du kannst dich an nichts mehr erinnern.“

Es war wohl eher eine Feststellung, als eine Frage. Wieder nickte ich nur. Ich war immer noch nicht in der Lage, meine Stimme zu benutzen.

„Du auch nicht...“ wiederholte sie.

Das war die traurige Wahrheit und bittere Erkenntnis. Dieser Unfall, den wir damals hatten, hatte uns nicht nur alle Knochen im Leib gebrochen, sondern uns auch noch unseres Gedächtnisses beraubt. Alles war weg, einfach weg. Pechschwarze Farbe hatte sich über unsere Vergangenheit ergossen und sie mit der Dunkelheit verschmelzen lassen. Wir konnten uns an nichts mehr erinnern, es war, als hätten wir nie eine Vergangenheit gehabt, als wären wir einfach in die Gegenwart geworfen worden. Wie erschreckend dieser Gedanke doch war. Doch das wirklich Unerträgliche war, dass ich mir so hilflos und ungeschützt vorkam, eine Schwäche, die mich zu zerreißen drohte.

Wie eine sanfte Brise drangen ihre Worte an mein Ohr.

„Wind, der die toten Blätter an den Bäumen zum Leben erweckt und sie zum Sprechen bringt. Kann derselbe Wind nicht auch mir Leben einhauchen, damit ich mich nicht tot fühle?“

Unsere Blicke verfingen sich miteinander. Tausende Gedanken schossen mir durch den Kopf.

Ich kannte diese Augen, die mich anblickten, die sich in die meine bohrten. Und obwohl sie nichts preisgaben, nichts zu erzählen hatten, konnte ich in ihnen lesen, wie in einem Buch.

Ein Buch, das ich in- und auswendig kannte. Obwohl es unbeschrieben war.

Ihr Blick löste sich langsam von meinen Augen und sie schaute mir über die Schulter aus dem Fenster. Draußen nahm die Dunkelheit zu und die Sonne ergab sich den Bitten des Mondes. Ich sah, wie Akane ihre Lippen leicht bewegte, doch ich verstand sie nicht. Wie in Zeitlupe drehte sie sich um und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell und unregelmäßig. Ich musterte sie besorgt.

„Mir ist schwindelig!“ presste sie hervor, während sie sich von der Wand abstieß, auf das Bett zusteuerte und sich auf die weiche Matratze niederließ.

„Soll ich dir ein Glas Wasser bringen?“ fragte ich sie.

Akane schien wohl überrascht zu sein, denn sie blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Es war mir nicht klar, wieso sie so lange gezögert hatte, bevor sie mir antwortete.

„Ja...“

Leise schloss ich die Tür hinter mir und lief hinunter. Ich beeilte mich ziemlich, was beinahe die Folge hatte, dass ich die Treppe hinuntergestürzt wäre. Schlitternd kam ich unten an und in dem Moment, als ich die Tür zum Wohnzimmer öffnen wollte, hörte ich Souns tieftraurige Stimme, begleitet vom Schluchzen meiner Mutter.

„...verheerender sei, als seine. Die Chance, dass ihr Gedächtnis zurückkehrt, liegt bei unter fünfzig Prozent! Zum Vergleich: Ranmas Chance liegt zwischen fünfundsiebzig und achtzig Prozent!“

Er machte eine kurze Pause.

„Ansonsten ist alles so wie bei ihm. Keine Anstrengung, kein Stress, kein Druck. Ich konnte den Arzt überreden, dass die Kinder für die Nachuntersuchungen zu Dr. Tofu gehen. Ein Glück, dass der Mann einen so guten Ruf bei seinen Kollegen hat.“

Ich senkte den Blick und lehnte mich an die Wand neben der Tür.

Akane hatte also so gut wie keine Chance ihr altes Leben wiederzubekommen. Diese Tatsache bedrückte mich sehr, zu sehr. Ich presste meine Lippen fest aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten. Schon wieder durchfuhr mich dieses hilflose Gefühl.

„Und jetzt?“ fragte mein Vater leise. Er hörte sich mitgenommen an.

„Was sollen wir jetzt machen?“

„Ich weiß es nicht, Saotome.“ antwortete sein alter Freund.

„Wirst du ihnen von der Verlobung erzählen, Dad?“

Das war Nabiki. Ich riss die Augen auf. WAS?

„Oh Gott, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht!“ rief Akanes Vater laut.

Seine Tochter schien völlig ruhig zu sein. Im Gegensatz zu meinem Herzen, das so fest schlug, dass ich befürchtete, es wolle meinen Körper verlassen.

„Ich würde vorschlagen, wir sagen ihnen nichts. Der Arzt meinte doch...“

Sie stockte.

„Nein, das geht ja nicht. Alle Welt weiß es ja auch schon!“

„Ja, dank dir, Nabiki!“ zischte ihr Vater ihr zu.

„Naja, also komm, Dad. Du und Herr Saotome seid ja auch nicht gerade unschuldig...“

„Ver...verlobt? Ich bin mit Akane verlobt?“ entfuhr es mir wohl etwas zu laut.

Für einen winzigen Moment war es völlig still im Raum, bis die Tür aufgerissen wurde und meine Mutter auf den Flur trat. Sie blickte mich mit rot umränderten Augen an.

„Ranma, du hast...“ sie brach ab.

Verlobt. Dieses Wort umkreiste meine Gedanken, wie ein Geier seine Beute. In dem Moment, in diesen kurzen Minuten, konnte ich den Ausmaß der Bedeutung, die dieses Wort mit sich zog, noch nicht begreifen.

Seit ich wieder zu Hause war, hatte ich regelmäßig ein und denselben Traum. Nacht für Nacht. Ein dunkles Bild durch das sich ein Fluss schlängelte. Die Umgebung war nicht zu erkennen, zu düster war dieser Traum. Stutzig machte mich erst das pechschwarze Wasser des Flusses, das nicht floss! Es stand still, wie in einem See. Und jetzt tauchte genau dieses Bild vor meinem geistigen Auge auf, mit einem kleinen Unterschied. Irgendetwas glitzerte leicht, doch was es war, konnte ich nicht erkennen.

„Ich...ich brauch ein Glas Wasser...“ stieß ich mit Mühe und Not hervor.

Meine Gefühle waren undefinierbar. Freute ich mich darüber oder brach eine Welt für mich zusammen? Ich wusste es beim besten Willen nicht.

Kasumi verschwand in der Küche, um Augenblicke später wiederzukommen und mir ein blankpoliertes und bis obenhin mit der farblosen Flüssigkeit gefülltes Glas in die Hand zu drücken. Ich wandte mich um, wollte zur Treppe. Es zog mich förmlich zu Akane. Doch ich vernahm Souns leise und tiefe Stimme.

„Ich bitte dich, Ranma. Erzähl ihr nichts von der Verlobung!“

Überrascht blickten alle den Hausherrn an. Ebenso auch ich.

„Es wird sie wie ein Schlag treffen, sie wird geschockt sein. Ich will nicht das ihr etwas passiert!“

Er jammerte schon fast. Und ich? Ich nickte wieder nur. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Natürlich wollte ich auch nicht, dass ihr etwas geschieht. Doch ihr das verschweigen kam mir auch nicht richtig vor.

„Aber Tendo...“ begann mein Vater.

„Wir werden es Akane sagen, sobald es ihr besser geht. Aber im Moment ist sie noch stark angeschlagen und der Arzt meinte, wir sollen jegliche Stresssituationen vermeiden. Ich will kein Risiko eingehen!“

Mein Vater nickte. Damit gab er sich zufrieden.
 

Spätabends lang ich in meinem etwas altmodischem Bett und blickte mit hinter dem Kopf verschränkten Armen gen Zimmerdecke. In der Hoffnung, dass mich der Schlaf nun endlich überfallen möge. Ich fühlte mich ausgepowert, obwohl ich nicht die geringste körperliche Anstrengung getätigt hatte. War das normal? Sorgen machten sich in mir breit, die ich mit aller Macht verdrängen wollte. Kein Stress, kein Druck hatte der Arzt gesagt. Vorsichtig setzte ich mich auf, griff nach der bereitgestellten Wasserflasche neben meinem Bett und nahm drei kräftige Schlucke. Die kalte Flüssigkeit übermahnte meinen Körper und ich fröstelte. Ich ließ mich wieder rückwärts fallen und horchte in die Stille hinein. Ein Seufzer entfuhr mir.

Ich war todmüde und hellwach zugleich.

Dann schweiften meine Gedanken zu der Person im Nebenzimmer. Nachdem ich Akane das Wasser gebracht hatte, schlossen wir uns wieder den anderen an. Seltsamerweise war es mir nicht im Geringsten schwer gefallen, ihr diese Verlobungsgeschichte zu verschweigen. Wahrscheinlich hatte ich zu sehr Angst, dass sie es nicht ertrug. Den restlichen Abend hatte ich nicht ein Wort mehr mit ihr gewechselt. Was hätte ich auch schon zu sagen gehabt? Alles kam mir in ihrer Gegenwart so bedeutungslos vor, ja fast schon überflüssig.

Ich stand auf und stellte mich ans Fenster. Draußen ging das Wetter vom Herbst in den Winter über. Ich liebte diese eisige Kälte, sie gab mir das Gefühl wirklich zu existieren. Mein Blick hob sich. Der Himmel war bewölkt. Keine Sterne, nicht einmal der Mond, waren zu sehen. Angestrengt versuchte ich mir ihre wunderschöne Stimme wieder ins Gedächtnis zu rufen, erinnerte mich an meine ersten an sie gerichteten Worte. Soll ich dir ein Glas Wasser bringen? Den Kopf schüttelnd begann ich im finsteren Zimmer auf und ab zu laufen. Dümmer hätte ich mich nun wirklich nicht anstellen können.

Was hielt mich nur vom Schlafen ab? Ich wusste es nicht. Die Stirn runzelnd blieb ich stehen. Jetzt begann ich auch noch mich selbst anzulügen. Seufzend stieg ich wieder in mein Bett.

Seit Stunden hatte ich versucht, mich an sie, an meine Verlobte, zu erinnern. Irgendetwas musste mir doch einfallen, sei es auch noch so belanglos.

War das der Grund für meine schlaflose Nacht? Das mir nichts einfiel? Das ich das Schicksal herausforderte? Ich presste meine zu Fäusten geballten Hände an meine Schläfen, als ich plötzlich leise, tapsende Schritte vernahm. Verwundert richtete ich mich auf und horchte in die Stille. Da, schon wieder. Irgendjemand lief im Haus umher. Jemand, der ebenfalls nicht schlafen konnte. Neugierig sprang ich auf, öffnete die Tür und lugte vorsichtig in den Flur. Niemand da. Doch eingebildet hatte ich mir diese Geräusche nicht. Oder doch?

Ich zuckte überrascht zusammen, als ich wieder etwas vernahm. Definitiv, jemand geisterte hier herum. Und zwar im unteren Geschoss. Leise schlich ich die Treppe hinunter und folgte dem schwachen Lichtschein, der einen Teil des Flures erleuchtete.

Sekunden später stand ich vor der Küchentür, die nur angelehnt war. Von innen drang dumpfes Klirren und leises Gemurmel.

„Wo sind denn hier die Gläser?“

Lautlos drückte ich die Tür auf und war keinesfalls überrascht Akane zu sehen, die Regal für Regal öffnete und wieder schloss. Ihre blasse Haut zeichnete sich kaum von dem weißen Küchenmobiliar ab. Sie trug immer noch die gleiche Kleidung vom Vortag. Hatte sie sich überhaupt hingelegt? Ich schielte zur Uhr, die über dem Kühlschrank hing. Nach Mitternacht.

„Oben, rechts.“ hörte ich mich selbst sagen.

Mächtig geschockt fuhr meine Verlobte herum und fegte dabei die Wasserflasche vom Küchentresen. Doch bevor diese mit einem großen Knall in tausend Scherben zerspringen konnte, fing Akane sie auf. Leicht erstaunt über ihre Reaktionsfähigkeit, musterte ich sie.

Ihre großen braunen Augen begegneten meinen und wieder verweilten wir für Sekunden in dieser Position. Ich musste mich an sie erinnern, ich musste einfach!

Langsam drehte sie mir den Rücken zu, öffnete die rechte obere Regaltür, fischte ein Glas heraus und füllte dieses mit Wasser.

„Das kommt vom Training.“ Sie blickte mich fragend an.

„Deine schnelle Reaktion. Sie kommt vom Training.“

Das blauhaarige Mädchen nahm am Küchentisch platz, ich ihr gegenüber. Mit erwartungsvollem Blick musterte sie mich.

„Was für ein Training?“

„Kampfsport.“

„Kampfsport?“ wiederholte Akane überrascht. Ich nickte. Stille legte sich über uns. Ich konnte ihr deutlich ansehen, wie sie nachdachte, überlegte, ob ich wirklich die Wahrheit sagte. Ihre Augen blitzten leicht auf.

„Du kannst dich also doch erinnern!“

„Nein...ich...meine Mutter hat es mir erzählt.“ Ich dachte an das Gespräch, das meine Mutter mit mir geführt hatte, ein paar Wochen zuvor. Warum wir bei den Tendo´s lebten. Und seit einigen Stunden wusste ich auch, weshalb ich mit der jüngsten Tochter des Hauses verlobt war. Einigung der Kampfsportschulen nannten sie es, Verbindung einer jahrzehnten langen Beziehung zwischen unseren Familien.

„Und du trainierst auch?“ hörte ich sie fragen. Stumm nickte ich, verschwieg ihr jedoch bewusst, dass uns dieser Sport das Leben gerettet hatte.

Eine Weile schwiegen wir uns an, dann erhob Akane sich.

„Ich leg mich jetzt lieber hin, es ist schon reichlich spät.“

„Ja, das wäre das beste.“

Weitere zehn Minuten verweilte ich auf dem Stuhl, nachdem sie den Raum verlassen hatte. Den Raum, den sie mit ihrem wunderbaren Duft und dieser einzigartigen Wärme erfüllt hatte. Dieses Gefühl, das mir einen Schauer nach dem anderen den Rücken hinunterjagte.

Irritiert über meine plötzlichen Empfindungen, die mein Herz erschütterten, unterbrach ich meine eigenen Gedankengänge. Ich konnte mich wohl kaum selbst ernst nehmen, ich kannte diese Frau doch keine vierundzwanzig Stunden. Wieso verfiel ich ständig in solch merkwürdige Gedanken? Ich starrte aus dem Fenster. Genau in diesem Moment brachen die Wolken auseinander und ein Teil des Mondes lugte hervor.

Was tat sie nur mit mir?



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2007-02-21T09:50:29+00:00 21.02.2007 10:50
hallo!

endlich mal wieder eine schöne geschichte!!!
ich mag deinen schreibstil und die Handlung gefällt mir auch richtig gut.
freue mich schon auf das nächste kapi.

lg, chiyo
Von: abgemeldet
2007-02-17T23:17:56+00:00 18.02.2007 00:17
Wieder ein sehr schönes Kapitel und auch diesmal hat man wieder gemerkt, das du mit sehr viel Gefühl schreibst!
Du bringst die Geschichte verständlich rüber und man kann sich voll und ganz in die Gedanken und Gefühle von Ranma hineinversetzten.

Freue mich schon auf das nächste Kapitel^^

LG dat An-check
Von:  tenshi-sama
2007-02-17T14:44:11+00:00 17.02.2007 15:44
mann das war wieder so traurig.
aber auch gleichzeitig wunderschön.
du hast einen klasse schreibstil und man kann sich richtig gut in die lage von ranma reinversetzten.
bitte mach gaaanz schnell weiter.

lg tenshi-sama
Von:  angelwater
2007-02-17T14:21:24+00:00 17.02.2007 15:21
echt hart das ranma und akane sich an nichts mehr erinnern können. aber so können sie vielleicht wieder von vorne anfangen, obwohl ich schon möchte dass sie ihre erinnerungen zurück bekommen.
na ja, zum glück leben ja beide noch.

schreib bitte schnell weiter!

*hdgdl*
angelwater


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