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Stadt der Engel

Schatten und Licht, Band 1
von

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Aufbruch nach Gaia

„...ich hoffe nur, dass die Schokolade Amano auch schmeckt. Ich weiß ja nicht einmal, ob er sie überhaupt essen darf, jetzt wo er den ganzen Winterspeck abtrainieren muss. Ich meine, du kennst doch seinen Trainer...“

Hitomi hörte mit bedrückter Freude ihrer besten Freundin Yukari zu. Beide verließen in ihren Schuluniformen und mit ihren geschulterten Sporttaschen den Sportplatz, als die Sonne gerade hinter dem rötlich glitzernden Wall aus Meerwasser verschwand. Der Wind pfiff kalt und die ersten Sterne schimmerten am nächtlichen Himmel.

Hitomi sah hinauf. Sie war von dem einen Blick auf die sich über ihr wölbende Kuppel so gefesselt, dass sie nicht merkte, wie sie stehen blieb und Yukari sie daraufhin mitleidig betrachtete.

„Du vermisst ihn, nicht wahr?“

„Hm?“, gab Hitomi überrumpelt von sich und Yukari grinste sie an.

„Na, ich meine deinen Geliebten auf dem Planeten, der bisher noch nicht entdeckt worden ist, obwohl die Erde sein Mond ist.“

„Glaubst du mir immer noch nicht?“, fragte Hitomi mürrisch.

„Nun, ich hab mit meinen eigenen Augen gesehen, wie dein Prinz in einer Säule aus Licht auf seinen weißen Drachen mitten auf diesem Sportplatz landete. Und wie du ihm in die Arme gesprungen bist, als würdest du ihn schon eine Ewigkeit lang kennen und als hättest du ihn genauso lang nicht mehr gesehen. Warum sollte ich dir nicht auch den Rest der Geschichte glauben?“

Hitomi blieb Yukari eine Antwort auf diese Frage schuldig. Stattdessen starrte sie wieder zum Himmel hinauf. Dann plötzlich blitzte es hinter ihr gleißend weiß auf und sie drehte sich voll von freudiger Erwartungen um, nur um festzustellen, dass jemand die Beleuchtung des Sportplatzes aktiviert hatte. Aus ihrer hohen Freude wurde tiefe Trauer und in ihren Augen bildeten sich Tränen, die sie jedoch schnell wieder wegwischte.

„Du vermisst ihn also doch.“ Yukari drückte Hitomi fest an sich. „Willst du denn nicht zu ihm?“

„Das geht leider nicht. Außerdem kann ich ihn doch jederzeit sehen und er mich auch. Wir sind immer noch über unsere Gedanken miteinander verbunden.“

„Ja, aber wie willst du ihm durch deine Gedanken Schokolade schenken?“, konterte Yukari schnippisch.

Darauf wusste Hitomi keine Antwort.

„Nun tu nicht so, als würdest du seine Nähe überhaupt nicht vermissen. Dies ist heute nun schon der dritte Valentinstag, an dem du so niedergeschlagen bist.“

Wie könnte ich auch anders bei den vielen Mädchen um mich herum, die ihren Freunden Schokolade geben, dachte Hitomi, schwieg aber weiterhin.

Indes sprach Yukari munter weiter: „Bei mir und Amano ist es doch genau das selbe. Ihn sehe ich immer seltener. Mir bleiben nur noch seine Stimme am Telefon und die wenigen Zeitungs- und Fernsehberichte.“

Daraufhin überlegte Yukari kurz und fügte dann neckisch hinzu: „Wenn ich’s recht bedenke, hab ich es dann doch besser als du. Schließlich kann ich ihn wenigstens noch hören.“

„Gleich nicht mehr, wenn du noch ein Wort sagst.“, informierte Hitomi sie drohend und beide fingen an zu kichern.

Sie gingen gerade durch das Tor, als sich das Umfeld wieder geringfügig zu erhellen begann. Hitomi schenkte dem keine Beachtung, aber Yukari sah sich nach dem Grund für dieses Licht um, dessen reines Weiß sich erheblich von dem matten Leuchten der Straßenlampen unterschied. Erst blieb sie ratlos. Als sie dann aber den Berghang hinauf zum Tempel blickte, weiteten sich ihre Augen zu einem großen Staunen und ohne den Blick abzuwenden, zupfte sie aufgereckt an Hitomis Kleidung. Diese starrte ihre Freundin erst etwas verärgert an, folgte dann aber ihrer Blickrichtung. So konnte sie gerade noch beobachten, wie blendend weißes Licht in sich kollabierte.

„War das...?“, fragte Hitomi halb ungläubig, halb überglücklich und Yukari bestätigte:

„Ja, das war eine Lichtsäule, wie ich sie gesehen habe, als du mit diesem Jungen durchgebrannt bist.“

Hitomi hörte den letzten Teil des Satzes schon gar nicht mehr, sondern rief überglücklich Vans Namen aus und lief so schnell sie konnte die Treppen zum Tempel hinauf. Alles war auf einmal vergessen, alle einsamen Stunden, alle Tränen in der Nacht, all die Sehnsüchte, die sie hinter Ausreden versteckt hatte. Mit der Lichtsäule hatten alle Zweifel ein Ende und ihr Weg lag klar vor ihr. Wieder schwebte Hitomi mit einem schneeweißen Drachen auf Wolke sieben. Hastig legte sie die letzten Stufen zurück. Ihr Augenpaar suchten eilig den vor ihr liegenden Tempelplatz ab, blieben dann schließlich an einem auffälligen Mädchen hängen

„Merle?“

Merle, die mit ihrem Rücken zu Hitomi gestanden und sich wundernd den Tempel angesehen hatte, drehte sich nun um und atmete hysterisch auf. Ihre Katzenohren zuckten nervös, während ihr Schwanz, der aus dem knappen Kleidchen hervorragte, sich versteifte.

„Du musst sofort mitkommen, Hitomi. Van braucht deine Hilfe.“, platzte es aus Merle heraus, die daraufhin Hitomi bei der Hand packen wollte, doch Hitomi zog sie rechtzeitig zurück.

„Was willst du hier?“, fragte Hitomi überrascht.

„Ist das nicht offensichtlich, du blöde Kuh? Ich will dich abholen.“, antwortete Merle.

„Warum?“, rief Hitomi verzweifelt.

„Hab ich doch schon gesagt. Van braucht...“

„Nein, warum du?“, erklärte sich Hitomi. „Warum kommt Van mich nicht abholen?“

„Glaubst du etwa, dass er das will?“, erwiderte Merle frech, woraufhin Hitomi zusammenbrach. Yukari kam rechtzeitig um sie zu stützen, wobei sie ihren Blick nicht von dem Katzenmädchen abwenden konnte. Diese trat näher an Hitomi ran und grinste ihr breit ins Gesicht.

„Nun beruhigt dich! Ich hab doch nur Spaß gemacht.“, beruhigte Merle Hitomi, die sich daraufhin wieder fing und Merle ihre geballte Hand ins Gesicht hielt.

„Bist du schon mal gegen eine parkende Faust gelaufen?“, drohte sie.

„Kannst du ihre Sprache verstehen?“, fragte Yukari verwirrt, woraufhin Hitomi von Merle abließ. Gerade wollte sie ihre Freundin aufklären, als sie Stimmen näher kommen hörte.

„Yukari, Merle, schnell in die Büsche!“

„Warum?“, wunderte sich Merle, doch Hitomi schleifte sie begleitet von Protestschreien mit. Im Gebüsch angekommen hockten sich die drei zusammen, wobei Hitomi Merle den Mund zuhielt.

„Sei still, Merle, oder sie finden uns!“, ermahnte Hitomi sie leise und ließ von ihr ab.

„Warum dürfen sie uns nicht sehen?“, flüsterte Merle.

„Dich dürfen sie nicht sehen. Auf Gaia mag es normal sein, wenn Tiere sich wie Menschen benehmen, aber bei uns gibt es so etwas nicht, verstanden?“

„Dann zeig ich ihnen halt, dass es so etwas gibt.“

„Dann steckt man dich in einen westlichen Zirkus.“

„Was macht man denn in einem Zirkus?“

„Tiere sich wie Menschen benehmen lassen. Mehr musst du nicht wissen.“

Merle beließ es schließlich dabei.

„Sag mal, Hitomi, gibt es auf Gaia eigentlich viele Menschen, die wie Tiere aussehen.“, fragte Yukari neugierig.

„Was hat die Rothaarige gesagt?“

„Was hat das Katzenmädchen gesagt?“

Hitomi seufzte.

„Sie hat gefragt, was du gesagt hast.“, antwortete sie den beiden und der Ton in ihrer Stimme machte deutlich, dass sie Fragen dieser Art nicht mehr hören wollte.

„Also, Merle, wozu braucht Van meine Hilfe?“, wollte Hitomi von Merle wissen.

„Er braucht eine Mutter für den königlichen Nachwuchs, ist doch klar.“, antwortete Yukari stattdessen, woraufhin Hitomi sie mit einem giftigen Blick strafte.

„Merle?“, versuchte sie es noch einmal.

„Bei den Alliierten herrscht Streit, weil sie sich in der Schlacht um Zaibach gegenseitig niedergemetzelt haben. Du musst ihnen erklären, wie es dazu gekommen ist, sonst könnte erneut Krieg ausbrechen.“

„Ich hab recht gehabt, oder?“, fragte Yukari dazwischen und fing sich noch einen Blick ein.

„Ich hab denen doch schon alles erklärt. Sie wissen über die Glückssphäre Bescheid.“, sagte Hitomi.

„Aber vielleicht könntest du an ihnen einige deiner Hexentechniken anwenden oder sie durch deine Zukunftsvisionen einschüchtern.“, hielt Merle dagegen und ließ dabei ihre Hände wellenförmig schwingen. Nur mit Mühe konnte Hitomi weiterhin nur flüstern.

„Mit mir einen Streit anzufangen, ist definitiv die falsche Art mich zum Helfen zu bewegen, Merle.“

„Okay, schon gut. Ich hab’s nicht so gemeint.“, entschuldigte sich Merle fast panisch, woraufhin Hitomi begann ihre Sorgen ernst zunehmen.

„Wie bist du überhaupt hier hergekommen.“, erkundigte sie sich.

„Mit dem Energiestein von Escaflowne.“, antwortete Merle und zeigte Hitomi den faustgroßen Stein

„Du kannst damit umgehen?“, fragte Hitomi überrascht.

„König Van hat mir beigebracht sie zu benutzen.“, verkündete Merle stolz. Dass das Katzenmädchen es zu ihr geschafft hatte, bestätigte Hitomis Einschätzung über die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens.

„Ich komme mit.“, verkündete sie entschlossen.

Yukari, die bisher nur mit einem halben Ohr zugehört hatte, wollte diesem plötzlich nicht mehr trauen.

„Was hast du vor?“, fragte sie besorgt.

„Ich gehe nach Gaia.“, bekräftigte Hitomi.

„Aber was wird aus der Schule. Du kannst nicht noch einmal soviel aufholen.“, gab Yukari zu bedenken und Hitomi wog dieses Argument sorgfältig ab. Schließlich musste sie überrascht feststellen, dass es für sie überhaupt kein Gewicht hatte.

„Ich werde nicht lange wegbleiben. Schreib einfach für mich mit, in Ordnung?“, beruhigte Hitomi sie. „Sag bitte meiner Mutter Bescheid. Sie wird sich sonst wieder Sorgen machen.“

Yukari seufzte resigniert. „Ihre Tochter bricht wieder einmal zu den Sternen auf. Warum sollte sie sich Sorgen machen?“

„So weit geht meine Reise nicht.“

„Ob du nun auf einen anderen Stern oder Planeten gehst, denkst du, das macht für sie einen Unterschied?“ Sie schenkte ihrer besten Freundin ein ermutigendes Lächeln. „Geh schon und ordne die Sterne neu!“

Hitomi wollte ihr gerade sagen, dass sie gerade das nicht vorhabe, da umgab sie schon ein gleißend weißes Licht und sie schwebte über den Boden dem Himmel entgegen.

„Sag meiner Familie, dass ich sie liebe!“, verabschiedete sie sich und Yukari drückte schnell noch ihre Hand, bevor sie außer Reichweite kam.

„Werde glücklich!“, flüsterte sie dem Sternenhimmel entgegen, wo sich gerade das Licht, welches ihre beste Freundin geraubt hatte, wieder in Sternenglanz verwandelte.

Plötzlich merkte sie, wie ein dutzend Leute sie anstarrten.

„Sagt mal, habt ihr hier auch eine Lichtsäule gesehen? Ich kam leider etwas zu spät.“

Ankunft auf Gaia

Liebevoll sog Hitomi den Duft des feuchten Grases ein und genoss das Streicheln des Windes über ihr kurzes Haar. Es war genau dieser leicht süßliche Duft, der sie an Van erinnerte.

Wieder einmal stand er vor ihr und lächelte sie an. Eine helle Sonne strahlte vom hellblauen Himmel herab. In ihrem Glanz funkelten Vans Augen wie von Frost bedeckte Erde. Wellen, vom Wind getrieben, durchquerten die weite Ebene aus hellgrünem Gras, in der es keine Schatten gab. Für einen Augenblick war Hitomi glücklich, ein Gefühl, welches sie schon so lange nicht gespürt hatte. Sie genoss das Kribbeln der Sonnenstrahlen auf ihrer Haut und die Wärme, die in ihrem Innern aufstieg.

Doch jener Augenblick war so flüchtig wie süß. Das Bild von Van begann zu verschwimmen, weswegen Hitomi genauer hinsah. Mit Schrecken erkannte sie, dass weder sein schwarzes Haar, noch seine locker sitzende Kleidung vom Wind bewegt wurden. Dann fiel ihr auf, dass er noch genauso aussah wie vor drei Jahren. Vans Erscheinung löste sich schließlich endgültig auf und hinterließ eine leere, graue Ebene.

Auf einmal spukten unzählige Zweifel durch Hitomis Kopf, ohne dass sie sich auf diese Welle des Schmerzes vorbereiten konnte. Sie verstand es nicht. So lange ihre Gedanken miteinander verbunden sind, müsste Hitomi ihn sehen können, so wie er ist, nicht wie er einst war.

Immer mehr Fragen wirbelten in und um Hitomi herum, schlossen sie ein, hielten sie gefangen. Hitomi, die der Verwirrung im Innern nichts mehr entgegenzusetzen hatte, versuchte mit aller Kraft die Zweifel aus ihrem Kopf zu verbannen. Schließlich gelang es ihr nach zähem Ringen. Sie blieb allein in einer bodenlosen Dunkelheit zurück. Nicht einmal Kleidung spürte sie auf ihrer Haut. Ihr wurde kalt. Der Verzweiflung nahe rieb sie sich ihre Arme und kauerte sich zusammen. Sie erinnerte sich, dass sie schon einmal hier mitten im Nirgendwo befunden hatte. Damals jedoch war sie gefallen und Van hatte sie aufgefangen. Er war das Licht gewesen, welches die Finsternis vertrieben hatte. Das Licht...

Weil sie nichts sehen konnte, schloss sie ihre Augen und verlor so ein wenig ihre Angst. Um den Kontakt zu Van wiederherzustellen, stellte sie sich noch einmal ein Bild von ihm vor und suchte nach seiner Präsenz. Sie fand jedoch nichts, so sehr sie sich auch anstrengte.

Sie fragte sich: Warum?

War Van zu weit weg? Konnte sie ihn deshalb nicht spüren? Spielte die Entfernung bei einer Gedankenverbindung überhaupt eine Rolle? Wieder wurde Hitomi ohne Gegenwehr in den Wirbel aus Fragen gefangen. Sie fühlte, wie ihr Herz scheinbar entzwei gerissen wurde. Doch die Unsicherheit, so schrecklich sie auch sich auch anfühlte, war nur ein dumpfes Echo in einer unendlichen Leere. Sie blieb ohne Antwort.

Wach auf!

Urplötzlich drang diese Forderung in ihren Kopf ein, verankerte sich und zog Hitomi aus dem Chaos ihrer Gedanken heraus. Dieser eine Satz wurde zu einem gleißenden, farbenfrohen Glühen, das Hitomi einhüllte, sie sanft umschloss und wie auf einem fliegendem Kissen davontrug.

Schließlich hörte sie Merles Stimme. Erst aus weiter Ferne, dann auf einmal ganz nah. Langsam schlug Hitomi die Augen auf und sah gerade noch, wie Merle mit ihrer Hand ausholte. Was folgte war eine durchschlagende Wucht, die ihren Kopf zur Weite riss, und ein heftiger Schmerz in ihrer rechten Wange.

„Merle!“, schrie sie gellend auf.

Daraufhin fing sie sich noch eine Ohrfeige ein.

„Ich bin wach, Merle. Hör auf!“

„Was fällt dir ein, einfach so wegzukippen.“, brüllte das Mädchen sie an.

„Denkst du etwa, ich mach das absichtlich?“, erwiderte Hitomi mürrisch.

„Na klar, du willst mich doch nur ärgern!“

„Was zum...?“ Mühsam stand die junge Frau auf, wobei sie das Gras an ihren Händen und den Doppelmond am Himmel nur am Rande wahrnahm.

„Eigentlich wollte ich mir bei dir bedanken, dass du mich daraus geholt hast, aber das hat sich wohl erledigt.“

„Ich setz es auf die Rechnung.“, erwiderte Merle trotzig, während auch sie sich erhob. „Das Dorf Arsus dürfte nicht weit sein.“

Als Hitomi dies von Merle hörte, fiel ihr auf, dass ihr diese Gegend tatsächlich bekannt vorkam. Sie war sich sogar ziemlich sicher. Genau auf dieser Stelle hatte sie schon mal gestanden. Da war sie gerade das erste Mal nach Gaia gekommen. Damals hatte alles seinen Anfang genommen...

In Gedanken versunken suchten ihre Augen den nächtlichen Himmel ab. Dort war sie, die blau schimmernde Erde, der Mond der Illusionen zusammen mit seinen hellgrauen Begleiter. Schon komisch, erst jetzt fiel es ihr auf, dass sie den Mond der Erde als einzige ihres Planeten auch von hinten bewundern durfte. Doch wer weiß? Vielleicht, so dachte sie sich, sind auch noch andere Menschen von der Erde auf Gaia. Schließlich war nicht nur ihr diese Reise gelungen, sondern auch Isaak und ihre Großmutter waren dazu in der Lage gewesen. Wieso sollte es nicht auch anderen gelingen? Vielleicht gab es sogar mehr Erdmenschen auf Gaia, als sie es für möglich hielt. Ein Beweiß dafür wäre ja die CD, die Hitomi auf den Marktplatz in Palas gefunden hatte.

Die CD.

Erst jetzt registrierte Hitomi das Gewicht, welches auf ihrer rechten Schulter lastete. Die Sporttasche hatte sie tatsächlich mitgenommen. Der CD-Spieler mit gerade dieser einen CD war ebenfalls darin enthalten.

Erleichtert tat sie einen tiefen Atemzug. Dabei viel ihr der Duft des feuchten Grases unter ihren Füßen auf. Hitomi musste heftig mit den Kopf schütteln um nicht wieder an Van zu denken und so in einer vielleicht für sie tödlichen Vision zu gelangen. Für heute hatte sie genug davon.

„Lass uns gehen!“, forderte Hitomi das Katzenmädchen auf und tat ohne eine Antwort abzuwarten die ersten Schritte in Richtung des Dorfes. Doch plötzlich wurde sie von ihren Beinen gerissen. Merle warf sich über sie und hielt Hitomi mit einem stahlharten Griff am Boden gefesselt, während sie ihr den Mund zuhielt. Hitomi wollte Schreien, doch Merle unterband das undeutliche Quieken mit einem leisen, dennoch klaren Sei Still. Dann nahm sie ihre Hand von Hitomis Mund, behielt den Griff jedoch bei.

„Was ist denn los?“, flüsterte Hitomi.

„So taub kannst nicht einmal du sein. Hörst du denn gar nichts?“, wunderte sich Merle. Hitomi wollte gerade verneinen, als ein schwaches Triebwerksheulen zu ihr durchdrang.

„Ist das ...?“

„Ja, ist es. Das Licht hat ihn her gelockt. Ruhe!“, schnauzte Merle sie an und hielt ihr wieder den Mund zu. Beide lagen sie versteckt im hohen Grass, während das Geräusch im schneller anschwoll und schließlich über sie hinweg zog. Daraufhin wurde das Heulen erst leiser, dann wieder lauter.

„Er hat uns mit seinen Wärmekristallen entdeckt. Verdammt!“, flucht Merle und riss Hitomi mit sich hoch.

„Lauf!“, forderte Merle sie auf. „Ich bin hinter dir.“

„Wohin?“, fragte Hitomi panisch.

„Das weißt du doch immer am besten.“, erwidert Merle. Noch bevor Hitomi antworten konnte, explodierte das Heulen in ihren Ohren und feste, kalte Schlingen aus silbernem Flüssigmetall packten ihren Oberkörper. In ihrer Panik rief sie nach Merle, doch da war sie schon fünfzig Meter über der Erde. Als sie ihren Kopf umdrehte, sah sie direkt in die schwarz schimmernde Front eines Guymelef der Zaibacher. Ihre Augen wurden groß und aus ihrem Mund löste sich ein gellender Schrei.

„Sei still!“, befahl eine kalte Stimme aus dem Guymelef, woraufhin sich das Flüssigmetall sich noch mehr an ihren Körper presste und Hitomi für einen Augenblick den Atem nahm. Panisch folgte sie der Anweisung ihres Entführers. Sie war den Tränen nah und hielt verzweifelt ihre Augen geschlossen, in der vergeblichen Hoffnung, dass alles nur ein böser Traum ist.

Nach einer Viertelstunde ging der Guymelef tiefer und fuhr seine Beine aus. Krachend landete er auf einer Lichtung, die von Fackeln umgeben war. Heftig von der Landung durchgeschüttelt, landete Hitomi mit beiden Füßen auf den Boden. Der Aufschlag jagte einen gleißenden Schmerz durch beide Fußknöchel, woraufhin sie nach vorne kippte. An den Vorderarmen begann die Haut zu brennen und die Schmerzen verschleierten ihre Gedanken. Der Nebel wurde dichter, als sie jemand an dem rechten Vorderarm packte und aufrichtete.

„Das Aussehen stimmt und diese Kleidung trägt sonst niemand anders auf der Welt.“, tönte eine Stimme, die ihr nur noch mehr Angst einjagte. „Wir haben sie gefunden, Leute. Packt alles ein und gebt es auch an die Spählager weiter! Wir können endlich nach Hause.“

Lauter Jubel umgab Hitomi. Langsam lichtete sich der Schatten über ihrer Wahrnehmung. Sie konnte gerade noch erkennen, wie Männer die Fackeln um die Lichtung herum löschten, dann zog man ihr eine Haube aus Stoff über den Kopf und fesselte beide Hände. Das raue Seil scheuerte an ihrer lädierten Haut. Schließlich drängte man sie in einen Karren und überdeckte diesen mit Stroh. Allzu deutlich roch Hitomi die trockenen Halme. In der nächsten Stunde herrschte reges Treiben um sie herum, von dem sie nicht viel mitbekam. Zu viel war geschehen.

Warum war sie nur zurückgekehrt? Ganz gewiss nicht um verschleppt zu werden. Schließlich konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten und begann jämmerlich zu weinen. Es dauerte nicht einmal dreißig Sekunden, da stieß sie jemand an und schrie, sie solle kein Laut von sich geben.

Eingeschüchtert schluckte sie ihren Kummer herunter und begann sich zu beherrschen. Was auch immer auf sie zukam, sie würde dem aufrecht entgegen treten. Van würde sie schon irgendwie finden. Bis jetzt hatte er sie jedes Mal getan.

Dieser Gedanke begleitete sie, als schließlich der Karren und der restliche Zug sich in Bewegung setzten. Der schlechten Straße war es zu verdanken, dass Hitomi während der gesamten Nacht kein Auge zudrücken konnte. So krochen die Stunden dahin. Wegen der immerwährenden Dunkelheit war sie für jeden Eindruck aus ihrer Umgebung dankbar. Sie hatte daher ihre Augen geschlossen und ergab sich ganz dem Einfluss ihrer anderen Sinne. Da waren das Rattern des Wagens, die aufsteigende und intensiver werdende Wärme auf ihrer Haut, der schwere Geruch des Strohs und der lebhafte Gesang der Vögel.

Der plötzlich verstummte. Hitomi bekam ein flaues Gefühl und konzentrierte sich darauf.

Dann sah sie es. Brennende Wagen, in Flammen stehende Menschen und ein Guymelef, der wie Königin über dem ganzen Leid schwebte. Die drahtige, raubtierartige Form der riesigen Maschine war ihr wohlbekannt, ebenso die blonden Haare, die aus dem Hinterkopf der Maschine ragten. Der heiße Wind aus den Düsen des Guymelef schien alles wegzublasen, doch Hitomi schien er nicht zu berühren. Stattdessen durchfuhr sie ein heftiger Schmerz, als würde ihr Inneres weggerissen werden und sich auflösen. Hitomi schrie aus vollem Leibe und kauerte sich zusammen, doch der Schmerz zuckte weiter durch ihren Körper. Schlagartig war alles vorbei. Sie blieb schweißgebadet liegen, zog sich so weit wie möglich zurück und weinte um die Toten. Plötzlich traf sie etwas mit voller Wucht an ihrer Schulter und riss sie außer ihrer Schockstarre heraus. Eine Hand zerrte an ihren Haaren.

„Sei still oder ich schneide dir deine Zunge heraus!“, zischte jemand bedrohlich in ihr Ohr.

Einen Augenblick später brach Chaos aus. Geschosse schlugen hinter und vor ihrem Karren mit ohrenbetäubenden Krachen ein. Die Luft war erfüllt von panischen Rufen. In Hitomi explodierte ein gleißender Schmerz, während die Schreie in ihrem Kopf widerhallten. Wieder krümmte sich ihr Körper zusammen und das Herz drohte ihr zu zerreißen. Dann hörte es auf, so plötzlich wie es gekommen war.

Sie wollte es nicht wahrhaben. Alles erschien ihr wie eine ihrer Visionen, die sie schon so oft gehabt hatte. Alles, was geschehen war, so sagte sie sich, konnte man noch verhindern. Diese Gedanken formten eine Wand um Hitomis Sinne herum, so dass sie weder das anschwellende Heulen von den Düsen eines Guymelef, noch dessen Absterben wahrnahm. Sie merkte auch nicht wie jemand das Stroh über sie entfernte und ihr die Kapuze abnahm. Die geschlossenen Augen hielten Hitomi weiterhin in der Finsternis gefangen, während sie sich weiterhin abkapselte. Dieser Zustand hielt an, bis ein dumpfer Schmerz an ihrer Wange den Nebel um sie herum lichtete.

„Das machte mehr Spaß, je öfter ich es tue.“, sagte eine freche Mädchenstimme, die erst in weiter Ferne schien, dann aber näher rückte.

„Merle, bist du das?“, fragte Hitomi mit schwacher Stimme.

„Wer denn sonst?“, antwortete sie vergnügt. Vorsichtig öffnete Hitomi ihre Augen. Die Sonne blendete sie. Einen Moment lang versuchte ihre Augen abzuschirmen, nur um festzustellen, dass Hände und Füße immer noch gebunden waren. Im nächsten Moment hatte Merle Hitomis Fesseln mit ihren Krallen durchtrennt. Daraufhin half sie Hitomi aus dem Wagen. Als sie wieder auf festen Boden stand, schoss ein gleißender Schmerz durch ihre Knöchel, doch Merle gab ihr Halt und ließ sie langsam zu Boden gleiten.

„Was tut dir weh?“, fragte Merle besorgt.

„Meine Beine.“, klagte Hitomi. Das Mädchen schaute sich daraufhin beide Fußgelenke an. Währenddessen gewöhnten sich Hitomis Augen langsam wieder an das Licht, doch dank dem Anblick, der sich ihr bot, wünschte sie sich die Dunkelheit wieder zurück. Vor ihr lag im weiten Kreis zerstreut gesplittertes Holz vermischt mit Blut, Eingeweiden und abgetrennten Gliedmaßen. Ein kalter Schauer erfasste und ihr wurde übel.

„Wer hat das getan?“, fragte sie heiser.

„Ich.“, antwortete Merle ohne Zögern. „Hier sollte sich jemand für seine Rettung bedanken.“

Mit Schrecken erkannte Hitomi den Guymelef aus ihrem Traum. Er stand in nur zehn Meter Entfernung vor ihr. Wie zum Hohn kniete er vor dem angerichteten Unheil mit gesengten Kopf und offener Pilotenkanzel. Entsetzt sah sie dem so putzig wirkenden Katzenmädchen ins Gesicht. Sie wusste nicht, was sie mehr schockierte. Die Erkenntnis, dass Merle der Pilot des Guymelef war, oder der Stolz, der in Merles Stimme mitschwang.

„Bitte bring mich hier weg!“, verlangte Hitomi, doch die Kriegerin schüttelte den Kopf.

„Du würdest einen Ritt mit meinen Guymelef nicht überstehen. Nicht in deiner Verfassung. Ich habe schon vor meinen Angriff nach einem Luftschiff verlangt. Es müsste in ein paar Stunden hier sein.“

„Bring mich hier weg!“, forderte Hitomi mit mehr Nachdruck. „Ich halt das nicht mehr aus.“

„Was hältst du nicht mehr aus? Wenn dir irgendetwas weh ...“

„Den Anblick halt ich nicht mehr aus. Bring mich sofort von ihr weg!“, unterbrach sie Merle, wobei sich ihre Stimme überschlug.

„Sag bloß, du kannst kein Blut sehen.“, erwiderte diese spöttisch.

„Merle!“, schrie Hitomi wütend.

„Ist ja gut. Mach hier keinen Aufstand!“, sagte sie genervt und hob Hitomi scheinbar mit Leichtigkeit auf. Behutsam trug sie die Verletzte hinter den Guymelef und legte sie dort wieder ab. Augenblicklich schlief Hitomi erschöpft ein. Merle hielt einen Moment inne und beobachtete sie, stand dann aber auf und hielt bei ihr Wache.

Böses Erwachen

Das Knarren einer Tür holte Hitomi unsanft aus ihrem Schlaf. Noch immer von ihrer Müdigkeit betäubt, öffnete sie ihre Augen. Hitomi sah direkt durch die Scheibe eines kleinen, kreisrunden Fensters hinaus auf ein Meer aus Baumkronen, das durch blendend weiße Felsenwände eingegrenzt wurde. Hinter sich hörte sie das fast lautlose Auftreten von nackten Füßen. Mühsam drehte sie sich auf ihrem weichen Lager um. Erst jetzt merkte sie, dass beide Knöchel und Unterarme mit einem Verband versehen waren und sie nichts weiter als ein Nachthemd am Leibe trug.

Vor ihr zwang sich Merle gerade in ihren hautengen Fliegeroverall. Zum ersten Mal seit ihrer erneuten Ankunft auf Gaia fand Hitomi die Zeit um Merle ausgiebig zu betrachten und was sie sah, versetzte sie in Staunen. Vor ihr stand nicht mehr das niedliche Katzenmädchen, das sie einst kannte, sondern eine junge, athletische Frau mit Schwanz und Katzenohren. Beeindruckt verfolgte Hitomi die kontrollierte Spannung von Merles drahtigen Muskeln und den Ausdruck reiner Konzentration auf ihrem Gesicht. Bisher hatte sie diese Art der Vorbereitung nur bei Sportler vor einem Wettkampf und bei Kriegern vor einer Schlacht gesehen. Schließlich merkte Merle, dass beobachtet wurde.

„Was glotzt du denn so?“, fragte sie Hitomi gereizt. „Ist irgendetwas?“

„Nein, es ist nichts.“, beruhigte Hitomi sie schnell und drehte sich weg. Das war nun wirklich nicht die Merle, die sie kannte. Was war nur aus dem Mädchen geworden, das während der Entscheidungsschlacht vor drei Jahren vor Angst um Van nicht schlafen konnte und bei ihr Trost gesucht hatte. Eigentlich gab es sie noch. Es war jenes Mädchen im viel zu kurzem Kleid gewesen, welches Hitomi von der Erde abgeholt und hierher nach Gaia gebracht hatte. Ja, entschied Hitomi, dieses Mädchen war noch da, auch wenn es jetzt von der Maske einer Kriegerin überdeckt wurde.

Und von der Maske einer jungen Frau. Eine Frau, so wurde Hitomi klar, die Van schon von klein auf sehr gut kannte. Eine Frau, die vielleicht sogar in Van verliebt war. Hatte Hitomi etwa Konkurrenz bekommen? Eigentlich war es eine logische Schlussfolgerung, eine Notwendigkeit, dass nicht nur sie um Vans Hand kämpfte. Schließlich war er König und musste daher von allen Junggeselle in seinem Reich der begehrteste sein. War er überhaupt noch Junggeselle? Vielleicht, so dachte sich Hitomi, war er schon längst in eine andere verliebt und verheiratet. Drei Jahre sind schließlich eine lange Zeit, in der viel geschehen kann. Vielleicht war es sogar Merle selbst, der sein Herz gehörte. Dies würde erklären, warum die Gedankenverbindung zwischen ihr und Van nicht mehr bestand.

Hitomi drohte wieder in die Dunkelheit abzurutschen und versuchte sich dagegen zu wehren. Sie klatschte sich sogar selbst auf die Wangen, doch es half alles nichts. Schon war sie wieder in der schwarzen Leere gefangen, aber dieses Mal trug sie es mit Fassung. Ihre Verteidigung bröckelte, als sie Van vor sich sah. Wie die vorherigen Male auch, schien er sich in den letzten Jahren kein bisschen verändert zuhaben und blickte wieder durch Hitomi hindurch. Was jedoch Hitomi den Atem verschlug, war das Baby auf seinem Arm.

Es lächelte und streckte jemanden seinen freien Arm entgegen. Das Kind schien wirklich da zu sein und hatte zu allem Überfluss Engelsflügel, Katzenohren und ein kleinen, buschigen Schwanz. Dann erschien Merle an Vans Seite. Sie nahm die angebotene Hand und küsste seine Wange, während sie das Baby an seinen Ohren kraulte. Das Kind lachte vergnügt.

Hitomi konnte das Glück, dass ihr entgegen schwappte, nicht mehr ertragen. Sie wollte ihre Augen schließen, schaffte es aber nicht. Stattdessen tauchten weitere Erscheinungen Vans um sie herum auf, jede mit einem Baby im Arm und einer Frau an seiner Seite. Frauen, die Hitomi schon einmal gesehen hatte, Frauen, die sie nicht einmal ansatzweise kannte. Sie alle wurden zu einer unüberschaubaren Menge.

Hitomi wollte schon schreien, da rüttelte Jemand an ihrem Körper und schlug ihr auf die Wange. Endlich schaffte sie es, die Augen aufzumachen.

„Was ist es?“, fragte Merle, die Hitomi berechnend ansah, während auf der Bettkante saß.

„Was ist was?“, fragte Hitomi verwirrt.

„Ständig kippst du weg.“, antwortete Merle besorgt. „Dich beschäftigt doch etwas. Geht es König Van gut? Ist er in Gefahr?“

„Oh, dem geht’s gut.“, erwiderte Hitomi säuerlich.

„Dann ist Farnelia in Gefahr.“, schlussfolgerte Merle.

„Warum sollte es?“, wunderte sich Hitomi.

„Na, immer wenn du eine Vision hast, ist irgendwer in Gefahr. Also rück endlich mit der Wahrheit raus!“

„Meine Visionen handelten nicht über Gefahren für Van, Farnelia oder sonst wen. Sie waren rein privater Natur.“

„Was hast du gesehen?“, verlangte Merle plötzlich mit kindlicher Neugier zu wissen.

„Privat, Merle! Das heißt, dass dich etwas nicht angeht.“, wiegelte Hitomi ab. Eingeschnappt wandte sich Merle ab und wollte gerade die Koje verlassen.

„Warte, Merle! Wo gehst du hin?“, fragte Hitomi.

„Auf dem Weg zu uns hat das Luftschiff eine Lichtung mit Spuren von einem landenden Guymelef entdeckt. Ich sehe mir das genauer an.“

„Sei vorsichtig!“, bat Hitomi.

„Ich kann auf mich selbst aufpassen.“, erwiderte Merle trotzig.

„Das meinte ich nicht, Merle.“, flüsterte Hitomi. Das Katzenmädchen schien es zu überhören.

„Übrigens solltest du König Van mit seinem Titel anreden, so wie jeder andere auch.“, mahnte sie Hitomi stattdessen und schlug hinter sich die Tür zu. Hitomi dachte einen Moment darüber nach, schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Fenster zu.

In Gedanken ging sie noch einmal alles durch, was ihr in den letzten Stunden widerfahren war. Erst hatte Merle sie nach Gaia gebracht, dann war sie von einem Zaibacher Guymelef entführt worden, dann hatte Merle die Entführer abgeschlachtet und sie schließlich auf dieses Luftschiff gebracht.

Was war das überhaupt für ein Luftschiff? Hitomi sah sich um. Die Wände waren in einem hellen Rot gestrichen und mit goldenen Tüchern geschmückt worden. Außer ihrem Bett gab es noch einen Kleiderschrank und einen Schreibtisch. Der Fußboden wurde von einem aus blauen und vereinzelt goldenen Fäden gewobenen Teppich bedeckt, in dessen Mitte das Zeichen Farnelias abgebildet war. Ein solches Design wie in ihrem Zimmer war Hitomi völlig unbekannt, doch die Zugehörigkeit zu Farnelia war offensichtlich.

Hitomi war noch immer in Gedanken versunken, als sich die Tür zur ihrer Koje öffnete. Hindurch trat eine Frau mittleren Alters mit langem, schwarzem Haar. Sie trug ein hellblaues Kleid mit einer weißen Schürze. Es folgte ihr ein etwa 15-jähriges Mädchen, ähnlich gekleidet, hatte jedoch dunkelbraunes Haar, eine unterwürfiger Haltung und einen Topf voll mit Wasser in der Hand.

„Wie geht es euch?“, fragte die Frau barsch.

„Gut, nehme ich an.“, antwortete Hitomi ein wenig überrumpelt.

„Da ihr jetzt wach seid, hat man mir aufgetragen, euch noch einmal zu untersuchen. Dürfte ich eure Füße sehen?“

Ohne eine Antwort nickte die Frau dem Mädchen zu, welches sogleich die Decke über Hitomi zurückschlug und einen nach dem anderen die Verbände entfernte. Hitomi atmete bei der Abnahme der Unterarmverbände scharf ein. Inzwischen war die Frau schon mit der Untersuchung der Fußgelenke beschäftigt.

„Sagen sie Bescheid, wenn es weh tut.“, sagte die Frau trocken und riss an Hitomis linken Fuß. Hitomi brüllte ihren Schmerz hinaus.

„Nicht schreien! Nur sagen, wo es weh tut.“, forderte die Frau. Hitomi nickte bestätigend und ließ weitere mehr oder weniger schmerzhafte Untersuchungsmethoden über sich ergehen, doch sehnte sie sich nach nichts mehr als dem Ende der Folter.

Fünf Minuten später war die Visite abgeschlossen und die Frau verließ ohne ein Wort des Abschieds, sondern nur mir einer kurz angebundenen Diagnose und Befehlen für ihre Assistentin den Raum. Das Mädchen machte sich daran die Schürfwunden an den Unterarmen auszuwaschen. Der Schmerz ging weiter. Ab und zu sah sie Hitomi neugierig an, senkte ihre Augen aber schnell wieder. Der Patientin entgingen ihre Blicke nicht.

„Wie heißt du?“, fragte sie. Sie versuchte trotz der Tortur freundlich zu wirken.

„Siri Riston, Fräulein.“, antwortete das Mädchen verlegen.

„Bitte nenn mich Hitomi. Ist es in Ordnung, wenn ich dich mit deinem Vornamen anspreche?“, fragte Hitomi, wobei sie mehr Vertraulichkeit in ihre Stimme legte.

„Ja, Fräulein.“

„Warum so schüchtern? Du kannst mich ruhig mit meinem Namen ansprechen.“

„Das ist leider nicht möglich, Fräulein.“

„Wieso nicht?“, hakte sie nach.

„Weil König Van höchstpersönlich den Kommandant dieses Luftschiffes befohlen hat, dass ihr mit größten Respekt zu behandeln seid, Fräulein.“

Einen Moment lang durchfloss Hitomi ein Gefühl der Genugtuung.

„Und das hindert dich daran meinen Wunsch zu entsprechen?“

„Ja, Fräulein.“

„Warum hält sich deine Vorgesetzte nicht daran?“

„Ich weiß es nicht, Fräulein.“

Inzwischen verband Siri Hitomis Arme.

„Kann ich den Kommandanten sprechen?“

„Das ist nicht möglich, Fräulein.“

„Siri, bitte lass wenigstens das Fräulein beiseite!“

„Ich darf nicht, Fräulein.“

Verärgert schüttelte Hitomi mit dem Kopf. Sie hatte das Gefühl gegen eine Wand anzurennen.

„Warum kann ich den Kommandant nicht sprechen?“

„Weil sie gerade mit ihrem Guymelef gestartet ist, Fräulein.“

„Merle ist der Kommandant?“, wunderte sich Hitomi.

„So ist es, Fräulein.“

„Warum hast du mich vorhin so neugierig angestarrt?“, versuchte es Hitomi weiter.

Siri wechselte zu Hitomis Füßen und fing an jeden Knöchel mit einem Stützverband zu versehen.

„Nun?“, fragte Hitomi weiterhin freundlich.

Siri zögerte, doch dann gewann ihre Neugier.

„Sind die Gerüchte wahr?“, wollte sie wissen.

„Welche Gerüchte?“

Siri sah Hitomi nun direkt in die Augen.

„Ihr stammt vom Mond der Illusionen, nicht wahr?“

„Nun, weißt du...“

„Ihr sollt die Gefährtin unseres Königs gewesen sein, als er gegen die Zaibacher in die Schlacht zog.“, erzählte Siri leise.

„Ich habe ihn damals begleitet, ja, aber ich war nicht die einzige.“

„Dennoch sollt ihr etwas besonderes gewesen sein. Angeblich haben die Zaibacher nur wegen euch Farnelia, Fraid, und Astoria angegriffen.“

„Wie bitte?“

„Böse Zungen behaupten gar, dass ihr es wart, der König Van dazu veranlasst hat einen Präventivschlag gegen das Zaibacher Imperium zu führen, dessen Folge die Zerstörung Farnelias war.“, führte sie weiter aus und verdrehte dabei schmerzhaft Hitomis Bein.

„Das ist kompletter Unsinn.“, verteidigte sich die junge Frau.

„Ich habe meinen Vater beim Angriff der Zaibacher auf Farnelia verloren.“

Verachtung spiegelte sich in Siris Augen wieder. Hitomi blieb die Luft weg.

„Geht wieder dorthin zurück, wo ihr hergekommen seid! In unserem Land werdet ihr keinen Platz finden.“, informierte Siri sie mit eiskalter Stimmlage, dann beendete sie schnell und präzise ihre Arbeit. „Übrigens, die Frau, die ihr für meine Vorgesetzte gehalten habt, ist meine Mutter.“, erklärte sie mit Tränen in ihren Augen und mit Wut verzerrter Stimme. Daraufhin stürmte Siri aus der Koje und ließ ihre Patientin allein in der Stille zurück. Hitomi verstand die Welt nicht mehr. Warum war sie hier?

Abgeschoben

Die Sonne sandte gerade ihre letzten Strahlen über die Steilwände, welche in ihrer Mitte Farnelia beherbergten, und tauchte die Ostseite des Tals in blutrotes Licht. Im Schatten der Berge verschwammen die Dächer Farnelias zu leblosen, schwarzen Flächen. Die Straßen hingegen waren hell erleuchtet und von Menschenmassen erfüllt. Hitomi staunte nicht schlecht, als sie aus ihrem kleinen Fenster auf die Stadt herabsah. Von den Narben des Krieges waren bis auf vereinzelte freie Bauflächen nichts mehr zusehen. Van, so gab sie zu, hatte seine Aufgaben hervorragend gemeistert. Von ihrem Fenster aus versuchte Hitomi einen Blick auf die Palastebene zu werfen.

Hitomi erinnerte sich, dass die Gebäude auf dieser Ebene während des Zaibacher Angriff vollständig niedergebrannt waren, die Ebene jedoch, die ebenfalls künstlich war, ohne große Schäden davon gekommen war. Sie war gespannt, wie der neue Palast aussah, und sie war überrascht, als sie ihn sehen konnte. Statt einer Palastanlage war auf der Ebene nur eine Villa, die von einem weitläufigen Garten umgeben war. Die Villa bestand aus einem Hauptgebäude und zwei Seitenflügel. Das Haupthaus zierte ein Kuppel mit angrenzenden Spitzdächern, in denen große Fenster eingelassen waren, die an den Dachgärten der Nebengebäuden angrenzten.

Das prunkvolle Haus verschwand aus ihrem Blickfeld, als das Luftschiff auf einen Platz direkt hinter dem Stadttor aufsetzte. Menschen begannen sich auf dem Landeplatz zu versammeln. Ein paar Minuten später öffnete sich die Tür und sowohl Siri als auch ihre Mutter betraten Hitomis Zimmer. Hinter ihnen kamen zwei Männer mit einer Trage.

„Ist das die Verletzte?“, fragte einer der Männer und deutete auf Hitomi.

„Ja.“, antwortete Siris Mutter. „Wir haben sie während eines Versorgungsfluges aufgelesen.“

„Eine Fremde also?“, wollte der andere wissen.

„Das wissen wir nicht. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Bis jetzt hat sie noch nichts gesagt.“, sagte Siri und bedachte Hitomi dabei mit einem warnenden Blick. Diese stimmte in Gedanken zu und starrte zur Decke. Es gab anscheinend Leute, die sie für die Zaibacher Kriege verantwortlich machten. Sie hatte schon genug Rache zu spüren bekommen. Absolut niemand sollte erfahren, wer sie wirklich ist. Nicht, solange Van nicht kam um sie abzuholen.

„Okay, wir bringen sie rein.“

Beide Männer hievten Hitomi auf die Trage und hoben sie hoch. Als sie durch den zentralen Gang des Luftschiffes transportiert wurde, begann Hitomi sich mit Erinnerungen abzulenken. Sie rief möglichst triviale Ereignisse in ihr Gedächtnis und spielte sie ab. Plötzlich war sie wieder auf einen Wagen und sie konnte sich kaum erinnern, wie darauf gekommen war. Gut so, dachte Hitomi. Wenn sie weiterhin so abwesend sein könnte, würde sie die Menschen in ihrer Umgebung täuschen können. Als der Karren schließlich anhielt, kehrte in ihrem Blick wieder Leere ein.

Hitomi bekam nur am Rand mit, wie man sie in eine große, hell erleuchtete Halle trug, die im Innern durch große Vorhänge in Bereiche unterteilt worden war. Der Gestank von Blut, Kotze und anderen Extremitäten holte Hitomi aus ihren Tagträumen. Sie musste sich anstrengen um nicht selbst zu erbrechen. Der hintere Träger musste ihr Würgen bemerkt haben, denn er entschuldigte sich bei ihr.

„Tja, tut mir ja leid, meine Schöne, aber wir haben hier in Farnelia gerade ein kleines Seuchenproblem.“

Hitomi drehte sich der Magen um. Die Vorstellung in einer Halle zusammen mit Seuchenopfer eingepfercht zu sein, gab ihr den Rest und sie wünschte sich, sie würde eine dieser Visionen haben, nach denen sie immer so gut in Ohnmacht fallen konnte. Doch nichts dergleichen geschah. Sie wurde erst etwas gelassener, als man sie in einen schmalen Bereich brachte, in dem nur eine Matratze lag. Falls diese Seuche nur über Körperflüssigkeiten übertragen werden konnte, war sie hier relativ sicher. Sanft legte man sie auf ihr Lager und deckte sie zu.

„Gleich wird ein Arzt kommen. Also bleib schön liegen, meine Schöne.“

Hitomi wusste nicht, was sie von dem Träger halten sollte, der sie ganze Zeit anstarrte, als wäre sie sein größter Schatz. Sie beschloss ihn weiterhin zu ignorieren, so wie alle anderen auch. Irgendwann jedoch musste sie sich jemanden anvertrauen. Inständig hoffte sie, dass Van wusste, was hier gespielt wurde und bald eine Kontaktperson schicken würde. Dass er selbst hier auftaucht, hielt sie inzwischen für unwahrscheinlich.

Die Träger verließen Hitomis abgegrenzten Bereich. Wieder einmal war sie sich selbst überlassen und sie ließ ihre Gedanken schweifen. So gut sie es konnte, versuchte sie dabei die Gerüche aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, was ihr schließlich auch gelang, bis jemand aus dem Nachbarbereich anfing zu erbrechen. Eine halbe Minute später öffnete ein Mann einen Vorhang vom Flur aus und trat neben ihrem Krankenbett. Eine Krankenschwester begleitete ihn. Bevor sich das Tuch glättete, konnte Hitomi gerade noch eine andere Schwester mit einem Kübel in der Hand vorbeihuschen sehen, die das Gesicht zu einer Grimasse des Ekels verzog. Hitomi tat es ihr nach. Zu spät bemerkte sie, dass der Doktor sie dabei beobachtete.

„Ihre Umwelt scheinen sie wahrzunehmen. Wenn sie einen Schock gehabt hatte, haben sie sich davon erholt. Können sie wirklich nicht sprechen? Wie heißen sie?“

Hitomi verfluchte im Stillen sich und ihre Dummheit. Der Arzt blickte ihr eindringlich in die Augen, doch sie war fest entschlossen ihren Fehler zu kaschieren und starrte zur Decke.

„Nun, vielleicht finden wir mehr heraus, wenn wir sie eingehender untersuchen.“

Die Schwester trat neben den Doktor und beide ließen ein komplettes Programm an Untersuchungen durchlaufen, das teilweise sehr intim war. Zum Schluss begutachtete der Arzt noch ihre Haare, dann wandte er sich an die Schwester.

„Es gibt Fesselungsmale an ihren Händen und Füßen. Sie scheint aber bis auf die verstauchten Knöchel und den Schürfwunden an ihren Armen völlig gesund zu sein. “

„Was ist mit ihren Haaren?“, fragte die Schwester.

„Sie sind zu ordentlich geschnitten, als das jemand sie mit Gewalt abgetrennt haben könnte. Außerdem sehe ich keine anderen Anzeichen einer Vergewaltigung. Das kurze Haar könnte ein Hinweis auf ihre Herkunft sein.“ Hitomi begann sich zu wundern. War ihre Frisur derart auffällig? „Legen sie ihr die Verbände wieder an!“, befahl er der Schwester trocken. Zu Hitomi gewandt sagte er: „Wir müssen sie morgen zur Pflege in einen Privathaushalt geben, weil wir den Platz brauchen. Wenn ihnen da etwas Bestimmtes vorschwebt, sagen sie uns Bescheid. Ansonsten müssen sie mit dem vorlieb nehmen, was wir finden.“

Dann verließ er Hitomis Bereich und die Schwester tat, was er ihr aufgetragen hatte. Danach ließ auch sie Hitomi allein.

Ihr blieb nichts anderes übrig als zu warten. In ihren Gedanken besuchte sie ferne Orte, in denen sie zusammen mit Van gewesen war. Erst jetzt wurde ihr klar, wie viel sich in der Zeit ihrer Abwesenheit verändert haben konnte. Der kleine Cid dürfte inzwischen sehr gewachsen sein. Ob sie ihn überhaupt noch wieder erkennen würde? War Dryden inzwischen wieder bei Milerna oder gondelte er immer noch in der Weltgeschichte umher? Hatte sie gar schon ein Kind von ihm bekommen oder hatte sie sich wieder an Allen heran geschmissen? Vielleicht hatte sie inzwischen jemand ganz anderen geheiratet. Hitomi erinnerte sich noch gut daran, wie groß damals der Druck auf Milerna gewesen war, als Dryden sie verlassen hatte. Nicht nur von Seiten des Königshauses waren Forderungen nach einem Thronfolger laut geworden, da König Aston noch immer an den Nachwirkungen seiner Schwächeanfälle gelitten hatte. Vor drei Jahren war man noch davon ausgegangen, dass er sich nie mehr davon erholt. Hatte er sich erholt? Lebte der König überhaupt noch? Was war aus Allen geworden? Wie viele Frauen er inzwischen wohl das Herz gebrochen hatte?

Beinahe wurde Hitomi von dem Impuls überwältigt aufzustehen und jemanden auszufragen. Gerade rechtzeitig erinnerte sie sich daran, dass sie überhaupt nicht laufen konnte, dass sie hilflos war. Der Wunsch Vans schützende Hand auf ihren Schultern spüren zu können, nahm überhand. Von Verzweiflung getrieben versuchte Hitomi wieder einmal seine Präsenz aufzuspüren, doch sie fand nichts. Dieser weitere Fehlschlag trieb einen Schmerz wie von einem Messer durch ihren Bauch und sie kauerte sich zusammen. Eine Träne lief über ihre Wange gefolgt von einem kühlen Lufthauch.

Hitomi ahnte, dass jemand ihren Bereich betreten hatte. Eigentlich sollte sie sich jetzt zusammenreißen und wieder die Stumme spielen, doch sie konnte nicht. Entgegen aller ihrer Bemühungen schluchzte sie. Daraufhin fuhr eine sanfte Hand mit zarten Fingern über die oben liegende Gesichtshälfte bis hin zu einer Haarsträhne, die sie sachte bei Seite schob.

„Essen sie etwas!“ Hitomi erkannte die Stimme der Schwester. „Dann wird es ihnen besser gehen.“

Einen Augenblick später war Hitomi wieder allein. Langsam drehte sie sich wieder auf ihren Rücken und öffnete ihre Augen. Ein Schleier aus Tränen vernebelte ihr die Sicht. Als sie diese weggewischt hatte, fand Hitomi neben sich ein Tablett, auf dem ein Teller Suppe mit einer Brotscheibe und eine Tasse Tee stand. Wie sollte sie bitteschön in ihrer Verfassung und dem Gestank in der Luft auch nur ein Bissen runter kriegen. Aller Abneigung zum Trotz griff Hitomi zur Tasse und schnupperte genüsslich am süßen Duft des Tees. Was für ein himmlischer Duft. Zögerlich nahm sie einen Schluck. Der Tee war lauwarm. Enttäuscht stürzte Hitomi den Rest des Tees in einem Schluck hinunter und stellte die Tasse wieder auf das Tablett.

Dann wandte sie sich vom Tablett ab und zog die Decke über ihre Schulter. Einige Zeit später wurden die Lichter der Halle gelöscht und alles um ihr herum versank in der Dunkelheit. Sie sah zum Himmel hinauf, doch alles was sie ausmachte, war eine triste, eintönige Decke. Wenn sie doch nur einen Blick auf ihre geliebte Erde werfen könnte. Vielleicht würde sie dann zurückkehren können.

Zurückkehren.

Ja, genau das hatte sie sich eben gewünscht. Sie war nur einen Tag auf Gaia gewesen und wollte schon wieder nach Hause. Hitomi spürte das wohlbekannte Messer in ihrem Bauch. Bedeutete Van ihr inzwischen so wenig, dass sie nicht einmal mehr ein paar Schwierigkeiten in Kauf nahm um ihn zusehen, leibhaftig und so wie er jetzt war? Liebte sie ihn überhaupt noch?

Sie fürchtete schon, dass sie wieder in einer ihrer Vision geraten könnte, doch es passierte nichts. Sie lag weiterhin mit offenen Augen auf ihrem Bett und grübelte über diese eine Frage, deren Antwort sie nicht wusste. Stunden vergingen.

Schließlich schlief sie ein.

Auf einmal war sie wieder wach. Sie wusste nicht wie lange sie geschlafen hatte, nur, dass es noch finster war. In ihrem Kopf spürte sie ein Hämmern, so als würde jemand gegen ihre Schädeldecke schlagen, und ein unangenehmes Gefühl brach in ihrem Bauch aus. Sie vergaß fast das Atmen. Dann hörte sie schnelle, leise Schritte auf den harten Hallenboden. Es waren mehrere Personen, mindestens drei.

Sie waren wegen ihr hier.

Diese Erkenntnis brannte sich in Hitomis Kopf ein und ließ sie in Panik geraten. Was sollte sie tun? Wie sollte sie reagieren? Weglaufen konnte sie nicht, also blieb ihr nur ein Hilferuf, aber ihre Stimme war vor Furcht wie gelähmt und sie brachte keinen Ton raus. Der Vorhang zu ihrem Bereich öffnete sich.

„Danke, dass du auf uns gewartet hast, meine Schöne.“, sprach eine gehässige Stimme sie an.

Hitomis Augen weiteten sich. Im nächsten Augenblick drückte man ihr ein Tuch auf Mund und Nase. Ohne es zu wollen, schloss sie ihre Augen. Leere Dunkelheit empfing sie.

Ein echter Köder

Der Mond der Illusionen stand hoch über den Dächern Farnelias. Sein Licht reichte bis in die hintersten Gassen hinein und tauchte sie in ein mattes Grau. Merle saß allein in einen der tiefen Schatten der Gassen und regte schweigend sich über die sternklare Nacht auf. Sonst freute sie sich immer über den imposanten Anblick des Mondes am hell strahlenden Sternenhimmel. Sie empfand ihn als majestätisch und würdevoll, so wie er auf Gaia herabblickte. Heute aber mochte sie ihn nicht, denn sein Licht störte ihre Arbeit. Nur in der Dunkelheit konnte man ungestört die Aufgaben erledigen, die nun schon seit zwei Jahren auf ihren noch wachsenden Schultern lasteten.

In Gedanken versunken strich Merle über ihre pechschwarze Kleidung. Sie trug einen hautengen Anzug zusammen mit festen Stiefeln und einer Weste, die hinten und vorne offen war. Daran befand sich hinten ein verstecktes Magazin mit Wurfmesser und vorne Mehrzweckwerkzeuge in zahlreichen Taschen. Außerdem waren zwei Dolche an ihren Oberschenkel befestigt, einer an jeder Seite. Ihre Dolche...

Merles Hand verharrte, als sie über die kalte Klinge ihres rechten Dolches glitt. Ein kleiner Schrecken fuhr ihr durch die Glieder. Sie hatte die Dolche schon einmal benutzen müssen. Eigentlich war das schon ziemlich oft der Fall gewesen, seitdem die königliche Leibwache unter ihrem Kommando vor zwei Jahren gegründet worden war. Vor ihrem ersten Opfer war sie weinend zusammengebrochen, doch inzwischen war es ganz leicht. In dieser Nacht würde wohl oder übel wieder Blut fließen müssen, obwohl Merle lieber Gefangene anstelle eines Leichenberges haben wollte. Aus Leichen konnte man schließlich nicht heraus pressen, wie es den Kopfgeldjägern aus Astoria immer wieder gelang ihre Waffen nach Farnelia zu schmuggeln.

Sie war davon überzeugt, dass ein Weg aus und in die Stadt führte, von dem niemand außer den Schmugglern wusste. Da am Stadttor umfangreiche Kontrollen mit wechselnden Mannschaften durchgeführt wurden, schied diese Möglichkeit von vorneherein aus. Übrig blieb eigentlich nur noch der Pfad über die Berge, der bei einer Flucht der Bevölkerung genutzt wird, doch auch der wurde überwacht. Um diesen neuen Weg ausfindig zu machen, hatte Merle den Söldnern schon viele Köder vor die Füße geworfen. Zaibacher Technologie, angebliche Geheimdokumente, doch nichts von alledem hatte Farnelia je verlassen. Es war, als würden sich die Kopfgeldjäger sich nur für eines interessierten. Einen Kopf.

Aus der intensiven, aber erfolglosen Suche dieser Freizeitermittler im Umfeld Vans ergaben sich zwei Folgerungen. Die Zielperson musste etwas mit ihm zu tun haben und nicht mehr hier sein. Das ließ für Merle nur den einen Schluss zu. Hitomi war das Ziel. Sie war der Grund für all die Übergriffe auf das Königshaus de Farnel in den letzten drei Jahren. Sie war der Grund, warum Merle in den letzten Jahren soviel um die Ohren hatte.

Jetzt lag Hitomi in der neu gebauten Markthalle, also am denkbar unsichersten Ort in ganz Farnelia. Merle zuckte mit den Schultern. Hitomi war ihr für die kürzliche Rettung sowieso noch einen Gefallen schuldig. Außerdem ließ die bisherige Vorgehensweise der Kopfgeldjäger mit dem Zaibacher Guymelef darauf schließen, dass Hitomi nur lebendig etwas wert war. Sie war also nicht in Gefahr.

Von ihrer Position aus konnte Merle durch die Schatten beschützt den Eingang der Halle beobachten, doch das war nicht alles. Sie griff zu ihrem Funkgerät, eine technische Neuerung, welche die Zwangsoffenlegung der Zaibacher Technologien mit sich gebracht hatte. Ohne diese Dinger wäre der Einsatz überhaupt nicht möglich gewesen.

„Siri, erbitte Meldung.“

Keine Antwort.

„Siri, du bist überfällig. Was ist los?“

„Äh, Entschuldigung, Kommandant. Ich war kurzzeitig durch einen Patienten abgelenkt worden.“

Merle seufzte. Siri war zwar nur ein paar Monate jünger als sie selbst, doch manchmal kam es ihr so vor, als würden Jahrhunderte zwischen ihnen liegen.

„Du sollst auf Hitomi aufpassen. Lass die Drecksarbeit jemand anders machen!“

„Aber es doch sowieso zu wenig Personal hier. Außerdem soll ich mich meiner Umgebung anpassen. Das habt ihr selbst gesagt.“

„Willst du mir etwa widersprechen? Tu, was ich sage!“, setzte Merle an.

„Hey, haltet gefälligst Funkstille! Ihr blockierte die Frequenz.“

Es gab nur eine Person in Merles Team, die so mit ihr reden durfte.

„Verstanden.“, antwortete Merle auf den Tadel von Gesgan. Er war ein ehemaliger Spion der Zaibacher. Vor zwei Jahren war er Merles erster Auftrag gewesen, doch anstatt ihn an Astoria auszuliefern, wurde der Vorfall vertuscht und man behielt den Spion samt Ausrüstung in Farnelia. Wenn es nach Erfahrung und Führungsqualitäten ginge, wäre er der Anführer der königlichen Leibwache, doch Merle hatte wenigstens erreicht, ihn als Berater in ihr Team aufnehmen zu dürfen. Der größte Teil ihrer Ausbildung und der ihrer Einheit ging auf ihn zurück. Doch da er nie aufgrund seines Status als Gefangener aktiv an einen Einsatz teilnehmen durfte, hatte Merle ihn für Koordination sämtlicher Einsätze eingesetzt, während sie vor kurzem erst die Leitung vor Ort übernommen hatte. Vorher hatte Gesgan ihr davon abgeraten im Feld zu Befehle zu geben und sie war seinem Rat gefolgt. Bis jetzt hat er ihr Vertrauen noch nie missbraucht und sie immer richtig geleitet.

Außer Siri und Gesgan waren noch zwei Soldaten und ein Taschendieb in ihrem Team. Der Taschendieb hatte sich bei der Beschaffung von Information, dem Beschatten von Zielpersonen und der Kontaktaufnahme zu nichtoffiziellen Kreisen als sehr nützlich erwiesen, doch er machte den Job nur um der Hinrichtung zu entgehen. Bei Gesgan war das zwar anfangs auch der Fall gewesen, doch inzwischen war sich Merle bei ihm nicht mehr sicher. Bei Siri und den Soldaten indes musste sie sich in der Beziehung keine Sorgen machen. Sie zeichneten sich durch eine tiefe Loyalität zu Farnelia aus.

Trotzdem hatte sich Merle bei dem Mädchen am meisten gesträubt sie mitzunehmen. Sie war bei ihrer Aufnahme in die königliche Leibwache erst dreizehn Jahre alt gewesen. Da war sie noch zusammen mit ihrer Mutter für die medizinische Versorgung in den Einsätzen zuständig und meist im Hintergrund tätig. Doch inzwischen hatte sie gelernt mit schmalen und leichten Schwertern umzugehen und ihre Mutter hatte sich nicht mehr bereit erklärt, die Leibwache bei ihren Einsätzen zu begleiten, weswegen eine stärkere Einbindung Siris in die Einheit unumgänglich geworden war. Sie war bei jedem Einsatz an vorderster Front dabei, was Merle viele Sorgen bereitete.

Plötzlich knackte ihr Funkgerät.

„Ein Pferdekarren hält auf die Halle zu. Alle Mann in Alarmbereitschaft!“, befahl Gesgan. Merle hockte sich hin. Wenn das ein Fehlalarm war, wäre es schon der neunte an diesem Abend, doch das war Merle egal. Das brachte ihre Arbeit nun mal mit sich. Lange Observierungen, die gelegentlich durch hektische Augenblicke unterbrochen wurden, in denen man hellwach sein musste, egal, wie lange der Tag für einen schon gewesen war.

Doch dieses Mal war es kein Fehlalarm. Mit überraschender Heftigkeit spürte Merle das Aufflackern von Hitomis Aura. Die Wellen der Gedanken, die von Hitomis Bewusstsein ausgingen, wurden immer stärker und häufiger.

„Aufgepasst, Leute!“, befahl Merle durch ihr Funkgerät den anderen. Schnell band sie ein schwarzes Tuch über ihren Kopf zusammen und verdeckte die unter Gesichtshälfte mit einem anderen Tuch. Schweigend und vermummt beobachtete sie, wie vier Männer die Halle betraten. Wenn Siri ihren Job gutgemacht hatte, würden sie das Gebäude auch wieder verlassen können, ohne dass sie vom medizinischen Personal aufgehalten wurden. Merle spürte wie Hitomis Aura schlagartig schwächer wurde. Plötzlich wurde auch ihr schwarz vor Augen, doch sie brachte ihre mentalen Schilde rechtzeitig in Stellung, so dass der Kontakt zu Hitomi abbrach. Erst als Merle sah, wie die Männer aus der Halle kamen und einen vollen Getreidesack auf die Ladefläche des Karren verluden, wagte sie den erneuten Aufbau der Verbindung. Eine Lokalisierung von ihr ergab, dass sie tatsächlich im Getreidesack auf dem Pferdewagen lag.

„Bitte um Bestätigung.“, fragte Gesgan bei Merle an. „Ist die Zielperson auf dem Karren?“

„Bestätige. Die Zielperson ist in dem Sack. Freigabe zur Verfolgung der Zielperson.“, informierte sie ihn.

„Verstanden. Einheiten eins, zwei und drei, verfolgen sie den Karren! Katzenpranke, beginnen sie mit dem langsamen Abstieg!“

Merle ließ ihr Funkgerät ein Mal zur Bestätigung klicken und setzte sich leise und vorsichtig in Bewegung. Immer darauf achtend möglichst lange in den Schatten zubleiben, schlich sie sich einen dunklen Weg entlang, der parallel zur Straße verlief, die der Karren gerade benutzte.

Da sie das ein-PS-starke Gefährt nur selten sehen konnte, verließ sie sich bei der Verfolgung weiterhin auf das schwache Glimmen von Hitomis Aura und auf die Fahrgeräusche des Karren. Die Fahrt endete vor einem Mietshaus direkt an der Stadtmauer. Langsam dämmerte es Merle, wie Hitomi aus Farnelia geschafft werden sollte. Zwei Männer trugen Hitomi die Kellertreppe hinunter, während die anderen beiden darauf achteten, dass ihnen niemand folgte. Sie konnten Merle in den Schatten der Gebäude jedoch nicht ausmachen. Schließlich gingen auch sie die Treppe hinunter und betraten das Haus.

Merle lief aus den Schatten heraus auf die Straße. Mit ihr tauchten auch zwei andere vermummte Gestalten auf, die jedoch mit geschulterten Schwertern bewaffnet waren. Schnell pressten sich alle drei an die Hauswand. Merle bedeutete den einen Soldaten ihres Teams die Stellung zuhalten, während der andere um die Hausecke auf seiner Seite schlich. Leise trat auch Merle um ihre Ecke herum und überprüfte ihre Seitenwand auf eventuelle Ausgänge, doch sie fand bis auf ein kleines Untergeschossfenster nichts. Mit einem kurzen Kommentar in ihr Funkgerät, bestätigte, dass ihre Seite sauber war. Was folgte, war die Information, dass die Kellertür auf der anderen Seite verschlossen war. Vorsichtig spähte Merle durch das Fenster.

Drinnen beobachtete sie, wie Hitomi auf eine Ladefläche gelegt wurde, die anscheinend mit einer Seilwinde bewegt werden konnte. Die Schienen, auf denen die Räder des Wagens standen, führten in einen Tunnel in Richtung der Stadtmauer. Merle war nicht wohl bei den Gedanken, aber sie konnte nicht auf die Verstärkung warten, die sich auf der Katzenpranke befand. Wenn Hitomi durch dieses Tunnel verschwand, würde man sie nie wieder finden.

„Angriff!“, befahl Merle leise und trat mit ihren Stiefeln das Fenster ein. Elegant glitt sie durch das nun offene Fenster hindurch und kam mit dem Knirschen von zertretenen Glassplittern auf. Vier Augenpaare sahen sie überrascht an. Merle ließ sich nicht lange bitten und stürmte vorwärts. Der Erste, der aus seinem Schock erwachte, stellt sich ihr mit erhobenem Schwert entgegen. Kraftvoll stieß er die Klinge auf Merles Brust zu. Doch die hatte bereits ihre Dolche in den Händen. Sie fing die Waffe ihres Gegners mit einer ihrer eigenen ab, preschte in ihn hinein und schlug ihn mit ihren Ellbogen gegen seine Schläfe bewusstlos. Inzwischen war von der Eingangstür nur noch Holzsplitter übrig und ihre zwei Teammitglieder fochten jeweils eigene Duelle aus. Der letzte Gegner stürmte mit gezücktem Schwert auf Merle zu. Er schlug nach ihr, doch sie drehte sich geschickt aus der Schwertbahn und trat mit dem Spann ihres Fußes gegen sein Kopf. Er brach stöhnend zusammen. Inzwischen hatte die Soldaten ebenfalls ihre Arbeit getan. Ihre Gegner schienen nicht in Lebensgefahr zu sein, wie Merle angenehm überrascht feststellte.

„Wartet auf die Katzenpranke! Die Gefangenen kommen in eine Zelle unter der Villa.“, befahl sie und befreite Hitomi aus ihrem Gefängnis. Sie war unversehrt, genau wie geplant. „Schafft sie ein Gästezimmer der Villa! Siri soll sie sich noch einmal ansehen.“ Die Soldaten bestätigten rasch die Anweisung. Daraufhin legte sich Merle auf die Tragefläche. „Steckt mich in den Getreidesack!“ Verdutzt starrten sie die Soldaten an. „Nun macht schon! Das ist ein Befehl.“ Zögerlich gehorchten ihr die beiden und schnürten den Sack fest zu. „Kurbelt mich an!“, sagte sie mit stumpfer Stimme. Daraufhin glitt Merle in die Dunkelheit des Tunnels.

Pflichterfüllung

Merle lag allein in der beklemmenden Dunkelheit ihres freiwillig gewählten Gefängnisses. Nur das Rattern der Räder unter ihr unterbrach im schnellen Takt die unheimliche Stille um sie herum. Ihr eigener Atem schlug ihr gegen die Nase. Die Luft wurde dicker. An ihren Fingern spürte sie den kalten Stahl ihrer Dolche. Natürlich konnte sie jederzeit aus dem Getreidesack ausbrechen und wieder zurück laufen, in die sichere Villa De Farnel, in der sie ein kleines Zimmer mit Blick auf die Stadt hatte.

Ja, sie konnte sogar jederzeit ihren Job an den Nagel hängen und wieder das kleine Mädchen sein, das sie einst war. Van würde ihr auch so ein Zuhause geben, wenn sie keinen Nutzen für ihn hatte. Dann würde es keine Pflichten mehr für sie geben, keine Gewalt und kein Tot. Sie könnte in Ruhe leben, stets an der Seite von Van sein und weiterhin als das kleine Mädchen ihr Dasein fristen. Merle schüttelte den Kopf. Solche Gedanken waren kontraproduktiv und störten sie nur bei der Erfüllung ihrer Verantwortung. Einer Verantwortung, um die sie förmlich gebettelt hatte, weil...

Ja, warum eigentlich?

War es, weil Van Hilfe gebraucht hatte? Hatte sie es nicht mehr mit ansehen können, wie er langsam und qualvoll unter den vielen Lasten zerbrach? Hatte sie sich selbst davon ablenken wollen? Hatte sie nur einfach nicht mehr hinsehen wollen?

Nein, das war nicht der Grund dafür gewesen, entschied Merle. Sie wollte einfach nur stärker werden, so dass sie im Ernstfall sich selbst beschützen konnte, um Van zumindest eine Bürde abzunehmen. Das war der Grund dafür gewesen und kein anderer. Nur deswegen hatte sie um einen Auftrag gebeten und nur auf ihre Bitte hin hatte sie auch einen bekommen.

Merle lachte bitter über ihre eigene Naivität von vor drei Jahren. Van hatte ihr befohlen einen Zaibacher Spion zu fangen, der sich angeblich nach dem Fall des Zaibacher Reiches in Farnelia unter das noch umherziehende Volk gemischt hatte und nun mit ihnen in die Stadt gekommen sei. Natürlich hatte Van alles erfunden. Er hatte sie ohne Einweisung und Anhaltspunkte in die Stadt geschickt, um einen Spion zu suchen, der eigentlich gar nicht existierte. Er hatte sie nur ablenken wollen.

Die Ironie an der ganzen Sache war, dass es tatsächlich einen Spion unter den nach Hause kehrenden Flüchtlingen gegeben hatte. Nur durch Zufall und nach einer langer Suche hatte Merle dies in Erfahrung gebracht. Bei der Ergreifung hatte sie ebenfalls nur Glück gehabt. Mit einen Schmunzeln auf ihren Lippen erinnerte sie sich an den fassungslosen Ausdruck in Vans Augen.

Kurz darauf hatte ihre Ausbildung begonnen. Van hatte ihr einige Fähigkeiten beigebracht, die er von Hitomi gelernt hatte, und er war der ideale Partner bei den Kampfübungen gewesen, doch die eigentliche Ausbildung fand noch immer unter Gesgan, den gefangenen Spion, statt. Von ihm hatte Merle ihr Handwerk gelernt. Dank ihm konnte sie auf sich selbst aufpassen und ganz nebenbei die Leibwache ihres Königs leiten, welche dafür zuständig war, mörderische Ratten aus ihren Löchern zu treiben.

Der Wagen, auf dem Merle in einem Getreidesack lag, hielt plötzlich und abrupt an. Für einen Moment war Merle überrumpelt und zog daraufhin eine Grimasse. Eigentlich hätte sie merken müssen, dass die Luft um sie herum besser geworden war. Sie musste noch viel lernen.

Eine Zeit lang geschah nichts, dann hörte Merle, wie zwei Schwerter aus ihren Scheiden gezogen wurden. Verflucht, dachte sie, es muss so eine Art Signal geben, dass die kommende Ware als unbedenklich deklariert. Nun, da sie aufgeflogen war, schnitt Merle blitzschnell mit den Dolchen durch den Stoff des Sackes. Aus ihrem Gefängnis befreit rollte sie instinktiv zur Seite. Dort, wo sie noch eben gelegen hatte, schnitten zwei Klingen durch das Holz.

Schnell und entschlossen stürmte Merle auf die beiden Wachen zu und zwang sie deren Schwerter, die sich im Wagen verkeilt hatten, loszulassen. So überrumpelt wie die Männer waren, war es für Merle ein Leichtes, sie mit einem Tritt und einem Schlag gegen ihre Hälse auszuschalten. Daraufhin fesselte Merle die beiden mit einem herumliegenden Seil. Die Kopfgeldjäger waren schlampig gekleidet, unrasiert und stanken erbärmlich, doch sie waren gut ausgerüstet. Es kostete Merle viel Zeit ihnen wirklich alle Waffen abzunehmen, da sie auch versteckte bei sich trugen. Den Rest des aufgerollten Seiles streifte sie über ihre Schulter und sah sich um.

Sie schien in einer Höhlenkammer zu sein, die von zwei Fackeln beleuchtet wurde. An den Wänden stapelten sich Kisten und Fässer aller Art. Es gab außer dem Tunnel nur einen anderen Ausgang, der in einen dunklen Gang mündete. Merle überlegte, was sie jetzt tun sollte. Sie wusste nicht, wie groß das Höhlensystem vor ihr war. Und ohne Referenzpunkte konnte sie die Entfernung einer Aura nicht abschätzen. Es konnten aber nicht mehr viele Feinde in diesem Versteck sein.

Da sie jetzt schon einmal hier war und weglaufen keine Option war, wagte sie sich in die Dunkelheit. Vom anderen Ende des Ganges sah sie plötzlich Fackellicht. Schnell und leise zog sie sich in die Kammer, aus der sie gekommen war, zurück. Sie presste sich neben den Eingang an die Wand. Deutlich konnte sie spüren, dass vier Personen näher kamen. Nach den Geräuschen zu urteilen waren sie schwer gepanzert, folglich also auch schwer bewaffnet.

Merle überlegte fieberhaft. Sie konnte nicht alle vier besiegen, ohne dabei deren Leben zu schonen. Sie würde mindestens zwei vorher aus dem Hinterhalt töten müssen. Ihr Plan stand fest.

Geschickt kletterte sie die Höhlenwand hinauf, wobei sie ihre Krallen zum besseren Halt in Felsspalten grub, und wartete ab. Nach ein paar Minuten kamen zwei leichtbewaffnete Kopfgeldjäger in die Kammer, die nach beiden Seiten hin aus schwärmten. Ein dritter lief direkt zu den Bewusstlosen. Die vierte Person, die eintrat, war schwer gerüstet und mit einer geladenen Armbrust bewaffnet. Angesichts seiner kunstvollen Rüstung staunte Merle nicht schlecht. Was machte ein Mitglied der königlichen Leibwache von Astoria hier in diesem schmutzigen Versteck von Kopfgeldjägern?

Natürlich hatte Merle eine Vermutung, doch die gefiel ihr überhaupt nicht. Was sie brauchte, war weitere Information und die konnte sie nur bekommen, wenn sie die Männer unter ihr unschädlich machen konnte.

Sie zog ihre Kralle ein. Im Fallen drehte sie sich um 180 Grad und zog dabei zwei Wurfmesser. Sie landete sicher mit dem Gesicht zu ihren Gegnern und warf die Messer auf die Kopfgeldjäger links und rechts von ihr. In den Nacken getroffen sanken diese leblos zu Boden. Verdutzt, doch keineswegs geschockt, drehte sich die Leibwache zu ihr um mit der Armbrust im Anschlag. Ehe er diese jedoch abfeuern konnte, schlug Merle die Armbrust mit ihrem linken Unterarm zur Seite. Dann drosch sie ihm ihren rechten Ellenbogen in seine ungeschützte Schläfe. Die Wache brach zusammen. Der letzte Kopfgeldjäger kam mit gezogenem Schwert auf sie zu gerannt, doch Merle wollte sich nicht mehr die Mühe machen und streckte ihn mit einem Wurfmesser aus sicherer Entfernung nieder.

Die nur bewusstlose Leibwache aus Astoria fesselte Merle mit dem Rest des Seiles, nachdem sie auch bei ihm eine Leibesvisitation durchgeführt hatte. Sämtliche Waffen und seine Rüstung legte sie auf den Wagen zusammen mit einer Notiz, auf der Befehle standen. Das alles schickte sie über den Karren zurück nach Farnelia. Danach machte sie sich auf um den Rest der Höhlen zu sichern. Nach hundert Meter beklemmender Dunkelheit und mehrerer Kurven kam sie in eine große, erleuchtete Kammer, in der ein Luftschiff vor Anker lag. Das Mädchen traute ihren Augen nicht.

Wie konnte ihr nur die Existenz eines ganzen Luftschiffes entgangen sein. Ihr fiel auf, dass ein Vorhang vor der Kammer gespannt war. Vorausgesetzt auf der anderen Seite des Stoffes war ein Abbild der Felsen, aus denen die Schlucht bestand, so war dieser Vorhang der perfekte Schutz vor neugierigen Blicken. Dennoch blieb die Frage offen, wie das Schiff ungesehen hierher geschafft worden war. Mindestens ein halbes dutzend fahrende Händler hätten es während des Fluges sehen müssen und Gerüchte dieser Art verbreiteten sich recht schnell.

Da sie am Ende der Höhle angekommen war, suchte Merle noch einmal nach Lebensformen, doch bis auf die bereits gefangenen gab es keine. Erleichtert atmete sie auf, dennoch bewahrte

sie ein gewisses Maß an Vorsicht, als sie das Schiff betrat.

Eilig begann sie damit, das Quartier des Kommandeurs zu durchsuchen. Nach dem Logbuch zu urteilen, war die Leibwache des Königs von Astoria dieser Kommandeur gewesen. Sie fand jedoch keine schriftlichen Befehle, nichts deutete auf den Zweck dieser Operation hin. Da jedoch Hitomi offensichtlich das Ziel dieser Truppe gewesen war, bestätigten sich die Befürchtungen von Merle. König Aston hatte noch immer reges Interesse an Hitomi, worin dieses auch immer begründet sein mochte.

Sie sah sich weiter um. Wenn sie etwas finden könnte, dass die Verbindung nach Astoria belegen würde, könnte man König Aston vor dem Rat der Alliierten unter Druck setzen, doch die Rüstung war kaum Beweis genug. Was sie brauchte, waren offizielle Briefe, Urkunden oder Ausweise, irgendwas, doch sie fand nichts dergleichen. Das Logbuch enthielt nicht einmal eine Beschreibung des zurückgelegten Kurses. Es war zum aus der Haut fahren. Händeringend fand sie sich mit ihrer Niederlage ab.

Die einzigen verbliebenen Informationsquellen waren die Gefangenen, doch die zu verhören war nicht ihre Aufgabe. Alles was sie jetzt noch tun konnte, war Van die Nachricht über ihr Scheitern mitzuteilen. Mehr nicht.

Warum fühlte sie sich plötzlich wieder so hilflos?

Ihre Gedanken abschüttelnd trat Merle zur Höhle hinaus um die Wachsoldaten, die sie angefordert hatte, einzuweisen. Vielleicht gab das Luftschiff bei einer genaueren Untersuchung doch den einen oder anderen Beleg preis.

Der König Farnelias

Erschöpft lehnte sich Van in die harte Lehne seines Stuhles zurück. Drei gut gekleidete Herren gingen gerade zur Tür hinaus und ließen ihn in seinem Konferenzraum allein. Mit düsterem Blick starrte er auf die Tischdecke, auf der das Symbol Farnelias ein gestickt war, und stützte seinen Kopf mit einer Hand ab. Das Licht des Kronleuchters über ihm schien nun viel düsterer zu sein als vor dem Treffen.

Eigentlich hatte die Konferenz nur aus einer ständigen Folge von Beschwerden bestanden, nach denen Van auch nicht schlauer war als davor. Der Vertreter der Bürger Fiston regte sich furchtbar über die eingeschränkte Lebensqualität auf, die wegen der Seuche herrschte. Der Bauernvertreter Sagos klagte über mangelnden Absatz wegen dem Ausfuhrverbot für Lebensmittel. Josua, der den Tagelöhnern eine Stimme verlieh, sorgte sich wegen der wachsenden Zahl seiner Schützlinge und ihre erfolglose Suche nach Arbeit. Sie alle hatten berechtigte Sorgen, sie alle nahmen ihre Aufgabe ernst und sie alle nervten. Aus sämtlichen Beschwerden hatte Van nicht einen konstruktiven Vorschlag entnehmen können. Er hatte drei Stunden mit ihnen zugebracht, eingepfercht in diesem Raum, der nicht einmal Fenster hatte, und sämtliches Gesprochene ließ sich auf diese drei Punkte zusammenfassen.

Van schlug die Hände ins Gesicht und stöhnte. Die verdammte Seuche traf seine Heimat ins Mark. Wäre Farnelia schon ein gut funktionierender Staat, wären die Auswirkungen nicht sonderlich groß. Nach bisherigen Erfahrungen verbreitete sich die Seuche nur über Körperflüssigkeiten und war obendrein noch heilbar. Aber während der noch anhaltenden Aufbauphase von Farnelia war sie ein bedeutender Störfaktor, der die Entwicklung seines Landes auf lange Sicht gefährdete.

Zu allem Überfluss war eine weitere Sorge dazugekommen.

Hitomi war wieder da. Er hatte es vor ungefähr anderthalb Tagen gespürt. Davor waren ihre Kontaktversuche vom Mond der Illusionen gekommen, danach aber kamen sie von Gaia. Jeder Gedanke, den sie ihm je geschickt hatte, war für ihn wie Wasser in der Wüste.

Lebensnotwendig.

Doch Van hatte schon seit zwei Jahren nicht mehr geantwortet. Aus Sorge, dass sie seine Niedergeschlagenheit hätte spüren können. Dann wäre sie garantiert zurückgekehrt. Er hatte das verhindern wollen, doch nun war sie trotz allem hier. Warum?

Dass Merle ausgerechnet jetzt nicht auffindbar war, war gewiss kein Zufall. Auch die Gedankenverbindung zu ihr schien nicht zu funktionieren, was aber nur bedeutete, dass Merle ihn abschottete und sie somit ein Geheimnis hatte. Nur ihr Luftschiff, die Katzenpranke, hatte er kontaktieren können, mit konventionellen Mitteln. Er war ganz und gar nicht verwundert gewesen, dass sie einen unbekannten Passagier an Bord hatten, und hatte dementsprechende Anweisungen durchgegeben. Was ihn dann aber doch wunderte, war, dass seine Befehle nicht ausgeführt worden sind. Eigentlich hätte Hitomi sofort in die Villa gebracht werden sollen. Warum sie bis zum heutigen Abend hin noch immer nicht in einem der Gästezimmer gelegen hatte, würde Merle ihm ganz genau erklären müssen.

Inzwischen herrschte draußen tiefe Dunkelheit und sie befand sich sicher in der Villa. Sie war auch nicht mehr bewusstlos, sondern schlief tief und fest. Van spürte die sanften Wellen ihrer Aura. Sie waren wie das leise Plätschern eines Gebirgsbaches, der sich seinen Weg bahnte. Ein Klopfen riss Van aus seiner Abgeschiedenheit. Schnell setzte sich Van ordentlich hin.

„Herein!“

Die Tür öffnete sich einen Spalt weit und ein Paar nervöse Augen erschienen.

„Entschuldigt, König Van. Ihr sagtet, dass man euch Bescheid geben sollte, wenn Kommandantin Merle erscheint.“, sagte ein Dienstmädchen durch die Tür hindurch.

„Das habe ich“, bestätigte er betont freundlich.

„Nun, sie ist hier und bittet um eine Audienz.“

„Schick sie herein!“, befahl Van plötzlich, auf äußerste gespannt.

„Sofort, mein Herr.“, antwortete das Dienstmädchen und machte die Tür weiter auf. Merle, die noch immer ihren schwarzen Kampfanzug trug, betrat den Konferenzraum und verneigte sich förmlich.

„Das ist dann alles.“, sagte Van zu Dienstmädchen, die hastig die Tür zu machte. Sofort entspanne Merle ihre Haltung.

„Ist dieses ganze Strammstehen wirklich notwendig?“, fragte Merle kindlich genervt.

„Ja.“, antwortete Van. An seiner Stimme hatte sich nichts geändert. „Ich schätze, du willst mir etwas sagen.“

„Ja, gute Neuigkeiten. Wir, die Leibwache des Königs von Farnelia, haben die Schmuggeleinrichtung der Kopfgeldjäger ausgehoben. Jetzt können sie keine Waffen mehr nach Farnelia reinbringen.“

„Schmuggeleinrichtung?“, hakte Van nach.

„Ja, weißt du, das ist so ein Tunnel mit Schienen und einem Wagen, der mit einem Seil bewegt wird. Der Tunnel ist professionell abgestützt und mit einer Pumpe ausgestattet, die das Wasser entfernt. Alles ziemlich gut durchdacht. Muss wohl alles während dem Wiederaufbau des Walls errichtet worden sein, sonst hätten sie das Material und den Bauschutt nicht unbemerkt wegschaffen können. Die Belüftung hätte allerdings besser sein können. Das war eine Luft da drinnen. Ich konnte kaum atmen, als ich...“

„Wie hast du den Tunnel gefunden?“

„Tja, das ist eine lange Geschichte.“, wich Merle aus.

„Ich hab Zeit.“, informierte Van sie künstlich gelassener Stimme. Eigentlich hatte er es eilig, aber dieses Gespräch hatte Vorrang.

„Nun, weißt du, ich hab mir den Energiestein von Escaflowne aus dem Tresor geholt.“, erklärte Merle.

„Du hast was?“

„Hab ich dich etwa nicht um Erlaubnis gebeten?“, fragte sie unschuldig.

„Nein, aber erzähl ruhig weiter.“, antwortete er trocken.

„Damit bin ich auf den Mond der Illusionen gereist. Unglaublich, was die dort für eine komische Architektur haben, aber das weißt du ja selber.“

„Und?“

„Dort wollte ich erstmal Hitomi suchen gehen. In diesem Augenblick fiel mir erst ein, was für eine Aufgabe das ist. Ich meine, ich wusste doch nur, dass sie auf diesen Planeten war. Wo hätte ich da anfangen sollen zu suchen? Das fragte ich mich, bis mir dann einfiel, dass ich ihren Aufenthaltsort ja spüren konnte.“, tratschte sie munter weiter

„Und?“

„Suchen musste ich zum Glück auch gar nicht. Sie tauchte direkt hinter mir auf, schwitzend und keuchend. Die muss gerannt sein. Einmal um den gesamten Planeten.“

„Und?“, fragte Van genervt.

„Tja, dann haben wir uns erst einmal unterhalten.“

Auf einmal wurde er laut. „Und dann hast du sie nach Farnelia gebracht.“, schrie Van wütend und schlug mit einer Faust auf den Tisch. Plötzlich stand Merle stramm. „Nach Farnelia, obwohl du genau weißt, dass im Moment eine Seuche bei uns herrscht, dass dutzende Kopfgeldjäger hinter ihr her sind und uns nur ganz nebenbei ein neuer Krieg droht.“ Van stand blitzschnell auf und lief umher. „Als krönenden Abschluss hast du sie dann auch noch als Köder für die Kopfgeldjäger benutzt, nur um einen Tunnel zu finden.“

„Und ein Luftschiff. Ich hab die Stärke unser Luftflotte verdoppelt.“, verteidigte sich Merle immer noch unschuldig drein blickend. Van starrte sie mit blutrotem Gesicht an.

„Übertreibe es nicht!“, warnte er sie. „Es gibt Dinge, mit denen spielt man nicht.“ Er war noch immer sauer, aber auch entschlossen Merle ihren Bericht beenden zu lassen, also setzt er sich. „Und weiter?“

Merle entspannte sich etwas, doch sie wagte es nicht, sich ebenfalls einen Stuhl zu nehmen.

„Der Tunnel mündete in einer Höhle, die als Hangar für das Luftschiff diente. Wir wissen noch nicht, wie sie das Schiff dort hinschaffen konnten, ohne entdeckt zu werden. Der Anführer, jetzt kommt das Schärfste, war ein Mitglied der Leibwache von König Aston.“

„Bist du dir sicher?“, fragte Van nach, obwohl die Neuigkeit wenig überraschend war.

„Ich habe die Rüstung gesehen.“, antwortete Merle. „Leider konnten wir keine offiziellen Dokumente finden, die diese Beziehung nach Astoria beweisen.“

„Soll heißen, wir sind wieder am Anfang.“

„Nicht ganz. Das Mitglied der Leibwache und sechs Kopfgeldjäger konnten wir gefangen nehmen.“

„Schön, aber Astoria wird wie üblich auf eine Auslieferung bestehen, um selbst über sie zu richten. Wenn wir weiterhin Hilfslieferungen haben wollen, müssen wir nachgeben.“

Merle biss sich auf die Lippen. Tatsächlich, sie waren wieder am Anfang und kein bisschen schlauer als zuvor. Alles, was sie hatten, war eine Bestätigung ihrer Befürchtungen.

„Warum hast du sie hergeholt?“, wollte Van plötzlich wissen.

„Hä?“, gab Merle überrumpelt von sich.

„Warum bist du das Risiko eingegangen und hast Hitomi hergeholt? Bestimmt nicht nur, um den Kopfgeldjägern was vor die Füße zu werfen, was sie mitnehmen wollen.“, schnauzte er sie an. Der Herrscher war sichtlich mit den Nerven am Ende.

„Nein, ich...ich wollte, dass du jemanden hast, der immer bei dir sein kann.“, erwidert das Katzenmädchen leise und senkte ihren Kopf. Van Herz bröckelte. Er stand langsam auf und legte sanft einen Arm auf ihre Schulter.

„Das kannst du doch machen, Merle.“

„Nein, kann ich nicht!“, erwiderte sie verzweifelt. „Du lässt mich ja nicht! Immer wenn du wütend, enttäuscht oder einfach nur traurig bist, ziehst du dich zurück. Ständig frisst du alles in dich hinein.“ Ihre rechte Hand fuhr von seinen Arm zu seinem Herzen. „Ich weiß, was in deinem Innern vorgeht, aber ich weiß es nur, weil ich dich über die Jahre ausführlich beobachten konnte. Nie hast du mit mir über etwas geredet. Selbst jetzt noch blockierst du deine Aura, damit ich nicht spüren kann, was in dir los ist. Ich halt das einfach nicht mehr aus.“ Über Merles Wange lief eine Träne. „Deswegen...deswegen dachte ich, du würdest wenigstens mit ihr reden.“, schluchzte sie.

„Über was sollte ich mit ihr reden?“, wunderte sich Van.

„Über alles, über deinen Tag, über deine Zukunft, über deine Sorgen, über deinen Frust…“, triefte sie. „Ich dachte, mit Hitomi könntest du reden, da sie dich liebt, du sie auch liebst und ihr beide euch liebt, da dachte ich...“

„Ruhig, Merle, beruhigt dich!“, flüsterte er ihr ins Ohr und drückte sie fester an sich. „Weißt du, ich brauche diesen Panzer. Sonst würde alles über mich herein brechen und ich wüsste vor lauter Gefühle nicht wohin. Ich kann mir das als König nicht leisten.“

„So ein Unsinn!“, fauchte Merle. „Niemand kann so leben, auch ein König nicht!“

„Ich muss.“, sagte er ihr nun eindringlicher. „Bitte, Merle, geh und ruhe dich aus! Du hattest einen langen Tag.“

Merle wischte sich die Tränen vom Gesicht und löste sich aus Vans Umarmung. Ohne ihn anzusehen verließ sie den Raum. Van ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Er war müde. Merles Gefühlsausbruch hatte ihn genauso überrascht wie tief getroffen. Nun musste er eine Entscheidung treffen. Gab er sich oder Farnelia den Vorzug?

Wiedersehen

Der Duft von Rosen empfing Hitomi, als sie aus ihrem Schlaf erwachte. Langsam schlug sie die Augen auf. Über ihr sah sie den nächtlichen Himmel von Farnelia und die Erde gemeinsam mit ihrem Mond. Irritiert richtete sie sich auf und schaute sie sich um. Sie lag zwar in einem riesigen Bett mit edlen Decken, war aber von einem bläulich leuchtenden Horizont mit rot glühenden Wolken umgeben. Nur ihrer linken Seite schimmerte es rötlich durch riesige Vorhänge.

Sie atmete erleichtert auf. Jetzt erkannte sie das Zimmer, in dem sie lag, als die Innenseite einer Kuppel. Die Decke war bis zum Boden hin mit einer täuschend echten Abbildung der Gestirne bemalt worden. Rechts neben sich war das Ende einer Treppe, die hinunter führte. Zur ihrer Linken befand sich eine waagerechte, drei Meter hohe Unterbrechung aus weinroten Vorhängen, hinter denen sich mannshohe Fenster befinden mussten. Hitomi schätzte den Durchmesser des Raums auf stolze zehn Meter. Krüge voll von Rosen rahmten das Bett ein. Ausgiebig betrachtete sie den Sternenhimmel über ihr. Ihr träumerischer Blick blieb schließlich auf der Erde haften.

In ihrem Innern regte sich wieder der Wunsch zurückkehren, gleichzeitig aber sehnte sie sich danach Van nach so langer Zeit endlich wiederzusehen und bei ihm bleiben zu können. Hin und her gerissen von ihren Wünschen und Ängsten ließ sie sich zurück in die Kissen auf das Bett fallen. In ihren Innern geisterte die eine Frage, auf die sie keine Antwort hatte. Schließlich holten leise Schritte Hitomi aus ihrer Dämmerung. Sich müde ihrem Schicksal fügend wartete sie darauf, dass der nächste Schlag kommen möge.

Ein Mädchen stieg die Stufen der Wendeltreppe hinauf und blieb panisch stehen, als sich ihre Blicke dicht über dem Boden trafen. Sie trug ein beiges Kleid und eine weißen Schürze ohne jeglichen Schmuck. Nach einer Schrecksekunde trippelte die junge Dienerin die letzten Stufen hinauf, rannte zu den Vorhängen und riss sie ruckartig auf. Zum Schutz vor dem grellen Sonnenlicht hob Hitomi ihren linken Arm, dann erhaschte sie einen Blick auf die Dächer von Farnelia. Sie befand sich also in der Villa auf der Palastebene. Nur diese thronte weit genug über der Stadt, um diesen Ausblick zu ermöglichen.

Das Mädchen drehte sich um und sah sie mit fragendem Blick an. Hitomi lächelte zurück und hoffte inständig, dass die Bedienstete keine Ahnung davon hatte, wer vor ihr lag. Das letzte, was sie jetzt brauchen konnte, war ein vergiftetes Frühstück. Sie wollte sie gerade nach ihrem Namen fragen, da schien dem Mädchen etwas einzufallen. Wie vom Blitz getroffen rannte sie zur Wendeltreppe und verließ das Zimmer.

Langsam war es Hitomi Leid ständig allein und im Ungewissen gelassen zu werden, doch die beiden Verbände an ihren Beinen fesselten sie ans Bett. Ihr Blick schweifte von der Treppe über das Himmelszelt zurück zum Fenster. Mittlerweile hatten sich ihre Augen an das Licht der aufgehenden Wintersonne gewöhnt, die nun unbehindert in ihr Zimmer schien. Zwei Reihen aus kleinen, leblosen Bäumen flankierten die Sicht auf den ebenso kargen Garten. Dahinter blitzten die Dächer Farnelias im kalten Schein der Sonne. Alles in allem doch ein recht herrlicher Anblick.

„Du bist also zurück...Hitomi.“, sprach sie eine ihr wohlbekannte und lang ersehnte Stimme an. Sie war wie erstarrt und begann sie sich zu schämen. So lange hatte sie auf diesen Augenblick gewartet, jetzt aber hatte sie nicht einmal den Mut sich umzudrehen.

„Van, bist du das?“, fragte leise.

„Wer sonst?“, antwortete ihr die Stimme abfällig.

Mit schweren Schritten näherte sich die Person hinter ihr. Wie hatte sie ihn überhören können? Warum hatte sie ihn nicht spüren können, wo er doch die ganze Zeit in ihrer Nähe gewesen war? Selbst jetzt, wo er nur ein paar Meter von ihr entfernt war, konnte sie seinen Geist nicht erfassen. Es war so, als würde er gar nicht existieren.

Langsam rückte er in ihr Sichtfeld. Van vollendete seinen behäbigen Gang, bis er direkt am Fenster und mit dem Rücken zu ihr stand. Ausgiebig genoss er die herrliche Aussicht, während Hitomi ihn beobachtete. Ihr stockte der Atem. Sein ehemals wildes, langes Haar war nun nur noch wenige Zentimeter lang und stand aufrecht wie schwarze Stacheln eines Igels. Gekleidet war er in einem dunkelblauen, mit goldenen und weinroten Mustern bestickten Gewand. Seine aufrechte und stolze Haltung strotzte nur so vor Kraft. Das Schwert an seiner Seite verstärkte ihren Eindruck nur noch.

„Wunderschön, nicht wahr, was aus Farnelia geworden ist?“, bemerkte Van, doch Hitomi hörte es kaum. Außer sich vor Bewunderung richtete sie ihren Oberkörper auf ohne ihren Blick von ihm abzuwenden.

„Du hast dich verändert, Van.“, lobte sie ihn überschwänglich. Kurz drehte er sich zu ihr um, begutachtete sie und stellte dann nüchtern fest: „Du nicht.“

Ärger machte sich in Hitomi breit, welcher ihr wieder einen klaren Kopf bescherte. Doch brauchte sie nur einen Augenblick um festzustellen, dass er im Grunde Recht hatte. Noch immer hatte sie die gleiche Frisur und sie war in den letzten drei Jahren kaum gewachsen. Van, so schätzte sie, musste sie um mindestens eine Kopflänge überragen. Nur ihre Oberweite war größer geworden, aber nicht so sehr, dass es im Nachthemd auch hervorstach. Trotzdem hatte es ihm verdammt nochmal aufzufallen! Van bekam von alledem nichts. Er ignorierte sie durch das Fenster.

„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“, merkte er trocken an.

„Welche Frage?“

„Gefällt dir das, was aus Farnelia geworden ist?“, wiederholte Van. Hitomi schaute zum Fenster hinaus und ließ den Anblick von den funkelnden Dächern auf sich wirken.

„Ja, sehr sogar. Obwohl ich bisher das meiste nur aus der Ferne bewundern durfte.“, antwortete Hitomi.

„Was ist seit deiner Ankunft passiert?“

Hitomi hielt inne. Plötzlich brachen all die unangenehmen Erinnerungen über sie hinein.

„Ich möchte darüber lieber nicht reden, Van. Außerdem weißt du sicherlich mehr als ich.“, sagte sie mit mühsam kontrollierter Stimme.

„Trotzdem möchte deine Version der Geschehnisse hören.“, informierte er sie. „Es könnte für die Ermittlungen sehr wichtig sein.“

Hitomi gab den Widerstand auf und begann zu erzählen:

„Erst landeten Merle und ich genau auf der gleichen Stelle wie wir damals. Erinnerst du dich? Es war die Wiese, die so herrlich nach Gras duftete. Na ja, irgendwie logisch. Dann wurde ich von einem Zaibacher Guymelef gefangen genommen, der mich in ein Waldlager voll von schwer bewaffneten Soldaten brachte. Wo das Lager ist, weiß ich nicht. Irgendwo im Wald. Ich wurde auf einem Karren geworfen, mit Stroh zugedeckt und der Karren setzte sich in Bewegung. Wie lange die Reise ging, weiß ich nicht mehr, doch schien die Sonne, als Merle mich rettete.“ Bei der Erinnerung an Merles Rettungsaktion ging Hitomi die Luft aus, doch schließlich schluckte sie den Alptraum runter und sprach weiter. „Ich schlief dann ein. Als ich aufwachte, befand ich mich auf einem Luftschiff, das anscheinend unterstellt Merle war.“

„Das war die Katzenpranke.“, informierte Van sie. „Es ist ein Geschenk von Astoria und wurde uns zusammen mit Folkens Guymelef übergeben. Beides habe ich Merle zur Verfügung gestellt, damit sie ihren neuen Aufgaben besser nachgehen kann.“

Hitomi lief es kalt den Rücken hinunter.

„Wie auch immer, die Katzenpranke setzte mich in Farnelia ab und ich wurde in eine Halle voll von Seuchenopfer gebracht.“

Van schnaubte empört.

„Wie kommst du denn darauf?“

„Der Träger, übrigens der gleiche Typ, der mich später entführte, sagte, dass ein Seuchenproblem herrsche.“

„Aber die Seuchenopfer werden im Krankenhaus behandelt. In der Markthalle habe ich ein provisorisches Krankenhaus für normale Fälle einrichten lassen.“, widersprach Van beleidigt.

„Entschuldige. Das wusste ich nicht.“, gab Hitomi kleinlaut zu.

„Du scheinst ja sehr viel Vertrauen in mich zuhaben, wenn du denkst, dass ich derart schlampig mit einer Seuche umgehe.“, warf Van ihr vor. Noch immer sah er zum Fenster hinaus ohne sie direkt anzusehen.

„Jedenfalls wurde ich dort während der Nacht betäubt und fand mich daraufhin in diesem Zimmer wieder. Vielleicht kannst du mir jetzt mal erklären, was die Typen von mir wollten.“, fügte Hitomi streng hinzu.

„Auf dich ist ein Kopfgeld ausgesetzt worden. Von wem und wie hoch es ist, ist leider nicht bekannt.“

„Wer sollte ein Kopfgeld auf mich aussetzen?“, wunderte sich Hitomi.

„Keine Ahnung.“, antwortete ihr Van. „Es ist aber nicht das erste Mal. Abgesehen von den Zaibacher Versuchen gab es doch auch eine Entführung in Astoria, aus der ich dich befreien musste.“

Hitomi zog eine Grimasse angesichts der aufkeimenden Erinnerungen. Gefangen in dem engen Unterseeboot zusammen mit schuppigen Entführern. Die waren allerdings immer noch besser gewesen als dieser perverse Träger.

„Warum bist du überhaupt hierher gekommen?“, erkundigte sich Van.

„Weil Merle mich darum gebeten hat. Du hast sie doch geschickt. Ich soll bei den Alliierten vermitteln.“

„Sieh nach draußen! Was siehst du?“, forderte er Hitomi auf.

„Ich sehe Farnelia.“, antwortete sie verwirrt.

„Allein in der Stadt leben zehntausend Einwohner, die hauptsächlich die Getreideerzeugnisse von zehnmal so vielen Bauern verarbeiten und handeln. Das Getreide ist unser wichtigstes Exportgut. Ohne uns würde die Lebensmittelversorgung von Chuzario, Astoria und Zaibach ernsthaft in Gefahr sein. Alles in allen sind das noch einmal hunderttausende Menschen.“, erklärte Van.

„Warum erzählst du mir das?“, fragte Hitomi ratlos.

„Ich habe Merle bestimmt nicht befohlen dich zu holen. Deine Anwesenheit hier in der Villa De Farnel gefährdet das Leben jedes einzelnen von ihnen?“

„Hä?“

„Du hast doch sicherlich schon von den Gerüchten gehört, dass die Zaibacher Kriege allein dein Werk gewesen sein sollen.“

„Ja, hab ich.“, antwortete Hitomi verstimmt. „Aber du weißt, dass das nicht wahr ist.“

„Ich schon, aber wie sollen wir das beweisen? Wir waren überall, wo auch der Krieg war. Gerade, als du kamst, fielen die Zaibacher über Farnelia her. Als wir dann in Palas Unterschlupf suchten, griffen uns auch dort Dilando an. Dann gingen wir nach Fraid, das kurz darauf auch zerstört wurde. Nachdem wir nach Palas zurückkehrt waren, wüteten die Zaibacher wieder dort, nur mit dem kleinen Unterschied, dass sie deine Auslieferung ausdrücklich verlangten. Schließlich folgte ein weltweiter Krieg.“

Hitomi schwieg verdrossen.

„Du siehst, es ist gar nicht so abwegig zu glauben, du seist an allen Schuld. Außerdem sorgt deine Abstammung vom Mond der Illusionen zusätzlich für Verunsicherung bei den Leuten. Langsam fangen die Herrscher an ihrer Bevölkerung zuzuhören und der Pöbel will Blut sehen. Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis dich der Rat der Alliierten offiziell ächtet. Dann kann selbst ich dich nicht mehr schützen. Würde ich es dennoch tun, käme es zum Krieg und hunderttausende Menschen müssten Hunger oder Tod leiden.“

Van musterte Hitomi, die sich inzwischen völlig verunsichert zusammenkauerte. Mit einer lässigen Bewegung warf er ihr einen rosafarbenen Anhänger hin. Hitomi wollte es nicht glauben. Sie hatte ihm diesen geheimnisvollen Edelstein als ein Andenken geschenkt und er warf ihr das wertvolle Erbstück einfach so achtlos vor die Füße.

„Tu uns allen einen Gefallen und kehre dorthin zurück, wo du hingehörst!“, forderte Van sie nachdrücklich auf und wandte sich demonstrativ ab. Eigentlich war ihr zum Heulen zumute, doch keine einzige Träne traute sich hinaus. Still nahm sie den Anhänger ihrer Oma und hielt ihn vor ihr Gesicht. Sie wollte nur noch nach Hause und in den Armen ihrer Mutter liegen. Vielleicht konnte sie dann weinen.

Augenblicke vergingen.

„Es geht nicht.“, wimmerte die verzweifelte Frau mit fast tonloser Stimme. Sie verstand es nicht. Obwohl sie alles hatte, die Kette und den Willen, erschien keine Lichtsäule, die sie nach Hause trug.

Bestimmt hätte sie die schnelle Bewegung bemerkt, mit der Van eine Hand über seine Wangen strich, doch ihr Blick haftete auf der Bettdecke vor ihr. So schnell wie er nur konnte, stürmte der König aus dem Zimmer und ließ sie allein. Hitomi blieb regungslos sitzen. Woher ihr Herz die Kraft zum Schlagen fand, war ihr ein Rätsel.

Der geheime Auftrag

Ein eisiger Wind zog über die flache Ebene hinweg und ließ Merle in ihrem langen Mantel erschaudern. Um sie herum ragten leere Stämme und karges Gestrüpp aus dem felsigen Boden. Sie sah auf das von weißen Steilwänden eingerahmte Tal herab, das Farnelia beherbergte.

Zwar hatte Van ihr befohlen zu schlafen, doch ihr war ganz und gar nicht danach zumute. Ihr Herz raste. Ihre Krallen waren ausgefahren und kratzten bedrohlich über ihr eigenes Fell. Am liebsten würde sie ihre ganze Wut die Welt hinaus schreien, nur ihre in den letzten Jahren hart erarbeitete Disziplin hielt sie davon ab. Doch ihr Zorn gärte weiter. Merle verschränkte die Arme, starrte zur Stadt hinaus und grübelte. Wieso konnte sich dieser Trottel nicht eingestehen, dass er ein Problem hatte? Er war kurz vor dem Zusammenbruch und steigerte sich nur noch mehr in seine Arbeit.

Es hatte mal eine Zeit gegeben, da war alles gut gewesen. Die Zaibacher Gefahr war gebannt, die Bevölkerung Farnelias war in mal größeren, in mal kleineren Gruppen zurückgekommen und hatte begonnen ihre eigene Existenz zusammen mit der Stadt wieder aufgebaut. Damals war Hitomi noch an Vans Seite gewesen, nachdem er sie in mitten der Kriegswirren vom Mond der Illusionen abgeholt hatte. Er war damals voller Hoffnung gewesen und hatte mit einem Lächeln in die Zukunft geschaut. Vielleicht hatte Hitomi deshalb das Gefühl gehabt ihn verlassen und in ihr eigenes Leben zurückkehren zu können.

Inzwischen hatte sich sein Optimismus mit dem seines Volkes verflüchtigt und wurde durch harte Fakten ersetzt. Und die sahen nicht gut aus. Die Zeiten wurden nicht besser, ein Schlag folgte dem anderen und seine Untertanen wollten Antworten auf die Probleme ihrer Zeit. Am besten gestern. Sie drängten so sehr darauf, dass er nicht einmal die Zeit fand Lösungen überhaupt zu suchen. Merle tat es jedes Mal im Herzen weh, wenn sie ihn lange nach Mitternacht an seinem Schreibtisch sah und er am nächsten Morgen wieder dort saß. Oder immer noch. Wer weiß das schon?

Van sperrte sein Umfeld aus seinem Leben konsequent aus. Entgegen den Standards seines Standes zog er sich immer alleine an oder aus. Er wusch sich selbst. Er legte sogar die Sachen für die Wäsche raus, so dass man sie einfach nur noch abholen musste. Er holte sein Essen aus der Küche, er aß allein, er brachte das dreckige Geschirr wieder zurück, er trainierte allein. Außerhalb seiner Termine, Konferenzen und staatsmännischen Pflichten war er immer allein.

Für sein Volk jedoch war er immer präsent...durch sein Handeln. Seinen Einfluss konnte man spüren, wenn zum Beispiel ein Waisenhaus aus heiterem Himmel neue Betten samt Wäsche bekam. Irgendwie bekam er es immer mit, wenn in Farnelia etwas so schlimm wurde, dass es nicht mehr zum Aushalten war. Selbst wenn es nur Kleinigkeiten waren.

Ein Teil seines Geheimnisses war mit Sicherheit das Netzwerk der Händlerallianz. Dryden Fassa war die letzten Jahre auch nicht untätig geblieben und hatte eine Art Vereinigung von Bürgern und Händlern geschaffen, die mittels Informationen und sozialen Projekten für Stabilität und Frieden sorgen wollten. Das Kommunikationsnetz dieser Allianz hatte sich innerhalb weniger Jahre über einen Großteil Gaias ausgebreitet und in der Herrscher Villa Farnelias befand sich ein Knoten, der Informationen empfing und weiter schickte. Diese Art staatliche Unterstützung war ziemlich selten, das Netzwerk selbst so etwas wie ein offenes Geheimnis. Merle wollte sich gar nicht vorstellen, über wie vielen Berichten Van täglich brütete. Antworten schien er trotzdem keine zu haben.

Er war einsam. So viel stand fest. Sie selbst konnte ihm das Alleinsein aber nicht abnehmen. Er hatte sie schon unzählige Male abblitzen lassen und sie versuchte zumindest sich keine Illusionen mehr zu machen. Er liebte sie nicht. Und um ihn sich ohne gegenseitige Liebe krallen zu können, bräuchte Merle blaues Blut. Andere Argumente zählten nicht. Die Pflicht gegenüber seines Volkes hielt in einem Käfig, dessen Tür offen stand. Nur einmal sollte er an sich selbst denken! Sein Glück lag in seinem Bett und er müsste sie sich nur noch schnappen. Sie würde bestimmt nicht Nein sagen.

Plötzlich durchschnitt ein Beben Merles Gedanken. Vans Gefühle, vorher sorgfältig abgeschirmt, waren auf einen Schlag offen wie ein Scheunentor. Aus ihm brachen die tiefe Sorge um einen einzigen Menschen hervor, ebenso wie die große Sorge um sein gesamtes Volk und die Sehnsucht nach etwas, von dem er bisher nur zu träumen wagte. Merle wurde von diesem intensiven Kontakt fast hinweg gefegt. Noch nie hatte sie eine solch heftige Reaktion ihres geliebten Königs erlebt. Ein weiterer, überflüssiger Beweis für sie, dass Van ohne Hitomi so verloren war wie ein Säugling ohne seine Mutter. Sie schüttelte ihren Kopf um wieder ein klares Bild vor Augen zu haben und versucht tief durch zu atmen. Nachdem sie ihre Gedanken beisammen hatte, lief sie, so schnell wie ihre Beine sie trugen, den Pfad hinunter zum Palast.

Dort angekommen platzte sie entgegen aller Etikette unvermittelt in Vans Zimmer hinein. Sie sah ihn am Fenster sitzen und ein Schreck fuhr durch ihre Glieder. Er wirkte versteinert, so leblos wie nackter Fels. Doch der Schein trog. Seine Aura pulsierte, heftig, der Ruf nach Hilfe war fast greifbar. In seinem Innern wirbelte ein Tornado und er machte nicht die geringsten Anstalten seine Emotionen zu verbergen.

„Van?“, sprach Merle ihn vorsichtig an. Er zeigte keine Reaktion. „Van, hörst du mich?“, fragte sie nun laut und deutlich, doch es half nichts. Davon ausgehend, dass die alt bewährte Methode nicht nur bei Hitomi funktionierte, positionierte Merle sich neben ihn und gab ihn eine kräftige Ohrfeige. Jedenfalls versuchte sie es, doch Van fing ihre Hand ab und hielt in seinem stahlharten Griff.

„Was soll das, Merle?“, fuhr er sie gereizt an. „Ich habe keine Zeit für deine Spielchen.“

„Aber Zeit dich im Selbstmitleid zu suhlen hast du. Was ist mit dir los?“, erwiderte Merle trotzig und riss sich los. Van wandte sich wieder dem Fenster zu.

„Das geht dich gar nichts an.“, wiegelte er ab, woraufhin sie endgültig genug von seinem Schweigen hatte.

„Hey, du großer König von Farnelia! Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“

„Ich hör dich auch so.“

„Ach ja, dann hör dir das hier an!“, sagte Merle und brüllte, so laut sie konnte, direkt in sein Ohr. Van kippte samt Stuhl um und fiel zu Boden.

„Sag mal, spinnst du?“, schrie er sie halb taub an.

„Nein, aber du spinnst wohl. Du denkst, du könntest deine beste Freundin einfach aus deinem Leben verbannen.“

„Beste Freundinnen hören sich aber anders an.“, belehrte er sie mürrisch.

„Woher willst du das wissen? Du hattest nie eine andere außer mir.“

„Als was würdest du dann Hitomi bezeichnen?“

„Als Deine Freundin.“, antwortete sie schlicht.

„Wo bitte schön ist da der Unterschied?“, wunderte sich Van.

„Keine Ahnung. Sag du es mir!“

„Ich weiß nicht, was du von mir willst.“

Genervt rappelte er sich auf.

„Ich will, dass du mir und dir gegenüber endlich mal ehrlich bist. Liebst du Hitomi oder nicht?“, fragte Merle ihn, worauf Vans Gesicht eine merkliche Rotverschiebung aufwies.

„Das geht dich nichts an!“

„Ich habe die Laken gesehen, in die du gepinkelt hast. Wir haben zusammen gebadet. Den ersten Kuss haben wir miteinander geteilt. Scheiß drauf! Wenn du Hitomi nach der Drachenprüfung nicht mitgebracht hättest, hätte ich dich noch in der selben Nacht entjungfert. Du kannst so was von drauf wetten, dass mich das was angeht!“, erwiderte sie aufbrausend.

„Ich habe versucht sie zur Rückkehr auf den Mond der Illusionen zu bewegen, aber es hat nicht geklappt. Beantwortet das deine Frage?“, antwortete Van beinahe hilflos.

„Nein, tut es nicht! Warum hast du sie nicht nach Hause geschickt, so wie beim letzten Mal.“, hakte Merle nach.

„Weil ich es nicht über mich bringen kann, sie gehen zu lassen.“, klagte Van verzweifelt, doch Merle war gnadenlos.

„Warum willst du sie nicht hier lassen, wo sie hingehört?“

„Wenn Astoria von ihrer Anwesenheit erfährt, muss ich sie ausliefern oder einen Krieg in Kauf nehmen. Du weißt, dass ich beides nicht kann.“

„Sie bedeutet dir also mehr als tausende Menschen. Warum?“

Van konnte es nicht fassen. Wie konnte man so begriffsstutzig sein.

„Willst du es denn immer noch nicht verstehen?“, fragte er ungläubig.

„Vielleicht will ich, dass du es einfach sagst, was du für sie empfindest.“

„Lass mich in Ruhe!“, schrie er Merle außer sich an.

Ihr riss der Geduldsfaden.

„Schön!“,rief sie und stapfte zur Tür.

Bevor sie diese jedoch öffnen konnte, hielt Van sie auf. Aufrecht und mit strengem Gesicht stand er vor ihr. Sie wusste, was jetzt kam. Ein Befehl.

„Merle, du bist hiermit vom Kommando der Leibwache entbunden. Ab sofort wirst du die Leibwächterin und Betreuerin von Hitomi sein! Du folgst ihr auf Schritt und Tritt, Tag und Nacht! Wenn sie schläft, wirst du an ihrem Bett Wache halten!“

„Wann soll ich dann schlafen?“, fragte sie ungläubig.

„Du kannst die Leibwache mit einspannen, aber nur Leute, denen du völlig vertraust. Außerdem unterstelle ich dir Siri.“

„Wer wird meinen Posten bei der Leibwache übernehmen?“

„Ich dachte da an Gesgan.“

„Vertraust du ihm?“, wunderte sich das Katzenmädchen.

„Soll ich?“

Merle ging in sich und wog ihre Antwort sorgfältig ab.

„Er hat dein Vertrauen auf jeden Fall verdient, aber er ist noch immer ein Gefangener“, gab sie zu bedenken.

„Ich werde ihn umgehend begnadigen.“, informierte Van sie und wandte sich ab. „Hitomi ist in der Sternenkuppel. Dein Auftrag beginnt jetzt.“

Merle ging ohne weiteren Kommentar zur Wendeltreppe, die von Vans Zimmer in den Raum darüber führte. Bevor sie dort ankam, sprach Van sie abermals an.

„Eine Sache noch. Sobald Hitomi wieder laufen kann, lässt du sie verschwinden! Ich darf keine Ahnung davon haben, wie du das anstellst!“

„Was soll ich mit ihr machen?“ Merle konnte gar nicht anders als scherzhaft zu überlegen, wo sie die Leiche verstecken würde.

„Geh mit ihr und Siri auf Reisen! Findet etwas über das Kopfgeld raus, versucht Hitomi nach Hause zu schaffen oder macht einfach die Gegend unsicher! Es ist mir egal, solange es außerhalb von Farnelia stattfindet, euch keiner erkennt und keinem von euch etwas passiert. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

„Ist diese Mission offiziell?“, erkundigte sich das Katzenmädchen.

„Ich werde jede Kenntnis abstreiten.“, informierte sie Van.

Merle seufzte. Es gab Tage, da hasste sie ihre Arbeit.

„Du hast Glück, ich kenne deine Beweggründe. Andernfalls würde ich jetzt anfangen jämmerlich zu heulen.“

„Dann wäre das ja geklärt.“, erwiderte er trocken und stürmte hinaus.

Merle stieg leise fluchend die Wendeltreppe hinauf. Oben angekommen, ließ sie sich einen Augenblick lang von dem an der Decke gemalten Himmel verzaubern, richtete dann aber ihre Aufmerksamkeit auf die zusammengekauerte Gestalt in der Mitte des Raumes. Langsam, fast lautlos, kam sie auf das Bett zu und setzte sich vorsichtig hin.

Zweifellos hatte Hitomi den Streit eben mitbekommen. Insgeheim hoffte Merle, dass wenigstens der letzte Teil des Gesprächs hier oben unverständlich gewesen war. Hitomi reagierte nicht auf ihre Anwesenheit. Das Katzenmädchen freut sich schon darauf das letzte aller Mittel anwenden zu dürfen. Die Ohrfeige.

Doch als sie Hitomis Schulter berührte, fragte diese aus heiterem Himmel und völlig niedergeschlagen: „Was willst du?“

„Wie geht es dir?“, fragte ihre Leibwächterin fürsorglich.

„Geh weg! Ich will allein sein.“, antwortete Hitomi heiser.

„Oh nein!“, lehnte Merle ab und versuchte alles an sonnigem Gemüt zu mobilisieren, was sie hatte. „Als ich dich das letzte Mal mit Liebeskummer allein gelassen habe, wurdest du entführt. Dieses Mal werde ich dich beschützen.“

Hitomi schnaubte verächtlich.

„Ich will deinen Schutz nicht.“, sagte sie mit einer Bestimmtheit, die das Mädchen tief traf, doch sie ließ sich abermals nichts anmerken.

„Willst du etwas essen? Ich lasse uns etwas bringen.“, fragte sie genauso fröhlich wie vorher.

„Hab keinen Hunger.“, antwortete die junge Frau störrisch.

„Aber so kannst du dich nicht draußen sehen lassen. Lass mich dir beim Umziehen helfen!“

„Ich kann nicht gehen. Warum sollte ich mir etwas anziehen?“

„Aber ich kann dich tragen. Wie wäre es damit?“, konterte Merle. „Außerdem, wenn man sich nicht schick macht, kann man sich auch nicht wohl fühlen.“

„Hältst du eigentlich irgendwann mal die Klappe.“, erkundigte sich Hitomi genervt, aber Merle ließ sich den etwas munteren Unterton nicht entgehen und schöpfte neue Hoffnung.

„Nur wenn ich mit meiner besten Freundin an der frischen Luft bin.“

Ein eisiger Entschluss

Kleine Wolken aus heißer Atemluft stiegen vor Hitomis Augen zum eisig blauen Himmel hinauf. Sie lag zugedeckt auf einer Bank. Mehrere Gewänder und eine dicke Robe schützten sie vor der Kälte. Zu den beiden Verbänden um ihre Füße herum war noch ein dritter über ihrer rechten Gesichtshälfte dazugekommen. Nur das Auge war noch zusehen. So wie Hitomi dort lag, tat sie Merle leid. Natürlich trug Hitomi den Verband im Gesicht nur, damit man sie nicht erkennen konnte, doch spiegelte er in Merles Augen das wieder, was die Seele dieser sonst so starken Frau am dringendsten benötigte.

Heilung.

Ihr niedergeschlagener Gemütszustand ließ die Aura schwach und unregelmäßig flackern, was Merle schier zur Verzweiflung trieb. Sie überlegte krampfhaft, was sie jetzt tun oder vielmehr sagen sollte. Immer wieder legte sie sich Worte zurecht und verwarf diese dann als entweder hohl oder sinnlos. Backpfeifen verteilen wollte sie auch nicht. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dieses Mal würde es nichts nützen. Noch einmal begann sie Wort an Wort zu Reihen und wieder kam nichts Vernünftiges dabei raus. Merle wollte ihr schon vorschlagen, sie zurück in die Villa zu tragen, da sprach Hitomi sie zögernd an.

„Merle, dir hat Van doch einige Fähigkeiten der Atlanter beigebracht. Was kannst du alles?“

Ein weiteres Mal scheiterte das Katzenmädchen beim Ordnen ihrer Gedanken.

„Nun, dass ich Lichtsäulen herbeirufen kann, hast du ja schon gesehen.“, wich sie ein allumfassenden Antwort aus.

„Könntest du mich nach Hause schicken?“, fragte Hitomi hoffnungsvoll, doch sie schüttelte den Kopf.

„Ich habe dich nicht ohne Grund nach Farnelia gebracht. Ich will nicht, dass du gehst.“

„Warum?“, fragte Hitomi verzweifelt. „Alles, was ich im Moment tue, ist mich zu verstecken. Ich bin ein Belastung für Farnelia und stehe Van nur im Weg. Er hat mich darum gebeten zurückzukehren!“

„Er lügt.“, verkündete Merle und ließ daran keinen Zweifel. „Van braucht dich mehr, als er es sich eingestehen will. Es passt mir zwar nicht, aber nur du hältst ihn noch aufrecht. Im Moment bist du ein Risiko, aber ohne dich wird er zusammenbrechen, früher oder später. Dann wird Farnelia nicht einmal mehr einen König haben.“

„Wenn es so wäre, wenn wir immer noch nahe stehen, müsste ich seine Präsens immer und überall spüren können. Ich konnte ihn nicht einmal mehr wahrnehmen, als er direkt vor mir stand!“, hielt Hitomi dagegen. Merle lachte bitter.

„Das hat einen ganz anderen Grund.“

„Und der wäre?“

„Seit wann kannst du Van auf diese Weise wahrnehmen?“

Hitomi brauchte einen Augenblick zum Nachdenken.

„Seit der Schlacht von Rampant. Ich spürte deutlich seine Freude während dem Kampf und sein Vergnügen am Töten. Ich weiß nicht wieso, aber von da an konnte ich seine Präsenz in mir fühlen, sogar als ich auf der Erde war.“

„Wie fühlte er sich an?“

Wieder brauchte sie einen Moment.

„Wie eine Flamme, die in meinem Herzen brannte. Je näher ich ihm war, desto wärmer wurde sie. Manchmal schickte er mir auch ein Zeichen. Ich wusste ganz genau, dass er an mich dachte.“

„Du sagtest, dass du seine Gefühle während der Schlacht spüren konntest. Kam das noch mal vor?“

„Ja, zum Beispiel spürte ich seine Trauer um Folkens Tod.“

„Wie fühlte sich das an?“

„Die Flamme war größer als je zuvor, obwohl er sehr weit weg war. Aber sie fühlte sich kalt an und flackerte heftig.“

Merle lächelte zufrieden, was Hitomi sehr verunsicherte.

„Was ist?“, wollte sie wissen.

„Was du fühlst, ist eine Fähigkeit des Drachenvolkes, die Van neu entdeckt hat.“

„Was für eine Fähigkeit?“

„Direkt nach deiner Rückkehr zum Mond der Illusionen, geriet der Wiederaufbau von Farnelia ins Stocken. Van hatte alle Hände voll zu tun, den Betrieb aufrecht zu erhalten. Dennoch nahm er sich jeden Tag drei Stunden Zeit, in denen er meditierte. Eure Trennung hatte ihn ganz schön mitgenommen, also suchte er einen Weg sie zu überwinden.“

„Wie?“, wunderte sich Hitomi.

„Er wollte bei dir sein.“, offenbarte ihr Merle und legte dabei viel Gewicht in ihre Worte. „Er wollte wissen, was du fühlst. Deine Präsenz zu spüren, so wie du es getan hast, reichte ihm nicht und so entdeckte er die Aura der Seelen.“

„Die Aura der Seele?“

„Jedes Wesen mit einem Bewusstsein gibt zu jeder Zeit ein bisschen Energie durch seine Gefühle in Form von Gedankenenergie ab. Wir tauchen praktisch in einem Meer von Gedankenenergie und die Wellen in diesem Meer können wir spüren. Die meisten Menschen können jedoch nur unbewusst die Gefühle von anderen wahrnehmen, die ihnen sehr nahe stehen und gerade besonders heftig reagieren. Aber mit dem richtigen Training kann jeder dieses Meer um sich herum fühlen und die Eindrücke bewusst verarbeiten.“

„Das ist ja alles gut und schön, aber warum kann Vans Aura nicht mehr spüren?“, fragte Hitomi ungeduldig.

„Weil er sich abschottet. Van legt eine Hülle auf seine Haut, die seine eigene Gedankenenergie stoppt.“

„Weißt du, wie das geht?“

„Natürlich.“, brüstete sich Merle.

„Zeig es mir!“, verlangte Hitomi eifrig.

„Warum willst du das wissen?“, äußerte sich das Katzenmädchen besorgt.

„Weil ich nicht will, dass du oder Van meine Gedanken ließt wie ein offenes Buch. Niemand darf das.“

Merle biss sich auf die Lippen. Die Aura ihrer Freundin war für sie die beste Quelle an Wissen über ihren Gemütszustand und ihrer Gesundheit. Sie durfte dieses Mittel nicht aus der Hand geben.

„Man kann deine Gedanken nicht lesen, nur deinen Gemütszustand.“, versuchte sie die aufgebrachte Frau zu beruhigen.

„Das ist schlimm genug!“

„Ich kann es dir nicht beibringen.“

„Und warum nicht?“, hakte Hitomi nach.

„Weil dir das Wissen dafür fehlt.“, behauptete die Leibwächterin und wollte es dabei belassen, doch Hitomi gab sich damit nicht zufrieden.

„Dann sag mir, was ich dafür wissen muss!“, forderte sie.

„Hast du geringste Ahnung, was passiert, wenn du es kannst?“, fuhr Merle sie an. „Deine Präsenz ist lebensnotwendig für Van. Zu fühlen, was du fühlst, ist wie Atmen für ihn. Das einzige, was ihn in den letzten Jahren Mut gemacht, war deine Gegenwart.“

„Also spioniert er mich aus und verschließt sich mir gegenüber!“, konterte Hitomi wütend. „Warum will er mich denn nicht an seiner Seite haben, wenn ich ihm so wichtig bin?“

„In Farnelia bist du in Gefahr und er kann dich nicht beschützen, ohne sein Volk zu gefährden. Er wusste, du würdest kommen, wenn du wüsstest, wie es schlecht es ihm geht.“, verteidigte Merle ihn mit ganzem Herzen. „Also hat er sich abgeschottet und dir zugesehen. Ja, er ist ein Idiot, der nur an die Sicherheit von anderen denkt und deshalb falsche Entscheidungen trifft. Aber er ist ein liebenswerter Idiot.“

„Warum hast du mich dann hierher gebracht?“, fragte Hitomi verwirrt. „Er will mich doch gar nicht hier haben!“

„Er liebt dich!“, antwortete Merle schonungslos. Hitomi erstarrte. Unter der Decke fuhr ihre Hand zu dem Anhänger ihrer Großmutter. Selbst durch die dicken Stoffe hindurch spürte sie die Wärme, die von ihm ausging. Oder bildete sie sich dieses mollige Gefühl nur ein? Das Mädchen fuhr fort: „Und er braucht deine Liebe! Du musst auf ihn acht geben! Mich lässt er nicht mehr. Ich werde dich beschützen, während du ihn vor sich selbst schützt. Denk darüber nach! Du weißt ja, wie du mich erreichen kannst, wenn du wieder rein willst.“

Merle ging und ließ Hitomi im Chaos ihrer Emotionen allein.

Auf einmal war alles wieder offen. Liebte Van sie wirklich noch? Konnte sie Merles Worten trauen? Unsicherheit fraß sich unbarmherzig durch ihre Gedanken. Nach allem was passiert war, konnte sie nicht glauben, dass sie Van immer noch etwas bedeutete. Sie war so oft in Gefahr gewesen, seitdem sie nach Gaia zurückgekehrt war. Nicht ein einziges Mal hatte er sie gerettet. Stets war nur Merle zur Stelle gewesen. Doch hieß das, dass Van sie nicht mehr liebte? Immerhin tobte gerade eine Seuche in Farnelia und er hatte mit Sicherheit viel zu tun. Entschuldigte dies sein Verhalten?

Nein, entschied Hitomi. Es gab keine Entschuldigung dafür, dass er ihr jeglichen Kontakt verwehrte und gleichzeitig aus ihrem Leben eine Realityshow machte. Es gab auch keine Entschuldigung dafür, dass er sie auf dem Mond der Illusionen hat schmoren lassen, allein und ohne ein Zeichen von ihm. Er hätte wenigstens anrufen können! Wie lange hatte sie auf ihn gewartet und die Erinnerung an ein Gefühl für wirkliche Lebenszeichen von ihm gehalten? Genauso wenig konnte sie es verzeihen, dass er sie kein einziges Mal beschützt hatte, seitdem nach Gaia zurückgekehrt war. Wenn er nicht mehr ihr Beschützer war, was dann? Es spielte für sie keine Rolle mehr, ob Van sie noch liebte. Einen Freund, der nur nahm und nichts gab, wollte sie nicht.

Plötzlich spürte sie etwas, was sie sich in den letzten Jahren nur eingebildet hatte.

„Van.“, flüsterte sie und hob ihren Kopf. Sie sah zum Fenster der Villa, von dem der kurze Kontakt gekommen war, doch sie sah niemanden. Hitomi zuckte mit der Schulter und sendete einen mentalen Ruf nach Merle aus. Ihr wurde kalt. Außerdem war es an der Zeit einen Weg zu finden, der sie nach Hause führte. Zu ihrem wirklichen Zuhause. Immerhin war sie noch immer eine Schülerin und musste dementsprechend zur Schule gehen. Mit Gaia war sie fertig.
 

Van lehnte sich verzweifelt an die Wand neben dem Fenster, durch das er eben noch Hitomi beobachtet hatte. Sein Bauch fühlte sich an, als hätte jemand ihn abgestochen. Seine Beine wollten sein Gewicht nicht mehr tragen und er sackte in sich zusammen. Auf den Boden kauernd fühlte er noch immer ihre Wut auf ihn. Sie brannte sich durch seine Adern und zerriss sein Herz. Schließlich wurde es unerträglich und er schloss die letzte Lücke in seinem Panzer. Eine Zeit lang blieb er einfach liegen. Dort, wo er sie einst in sich gespürt hatte, klaffte nun eine kalte Leere.

Eine Leere, mit er leben musste, wie ihm klar wurde. Sie hatte ihn abserviert. Jetzt war alles aus. Es gab keine Hoffnung mehr auf eine gemeinsame Zukunft. Langsam richtete er sich auf. Wenigstens, so sagte er sich, war er nun frei und bereit für eine politische Heirat. Er musste nicht mehr an eine Frau denken, die sowieso unerreichbar für ihn war. Er durfte es nicht mehr. Als König könne er jede haben! Was für ein kranker Scherz.

Mit schnellen Schritten ging er in sein Zimmer und wusch sich dort die Tränen aus dem Gesicht. Dann sah er sich zum zweiten Mal die wöchentlichen Berichte seiner Bezirksverwalter an. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er nicht merkte, wie Merle Hitomi hinter ihm in die Sternenkuppel trug.

Hinter der Fassade

„So, bist du jetzt zufrieden?“

Hitomi saß auf dem Bett in der Sternenkuppel und ließ ihre steifen Füße baumeln. Merle, die sie gerade abgesetzt hatte, stemmte ihre Hände in die Hüfte.

„Was meinst du?“, fragte Hitomi gelangweilt. Sie wollte keinesfalls nochmal über das selbe Thema reden. Van konnte ihr gestohlen bleiben.

„Du hast ihn ausgeschlossen! Dank dir hat er das letzte Bisschen seiner Seele aufgegeben.“, schrie Merle sie außer sich an.

„Nicht meine Schuld.“, erwiderte Hitomi mürrisch.

„Hast du mir eigentlich auch nur einen Moment zugehört?“, fragte das Katzenmädchen ungläubig. „Van hat während den letzten Jahren alles verloren. Sein Lachen, seine Freude, seine Hoffnung. Nur eure Liebe war ihm geblieben. Aber was machst du?“

„Ja, was mach ich denn?“, fragte ihre Freundin schnippisch.

„An Stelle von Zuneigung und Sehnsucht überschüttest du seine Aura mit Wut und Anklagen. Es hat so wehgetan, dass er den Kontakt zu dir abgebrochen hat.“, verzweifelte Merle.

„Wie kannst du das wissen? Er sperrt dich doch auch aus seinen Gedanken aus!“, konterte Hitomi zusehends genervt.

„Ich habe Augen im Kopf! Vans Gestik und seine Mimik offenbaren alles über ihn.“, erklärte Merle aufgebracht.

„Für mich sah er so wie immer aus.“

„Weil du ihn nicht kennst. Nicht so, wie ich. Und wenn du ihn kennen würdest, wüsstest du, wie sehr er dich liebt.“

„Warum war er denn nicht für mich da?“, begehrte Hitomi plötzlich auf. „Zweimal wurde ich in den letzten beiden Tagen verschleppt und nicht ein einziges Mal kam er um mich zu retten. Nur du warst da!“

„Er hat sich zurückgehalten, weil er mir vertraut.“, verteidigte Merle ihn mit ganzer Seele. „Er verlässt sich darauf, dass ich dich beschütze, so wie er es einst selbst getan hat. So konnte er ununterbrochen seinen Pflichten als König nachgehen.“

„Ich glaube eher, er hat mich weggeworfen wie ein Stück alter Kleidung. Ich bin ihm wohl nicht mehr fein genug.“, schnaubte Hitomi verächtlich.

„Du benimmst dich wie ein Säugling.“, klagte das Mädchen sie an.

„Nein, ich benehme mich wie eine erwachsenen Frau, deren Freund sie vergessen hat.“, konterte die Hitomi wütend.

„In jeder freien Sekunde hat er an dich gedacht! Leider frisst sein Beruf fast seine gesamte Zeit auf.“, behauptete Merle steif. „Auf nichts hat er sich mehr gefreut, als auf den Tag, an dem er dich vom Mond abholen kann.“

„Ich glaube dir nicht!“, sagte Hitomi langsam und betonte dabei jedes Wort.

Merle sah sie ratlos an! Dann stellte sich vor das große Fenster und breitete ihre Arme aus, als wolle sie die Kuppel umfassen.

„Was denkst, ist das hier?“, fragte sie Hitomi.

„Kannst du dich etwas klarer ausdrücken, Merle?“

„Dieser Raum, in dem du schläfst. Was denkst du über ihn.“

Die Frau vom Mond der Illusionen sah abschätzend sich um.

„Das Wandgemälde ist ja ganz nett, aber er ist ziemlich spartanisch eingerichtet.“, wettete sie.

Daraufhin tat Merle einen weiteren Schritt zurück und bückte sich. Ihre Finger gruben sich in kleine Löcher im Boden und hoben eine quadratische Bodenplatte heraus. Sie schob die Platte beiseite und löste noch zwei weitere Platten heraus. Hitomi erkannte eine elegante Wanne mit Ritzen an der Seite, die unter dem Boden eingelassen war.

Dann ging Merle zur Wand, griff scheinbar zufällig hinein und schob zwei Türen auseinander. Im Schrank dahinter hingen ein dutzend Ballkleider mit zwei Paar passenden Schuhen unter jedem Kleid. Merle öffnete noch fünf andere solcher Türen, hinter denen vier weitere Schränke und ein Tisch mit Waschbecken und riesigem Spiegel versteckt waren.

„Es ist nicht alles so wie es scheint. Wenn du wissen willst, was er empfindet, musst du tiefer blicken.“, belehrte Merle ihre Freundin und fuhr fort: „Dieses Zimmer ist das teuerste in ganz Farnelia. Seine Architektur mit den verborgenen Möbeln und den runden Wandschränken ist in ganz Gaia einzigartig. Van selbst hat sich das Konzept überlegt und die besten Architekten und Handwerker mit der Planung und der Umsetzung betraut.“

„Und?“, fragte Hitomi scheinbar unbeeindruckt. „Ich will seine Aufmerksamkeit und nicht sein Geld.“

„Er hat ihn für dich machen lassen. Du solltest hier wohnen. Obwohl dieser Raum zu Vans Gemächer gehört, hat er nie hier geschlafen. Immer wenn er sich einsam gefühlt hat, zog er sich hierher zurück. Andere haben den Raum zwar besichtigt, doch keiner durfte auch nur irgendetwas benutzen. All seine Gefühle für dich stecken in diesem Zimmer.“

Hitomi war überwältigt.

„Ich bin die erste?“

„Ganz genau! Er hat immer daran geglaubt, dass ihre eines Tages zusammen sein würdet. Aber diese Sicherheit hast du ihm genommen.“

„Die Wanne, das Bett und der Kosmetiktisch, alles wurde noch nie benutzt?“

„So ist es.“, bestätigte die Leibwächterin ein weiteres Mal. „Möchtest du ein Bad nehmen?“

„Aber wenn ich dort vor dem Fenster bade, sieht mich dann nicht jeder?“, fragte ihre Schutzbefohlene unsicher, die der Verlockung erlag.

„Dieser Raum ist der höchste Punkt in ganz Farnelia. Von dem Rand der Schlucht aus könnte man dich natürlich mit Hilfe eines Feldstechers sehen, doch ich kann Späher aussenden, wenn du willst.“, erwidere Merle achselzuckend.

„Damit die mich dann beobachten? Nein, danke!“, lehnte Hitomi ab und begann damit ihre Robe abzustreifen. Merle ging ihr zur Hand und holte aus einem der Schränke glitzernde Flaschen heraus. Währenddessen strömte heißes Wasser in die Wanne und füllte sie bis zum Anschlag. Vorsichtig entfernte Merle die Verbände an Hitomis Füßen und über ihrem Gesicht, dann legte sie die hilflose Frau vorsichtig in die Wanne.

Diese stieß genussvoll einen langen Seufzer aus, als die heiße Wasseroberfläche an ihrer Haut entlang glitt und die entspannende Hitze sie bis auf ihren Kopf ganz und gar einhüllte. Der Duft von Kräutern stieg aus dem Bad empor. Langsam schlossen sich ihre Augen und sie gab sich ganz den Eindrücken ihrer Haut hin.

In ihrem Innern regte sich ein Gefühl der Wärme, der Geborgenheit, wie sie es seit ihrer Ankunft auf Gaia vor ein paar Tagen nicht mehr gespürt hatte. Sanft schob sich ein Paar kleiner Hände unter ihrem Kopf und hoben ihn sanft an. Hitomi ließ es ohne Widerstand zu. Die Hände massierten daraufhin ein kühle Flüssigkeit in ihre Kopfhaut mit langsamen, kreisenden Bewegungen. Einen Moment lang stellte Hitomi sich vor, dass es Vans Hände wären, die ihre Haare wuschen, woraufhin es sacht, aber drängend in ihrem Unterleib kribbelte. Schlagartig riss sie ihre Augen auf, als ihr klar wurde, was sie spürte. Über ihr sah Merle sie neugierig und entschuldigend an.

„Ist alles okay? Hab ich etwas falsch gemacht?“

„Nein, bitte mach weiter!“, fordert Hitomi sie auf und richtete ihren Blick wieder nach innen. Sofort erschien ihr wieder das Bild von Van, so wie er früher war mit heller Hose und roten Hemd. Er kniete über ihr und erforschte ihren Körper mit Händen und Augen. Ihre Angst vor den Schmetterlingen verflog schnell. Mit voller Hingabe ließ Hitomi sich auf das aufregende Kribbeln ein und begann die Bewegungen von Merles Händen nahtlos in ihre Fantasie mit Van einzuarbeiten.

Das Katzenmädchen ließ von ihren Haaren ab und nahm die Seife für Haut zur Hand. In Hitomi Gedanken entledigte sich Van dabei seiner Hose und seines Hemdes. Er trug keine Unterwäsche. Nur mit Mühe hielt Hitomi einen regelmäßigen Atemrhythmus aufrecht, während sie über seine Größe spekulierte. Währenddessen richtete Merle sie auf und seifte mit einem angenehm rauen Stofftuch ihren Oberkörper ein. Neugierig und mit der Hoffnung auf eine ähnlich erbaulichen Entwicklung bei sich selbst, erkundete das Mädchen die Kurven der jungen Frau in der Wanne.

Dann hob sie eines von Hitomis Beine an, was der Vorstellungskraft ihrer Freundin neuen Schub gab. Vans Fingerspitzen kamen der heiligen Spalte in ihrem Schritt bedenklich nahe. Aber er zog sie stets zurück. Sein Augenpaar zeigte neckische Schadensfreude. Zuletzt spülte er gründlich ihren Kopf ab. Dabei massierte er sanft ihren Nacken und ließ sie mit der Begierde in seinem Blick wissen, was als passieren wird, sobald sie aus der Wanne steigen würde. Hitomis Anspannung drohte sich zu entladen, doch er ließ von ihr ab, ehe ihr Feuerwerk entzündet war.

Erst als Merle zu den Handtüchern griff und Hitomi damit Gelegenheit gab sich zu fassen, fiel ihr ein, was das Mädchen ihr über die Aura der Seele erzählt hatte. Diese konnte ihr breites Grinsen nicht mehr zurückhalten und gab Hitomi so zu verstehen, dass sie wirklich alles mitbekommen hatte. Deren Gesicht lief vor Scham förmlich über. Sie wollte nichts lieber als für immer im Boden zu versinken. Merle ließ das Wasser ab, als ob nichts geschehen wäre, und legte Hitomi auf ein Handtuch neben der Wanne. Sie wollte gerade damit anfangen sie abzutrocknen, als diese ablehnend ihre Hände hob.

„Das mache ich lieber selbst.“, verkündete sie schüchtern. Das Katzenmädchen zuckte mit der Schulter und gab ihr das Handtuch. Hitomi war bisher ihre einzige Freundin. War Leidenschaft etwas, dass man nicht mit Freundinnen teilte? Wie so oft in den letzten Jahren, fehlte Merle ihre Mutter. Sie hatte so viele Fragen. Nachdem Hitomi sich abgetrocknet hatte, reichte Merle ihr ein königsblaues, mit aufwendigen Stickereien verziertes Nachthemd und trug sie ins Bett.

„Ich hole jemanden, der sich deine Füße noch einmal ansehen wird.“, informierte sie die noch immer verklemmte Frau und ging die Wendeltreppe hinunter. Hitomi ließ sich zurück in das Bett fallen und seufzte. Sie kannte ihr Verlangen nach körperliche Nähe zur Genüge, hatte aber nie erwartet, dass es so heftig und noch dazu in wenig privaten Rahmen ausbrechen würde. Noch dazu war es passiert, kurz nachdem sie sich vom Mann ihrer Träume los gesagt hatte. Wieder einmal wusste Hitomi nicht wohin mit sich selbst. Sollte sie nun weiterhin wütend auf Van sein oder ihm vergeben?

Eigentlich, dachte sie, war es unverzeihlich, dass Van sie seit drei Jahren nur benutzt und sie dabei der Einsamkeit preisgegeben hatte. Aber warum konnte sie ihn dafür plötzlich nicht mehr hassen? War ihr dämlicher Fortpflanzungstrieb für ihre Herzensgüte verantwortlich oder doch dieses Zimmer, das er angeblich nur für sie in Auftrag gegeben hatte. Sollte sie ihm sein Egoismus der letzten Jahre wirklich verzeihen?

Was dann?

Hitomi wusste, selbst wenn sie es so wollte, so würde doch ganz Farnelia zwischen ihr und Van stehen. Konnten sie dagegen ankommen? Würde ihre Liebe das aushalten. Die verwirrte Frau konnte sich diese Fragen bei bestem Willen nicht beantworten. Also fasste sie einen neuen Beschluss. Sie schwor sich noch mal bei Null anzufangen. Es läge nun, so sagte sie sich, bei Van, was aus ihrer Beziehung werden würde.

Hitomis Gedanken brachen ab, als sie ihre Leibwächterin die Treppe hinaufkommen sah. Als sie das Mädchen erkannte, welches Merle im Schlepptau hatte, machte sich Panik auf ihrem Gesicht breit.

„Oh nein, nicht sie. Hol jemand anders, Merle!“

Diese drehte sich verwundert zu Siri um und fragte laut: „Wieso? Stimmt was nicht?“

„Dieses Mädchen hasst mich. Sie gibt mir die Schuld an den Tod ihres Vaters. Die wird mich umbringen!“, fürchtete Hitomi.

Daraufhin schob das Katzenmädchen Siri die Treppe hinunter. Wieder unten im Zimmer von Van angekommen stellte Merle ihre Untergebene zur Rede.

„Was hast du mit ihr angestellt, während ich mit meinem Guymelef weg war?“, fragte sie aufgebracht. Siri trat einen Schritt zurück und starrte auf den Boden.

„Es kann sein, dass ich bei der Untersuchung etwas grob war.“, gab sie zögernd zu.

„Warum?“

„Nun, ihr wisst doch, was man sich auf den Straßen erzählt...“

„Glaubst du den Gerüchten etwa?“, fragte Merle baff.

„Es ist schwer, es nicht zu tun.“, antwortete Siri leise.

Merle mahnte sich selbst zur Ruhe und überlegte was sie jetzt tun sollte. Es gab nicht viele medizinischen Kräfte, auf die sie sich voll und ganz verlassen konnte. Nur eine von denen konnte einigermaßen kämpfen. Unglücklicherweise stand diese Sanitäterin direkt vor ihr.

„Du weißt, worum es bei diesem Auftrag geht? König Van vertraut uns die Person an, die ihm am meisten bedeutet. Ist dieses Vertrauen gerechtfertigt?“, fragte Merle streng. Siri sah zu ihr auf.

„Natürlich ist es das. Ich würde niemals meiner Rache den Vortritt gegenüber meiner Pflicht lassen. Das wisst ihr!“

„Soll heißen, du willst Rache. Und du hast deinem Verlangen schon einmal nachgegeben. Ist das richtig?“

„Nein...Ja, aber es wird nicht noch einmal vorkommen. Ich schwöre.“, versicherte Siri eilig.

„Beweise es!“, forderte Merle sie auf.

„Wie?“, fragte das Mädchen eifrig.

„Lass dir was einfallen.“, erwiderte ihr Vorgesetzte schlicht und sah sie herausfordernd an. Siri dachte angestrengt nach, dann kam ihr die rettende Idee. Sie zog ihr Schwert aus der Scheide und rannte die Treppe hinauf. Neugierig und ein klein bisschen besorgt folgte Merle ihr. Oben angekommen trat Siri an Hitomis Bett heran. Ehe diese wusste, was los war, hielt die Sanitäterin ihr die Spitze ihrer Klinge an den Hals. Ihr sonst so freundliches und ruhiges Gesicht zeigte eiskalte Entschlossenheit. Merles Hand fuhr schlagartig in das Magazin ihrer Wurfdolche an ihrem Gürtel und verharrte dort, Hitomi hingegen rührte sich kein Stück. Ihr Blick wanderte zwischen Siri und dem Schwert.

„Was ist?“, fragte sie. Die Ruhe in ihrer Stimme überraschte sogar sie selbst. „Tötest du mich jetzt? Willst du Rache für deinen Vater?“

Siri erwiderte Hitomis Blicke ohne erkennbare Regung. Die Luft um sie herum schien vor Spannung zu knistern, doch das Klinge bewegte sich keinen Millimeter. Sekunden verstrichen, langsam und qualvoll. Dann senkte Siri ihr Schwert und steckte es zurück in die Scheide. Merle zog erleichtert ihre Hand von den Messern zurück. Siris Haltung wurde steif und respektvoll.

„Vertraut ihr mir jetzt, Fräulein?“

Hitomi überlegte einen Moment, schlug dann die Decke über ihren Beinen zurück.

„Aber nur, wenn du mich duzt. In Ordnung?“

Siri nickte nur und kniete sich dann vor Hitomi hin um ihre Füße in Augenschein zunehmen.

„Ihr habt euch wahrscheinlich viel zu erzählen.“, verabschiedete sich Merle. „Ich mach mal 'ne Pause.“

Flucht aus Farnelia

Merle lag mit ausgestreckten Armen in ihrem Bett und starrte durch das Fenster hinaus in die Abenddämmerung über Farnelia. Gleich war es soweit. Dann, wenn die Sonne vollends hinterm Horizont verschwunden ist, würde sie zuschlagen und Hitomi aus dem denkbar sichersten Raum in ganz Farnelia heraus entführen.

Alles war bereit. In Merles Schreibtisch war ein konfiszierter Steckbrief versteckt und Siri hatte die erste Nachtwache bei Hitomi überhaupt. Mit einem Lächeln erinnerte sich Merle daran, wie das Mädchen immer wieder in den letzten zwei Wochen darauf gedrängt hatte, dieser Aufgabe zugeteilt zu werden. Sie ging davon aus, dass Siri nicht wirklich Schwierigkeiten erwartete. Was sollte schon passieren? Ihr ging es darum zu beweisen, dass sie während einer Nachtwache nicht einschlief. Selbstverständlich konnte immer etwas passieren! Merle wollte ihren Schützling noch diese letzte Lektion erteilen, bevor sie für eine Weile mit Hitomi untertauchen musste.

Die Zeit war reif. Erstens konnte die Frau vom Mond der Illusionen wieder normal laufen und zweitens bahnte sich ein Treffen der Allianz hier in Farnelia an. Es war abzusehen, dass sich die Konferenz um Hitomi drehen würde. Warum sonst sollte König Aston von Astoria eine Sitzung der drei großen Mächte der Allianz in Farnelia einberufen, kurz nachdem eine seiner Leibwachen nach Astoria überführt worden war. Die Wache hatte eine Kopfgeldjägerbande angeführt und den lebendigen Köder geschluckt, den Merle ihnen vorgeworfen hatte. Sie hatte ihn bei dem Versuch Hitomi zu verschleppen gestellt. Wahrscheinlich empfand es Aston trotz des Fehlversuchs als praktisch, einfach nur nach Farnelia reisen zu müssen, Hitomi ächten zu lassen und sie dann gleich mitzunehmen. Merle war wild entschlossen ihm diese Suppe zu versalzen.

Sie trat ans Fenster und blickte über den nächtlichen Sternenhimmel. Nicht zuletzt, weil Neumond war, hatte sie sich diese Nacht ausgesucht. Dank ihrem schwarzen Anzug sollte sie in der Dunkelheit völlig unsichtbar sein. Dennoch wird man sie später als Schuldigen ausmachen können. Dafür hatte sie gesorgt. Die Hinweise waren deutlich genug, vielleicht zu deutlich. Einen Moment lang überlegte Merle, ob sie Steckbrief nicht doch lieber verbrennen sollte, doch sie verwarf den Gedanken wieder. Auch wenn ein solcher Hinweis schon von mutwilliger Dummheit zeugte, brauchte sie ihn um sich öffentlich von Van zu distanzieren.

Sie seufzte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie ihn eine lange Zeit lang nicht mehr sehen würde. Natürlich waren sie nur Freunde, aber das machte es nicht einfacher. Er war der einzige, mit dem sie reden konnte. Umgekehrt war es leider schon seit geraumer Zeit anders. Allerdings musste sie zugeben, dass sie nie wirklich daran gedacht hatte Königin zu werden. Eine Aufgabe, der Hitomi sich stellen musste, sollte sie Van je heiraten wollen.

Merle entschied, dass solche Gedanken sie nur vom Notwendigen abhielten und es draußen sowieso schon dunkel genug war. Sie legte ihr kurzes Kleid ab und schlüpfte in ihren schwarzen Overall. Dann legte sie ihre Weste mit dem Wurfmessermagazin an und kontrollierte die Taschen. Alles war an seinem Platz und so bedeckte sie schließlich die obere und unter Gesichtshälfte mit zwei Tüchern, deren Enden sie hinter ihrem Kopf zusammenband. Als letztes nahm sie noch ihren kleinen Rucksack auf den Rücken, welcher mit persönlichen und nützlichen Gegenständen gefüllt war, und zog sich Handschuhe an.

Endlich ging es los! Sie öffnete ihr Fenster und warf einen Enterhaken über das Geländer des Balkons vor Vans Wohnung, die sich zwei Stockwerke über ihrer eigenen befand. Sie riskierte noch einen letzten Blick in ihr altes Zuhause, murmelte einen Abschiedsgruß und kletterte dann über das Seil auf Vans Balkon.

Selbstverständlich war er nicht da. Der Rat der Volksbeauftragten machte mal wieder Überstunden. Leise brach sie die Balkontür auf. Zu einfach, wie sie feststellte. Sollte sie jemals zurückkehren, musste sie dringend ein paar Handwerker beauftragen, die Tür sicherer zu machen.

Langsam schlich sie Wendeltreppe hinauf. Ein Blick durch das Geländer verriet ihr, dass Siri eingeschlafen war. Merle seufzte enttäuscht. Sie hatte sich auf eine Aufwärmübung mit ihr gefreut, doch jetzt würde die Lektion für ihren Schützling noch bitterer ausfallen, als die Mentorin es beabsichtigt hatte. Lautlos trat sie an das einzige Bett im Zimmer heran und band Hitomi ein mit Schlafmittel getränktes Tuch vor Mund und Nase. Zuletzt steckte sie ihr Opfer in einen schwarzen, mannshohen Sack.

Plötzlich schreckte sie ein leises Stampfen hinter ihr auf. Überrascht drehte Merle sich um und griff gleichzeitig nach ihren zwei Dolchen. Mit dem rechten wehrte sie Siris Klinge ab, mit dem linken stach sie gefährlich nah an ihrer Gegnerin vorbei. Das Katzenmädchen staunte nicht schlecht. Ihr Schützling musste ihr Eindringen bemerkt haben und hatte so getan, als wäre sie eingenickt. Selbstzufrieden lächelte Merle, während sich Siri zur Seite abrollte und einen Schlag aus der Bewegung heraus auf Merles Knie ausführte. Mit Leichtigkeit sprang diese über den Schwertstreich hinweg. Sie landete mit ihren Stiefeln für einen Moment auf Siris Schulterblätter und stieß sich im nächsten mit aller Kraft ab. Nach einem kurzen Flug rollte sie sich ab und kam elegant wieder auf ihre Füße. Siri hingegen knallte mit ihren Oberkörper gegen die Bettkante und heulte laut vor Schmerzen auf. Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, hastete Merle bereits vorwärts. Sie packte das Mädchen mit beiden Händen und stieß mit ihrem Knie durch deren Bauch gegen das Zwerchfell. Verzweifelt rang Siri nach Luft, doch sie verlor einen Moment später das Bewusstsein und sackte in sich zusammen.

Merle ließ das Mädchen langsam zu Boden gleiten und drehte sie nach besten Wissen in eine stabile Seitenlage. Dann wandte sie sich wieder ihrem Ziel zu. Sie wuchtete Hitomi über ihre linke Schulter und trippelte eilig die Wendeltreppe hinunter in Vans Zimmer. Sie wollte gerade den Balkon betreten, da hörte sie, wie jemand die Treppe hinunter humpelte.

„Du entkommst mir nicht!“, rief Siri keuchend. In ihrer rechten Hand hielt sie ihr Schwert, während sie sich mit ihrer linken am Geländer abstützte. Das Mädchen war zäher, als sie aussah, registrierte Merle zufrieden. Sie zog ein Wurfmesser und warf es auf das Geländer der Wendeltreppe. Ihr Schützling sah diese ihr sehr vertraute Handbewegung und wich zurück. Diese Zeit nutzte Merle, indem sie sich über das Balkongeländer schwang und sich am Seil die Wand der Villa entlang hinab gleiten ließ. Erst im letzten Moment festigte sie ihren Griff am Seil und bremste ab. Sicher traf sie mit Hitomi über der Schulter auf Mutter Erde.

Vom Balkon herab rief Siri den Alarm aus und kletterte selbst am Seil hinunter. Höchste Zeit zu verschwinden, dachte sie Merle. So schnell und leise, wie sie nur konnte, rannte sie die Rampe runter, die von der höchsten Palastebene führte, auf der die Villa thronte. Auf der Ebene darunter waren die Quartiere der Bediensteten, Rohstoff- und Getreidelager, verschiedene Manufakturen und ein Pferdestall. Merle hielt direkt auf den Stall zu. Eine Wache, die gerade aus einem Lager kam, schickte sie mit einem gezielten Schlag in den Hals zu Boden.

Im Stall fand sie ein bereits gesatteltes Pferd vor, so wie sie es dem Stallburschen zuvor befohlen hatte. Selbstverständlich hatte dieser keinen Schimmer gehabt, wozu Merle es brauchen würde. Sie band Hitomi über dem Rücken des Pferdes fest und saß auf. Mit Höchstgeschwindigkeit fegte sie durch die Häuserschluchten der Stadtmauer entgegen. Niemand bekam auch nur die Gelegenheit sie aufzuhalten. So manche Patrouille schrie hinter ihr her, doch sie fanden keine Beachtung. Vor einem Haus bei der Stadtmauer stoppte sie und stieg vom Pferd. Vorsichtig legte sie Hitomi an der Hauswand ab und verpasste dem Tier einen kräftigen Klaps auf den Hintern. Es rannte wiehernd davon.

Dann nahm sie ihre Tücher vom Gesicht und betrat den Keller des Hauses. Drinnen standen zwei Wachen vor einem Tunnel, die vor ihr salutierten. Merle nahm eine gebieterische Haltung ein, grüßte sie und trat näher an sie heran. Plötzlich zog sie zwei mit Schlafmittel getränkte Tücher aus ihrer Weste und presste sie an die Münder der überraschten Soldaten. Ohnmächtig schlugen sie auf dem Boden auf.

Wieder mit Hitomi auf ihren Schultern und zwei Tüchern vor ihrer oberen und unteren Gesichtshälfte machte sich Merle auf den Weg durch den schwarzen Tunnel. Sie wusste, das andere Ende wurde ebenfalls bewacht. Den Wagen konnte sie leider nicht benutzen, weil sonst das Überraschungsmoment verloren ging. So marschierte sie in gebückter Haltung durch die Finsternis und das mit einem Gewicht auf den Schultern, das schwerer war als sie selbst. Es dauerte bis sie wieder Licht sehen konnte. Ein weiteres Mal legte sie ihr Opfer ab und schlich dem Tunnelausgang entgegen. Sie konnte nur zwei Wachen spüren. Perfekt! Unglücklicherweise standen die direkt vor dem einzig anderen Ausgang der vor ihr liegenden Kammer. Die Soldaten konnten sie sofort sehen, wenn sie einfach so aus dem Tunnel stürmen würde. Also mussten die beiden zu ihr kommen.

Merle hob lautlos einen Stein auf und ließ ihn gegen die ihr gegenüber liegende Tunnelwand prallen. Die Wachen kamen mit gezückten Schwertern herangestürmt und sprangen in den Tunnel hinein. An der Stelle, wo sie etwas gehört hatten, fanden sie nichts und so sahen sie sich verwundert um. Merle, die nahtlos mit dem Schatten verschmolzen war, nutzte ihre Chance. Aus der Hocke heraus sprang sie den Soldaten entgegen. Den einen trat sie mit voller Wucht in den Bauch, der andere kassierte einen Ellbogenschlag gegen die Schläfe.

Erleichtert über den reibungslosen Ablauf holte Merle Hitomi aus dem Tunnel und trug sie in das Höhlensystem. Das Mädchen mit dem sperrigen Gepäck stoppte vor einer weiteren Kammer, in der das Luftschiff der Kopfgeldjäger vor Anker lag. Mit einem breiten Grinsen erinnerte sie sich an den Bericht der Techniker, die das Schiff unter die Lupe genommen hatten. Es besaß ein paar sehr interessante Extras, die ideal für eine Flucht waren.

Mit einem Schalter, der in den Fels der Kammer eingearbeitet war, öffnete sie einen Vorhang hinter dem Schiff, der die Kammer von der Außenwelt trennte. Dahinter, das wusste sie, war die weiße Schlucht, die aus Farnelia heraus führte.

Merle stieg die Rampe hoch, die durch das Hinterteil des Schiffes ins Innere führte. Sie legte Hitomi in eine der vier Kojen und schnallte sie dort fest. Dann betrat sie die Pilotenkanzel. Durch die Fensterscheibe sah sie die spitz zulaufende Schnauze des Schiffes. Lässig nahm sie auf dem linken der zwei Sitze platz, die im Cockpit waren.

Die Steuerung vor ihr hatte mit dem großen Holzrat der klassischen Luftschiffe nichts mehr gemeinsam. Eher ähnelte sie der direkteren Variante eines Guymelef. Sie musste beide Hände in dafür vorgesehene Mulden legen. Ihre Handflächen wurden automatisch umschlossen und waren nun frei drehbar. Damit würde sowohl die Ruder des Schiffes, als auch die Ausrichtung der Rotoren in den Flügeln kontrollieren können. Unter ihren Fingerspitzen erfühlte Merle kleine Dellen von Knöpfen, die für die Schiffsfunktionen verantwortlich waren. Unter ihren Füßen befanden sich Pedale, mit denen sie Schub und Gegenschub des Schiffes steuern konnte.

In ihren Gedanken ging Merle die erlernte Scheckliste des Schiffes durch. Nachdem sie kontrolliert hatte, dass sowohl genug Treibstoff, Kühlmittel und Löschschaum in den Tanks waren, schaltete sie die zwei Rotoren an, die in den dreieckigen Flügeln des Schiffes waagerecht zum Boden eingelassen waren. Die langsam anlaufenden Rotoren waren nötig, damit sich das Schiff in der Luft halten konnte. Während andere Luftschiffe sprichwörtlich an fliegenden Felsen hingen, reichten die vier stromlinienförmigen Steine am Heck diese Schiffes dafür bei weitem nicht aus. Der Vortrieb würde die Rotoren später entlasten, aber mehr konnten die Flügel auch nicht.

Mit einem Knopfdruck aktivierte sie die Tarnung des Schiffes, wie sie auch in den großen Schlachtschiffen der Zaibacher integriert gewesen war. Für Merle war die Funktion ein Beweis, dass es sich bei dem Schiff um Zaibacher Technologie handelte. Wie waren die Kopfgeldjäger nur an dieses Schiff herangekommen? Wie waren sie an den Zaibacher Guymelef gekommen, der Hitomi entführt hatte? Fragen, auf die Merle keine Antwort hatte und die ihr Sorgen bereiteten.

Mit Hilfe der Rotoren schwebte das Schiff seitwärts aus der Kammer in die Schlucht. Zuletzt startete Merle Düsen am Heck des Schiffes, die sie schon von ihrem eigenen Guymelef her kannte. Die starke Beschleunigung presste sie gegen ihren Sitz, machte ihr sonst aber nichts aus. Mit großem Geschick lenkte sie das Schiff zwischen den Felsen hindurch dem Ausgang der Schlucht entgegen, während der Rausch der Geschwindigkeit durch ihre Adern schoss. Nach wenigen Minuten ließ sie die Schlucht hinter sich. Jetzt schaltete sie auf Schleichflug um und lenkte das Schiff in die Richtung des Dorfes der Wolfsmenschen.

Entspannt lehnte sie sich zurück. Bei den Wölfen, die ihr Winterquartier in einem Höhlensystem am Rande des Waldes bezogen hatten, sollte Hitomi bis auf weiteres sicher sein. Eigentlich konnte jetzt nichts mehr schief gehen.

Der Preis der Verantwortung

Niedergeschlagen stand Van am Balkonfenster seiner Wohnung und blickte über das nächtliche Farnelia. Seine Arme hingen schlaff am Oberkörper, seine Augenlider waren schwer. Unter ihm im Garten der Villa herrscht für diese Zeit ungewöhnlich viel Betrieb, was er mit einem Seufzen zur Kenntnis nahm. Hinter ihm klopfte jemand an die Tür.

„Herein!“, rief er und war selbst erstaunt über die Erschöpfung in seiner Stimme. Die Tür öffnete sich und jemand trat mit schwerem Schritt in das Zimmer. Van drehte sich um und sah gerade noch, wie die Tür hinter Gesgan zufiel. Der sagte kein Wort, sondern verneigte sich knapp. „Ihr seht müde aus.“, begrüßte Van ihn und betrachtete den ehemaligen Spion aus Zaibach. Gesgan verkniff sich jeglichen Kommentar. Trotz des angegrauten Haares wirkte seine Statur kraftvoll und in seinen Augen brannte noch immer mit das Feuer eines Kriegers. Dieser Mann erinnerte den König an seinen verstorbenen Lehrer und jedes Mal drückte es in seiner Brust, wenn er ihn sah. „Ich konnte schon lange nicht mehr ausschlafen. Wie sieht es bei ihnen aus?“

„Ich ebenfalls nicht, Majestät.“, antwortete Gesgan schlicht und im angemessenen Tonfall.

„In dieser Nacht werde ich angesichts der Hektik da draußen wohl überhaupt keine Ruhe finden können. Was macht mir wohl dieses Mal meine Bettruhe streitig?“

Innerlich bereitete sich Gesgan schon auf ein Donnerwetter vor und antwortete besonnen: „Majestät, vor einer halben Stunde wurde Fräulein Hitomi aus ihrem Gemach entführt. Wir wissen noch nicht, wie das passieren konnte.“

„Oh doch, sie wissen es. Sie wollen es mir nur nicht sagen.“, stellte Van unbarmherzig fest.

„Es gibt momentan nur Vermutungen.“, hielt Gesgan dagegen.

„Dann spekulieren sie eben! Es ist mir gleich, solang ich nur irgendetwas weiß.“

„Majestät, es scheint so, als wäre die ehemalige Kommandantin eurer Leibwache dafür verantwortlich.“

„Sind sie sicher?“, fragte Van wenig überrascht.

„Nein, bin ich nicht. Bei einer ersten Durchsuchung der Villa fanden wir einen Steckbrief mit Fräulein Hitomis Beschreibung im Merles Zimmer. Alle ihre Sachen sind weg. Das Zimmer war leer und aufgeräumt. Außerdem sagte ein Stallknecht, dass das Pferd, das bei der Flucht verwendet wurde, auf ihren Befehl hin bereitgestellt worden war. Wir warten noch immer auf eine Meldung der Wachen am Stadttor.“

„Was halten sie von den Beweisen?“, fragte Van.

„Ihr Zimmer und die Aussagen des Stallmeisters deuten daraufhin, dass Kommandantin Merle uns aus freien Stücken verlassen hat, doch der Steckbrief lässt mich zweifeln.“

„Warum?“, hakte Van nach.

„Er ist zu offensichtlich.“

„Wer war für die Nachtwache an Hitomis Bett zuständig?“

„Siri Riston, Majestät. Sie behauptet den Entführer nicht erkannt zuhaben.“

„Sie ist immer noch hier?“, fragte Van überrascht. Eigentlich hatte er Merle befohlen, dass das Mädchen mit den beiden aus Farnelia verschwinden sollte, aber anscheinend konnte sie auf eine Sanitäterin verzichten. Wohin hatte sie Hitomi gebracht?

„Ja, sie ist in der Villa. Möchte eure Majestät mit ihr sprechen?“, antwortete Gesgan verwundert.

Van überlegte einen Moment. Eigentlich hatte er es selbst so gewollt. Merle hatte ihn wie befohlen über Zeitpunkt und Ziel der Reise im Unklaren gelassen, doch jetzt juckte es ihn förmlich in den Fingern.

„Schickt sie herein! Ich möchte allein mit ihr reden.“, befahl Van und wandte sich wieder dem Fenster zu. Gesgan verbeugte sich und verließ das Zimmer.

Der einsame König ließ seinen Blick über die Dächer schweifen und sackte dabei innerlich zusammen. Er fühlte sich, als würde der Himmel ihm auf den Kopf fallen. Wie so oft in den letzten Wochen sah er in sich und suchte Hitomi, doch dort, wo sich sonst immer ihre Präsens befunden hatte, klaffte eine große Lücke. Natürlich, er hatte den Kontakt von sich aus abgebrochen, als sie ihn mit ihrer Wut förmlich bombardiert hatte, und konnte ihn jederzeit wiederherstellen, aber er schreckte davor zurück. Zu groß war die Ungewissheit, was ihn erwarten würde. War sie immer noch wütend? Grenzenlose Liebe, Sehnsucht nach seiner Nähe oder unendliches Vertrauen waren wohl kaum, was sie für ihn empfand, nachdem er sie so schlecht behandelt hatte. Doch gerade diese Gefühle Hitomis waren stets ein Eckpfeiler seiner Entschlossenheit gewesen. Er hatte sich vorgenommen eine Welt zu erschaffen, in der sie beide glücklich und ohne Gefahren zusammen leben konnten. Dieses Ziel war ins Wanken geraten.

Wieder klopfte es an seiner Tür, dieses Mal jedoch öffnete sie sich ohne seine Erlaubnis. Endlich jemand der mitdenkt, sagte sich Van und lächelte. Beim Umdrehen setzte er wieder eine strenge Mine auf.

„Weißt du, warum du hier bist?“, frage er, nachdem sich Siri sich vor ihm hingekniet hatte. Sie trug noch immer ihren Kampfanzug und das Schwert lag neben ihr auf dem Boden. Ein paar lose Strähnen ihrer dunkelbraunen Haarpracht hingen vor ihrem Gesicht, während der Rest hinter ihrem Rücken zusammen gebunden war.

„Weil ich versagt habe, Herr.“

„Wobei? Drück dich genauer aus!“

„Ich habe zugelassen, dass ein unbekannter Angreifer in eure Gemächer eindringen und Fräulein Hitomi entführen konnte.“

„Hast du den Eindringling wirklich nicht erkannt?“

„Majestät?“

„Es gibt Anzeichen dafür, dass deine Vorgesetzte Merle das Fräulein entführt hat. Eigentlich hättest du sie erkennen müssen.“

„Es war zwar definitiv eine Frau, aber ihr Gesicht war verdeckt, euer Majestät.“, hielt Siri dagegen.

„Trotzdem bist du mit Merles Kampfstil vertraut.“, konterte Van.

„Ich kannte den Kampfstil meiner Gegnerin nicht.“, log Siri verzweifelt und rang gegen ihre hochkommenden Tränen. Ihr König verzog keine Mine.

„Aber eingeschlafen bist du nicht?“, wollte er daraufhin wissen.

„Nein, selbstverständlich nicht, Majestät.“, sagte Siri. „Wie hätte ich dann Alarm auslösen können?“

„Stimmt.“, bestätigte Van und wandte sich wieder dem Fenster zu. Was sollte er jetzt mit dem Mädchen anfangen? Plötzlich sah er für Siri eine goldene Gelegenheit und fragte sich, ob Merle auch das geplant hatte. Der Zeitpunkt war einfach zu gut. Das konnte kein Zufall sein. „Ich habe eine neue Aufgabe für dich. Offiziell ist die Seuche in Farnelia vorbei und wir können den Handel wiederaufnehmen. Astoria hat jedoch eine Bedingung gestellt. Bei jedem Handelskonvoi muss ein Arzt anwesend sein, der auf verdächtige Symptome bei den Mitreisenden achtet. Bei einem Verdacht auf die Krankheit muss der Konvoi sofort umkehren. Da wir nicht genug reguläre Ärzte haben, um den Bedarf zu decken, wirst du am Programm teilnehmen! Du wirst dem aller ersten Konvoi zugeteilt. Er verlässt Farnelia bei Sonnenaufgang. Melde dich eine Stunde vorher beim Händler in Lager 2! Er wird dich einweisen.“

Siri empfand den Auftrag als herbe Strafe und antwortete mit mühsam kontrollierter Stimme:

„Jawohl, Majestät.“

„Diese Sache ist wichtig. Das Überleben von Farnelia hängt davon ab, dass der Handel wieder in Schwung kommt. Hab ich mich klar ausgedrückt?“, sagte Van mit mahnender Stimme.

„Ja, Majestät. Ihr könnt euch auf mich verlassen.“

„Du kannst gehen.“, entließ sie der König, woraufhin sie sich erhob, einen Knicks machte und den Raum verließ.

„Viel Glück.“, flüsterte Van und starrte weiter auf die Lichter Farnelias.

Siri wandelte fast wie ein Geist durch die Flure zu ihrem Zimmer, während sie mit ihren Tränen kämpfte. Erst als sie ihre sicheren vier Wände erreicht hatte, ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Sie schrie, rammte ihre Stirn gegen die Wand und schlug mit beiden Fäusten gegen das unnachgiebige Gemäuer. Noch immer konnte und wollte sie es nicht glauben.

Merle, ihre Vorgesetzte, ihre Mentorin, hatte sich als Verräterin erwiesen. Nie zuvor hatte das Katzenmädchen ihr irgendetwas anvertraut, nur in dieser einen Nacht, in der die Entführung stattfinden sollte, hatte sie Siri für eine Nachtwache eingeteilt. Merle musste geglaubt haben, mit ihr hätte sie ein leichtes Spiel. Wut mischte sich in Siris Enttäuschung.

„Man sagt, Agenten, die ihren ersten Auftrag vermasseln, leben länger. Zu dumm, dass es nicht dein erster war.“, sprach eine wohlbekannte Stimme sie an.

„Kommandant? Was macht ihr hier?“, fragte Siri mit gebrochener Stimme den Eindringling.

„Die Tür war offen.“, erklärte Gesgan ihr mit väterlicher Stimme. „Daher dachte ich, hier will jemand Gesellschaft haben. Hatte ich recht?“

„Nicht wirklich. Ich würde jetzt gerne alleine sein.“, entgegnete Siri kleinlaut und wischte ihre Tränen aus dem Gesicht. Gesgan beachtete ihre Ablehnung nicht und setzte sich stattdessen auf ihr Bett. Er machte eine einladende Geste, woraufhin Siri sich neben ihm niederließ. Nervös kauerte sie sich zusammen.

„War es dein erster Einsatz heute?“, fragte Gesgan.

„Kommandant, ihr wisst, dass ich schon ausgerückt bin. Ihr habt mich überwacht!“

„Ja, aber dieses Mal war es etwas besonderes. Aber nicht, weil du versagt hast.“, hakte Gesgan nach.

„Es war der erste Einsatz, den ich allein ausführen durfte.“, erinnerte Siri.

„Wenn du das so sagst, könnte man meinen, es wäre eine Ehre gewesen.“

„Das war es auch, Kommandant.“, bekräftigte sie.

„In Wahrheit ist es ein Fluch die Verantwortung zu tragen, denn du musst für dein Versagen geradestehen und das, obwohl du nicht einmal einen Fehler gemacht hast. Wäre Merle dabei gewesen, wäre sie für alles verantwortlich.“

„Merle war...“, rutschte es Siri heraus, ehe sie ihre Zunge in Zaum hatte.

„Was? Wolltest du mir etwa gerade erzählen, Merle war bei der Entführung dabei? War sie etwa die Täterin?“

„Ich weiß es nicht.“, wiegelte das Mädchen ab.

„Du kannst es also nicht ausschließen. Ein merkwürdiger Zufall, findest du nicht? Merle verschwindet in der selben Nacht, in der Hitomi verschleppt wird.“, gab Gesgan zu bedenken.

„Vielleicht verfolgt sie die Entführerin.“, konterte Siri zaghaft.

„Möglich.“, gab der Krieger zu. „Dass sie dabei aber noch Zeit hatte, sämtliche Sachen aus ihrem Zimmer mitzunehmen, ist erstaunlich. Sie konnte nicht einmal eine Nachricht hinterlassen. Was wir aber fanden, war ein Steckbrief von Hitomi. Dem Papier zufolge stammte er aus Astoria.“

„Und?“, fragte Siri, als wäre das nicht genug.

„Das Luftschiff der Kopfgeldjäger wurde gestohlen. Außerdem habe ich inzwischen die Meldung bekommen, dass die Wachen am Tunnel Merle zweifelsfrei erkannt haben, bevor sie betäubt worden sind.“

„Sie ist also auf den Weg nach Astoria?“, fragte Siri so desinteressiert wie möglich.

„Sieht so aus. Darum wollte ich dich um einen Gefallen bitten. Du sollst doch einen Konvoi bis nach Palas begleiten. Könntest du Augen und Ohren für mich offen halten und ein paar Gerüchte sammeln, wenn du dort bist?“

„Darum müsst ihr mich nicht bitten. Ich bin wieder eure Untergebene.“, merkte Siri an.

„Nein, leider nicht. Für die Dauer deines Auftrages unterstehst du dem Händler. Du bist in seinen Diensten, bis er dich frei gibt oder er dich nicht mehr bezahlt. Ansonsten bist du auf dich allein gestellt. Deine Verantwortung.“, erinnerte Gesgan sie.

Etwas schwerfällig erhob sich der ehemalige Spion vom Bett und für einen Moment sah Siri so etwas wie Angst in seinen Augen.

„Was habt ihr?“

„Nichts, es ist nur so schwer loszulassen, was einem lieb und teuer geworden ist.“

Einen Moment lang streckte sich er in alle Richtungen aus. Dann kniete er sich zu Siri herab und schaute ihr tief und eindringlich in die Augen. „Denk an das, was ich und Merle dir beigebracht haben! Dann wirst du alle Hindernisse meistern und zur rechten Zeit den rechten Weg finden.“ Dann erhob er sich wieder und ging zur Tür. „Gutes Gelingen!“, wünschte er dem verdatterten Mädchen und verließ das Zimmer. Sie blieb allein zurück und dachte über seine Worte nach.

Gesgan blieb einen Moment vor ihrer Tür stehen und grübelte. War es wirklich richtig Siri auf eine solch hinterlistige Art auf eine Mission mit so unsicheren Parametern zu schicken? König Van und er waren sich einig, dass niemand sie aufhalten könnte auf die Suche nach Merle zu gehen, sollte sie erst einmal Blut geleckt haben.

Aber mussten sie das Mädchen deswegen auch noch ermuntern diese Dummheit zu begehen? Er bekam Zweifel, doch er schüttelte sie ab. Ab jetzt war es ihre Wahl, was sie mit ihrer Zeit anfing, und für ihn war es Zeit loszulassen. Schließlich hatte er und Merle ihr alles beigebracht, was sie zum Überleben brauchte. Den Rest, so versuchte er sich zu beruhigen, musste Siri selbst lernen. Aber er würde einer gewissen berühmt-berüchtigten Persönlichkeit den Hals umdrehen, wenn ihr tatsächlich etwas passieren sollte. Das schwor er sich.

Was sind Engel?

Merle lehnte sich entspannt gegen die Felswand einer Höhle und blickte durch deren Eingang hinaus in den nächtlichen Wald. Die Kronen der Bäume webten einen dichten Teppich, hinter dem sie den anbrechenden Tag nur erahnen konnte.

Um sie herum herrschte geschäftiges Treiben, das den Morgen ankündigte. Frauen und Kinder der Wolfsmenschen trugen Schalen und Krüge voller Wasser in den Höhlenkomplex, das Katzenmädchen erntete dabei neugierige bis abwertende Blicke. Von drinnen hörte man das Gähnen und Murren weiterer Kinder, das Knistern von Feuerstellen und eine angeregte Unterhaltung vieler Frauen. Merle fühlte eine gewisse Spannung in der Luft. Der Sonnenaufgang stand kurz bevor und die Männer waren noch immer nicht von der Jagd zurückgekehrt. Die Natur jedoch hörte sich so lebendig an wie immer. Es herrschte nicht diese unnatürliche Stille, die auf eine Gefahr hinwies, daher machte sich Merle keine Sorgen. Was auch immer die Männer aufhielt, es waren keine Kopfgeldjäger, die Hitomi gefolgt waren.

„Merle?“, sprach sie jemand an. Ein leichter Schreck fuhr durch ihre Glieder, der trotzdem stark genug war um ihre Müdigkeit zu vertreiben. Schnell legte das Mädchen eine entspannte Mine auf und wandte sich zur der Wolfsfrau, die sie angesprochen hatte.

„Ah, Linu. Wie geht es Hitomi?“, begrüßte Merle die Frau von Lumu, dem Häuptling.

„Sie ist wach und verlangt lauthals nach dir.“

„Geschockt?“

„Wohl nur etwas verwirrt.“, antwortete Linu und ging voraus. Merle folgte ihr durch die Gänge und haderte dabei mit sich selbst. Es passierte ihr oft in letzter Zeit, dass sie unaufmerksam wurde. Ihre Ausbildung war wohl doch zu kurz gewesen. Die Anforderungen eines Kriegers an sich selbst schien sie noch nicht verinnerlicht zu haben.

„Wie habt ihr den Winter bisher überstanden?“, fragte Merle Linu, um sich auf andere Gedanken zubringen.

„Ganz gut, wie du siehst. Wir haben bisher nur zwei Tote, die an Altersschwäche gestorben sind. Es ist genug Essen für alle da, selbst wenn unsere Männer heute keinen Erfolg haben.“

„Wenn ihr etwas braucht...Du weißt, ihr könnt jederzeit König Van fragen. Farnelia wird euch helfen.“

„Danke, aber wir brauchen keine Hilfe.“, lehnte die Wolfsfrau beleidigt ab und sah Merle missmutig an. „Von niemanden.“

Merle nahm dies mit einem Nicken zur Kenntnis und ärgerte sich über sich selbst. Als Diplomatin würde sie es wohl nie weit bringen. Ihr fehlte das Gespür. Schließlich schlug Linu ein großes Tuch zurück und offenbarte dahinter eine kleine Kammer, die mit zwei Schlaflagern ausgelegt worden war. Mittendrin hockte Hitomi und kämmte sich über eine Wasserschale ihre Haare.

„Bei so kurzem Haar brauchst du doch keinen Kamm.“, sagte Merle ihr.

„Hallo, Merle.“, begrüßte Hitomi sie und legte den Kamm beiseite. Ihr nächstes Satz triefte vor Sarkasmus. „Wie ich mich freue dich zu sehen.“

„Gefällt es dir hier?“, fragte sie unschuldig.

„Kommt ganz darauf an. Bin ich noch in Farnelia?“

„Nicht ganz. Aber ich bin sicher, du kommst auch ohne Luxuswanne und Himmelbett zurecht.“

„Natürlich!“, ätzte Hitomi zurück. „Meine Sporttasche hätte ich trotzdem gerne.“

„Tja, die liegt in der Villa und gammelt feuchtfröhlich vor sich hin.“

„Du hast sie zurückgelassen!“, warf sie Merle vor.

„Schlepp du erstmal einen Menschen mit dir rum, der schwerer ist als du selbst. Dann kannst du meckern, aber bis dahin solltest du mir dankbar sein.“, hielt sie dagegen. Beide warfen sich bitterböse Blicke zu.

„Ich glaub, das wird mir zu heiß hier drinnen.“, verabschiedete sich Linu und ließ die beiden Streithennen allein.

„Dafür, dass du mich mal wieder gegen meinen Willen irgendwo hin geschleift hast?“, konterte Hitomi wenig angetan.

„Ich hab dir einen Gefallen getan, ob du es glaubst oder nicht.“, belehrte Merle sie. „Außerdem, was heißt hier Wieder? Es war deine eigene Entscheidung mir nach Gaia zu folgen. Gezwungen hab ich dich jedenfalls nicht.“

„Warum hast du Siri nicht mitgenommen. Sie hätte die Tasche tragen können.“, wandte Hitomi störrisch ein.

„Damit ich nicht nur auf dich, sondern auch auf sie aufpassen darf? Nein, vielen Dank.“

In Erinnerungen versunken berührte sie ihren Hals. Ihr war so, als könnte sie noch immer den kalten Stahl auf ihrer Haut fühlen.

„Sie war doch ganz geschickt mit dem Schwert. Ich glaube nicht, dass sie einen Aufpasser braucht.“

„Und woher nimmst du die Erfahrung so etwas zu beurteilen? Ich kenne sie sehr viel länger als du. Sie ist meine Schülerin. Ich weiß, was ich tue.“, beendete Merle die Diskussion.

Hitomi wollte sich nicht so einfach geschlagen geben und suchte nach Gegenargumenten, doch sie fand keine.

„Wo bin ich überhaupt?“, fragte sie stattdessen.

„Hat dir Linu nichts gesagt?“

„Nein, sie hat sich mir nur vorgestellt und mich über die Tageszeit aufgeklärt.“

„Wir sind in den Höhlen eines Wolfsmenschenrudel. Hier verbringen sie jedes Jahr die kalten Monate.“

„Also ein Winterquartier.“, stellte Hitomi fest. „Wo befinden sich diese Höhlen genau?“

„Am Rand des Waldes von Farnelia. Hier findet uns kein Mensch.“

“Und warum bin ich hier?“

„Weil ich Lust auf ein Abenteuer hatte.“, antwortete Merle Schulter zuckend.

„Merle!“

„Ist ja gut! Ich verstecke dich hier, weil in Farnelia demnächst ein Treffen der Spitzen der Allianz stattfindet.“

„Und?“, hakte Hitomi ungeduldig nach.

„Aston weiß dank seiner Kopfgeldjäger, dass du dich in Farnelia aufgehalten hast. Diese Konferenz wurde kurz nach deren Auslieferung an Astoria von ihm einberufen. Der Austragungsort bestimmt dabei immer das Thema. König Van, Gesgan und ich glauben, dass er dich ächten lassen und Farnelia zu deiner Auslieferung zwingen will.“

„Also hat Van dir befohlen mich zu entführen.“, stellte Hitomi enttäuscht fest.

„Falsch. Er hat nur gesagt, dass ich dich verschwinden lassen soll. Von einer Entführung war keine Rede.“

„Das heißt, er weiß nichts? Weder wo wir sind, noch ob es uns gut geht?“

„Weder noch. So wird ihm keiner einen Strick drehen können, weil du weg bist. Schließlich wurdest du von einer habgierigen Untergebenen entführt, die dein Kopfgeld einstreichen will.“, brüstete sich Merle.

„Das durchschauen die Fürsten doch locker. Vor allem, wenn du das Kopfgeld nicht einstreichst.“, merkte Hitomi an.

„Wahrscheinlich, aber solange sie nicht das Gegenteil beweisen können, sind ihnen durch ihre eigenen Verträge die Hände gebunden und Van ist aus dem Schneider.“

„Wie hast du mich hier her geschafft? Zu Fuß?“

„Ich bin doch nicht irre!“, lachte Merle und verpasste so ihrer Freundin einen Knick in ihrem Selbstbewusstsein. „Zieh ein paar Sachen an, dann zeig ich es dir.“

Es dauerte nicht lange, da verließ Hitomi komplett in Leder und Felle gehüllt das Lager. Sie war alles andere als Zufrieden über die Auswahl, doch es war kalt, also fügte sie sich. Sie folgte Merle durch die vielen Gänge des Höhlenkomplexes bis zu einer Kammer, die an einer Seite mit Ästen, Erde und Gestrüpp zugedeckt war. Der Raum war viel größer als alle anderen und beherbergte ein Luftschiff, das aussah, als wäre es eine Kreuzung zwischen einem Kampfjet und einem Hubschrauber.

„Was ist das?“

„Ein Luftschiff, das von den Zaibacher hergestellt worden ist. Wahrscheinlich noch ein Prototyp. Wir haben es von Kopfgeldjägern erbeutet. Es wird im Gegensatz zu seinen Artgenossen nicht mehr nur mit fliegenden Steinen in der Luft gehalten, sondern mit rotierenden Blättern. Wenn es sich sehr schnell vorwärts bewegt, sorgt auch die Form der Flügel für Auftrieb. Die Steuerung erinnert mich an meinen Guymelef.“

„Dein Guymelef...? Ach ja, Van erzählte mir, du hast Folkens Guymelef von Astoria geschenkt bekommen.“

„Damals hatten wir uns noch gut verstanden. Ich wette, du hast dich tierisch erschreckt, als ich dich damit gerettet hatte.“, kicherte Merle.

„Ein bisschen.“, gab Hitomi zu und verdrängte die aufkeimenden Erinnerungen. Das Mädchen ging die Rampe am Heck hinauf und sie folgte ihr zögernd.

„Dieses Schiff gibt uns totale Freiheit.“, schwärmte Merle. „Wir können jederzeit verschwinden, wenn wir Lust haben oder wenn die Umstände uns dazu zwingen.“

„Wir haben aber nur die Freiheit wegzulaufen.“; widersprach Hitomi. „Nach Farnelia könnten wir selbst damit nicht fliegen.“

„Oh, könnten täten wir schon.“, gab Merle zu bedenken. „Das Schiff hat eine Tarnvorrichtung, aber Van kannst trotzdem du nicht besuchen. Insofern hast du recht.“ Neugierig beobachtete sie Hitomis Reaktion. „Aber das sollte dich nicht kümmern, da du ihn sowieso nicht wieder sehen willst.“, quatschte sie munter weiter und schöpfte neue Hoffnung, da sich Kummer auf Hitomis Gesicht abzeichnete. „Sag bloß, du sehnst dich noch nach ihm. Hast du ihm etwa schon vergeben?“ Verlegen wich Hitomi den großen Augen ihrer Freundin aus und starrte stattdessen auf den Boden. „Ha, das muss ich ihm gleich schreiben! Er wird außer sich sein vor Freude.“, frohlockte Merle und sprang auf und ab, bis Hitomi ihr plötzlich den Mund zuhielt.

„Du wirst nichts sagen! Hast du mich verstanden, Merle?“, fragte sie mit stechendem Blick. „Ich werde einen Weg zurück zur Erde finden, selbst wenn ich um ein Spaceshuttle bitten muss. Wenn Van mich noch liebt, soll er mich von dort abholen. Er, nur er, und ohne ein Hinweis von dir!“

„Warum willst du zurück?“, rätselte Merle, nachdem Hitomi sie losgelassen hatte. „Hier hast du alles, was du zum Leben brauchst. Eine Bleibe, Freunde und einen Kerl, der dich abgöttisch liebt.“

„Ich kann nicht einfach siebzehn Jahre meines Lebens unter den Teppich kehren für jemanden, der es nicht für nötig hält, sich um mich zu kümmern. Auf der Erde liegt auch ein Leben vor mir.“, konterte Hitomi entschlossen. „Wenn er mich liebt, kommt er. Wenn nicht, werde ich einsam sterben. Ich warte auf ihn. Alles andere liegt bei Van.“

Hitomi drehte sich um und ging großen Fußes die Rampe hinunter.

„Warte mal! Das kannst du nicht machen!“, rief Merle. „Du kennst doch Van. Wenn du ihm nicht kräftig in den Hintern trittst, dauert es eine Ewigkeit, bis er sich aufrappelt. Unter deinen Bedingungen wird er nie kommen, es sei denn, du lässt mich zutreten.“

„Er ist schon einmal gekommen.“

„Ja, nachdem ich ihm vom Dach der Mühle gestoßen habe.“

„Dieses Mal wirst du es nicht tun! Ende der Diskussion!“, forderte Hitomi und setzte ihren Gang fort. Fassungslos lief das Katzenmädchen hinter ihr her.

„Wie willst du überhaupt zurückkehren?“

Hitomi wandte sich Merle zu und grinste.

„Wie wohl? Ich werde mich bei den Engeln erkundigen, warum ich keine Lichtsäule erschaffen kann.“

„Engel? Was sind Engel?“, wunderte sich Merle, doch Hitomi beachtete ihre verdatterte Freundin nicht weiter und ging zurück zum Lager.

Ein neuer Tag

Bis auf einen Silberstreifen am Horizont deutete nichts auf einen Morgen hin. Siri ließ sich einen Moment lang von dem Schauspiel am östlichen Himmel fesseln und genoss den Anblick, wie das glühend weiße Schimmern über der Felswand in ein schwarzes Blau überging. Verträumt setzte sie ihren Weg durch die nächtlichen Gassen Farnelias fort. Mit ihrem leichten Gepäck steuerte sie die großen Lagerhäuser am Rand der Stadt an. Dort angekommen suchte das Depot mit der Nummer zwei. Angesichts der Nummer vermutete sie es in der Nähe des Stadttors, doch sie irrte und musste fast die gesamte Reihe der Schuppen ablaufen, ehe sie zum Lager Zwei kam. Was hatte der Händler wohl verbrochen um so einen undankbaren Platz zu bekommen?

Sie wurde nervös. Eigentlich sollte es ein einfacher Job werden. Nichts ernstes, nur auf ein paar Symptome der Seuche sollte sie achten, also überhaupt kein Grund sich Sorgen zu machen. Einmal Astoria hin und zurück, nichts weiter.

Das Gefühl blieb.

Vor dem ihr zugewiesenen Lagerhaus sah sie drei Ochsenkarren und zwei überdachte Pferdewagen stehen.

„Das soll ein Konvoi sein?“, wunderte sich Siri.

Sie hatte mehr erwartet, vor allem da in den Speichern riesige Mengen Getreide auf ihre Weiterverarbeitung warteten. Diese Masse war durch gerade erst aufgehobene Blockade entstanden und konnte nicht mit so kleinen Transporten abtragen werden. Siri zuckte ratlos mit den Schultern. Wahrscheinlich sollte sie sich freuen, dass sie so wenig Arbeit haben würde.

Sie sah fünf Leute, die die Ladung der Karren sicherten, und einen Mann, der den Vorgang überwachte. Seine Haltung zeugte von Erfahrung und einem gesunden Selbstbewusstsein. Für einen Händler, der Geschäfte machen wollte, wirkte er jedoch etwas schmuddelig. Vor allem sein schwarzes Haar schien schon lange keine Schere mehr gesehen zu haben. Mit ermutigenden Kommandos trieb er seine Männer an. Ein ziemlich bunter Haufen, dachte Siri, während sie ihre zukünftigen Reisegefährten betrachtete. Einer war klein, dünn und hatte ein rotes Tuch auf seinem Kopf, ein anderer trug eine Glatze mit einer hellen Narbe auf der Stirn. Der nächste zeichnete sich durch eine wohlgebräunte Hautfarbe aus, während wieder jemand anders durch eine unnatürlich rote Nase glänzte. Der letzte war groß, hatte dunkelbraunes Haar und war kräftig gebaut, wobei Siri bezweifelte, dass es sich bei den Rundungen auf Bauchhöhe um Muskeln handelte. Nur eins hatten sie gemeinsam. Sie waren alle bis an die Zähne bewaffnet. Die meisten trugen ein Schwert an der Hüfte, aber absolut jeder von ihnen führte einen verborgenen Dolch mit sich. Sie selbst tat es ebenfalls, wie sie sich plötzlich erinnerte. Ihren hatte sie an einer ihrer Waden befestigt. Sollte sie ihn je benutzen müssen, wird ihr Opfer in seinen letzten Sekunden erst schmachten, dann sterben. Ihr Schwert hing zusammen mit ihrem Gepäck über der Schulter.

Irgendwie beschlich Siri das Gefühl, dass sie keine normalen Händler vor sich hatte, eher Veteranen. Das Geschäft mit Transporten war wohl gefährlicher, als sie angenommen hatte. Mit einen mulmigen Gefühl ging sie auf den Aufseher der Truppe zu.

„Guten Morgen, Herr.“, begrüßte sie ihn und machte so auf sich aufmerksam. Dieser wirbelte herum, wobei seine rechte Hand auf dem Griff seines Schwertes ruhte. Zu spät bemerkte Siri, dass sie aus ihrer Vorsicht heraus automatisch alle Spuren ihrer Anwesenheit verwischt hatte. Schnell nahm der Händler wieder seine selbstbewusste Haltung ein.

„Schleichst du dich immer so an?“, fragte der Mann von oben herab.

„Bitte verzeiht.“, entschuldigte sich Siri mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Schon gut, was willst du?“, fragte der Händler scheinbar beruhigt.

„Wo finde ich den zuständigen Händler für diesen Transport?“

„Er steht vor dir.“, sagte der Mann ungeduldig. „Was willst du?“

„Ich bin Siri Riston, die Sanitäterin, die euch begleitet.“, stellte sie sich vor.

„Was? Aber ich habe doch mit der Verwaltung ausgemacht, dass uns kein Arzt begleitet.“

„Der König selbst hat mich hierher bestellt.“

„So? Dann wirst du jetzt hier herum stehen, wie bestellt und nicht abgeholt, denn mit uns wirst du nicht reisen.“, widersprach der Händler Siri energisch.

„Wollt ihr den Wunsch des Königs in Frage stellen?“, fragte sie streng. „Wenn das so ist, kann ich euch ja gleich unter Quarantäne stellen.“

„Quarantäne? Aber das darfst du nicht! Es ist doch niemand krank.“, wunderte sich der Händler.

„Ich habe alle Befugnisse.“, informierte Siri ihn. Die Männer hatten inzwischen die Arbeit eingestellt und lauschten. „Und wie kann ich mir sicher sein, dass ihr die Seuche nicht nach Astoria tragt, wenn ich euch nicht untersuche?“

„Aber der König...“, setzte der Händler an, hielt aber inne.

„Nehmen wir sie mit, dann wird's wenigstens lustig auf der Reise.“, brummte der Braunhaarige herüber und alle anderen lachten.

„Niemals!“, brüllte der Händler seine Arbeiter an. „Dann würde eure ganze Disziplin den Bach runter gehen.“

„Als ob sie jemals oben auf war.“, konterte der Typ mit der roten Nase und wieder lachten alle. Aus einem der Pferdewagen kam plötzlich ein unverständliches Stöhnen. Der Händler kletterte eilig auf den Wagen und sein Kopf verschwand hinter dem Vorhang vor dem Eingang. Fünf Sekunden später war sein Kopf wieder sichtbar und er rief: „Sani, sie kommen mit uns, aber halten sie sich von diesem Wagen fern!“

„Wenn ein Kranker da drinnen liegt, muss ich ihn mir ansehen.“; protestierte Siri empört.

„Ich habe Nein gesagt.“, entgegnete der Händler und stieg vom Wagen. Sie wurde misstrauisch. Könnte es sein, dass der Diebstahl des Kopfgeldjägerschiffes nur eine Finte war und Hitomi dort im Wagen lag? Entschlossen ging sie auf den Wagen zu, doch der Händler hielt sie auf und drückte ihr ein Dokument in die Hand. Siri las es aufmerksam durch und prüfte das Siegel zweimal auf seine Echtheit. Dann gab sie ihm enttäuscht das Papier zurück.

„Das reicht mir.“, sagte Siri und schluckte ihren Ärger hinunter. Der Erlass besagte, dass der Transport Immunität gegenüber allen Kontrollen hatte und wurde erst vor zwei Tagen ausgestellt. Von König Van persönlich. Was ging hier vor? In dem Wagen musste etwas sehr brisantes gelagert sein. Sie mochte es ganz und gar nicht im Unklaren gelassen zu werden, aber nach der Schlappe letzte Nacht konnte sie sich kaum darüber beschweren.

„Mit eurer Erlaubnis, Händler Gades, würde ich jetzt gerne die gesamte Mannschaft überprüfen.“

„Ich dachte eigentlich, dass hätte sich hiermit erledigt.“, entgegnete Gades und wies auf das Dokument.

„Ich habe meine Befehle erst gestern Abend vom König bekommen, ihr hingegen vor zwei Tagen.“, erwiderte Siri und gab Gades nun ein Dokument. Dieser händigte es ihr nach einem kurzem Blick darauf wieder aus und rief: „Kio, du bist der erste. Lass dich vom Sani durchchecken.“

„Ich würde euch ganz gerne als erstes untersuchen.“, bat Siri.

„Warum ich?“, fragte er erstaunt.

„Wenn der Händler infiziert ist, ist sowieso der ganze Konvoi gestorben, denn ihr werdet eure Ware wohl kaum ohne euch ziehen lassen. Mit euch kann ich also Zeit sparen.“

„Dauert die Untersuchung so lange?“

„Eigentlich nur ein paar Minuten, aber es geht ums Prinzip.“

Gades rollte mit den Augen und wies auf den anderen Pferdewagen. Beide kletterten über eine schmale Treppe hinein und versuchten zwischen den Proviant und Küchengeräten etwas Platz zu finden.

„Wisst ihr eigentlich, was ich mir dank euch heute Nacht alles von meinen Leuten gefallen lassen muss?“, fragte Gades genervt, als sie mit ihrer Untersuchung begann.

„Ich weiß.“, antwortete Siri mit einem schiefen Grinsen. „Ihr lasst mich dafür vor lauter Sorge um einen Patienten nicht ruhig schlafen. Wir sind quitt.“ Schnell und präzise beendete sie ihre Arbeit. „Schickt bitte den nächsten zu mir.“, bat Siri, woraufhin Gades den Wagen verließ.

Nachdem sie auch den letzten der sechs Mannschaftsmitglieder unter die Lupe genommen hatte, fühlte sie sich so müde wie nach einer Zwölfstundenschicht, was nicht am Umfang der Arbeit lag, sondern schlicht an den Patienten. Sie stieg aus dem Wagen und ging zu Gades, der sie gleichgültig musterte.

„Fertig, Sani? Haben wir die Erlaubnis zum Aufbruch?“

„Pail scheint an einer Erkältung zu leiden oder er hat heute Morgen schon zu tief ins Glas geschaut. Riden hingegen scheint an Minderwertigkeitskomplexen zu leiden, wenn er mit einem Mädchen spricht. Abgesehen davon geht es allen gut. Ihr habt meine Erlaubnis.“, informierte Siri ihn.

„Ist beides nichts neues. Und dafür brauchten wir unbedingt einen Arzt.“

„Ich bin kein Arzt.“, wandte Siri ein. „Noch nicht.“

Gades gab den Befehl zum Aufbruch, woraufhin jeder seinen Platz einnahm. Für einen Moment war Siri sich nicht sicher, auf welchem Bock das geringste Übel saß, doch Gades nahm ihr die Entscheidung ab, indem er sie zu sich auf den Wagen mit dem Kranken winkte.

„Euch ist schon klar, dass ihr so die Gerüchteküche nur noch anheizt.“, gab Siri zu bedenken, während sie sich neben ihn setzte, und wie zur Bestätigung schallte es von hinten:

„Hey Unteroffizier, ihr müsst unseren Kommandanten wirklich in allen Punkten nacheifern.“

„Theo, wir sind nicht mehr im Dienst. Außerdem muss ich euch ja irgendwie dazu bringen während der Reise nach vorne zuschauen.“, rief Gades zurück und setzte seinen Wagen an die Spitze des Zugs.

„Passt aber auf, dass ihr nicht selbst gegen einen Baum fahrt.“, konterte Riden.

Siri schmunzelte. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass sie eine Männergemeinschaft derart aufmischen könnte, allein durch ihre Anwesenheit. Nachdem der Konvoi die ersten Kontrollen und das Stadttor passiert hatte, breitete sich zusehends Schweigen aus, welches sich während der Durchquerung der Schlucht aber wieder lockerte. Gegen Mittag hatte Siri schließlich das zweifelhafte Vergnügen an sämtlichen schmutzigen Geheimnissen der Männer hinter ihr teilzuhaben. Immer wieder jedoch hörte sie einen weiteren Namen heraus. Allen Shezar. Jeder in Farnelia kannte den Namen des berühmten Himmelsritters und besten Freund König Vans. Die Geschichten seiner Eroberungen abseits des Schlachtfeldes waren ihr aber neu.

„Gades, woher kennt ihr Allen Shezar?“, fragte sie mehr um die Zeit totzuschlagen als aus wirklichem Interesse.

„Meine Männer und ich waren einst Soldaten an einem Grenzposten von Astoria, der unter dem Befehl Allen Shezars stand. Wir haben deinem König damals Obdach gewährt.“

„Und?“, hakte Siri nach.

„Was soll sonst noch sein?“

„Eure Männer zerreißen sich ja regelrecht das Maul über ihn. Wenn ich an all die Frauengeschichten denke, die ich in den letzten Stunden gehört habe...“

„Die wollen dich nur ärgern. Die Hälfte davon ist frei erfunden.“, dementierte Gades.

„Die andere Hälfte stimmt also. Er muss ja ein ziemlicher Frauenheld gewesen sein.“, schlussfolgerte Siri herausfordernd, doch Gades ging nicht darauf ein.

„Ich kann nicht darüber sprechen.“, sagte er stattdessen.

„Aber eure Männer dürfen es.“, versuchte es Siri weiter.

„Eigentlich nicht, doch sie scheinen es immer wieder zu vergessen. Die kriegen ja nicht einmal mit, dass ein Mädchen alles über deren Liebesleben erfährt und ein Schwätzchen mit den Frauen Zuhause halten könnte.“, erwiderte Gades wobei er den letzten Teil des Satzes betonte und dabei an seinen Wagen vorbei nach hinten sah.

„Das ist eine gute Idee!“, rief sie begeistert, woraufhin es hinter ihr sofort still wurde.

„Wir sollten öfters weibliche Begleitung mitnehmen.“, seufzte Gades zufrieden. „Dann könnte Allen Shezar endlich raus aus dem schlechten Ruf bei den Vätern.“

„Oder er würde noch tiefer 'drin' stecken.“, kam es abermals von hinten und wieder brach Gelächter aus. Siri hingegen brauchte eine Zeit lang, bis den Witz verstanden hatte. Eine Erkenntnis, auf die sie gern verzichten hätte.

Der erste Bauer

Van saß zusammen mit zwei Sekretären im Konferenzraum und ging mit ihnen diverse Briefe, Erlasse und Berichte durch, die entweder unterschrieben, abgesegnet oder als verbesserungswürdig an die Sekretäre zurückgegeben wurden. Er war so vertieft in die Arbeit, dass er nicht merkte, wie Gesgan den Raum betrat. Der Kommandant seiner Leibwache stand stramm und räusperte sich. Ein wenig verlegen sah Van zu ihm auf.

„Oh, ich hab euch gar nicht hereinkommen hören.“

„Verständlich, Majestät.“, erwiderte Gesgan. „Ich habe Neuigkeiten.“

„Nur für mich alleine?“, fragte Van.

„Das weiß ich nicht, Majestät.“

Van nickte den Sekretären zu, woraufhin sie den Raum verließen. Mit einem Seufzer stocherte er in den zurückgelassen Unterlagen.

„Ich habe schon lange aufgegeben, alles selbst zu lesen. Stattdessen muss ich mich auf Schreiberlinge verlassen und darauf vertrauen, dass sie mir auch wirklich alles wichtige sagen. Damit hab ich am meisten Schwierigkeiten gehabt. Ich musste Leuten vertrauen, die ich überhaupt nicht kenne.“

„Majestät, ich fürchte, wir sind in Eile.“, beendete Gesgan den Monolog.

„Ja, wie immer.“, stöhnte der König und bot ihn einen Stuhl an. Der stämmige Krieger jedoch rührte sich nicht.

„Ist Siri schon aufgebrochen?“, erkundigte sich Van.

„Vor etwa einer Stunde.“; informierte Gesgan ihn. „Sie haben das Stadttor ohne Kontrollen hinter sich gelassen.“

„Ja, was die Hand eines Königs doch alles bewirken kann. Manchmal beendet sie mit einer simplen Unterschrift sogar die Existenz ganzer Städte und deren Bewohner.“, führte Van aus und klopfte dabei mit seinen Fingern auf die Tischplatte

„Majestät?“

„Weswegen wolltet ihr mit mir sprechen?“

„Unsere Späher haben ein Konsularschiff von Chuzario im Anflug auf Farnelia entdeckt.“

„Jetzt schon? Die Konferenz ist erst in einer Woche.“

„Ich weiß, Majestät.“

„Selbstverständlich wissen sie das.“, seufzte Van. „Wie lange dauert es, bis das Schiff hier ist?“

„Etwa eine halbe Stunde.“

„Wurde der Besuch angekündigt?“

„Nein, Majestät.“

„Haben die sich schon bei uns gemeldet?“

„Nein, Majestät.“

„Wir wissen also auch nicht, wer in diesem Luftschiff zu uns kommt?“

„Nein, Majestät.“

Wieder machte Van seiner Erschöpfung Luft und drehte sein Glas gefüllt mit Wein auf den Tisch hin und her.

„Gebt ihnen die Landeerlaubnis für die Wiese vor dem Tor und schickt ihnen eine Kutsche. Drei Personen, nicht mehr. Ich werde sie vor der Villa empfangen. Allein, versteht sich.“

„Verzeiht, Majestät, aber wer auch immer kommt, wird sich durch diese Behandlung beleidigt fühlen.“, gab Gesgan zu bedenken.

„Wir haben alle Hände voll zu tun, dass Farnelia nicht im Chaos versinkt. Wer ohne Einladung oder Ankündigung kommt, kann daher auch keinen gebührenden Empfang erwarten. Mein Hof ist schließlich kein Stehaufmännchen, welches nur darauf wartet Gäste zu bedienen.“, erwiderte der Herrscher gereizt.

„Jawohl!“, antwortete Gesgan.

„Das Konsularschiff darf übrigens, wenn es erst einmal gelandet ist, nicht ohne meine ausdrückliche Erlaubnis starten.“

„Das wird Chuzario als inakzeptabel bezeichnen.“

„Letzte Nacht wurde eine Person aus dem Palast entführt. Da wir noch nicht genau wissen, wie und ob diese Person aus Farnelia heraus geschafft worden konnte, dürfte diese Maßnahme auf Verständnis stoßen.“; diktierte Van Gesgan die offizielle Erklärung dafür.

„Sollen wir das Schiff durchsuchen?“, fragte er pflichtbewusst.

„Nein, aber kontrolliert alles, was das Schiff betritt und verlässt! Die Gäste ebenfalls. Keine Ausnahmen, egal wer aus dem Schiff raus kommt. Es wird Zeit, dass die internationale Elite merkt, dass in Farnelia ein anderer Wind weht.“

„Jawohl, Majestät.“

„Geht und macht euch keine Sorgen! Ich weiß, was ich tue.“, beruhigte Van ihn, doch das mulmige Gefühl von Gesgan wollte nicht verschwinden. Schweigend verließ er den Raum. Van indes stützte sich mit seinen Ellbogen auf die Tischplatte und legte seine Stirn in seine Handflächen. Sofort als der Krieger zur Tür raus war, betraten wieder seine Sekretäre das Zimmer, doch Van wies sie zurück.

„Wir machen nach dem Mittagessen weiter.“, informierte er sie müde. „Nehmt die Unterlagen und macht eine Pause irgendwo außerhalb der Villa!“

Die Sekretäre taten, wie ihnen geheißen war, und ließen Van allein zurück. Er blieb noch fünf Minuten regungslos sitzen, ehe er sich aufraffte und auf sein Zimmer ging. Dort erwarteten ihn schon zwei Dienerinnen, die ihm beim Umziehen halfen. Gesgan konnte wohl nicht nur kämpfen, sondern auch gut delegieren. Noch etwas, dass Van an Vargas erinnerte. Sein Schwertmeister war ein ebenso fähiger Regent wie Krieger gewesen. Vielleicht sollte er den in die Jahre gekommen Kommandanten seiner Leibwache näher zu sich heran holen.

Ein halbe Stunde später trat Van vor die Villa in die eisige Morgenluft. Gerade rechtzeitig, wie er bemerkte. Die edle, überdachte Kutsche war gerade dabei die letzte Rampe zunehmen. Beinahe unerträglich langsam fuhr sie durch den Garten und hielt schließlich vor dem Haupteingang zur Villa De Farnel.

Ein Diener stieg vom Bock herunter und öffnete die Tür. Heraus trat ein kleiner, gut gekleideter Mann mit langem, weißem Haar, welches zu einem Zopf zusammengebunden war. Die Falten im Gesicht, die würdevolle Haltung und seine fließenden Bewegungen zeugten von seinem fortgeschrittenen Alter, aber auch von einem hohen Bildungsstand. Er machte vor der Kutsche gekonnt einen Schritt zur Seite und hielt seine rechte Hand hoch.

Nach einem Moment legte sich eine zarte Kinderhand auf seine und ein Mädchen von etwa vierzehn Jahren stieg aus der Kutsche. Mit ihrer anderen Hand zog sie ihren Mantel enger um ihren Körper und lächelte Van dabei schüchtern zu. Dunkelblondes Haar floss in langen Wellen über ihre Schultern. Der König brauchte einen Augenblick ehe er sie wieder erkannte. In den letzten Jahren waren ihm so viele junge adlige Mädchen vorgestellt worden, dass er längst nicht mehr alle Namen wusste. An die Gesichter konnte er sich schon gar nicht erinnern. Irgendwie sah eine Prinzessin aus wie die andere.

„Willkommen in Farnelia, Prinzessin Sophia. Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Reise.“, begrüßte er sie mit den üblichen Floskeln und einer leichten Verbeugung.

„Euer Majestät.“, erwiderte die Prinzessin mit leiser Stimme und vollführte einen Knicks, während sich ihr Reisegefährte ebenfalls verbeugte.

„Mein Name ist Heinrich von Schliemann.“, stellte sich der Mann vor. „Ich bin der Lehrer von Prinzessin Sophia. Entschuldigt, dass wir eure Majestät so plötzlich überfallen, aber gewisse Ereignisse zwangen uns Chuzario unverzüglich zu verlassen. Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?“

„Ich habe einen schalldichten Konferenzraum.“, schlug Van vor.

„Das wird genügen, Majestät.“, bestätigte von Schliemann und nickte.

„Möchte sich die Prinzessin frisch machen?“, erkundigte sich der junge Herrscher. „Es stehen Gästezimmer bereit.“

„Die Prinzessin nimmt das Angebot an, Majestät, und dankt euch von Herzen.“, antwortete ihr Lehrer für sie und geleitete sie in die Villa. In der Empfangshalle angekommen, wies Van zwei Dienerinnen an, die Prinzessin in das vornehmste Gästezimmer zu bringen, während er mit dem Lehrer und einer weiteren Dienerin zum Konferenzraum ging. Er postierte die Dienerin neben der Tür außerhalb des Raumes und bot von Schliemann einen Stuhl an, der sich auch gleich setzte. Er lehnte sich jedoch nicht an, sondern blieb aufrecht sitzen. Van ließ sich ebenfalls an dem langen Tisch nieder.

„Ich will nicht lange drum herum reden, Majestät.“, begann von Schliemann sofort. „Wir haben Chuzario nicht aus freien Stücken verlassen und sind mehr oder weniger als Flüchtlinge hierher gekommen. Alles Weitere steht in diesem Brief.“

Von Schliemann überreichte Van einen Umschlag. Der nahm den Brief scheinbar gelassen entgegen, so wie er dem knappen Bericht gelauscht hatte.

„Ich soll der Prinzessin bis zum Treffen der Allianz in Farnelia Unterschlupf gewähren.“, gab er bekannt, nachdem er den Brief gelesen hatte.

„Die Verschwörung, welche das Leben der königlichen Familie bedroht, sollte bis dahin aufgeklärt sein.“, versichert von Schliemann.

„Warum kommt ihr damit gerade zu mir. Es gibt gewiss Orte auf Gaia, die sicherer sind als Farnelia.“, wollte Van wissen.

„Ihr habt an unserer Seite in der Schlacht um Zaibach gekämpft. Euer Mut und eure Entschlossenheit hatte damals die Moral unserer Truppen aufrecht erhalten. Eure Majestät ist schon jetzt ein Held für unser Volk.“, schwärmte von Schliemann und rückte dabei näher an Van heran. Dieser lächelte einen Moment verlegen, setzte dann aber wieder eine ernste Mine auf.

„Ich fürchte, ich kann der Prinzessin keine Sicherheit bieten. Erst letzte Nacht wurde eine Person aus der Villa entführt.“

„Das ist ja schrecklich. Wer denn?“

„Die Ermittlungen dürfen nicht gestört werden. Details kann ich daher nicht offenlegen.“

„Ist diese Entführung der Grund für die hohen Sicherheitsmaßnahmen am Luftschiff?“

„So ist es.“, bestätigte Van. „Ich hoffe, sie waren nicht allzu lästig.“

Von Schliemann grübelte einen Moment.

„Nun, die Prinzessin setzt dennoch vollstes Vertrauen in eure Majestät.“; entschied er.

„Das wird ihr nichts nützen, da ich nicht persönlich auf sie aufpassen kann. Das gibt mein Terminkalender einfach nicht her.“, gab der König zu bedenken.

„Nun, aber zu den Mahlzeiten werden euer Majestät doch Zeit für die Prinzessin haben?“

„Ich esse normalerweise allein, aber das muss nicht sein. Wenn die Prinzessin mir bei den Mahlzeiten Gesellschaft leisten will, so ist sie herzlich willkommen.“

„Dafür danken wir euch, Majestät.“, sagte von Schliemann erleichtert und erhob sich. Van geleitete ihn zur Tür hinaus und schickte ihn mit der Dienerin auf ein Gästezimmer. Er wollte schon gerade nach Gesgan rufen lassen, da tauchte der Gesuchte auch schon hinter einer Abbiegung auf. Van winkte ihn rein und setzte sich wieder auf einen der Stühle. Der ehemalige Spion aus Zaibach zog es wie immer vor zu stehen.

„Wie ist das Treffen verlaufen, Majestät?“, fragte er mit leichter Neugier.

„Seltsam.“, gab Van zu und überlegte. „Bis zur Konferenz der Allianz kümmert sich die Leibwache um die Prinzessin!“, befahl er.

„Aber was ist mit der Sicherheit eurer Majestät?“, protestierte Gesgan.

„Ich kann auf mich aufpassen und nein, ich will keine Widerrede hören.“, verbot Van.

„Sehr wohl, Majestät. Kann ich sonst noch etwas für euch tun?“

„Ja, falls ihr etwas Aufmerksamkeit erübrigen könnt, hört euch auf der Straße nach einem Mordkomplott gegen die Königsfamilie von Chuzario um!“

„Majestät?“

„Ich will einfach nur wissen, ob ich mir wirklich Sorgen machen soll oder dies nur eine krumme Nummer von Chuzario ist, um mich zu verkuppeln.“

„Jawohl!“, bestätigte Gesgan und verließ den Raum. Van blieb allein zurück und überlegte, wie er mit seinen weiblichen Gast verfahren sollte. Dass dieser Besuch die Beziehungen mit Astoria weiter auf Eis legen würde, daran zweifelte er nicht. Und Vasram hatte ebenfalls eine potentielle Heiratskandidatin zu bieten, was die Situation nicht einfacher machte. Schon seit langem glühte die Luft zwischen den drei Großmächten Astoria, Vasram und Chuzario, und Van wusste, wenn es zum Krieg kommt, dann wird Farnelia auf Grund seiner Lage ein Schlachtfeld sein und er selbst der erste Bauer, der geopfert werden wird.

Der gebrochene Idealist

Van stand reglos in seinem Zimmer, während eine Dienerin ihn ankleidete. Die Sonne schien vom Zenit ihres Weges auf Farnelia herab und es war nicht eine Wolke zusehen. Der strahlend blaue Himmel täuschte über die eisige Luft hinweg, die Bäume und Sträucher im Garten der Villa erstarren ließ.

Normalerweise betrieb er nicht einen derartigen Aufwand nur für ein Mittagessen. Mahlzeiten waren vor allem eine Pause vom Regieren und so pflegte er stets alleine zu essen. Doch heute war das anders und es würde sich über die nächste Woche wohl nicht ändern.

Van nahm einen tiefen Atemzug und spürte wie ein Schwall trocken heiße Luft durch seine Nasenflügel bis in seine Lunge vordrang. Er war nervös.

Hitomi hatte ihn vor Wut die Beziehung gekündigt und seitdem konnte er ihre Anwesenheit nicht mehr spüren. Besser gesagt, er traute sich nicht. Daher sollte er für eine politische Heirat frei sein, doch seine Angebetete war irgendwo im nirgendwo und er dachte immer noch an sie.

Jetzt stand ihm ein Treffen mit einer potentiellen Braut bevor, die er erstmals in Betracht ziehen musste. Die Kandidatin, Prinzessin Sophia von Chuzario, war allerdings nur eine von vielen, und aus guten Gründen nicht seine erste Wahl, wenn man ihm am Ende denn eine lassen sollte.

Die Mahlzeit selbst sollte nicht schwierig werden, versuchte er sich zu beruhigen. Alles, was er tun musste, war mit einem Mädchen zu plaudern, das aller Wahrscheinlichkeit nach darauf abgerichtet worden war, ihn um den Finger zu wickeln. Nichts, weswegen man sich Sorgen machen musste. Sie war nicht einmal eine Frau, nur ein Kind. Trotzdem bekam er die Unsicherheit nicht aus dem Kopf und sein Herz begann schneller zuschlagen. Inständig hoffte er, dass man ihn es nicht ansah. Sonst stünde es für Sophia schon eins zu null, obwohl das Spiel noch gar nicht begonnen hatte.

Die Dienerin beendete ihr Werk, machte einen Knicks und ging ein paar Schritte rückwärts. Mit scharfem Blick begutachtete Van das Ergebnis. Er trug ein weites, königsblaues Gewand, welches nach vorne hin offen war und einen kleinen Ausschnitt seines schwarzen Hemdes und der schwarzen Hose zeigte. Das Gewand lag dank eines Gürtels eng an seiner Hüfte und war durch goldene Stickereien in Form zweier Drachen verziert.

Einen Moment lang überlegte Van, ob er sich noch sein Schwert umhängen sollte. Im Prinzip brauchte er es nicht, dennoch gab es ihm ein Gefühl der Sicherheit. Van entschied sich dagegen. Zufrieden nickte er der Frau zu, die daraufhin noch einen Knicks machte.

Mit großen Schritten marschierte Van flankiert von zwei Dienerinnen den Flur entlang, die Treppe hinunter zur Empfangshalle. Da in seinem Kopf noch immer ein mehr oder weniger geordnetes Chaos herrschte, demonstrierte er nach außen hin Mut und Entschlossenheit. In der Halle angekommen kündigte man ihm auch schon die Ankunft von Sophia an.

Langsam und beinahe schwerelos schwebte sie in ihrem weinroten Kleid die Treppe hinunter. Ihr langes Haar war auf der Höhe ihrer Schulterblätter zusammengebunden und umgab ihr Gesicht wie eine golden schimmernde Aura. Das Kleid war mit Rüschen reich verziert, schmiegte sich unter ihren freien Schultern eng an ihren Körper und betonte dabei ihre zierlichen Brüste.

Sicherlich hätte es dem König die Sprache verschlagen, wenn er eine solche Szene nicht schon so oft gesehen hätte. Höflich lächelnd nahm er ihre Hand entgegen, als die Prinzessin die letzte Stufe hinter sich ließ. Zusammen und Arm in Arm gingen beide durch zwei große Flügeltüren in das Esszimmer. Der große Tisch im Zentrum des reich verzierten Raumes fasste normaler Weise bis zu zwei dutzend Personen, doch heute war er nur an den Enden gedeckt. Van zog den Stuhl hinter einem der gedeckten Plätze zurück, auf dem sich Sophia auch sogleich niederließ. Dann nahm er den Weg einmal den ganzen Tisch entlang auf sich und setzte sich gegenüber der Prinzessin.

„Möchte denn der Herr von Schliemann nicht mit uns speisen?“, fragte Van wenig interessiert, während ihnen die Vorspeise in Form einer Suppe serviert wurde.

„Nein, er lässt ausrichten, dass er sich nicht wohl fühlt und daher es vorzieht auf seinem Zimmer zu essen. Er bittet vielmals um Entschuldigung.“, antwortete Sophia pflichtgemäß. Der König nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis. Für andere Adelige mochte es eine Beleidigung sein, wenn sie von ihren eigenen Gästen sitzen gelassen werden, doch ihn störte es nicht. Wer nicht will, der hat schon. Stumm sah Van auf die bereits servierte Suppe. Schließlich nahm er den entsprechenden Löffel aus dem vor ihm liegenden Besteck und tauchte ihn in sein Essen. Zufrieden spürte er, wie die warme Flüssigkeit durch seinen Körper floss.

Daraufhin begann auch die Prinzessin zu essen. Zögerlich nahm sie einen Löffelzug nach dem anderen. Vergeblich wartete Van darauf, dass sie das Eis zwischen ihnen brechen würde. Anscheinend war sie wirklich so schüchtern und adrett, wie sie tat.

„Ist das Zimmer nach eurem Geschmack?“, erkundigte er sich. Die Prinzessin blickte zu ihm auf und lächelte ein wenig, ehe sie antwortete: „Ja, Majestät, auch wenn es etwas...“ Etwas erschrocken stoppte die Prinzessin. Ja, das kommt dabei raus, wenn man den Fragenkatalog mit samt den richtigen Antworten nicht auswendig gelernt hat, dachte Van und ließ es Sophie durch ein wenig scharmantes Grinsen wissen.

„…spartanisch eingerichtet ist.“, beendete er ihren Satz. „Es tut mir leid, Prinzessin, aber den Komfort, den ihr aus Chuzario gewohnt seid, können wir euch hier nicht bieten. Vielleicht wäre es besser, ihr würdet abreisen.“, köderte er das Mädchen.

„Nein, auf keinen Fall!“, erwiderte Sophia panisch. Sie brauchte einen Moment, bis sie merkte, dass sie schon wieder einen Fehler gemacht hatte.

„Ich sehe, seid ihr mit diesem Schlachtfeld noch nicht allzu sehr vertraut, euer Hoheit.“, neckte er sie.

„Schlachtfeld?“, wunderte sie sich.

„Natürlich.“, entgegnete Van und weiß mit einer weiten Geste auf das reich verzierte Esszimmer. „In Räumen wie diesen werden ganze Königreiche aufgeteilt, Städte zerstört und Länder eingeebnet. In Räumen wie diesem entscheidet sich das Schicksal ganzer Völker.“

„Majestät beliebt zu scherzen.“

„Nein, Majestät meint es tot ernst.“, widersprach er und nahm einen Schluck Wein. „Nehmen wir doch einfach unser Gespräch als Beispiel. Wenn wir, weswegen auch immer, beide zum Schluss kämen, eine Hochzeit zwischen unseren Häusern würde für uns alle von Vorteil sein, hätte es weitreichende Konsequenten.“

Sophie stutzte. Dass er so mit der Tür ins Haus fallen würde, hatte sie wohl nicht erwartet, wie er zufrieden feststellte. Davon unbeirrt fuhr er fort: „Der im Zuge der Hochzeit ausgehandelte Vertrag mit Chuzario hätte ohne Zweifel zur Folge, dass Farnelia nicht mehr Astoria und die ehemalige Hauptstadt von Zaibach mit Lebensmittel beliefern dürfte. Da Astoria jedoch nicht auf unsere Lieferungen verzichten kann und Aston sich nicht gern erpressen lässt, übernähme er Farnelia früher oder später gewaltsam, um die Versorgung seiner eigenen Bevölkerung sicherzustellen. Das wiederum würde euren Vater dazu veranlassen, die durch die Hochzeit entstandenen Verpflichtungen zu erfüllen, Farnelia zurückzuerobern und Astoria danach direkt anzugreifen. Vasram würde die Gelegenheit ergreifen und eine zweite Front von ihrem Gebiet des Zaibacher Reiches aus eröffnen, um die Hauptstadt selbst zu erobern, die in langen und mühseligen Verhandlungen Astoria zugesprochen worden war. Egal, wie dieser Krieg ausgeht, am Ende steht in Zaibach kein Stein mehr auf dem anderen und die Hälfte der Bevölkerung von Farnelia ist tot, während die andere Hälfte auf der Suche nach einem ruhigeren Fleckchen Erde ist. Es lebe die Diplomatie!“, rief Van aus und hob sein Weinglas, als wolle er anstoßen.

„Euer Majestät, verzeiht, aber geht es euch nicht gut?“, fragte Sophia ungläubig, während die anwesenden Dienerinnen ihren König schockiert anstarrten.

„Nein, ich bin nur zynisch.“, antwortete Van gereizt und trank sein Glas Wein in einem Zug aus. Leise trat eine Dienerin neben ihn und füllte nach.

„Ist es euch lieber, wenn ich gehe?“

„Nein, dann würde jeder von mir erwarten beleidigt zu sein. Schließlich haben wir ja nicht einmal den ersten Gang beendet. Es folgen noch vier weitere.“

„Ich glaube nicht, dass ihr dazu in der Lage seid.“, zweifelte die Prinzessin.

„Wozu soll ich nicht mehr in der Lage sein? Unnützes Zeug zu schwafeln? Ein sinnloses Gespräch zuführen?“, hakte Van nach. Das Mädchen rollte mit den Augen und sah dann um sich.

„Verlassen sie bitte den Raum! Kommen sie nicht wieder, ehe ich es sage!“, befahl sie den Dienerinnen, welche ihren König verwirrt ansahen. Der zögerte und wies sie dann aber mit ruhiger Stimme an, den Wünschen von Sophias Folge zu leisten. Daraufhin machten alle Dienerinnen synchron einen Knicks und verschwanden durch eine der Türen in die Küche. Sophia wandte sich wieder dem gebrochenen Mann vor ihr zu. Starr blickte sie Van in das Gesicht. Er hielt dem Druck ihres Blickes nicht stand und wandte sich beschämt ab.

„Was stört euch an meiner Anwesenheit?“, fragte Sophia ruhig und freundlich.

„Was sollte mich stören?“, wich Van der Frage aus. „Ich sitze hier am Tisch mit einer jungen Dame und esse das feinste Essen seit langem.“

„Etwas muss euch stören, sonst wärt ihr nicht so...“

„Zynisch?“, unterbrach Van sie und stand vom Tisch auf. Unruhig ging er im Zimmer hin und her.

„Unhöflich.“, verbesserte Sophia ihn. „Ich bezweifle, dass ihr euch gegenüber euren anderen Gästen auch so benehmt wie jetzt.“

„Nein, bisher hatte ich mich ganz gut unter Kontrolle.“, gab er zu und leerte ein weiteres Weinglas.

„Ich frage mich, ob das irgendetwas mit meinem Besuch zu tun hat.“

„Nein, hat es nicht. Es liegt nur an mir.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“, widersprach Sophia. „In den Augen meines Volkes seid ein Held, ein starker Krieger, der vor keiner Schlacht zurückschreckt, so ausweglos sie auch sein mag, ein König, der sein Volk weise und gütig führt, und ein Diplomat, der trotz seines jungen Alters sehr geschickt verhandelt und stets den Weg des Friedens wahrt.“

Van lachte bitter, nahm allen Mut zusammen und sah Sophia wieder direkt an.

„Wissen sie, euer Hoheit, die größten Zyniker sind enttäuschte Idealisten. Ich habe erlebt, wie Egoismus sämtliche Ideale aus den Weg räumt und Brücken zerstört.“

„Mit anderen Worten, ihr seid von jemanden enttäuscht worden.“, schlussfolgerte Sophia.

„Nein.“, antwortete Van. „Es ist im Übrigen nicht sehr höflich danach zu fragen.“

„Eben habt ihr gesagt, dass irgendwelche Brücken zerstört wären. Welche habt ihr gemeint?“

Wie angewurzelt blieb Van stehen und blickte auf das vor ihm sitzende Mädchen herab. Dieses Kind war erst vierzehn Jahre alt, dennoch hatte Van plötzlich das Gefühl er könnte ihr alles sagen und dass er ihren Rat brauchte. Sie hatte genau diesen Blick, den auch Merle drauf hatte, wenn sie ihm den Kopf wusch.

„Was ist passiert?“, forderte Sophia ihn nochmals sanft zum Reden auf.

„Sie hat mich verlassen.“, erwiderte Van schlicht.

„Wer?“

„Was spielt das für eine Rolle? Alles, was zählt, ist, dass ich sie viele Jahre lang ausgenutzt habe. Schließlich hatte es ihr gereicht und sie hat mich verlassen. Mein eigener Egoismus hat die Brücken zur ihr zerstört.“

„Liebt ihr sie?“

Van war angesichts dieser Frage schockiert, verunsichert, gelähmt. Die Antwort schwebte praktisch vor seinen Augen, doch er wollte sie nicht sehen. Überraschender Weise war es nicht mehr die Antwort, die ihm Angst machte, sondern die Konsequenzen, die sich daraus ergaben.

„Das geht euch nichts an, PRINZESSIN!“, blockte Van und verließ stürmisch das Zimmer. So schnell, wie er nur konnte, rannte er zum Kuppelzimmer und warf sich auf das Bett.

Niemand sollte seine Tränen sehen, am wenigsten er selbst.

Zum Mond mit der Etikette

Nur die schwache Flamme einer Kerze und das matte Mondlicht erleuchteten Vans Tischpult, als er die Berichte der Sicherheitskräfte in seinem düsteren Gemächern durchging. Wie üblich ging es vor allem um die steigende Kriminalität in Farnelias Straßen. Als einer der Gründe dafür wurde die Seuche aufgeführt. Nun, da wieder mit dem Ausland gehandelt werden durfte, schimmerte die Hoffnung in den Berichten durch, dass man nun Herr der Lage werden könne. Alles Quatsch, dachte Van. Das Verbrechen hatte Hochkonjunktur, weil die anfängliche Aufbruchstimmung nach all den Jahren bröckelte und die armen Bevölkerungsschichten die Hoffnung verloren.

Im letzten Absatz des Berichtes bat um mehr Männer für die Wache. Fasst mal einem nackten Mann in die Tasche, erwiderte Van in Gedanken und warf das Papier achtlos weg. Er stützte seinen Kopf mit den Händen und versuchte mit aller Kraft den pochenden Schmerz aus seinem Schädel zu verbannen. Er brauchte eine Zeit lang, ehe er merkte, dass ein Teil des Pochen durch ein Klopfen an der Tür verursacht wurde.

„Ja?“, erkundigte sich Van.

„Euer Abendessen, Majestät.“, antwortete ihm eine Mädchenstimme. Van horchte auf. Sonst holte er sich sein Essen selbst aus der Küche, da er keine geregelte Mahlzeiten hatte und sich nicht zu schade war, die Dienerschaft wenigstens ein bisschen zu entlasten. Aber das wusste der Attentäter wohl nicht. Leise stand er hinter seinem Schreibtisch auf, griff nach dem Schwert und hielt die gezogene Klinge unter der Tischkante versteckt.

„Die Tür ist offen.“

Die Tür ging nur langsam auf, der Eindringling hatte Schwierigkeiten gleichzeitig das Tablett zu halten und das massive Holz zu bewegen. Der Flur hinter dem Eingang ebenfalls dunkel, so dass Van bis auf einen schmalen Schatten mit einer breiten Scheibe auf Brusthöhe nichts erkennen konnte. Die kleine Gestalt trat langsam aus dem Schatten der Decke in das Licht des Mondes. Erst erschienen nur zwei schmale Schuhe, dann ein schlichtes Kleid, ein glitzerndes Tablett, bis schließlich das Gesicht zum Vorschein kam.

„Prinzessin, willkommen in meinen privaten Räumen.“, begrüßte Van seinen Gast und trat am Schreibtisch vorbei auf sie zu, wobei er unauffällig das Schwert zurück in die Scheide steckte.

„Sophie reicht.“, erwiderte Sophia und lächelte ihn warmherzig an.

„Was verschafft mir die Ehre eures Besuchs, Prinzessin?“, fragte Van förmlich.

„Nun, ihr seid nicht zum Abendessen erschienen, da dachte ich, ich bringe euch etwas.“, antwortete sie und präsentierte ihm das Tablett.

„Sehr rücksichtsvoll, doch warum seid ihr noch ihr? Ich nahm an, nach dem Mittagessen würdet ihr Farnelia verlassen.“

„Oh nein, diesen Gefallen tu ich euch nicht, Majestät.“

„Aber genau das ist es, was man von euch erwartet, Prinzessin. Eigentlich solltet ihr nach meinem skandalösen Auftreten eure Sachen packen und abreisen.“

„Ihr dürft mich ruhig duzen, Majestät.“

„Prinzessin, ihr wisst, dass es wegen der Etikette nicht geht. Schließlich sind wir weder verwandt noch verschwägert.“, belehrte Van sie.

„Zum Mond mit der Etikette!“, fluchte Sophia und stellte das Tablett ab. „Ich bin hier, weil ich ein Gespräch führen wollte und kein Staatsbankett. Außerdem sind keine Diener anwesend. Wovor habt ihr Angst?“ Van biss sich auf die Lippen. Dieses Mädchen konnte wirklich unangenehme Fragen stellen. Da er ihr eine Antwort schuldig blieb, versuchte Sophia es von neuem: „Ich versteh es nicht. In Chuzario verehrt man euch als einen Helden, hier in Farnelia sieht man in euch die Hoffnung für einen Neubeginn. In beiden Ländern hält man euch für idealistisch, tatkräftig und unnachgiebig. Wo ist all die Stärke geblieben, die man euch nachsagt?“

Van wendete sich von Sophia ab und trat an das Fenster.

„Irgendwo da draußen. Vielleicht hab ich sie schon auf dem Mond der Illusionen verloren.“

„Dann geht doch einfach raus und sucht sie. Ich bin sicher, sie kommt zu euch zurück, wenn ihr nach ihr sucht.“, redete Sophia sanft auf Van ein und trat neben ihm. Sie legte einen Arm um seine Schulter und lehnte sich an ihm. „Wie sieht sie denn aus?“

„Wie eine Göttin.“, schwärmte Van. „Ihre Augen glänzen so hell wie Smaragde, ihre Haut ist so zart wie Blütenblätter und ihr Haar duftet so wundervoll wie das blaue Meer.“

Einen Moment lang wollte Sophia Van wieder fragen, ob er in die Frau verliebt sei, von der er sprach, aber ein Blick in seine Augen genügte und sie wusste die Antwort. Eigentlich schade, dachte sie, sie hätte sich keinen besseren Ehemann wünschen können.

„Lass uns essen, Van. Die Suppe wird sonst kalt.“, schlug Sophia vor und tätschelte ihm auf die Schulter.

„Ja, du hast recht.“, antwortete Van und setzte sich an seinem Tisch.

„Nur Suppe und Wein? Ist das alles?“

„Ich konnte nicht mehr tragen. Wenn wir mit dem ersten Gang fertig sind, hol ich Nachschub.“, informierte Sophia ihn und tauchte ihren Löffel in die Suppe.

„Kommt gar nicht in Frage. Ich gehe.“, lehnte Van das Angebot ab und begann ebenfalls zu essen.

„Ach übrigens, es ist wohl inzwischen notwendig, dass du deine Entschlossenheit öffentlich zeigst. Dein Ausrutscher beim Mittagessen war für die Dienerschaft wie ein Schlag ins Gesicht und für das Volk wird es nicht anders sein, wenn es die Gerüchte hört.“

„Und wenn meine geschätzten Kollegen aus Astoria, Vasram und Chuzario von unserer letzten Mahlzeit erfahren, werden sie den Druck auf Farnelia erhöhen, nur weil sie mich für schwach halten. Du hast leider recht.“

„Am besten überraschst du sie auf irgendeine Art und Weise.“

„Das darf aber nichts kosten. Ich steh im Moment mit leeren Taschen da.“, gab Van zu bedenken.

„Wie wäre es, wenn du mit deinen Flügeln einen Rundflug über Farnelia machst.“, schlug Sophia vor.

„Keine gute Idee. Vielen ist es unheimlich, dass ich ein Nachkomme des Drachenvolkes bin. Jetzt mit meinen Flügeln zu protzen, würde ihre Position stärken.“

„Dann eben mit Escaflowne. Nichts verkörpert die Geschichten mehr, die sich um dich ranken.“

„Ich habe ihn zum Zeichen des Friedens in einen tiefen Schlaf versetzt. Ihn zu wecken, würde die Bevölkerung verunsichern und die Nachbarländer paranoid werden lassen.“

„Auch wieder wahr. Nun hilf mir doch mal, wenn du eh alles besser weißt.“, beschwerte sich Sophia. Van überlegte erst ein bisschen, dann kam ihm eine Idee.

„Ich werde ein Turnier mit einer offenen Teilnehmerliste abhalten.“, beschloss er.

„Ein Turnier? Kostet das nicht Geld?“, wunderte sie sich.

„Nicht mehr als es uns einbringt. Wenn wir die besten Kämpfer von Gaia dazu bringen könnten sich einzuschreiben, würden Adlige und gut betuchte Bürger von überall auf der Welt kommen. Das stärkt die Wirtschaft und ich bekomme die Kosten durch Steuern wieder rein.“

„Aber durch die offenen Listen wird das Turnier wie Laienspektakel wirken. Wie willst du die besten Krieger von Gaia dazu bringen an dem Turnier teilzunehmen?“

„Ganz einfach. Ich werden meinen Namen ganz oben auf der Teilnehmerliste setzen lassen.“, antwortete Van.

„Du? Ich hab dich noch nie auf einem Turnier gesehen.“

„Weil ich bisher keine Zeit hatte. Einladungen hatte ich genug.“

„Echt?“, schmunzelte Sophia. „Ich habe bisher von keinem Veranstalter gehört, dass du abgesagt hättest.“

„Kein Wunder. Schließlich ist es für das Ansehen eines Turniers nicht förderlich, dass ein König von einen so kleinen Land, wie Farnelia es ist, eine Einladung ausschlägt.“

„Stimmt auch wieder.“ Plötzlich grinste sie über beide Ohren. „Ich werde übrigens auch daran teilnehmen.“, verkündigte sie. Van spie den Wein, den er gerade trank, wieder aus. Die Ausläufer der Fontäne reichte bis Sophias Kleid.

„Was?“, fragte er ungläubig.

„Du hast mich schon richtig verstanden. Ich mache bei dem Turnier mit.“

Aber du kannst doch gar nicht mit einem Schwert umgehen!“, protestierte Van.

„Das sollten wir schleunigst ändern, meinst du nicht auch?“, sagte Sophia und erhob sich von ihrem Stuhl.

„Wo willst du hin?“, wunderte sich Van.

„Ich gehe mich umziehen.“, antwortete sie, als wäre es offensichtlich. „Oder glaubst du, ich esse in einem eingesauten Kleid weiter.“

„Nein, das nicht, aber…“

„Warte mit dem Essen auf mich, in Ordnung? Gute Nacht!“

Ohne eine Antwort von Van abzuwarten, verließ Sophia das Zimmer. Van glotzte ihr mit großen Augen hinterher. Es verging eine Stunde, ehe es ihm dämmerte, dass sie sich bei ihm für heute Mittag revanchiert hatte.

„So eine freche Prinzessin aber auch.“, flüsterte der König und machte sich mit dem Tablett auf den Weg in die Küche. Dort holte er sich ein Tablett mit den restlichen Gängen und sagte Bescheid, dass er nicht mehr gestört werden wollte. Wieder in seinem Zimmer angekommen, aß er auf und zog sich für die Nacht um. Mit nacktem Oberkörper und einer langen Hose stand er vor dem Fenster und überblickte das schlummernde Farnelia.

Seine Gedanken drehten sich um Hitomi, doch er öffnete keinen Kanal zu ihr. Noch immer hielt ihn seine Angst zurück. Einen Moment lang dachte er an ihre Kette und wünschte sich, wenigstens dieses Andenken wieder in den Händen halten zu können.

Dann wurde Van plötzlich schwarz vor Augen. Kraftlos beugte er sich nach vorn, stützte mit einer Hand seinen Kopf ab und lehnte sich mit dem anderen Arm an das Fensterglas. Das Schwarz veränderte sich und wurde zu einem Kopf ohne Körper. Die Augen waren leer, der Mund stand offen und die Haare waren mit Blut beschmiert. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, dass es Sophias Kopf war, den er vor sich sah.

Im nächsten Augenblick war Van wieder in seinem Zimmer und er blickte verwirrt um sich. Das Sternbild am Himmel hatte sich kaum verändert, also konnte er nicht sehr lange bewusstlos gewesen sein. Aber was war das eben? Hatte er eine Vision gehabt? War Sophia in Gefahr?

Ohne auch nur einen Gedanken an seiner Kleidung zu verschwenden, griff Van nach seinem Schwert und rannte so schnell er nur konnte zu Sophias Gästezimmer. Dort angekommen, stellte sich eine Wache ihm in den Weg.

„Tut mir leid, Majestät, aber Prinzessin Sophia nimmt gerade ein Bad.“, informierte ihn die Wache.

„Ist ein Wachposten da drin?“, fragte Van aufgeregt und zeigte auf die geschlossene Tür.

„Nein, Majestät, wie ich schon sagte, die Prinzessin badet gerade.“

Rücksichtslos stieß Van die Wache zur Seite und riss die Tür auf. Mit großer Erleichterung beobachtete er, wie Sophia gerade aus der Wanne stieg, bis ihm bewusst wurde, dass er sie nackt sah.

Als die Prinzessin den Eindringling erkannte, schrie sie gellend auf. Es dauerte einen Moment, bis sie ihren Körper durch ein Handtuch bedeckt hatte. Van war so geschockt, dass er seinen Blick nicht abwenden konnte. Von seinem starren Blick eingeschüchtert wich Sophia bis zur Wand hinter ihr zurück, während zwei Dienerinnen sich dicht vor ihr stellten.

Sophia rief ihm Beleidigungen am laufenden Bande entgegen, doch er hörte sie nicht. Stattdessen sah er in einer Schrecksekunde, wie zwei maskierte Angreifer mit gezogenen Schwertern die Fenster links und rechts von Sophia durchbrachen. Brutal rissen die beiden Männer die Dienerinnen von Sophias Seite weg, um das hilflose Mädchen zu erreichen. In den zwei Sekunden, die sie dafür brauchten, hatte Van sein Schwert aus der Scheide gezogen und lief ihnen im gestrecktem Schritt entgegen. Den Angreifer an Sophias linker Seite köpfte er mit einem Hieb, den rechten stieß er nach einer viertel Körperdrehung seine Klinge in die Rippen.

Sophia stand zitternd wie angewurzelt da und hatte sich zu ihrem Glück nicht einen Zentimeter bewegt. Van presste ihren erstarrten Körper an seine Brust. Mit gezogenen Waffen erschien Gesgan im Türrahmen.

„Nehmt alle Personen auf dem Schiff aus Chuzario fest und sperrt sie ein! Das Schiff wird von oben bis unten durchsucht! Verstärkt die Kontrollen am Tor und besorgt mir die neusten Steckbriefe!“, befahl Van wütend, woraufhin Gesgan nickte und wieder verschwand.

Sophia fing in seinen Armen an zu wimmern und eine Träne kullerte über ihre Wange. „Ich bin hier, kleine Prinzessin, keine Angst, ich bin für dich da.“, redete er beruhigend auf sie ein. Sophia brach in Tränen aus und weinte ohne Zurückhaltung. Einen Arm hielt Van unter ihre Knie und hob sie hoch, während er seine Wange gegen ihre rieb.

„Dokumentiert den Tatort und räumt ihn auf! Nichts darf mehr an diesen Anschlag erinnern“, befahl er der Wache an der Tür. Dann verließ er mit Sophia in den Armen den Raum und ging hoch in sein Zimmer. Neugierige Augenpaare begleiteten ihn dorthin, bis er die Eingangstür hinter sich schloss. Einen Moment zögerte er. Er hatte Angst vor den möglichen Konsequenzen der Schritte, die ihn hoch in das Kuppelzimmer tragen würden, doch schließlich tat er sie. Oben angekommen, legte er Sophia auf das Bett. Sie schlief tief und fest.

Sanft strich Van mit seinen Fingern die Strähnen aus ihrem Gesicht. Einen Moment wunderte er sich, wie ruhig und furchtlos sie im Schlaf wirkte, obwohl sie gerade etwas so Schreckliches erlebt hatte. Vorsichtig und mit zugekniffenen Augen entfernte er das Handtuch und deckte sie zu. Heilfroh beobachtete er Sophias regelmäßige Atemzüge, bis er sich schließlich hinunter in sein Zimmer begab.

Spuren in der Vergangenheit

Mit leisen Schritten und wachsamen Sinnen ging Merle durch die Gänge des Höhlensystems der Wolfsmenschen. Um sie herum herrschte geschäftiges Treiben, da draußen gerade die Nacht anbrach. Das Abendmahl war bereits vorbei und die Männer machten sich auf den Weg für die Jagd, während die Frauen und Kinder sich für die Nachtruhe vorbereiteten.

Merle wunderte sich ein weiteres Mal über die Gesellschaft der Wolfsmenschen. Obwohl sie ursprünglich nachtaktive Wesen waren, hatte der zunehmende Kontakt zu der Zivilisation der Menschen ihnen deren Tagesrhythmus aufgedrängt. Nur die Jäger waren noch nachts unterwegs. Die Frauen tauschten die Felle, das Leder, die Krallen und manchmal sogar die Köpfe der erlegten Tiere bei wenigen vertrauenswürdigen Händlern gegen Werkzeuge und Stoffe. Abgesehen davon schätzten sie ihre Privatsphäre.

Niemanden außerhalb ihres eigenen Volkes war es erlaubt in ihren Revieren zu jagen. Die raubtierartigen Jäger spürten die menschlichen schneller auf als das Wild und so war es immer wieder zu diplomatischen Spannungen gekommen, bis Vans Vater hart durchgegriffen hatte. Die Wälder Farnelias waren zum Besitz der Krone erklärt und den Wolfsmenschen zugesprochen worden. Ohne ausdrückliche Genehmigung durfte kein Bürger sich außerhalb der Wege aufhalten, die Eingeboren wurden zu den Wächtern der Bäume und ihrer Bewohner. Ohne groß nachzufragen akzeptierte die Wache Farnelias deren Aussagen, wenn sie mal wieder leichtsinnige Abenteurer auslieferten. Nur Räuberbanden ließen die Wolfsmenschen in Ruhe. Manchmal baten sie die Wache die Gesetzlosen zu vertreiben, wenn die sich als fähige Jäger herausstellten.

Diese Zusammenarbeit hatte sich als zufrieden stellend erwiesen und trug den Stempel einer Weisheit, wie sie nur von einer außenstehenden Person gekommen sein konnte. Merle vermutete, dass Vans Mutter Varie bei dem mündlich geschlossenen Abkommen ihre Hand im Spiel gehabt hatte.

Als sie ihr Lager erreichte, hielt sie einen Moment inne. Aus dem Innern der Kammer spürte sie eine massive Aura, die den ganzen Raum ausfüllte. Sie lugte rein und sah Hitomi ganz in Leder gehüllt und Felle auf der kuscheligen Decke ihrer Schlafstätte knien in tiefer Meditation versunken. Die Hände des Mädchens lagen übereinander und umschlossen ihre Kette mit dem rosaroten Stein.

Nein, Hitomi war kein Mädchen mehr, verbessert sich Merle.

Die Frau vom Mond der Illusionen spielte eine Klasse höher als sie. Ursprünglich hatte Merle sie als Konkurrentin gesehen, doch von Wettbewerb konnte keine Rede mehr sein. Schließlich hatte Hitomi einen Mann am Haken, den sie hilflos zappeln ließ, und bei ihr selbst war nichts dergleichen in Sicht. Die Welt war einfach nur ungerecht, sagte sich Merle und seufzte.

Sie holte tief Luft, schob den Vorhang zur Seite und betrat die vor Gedankenenergie pulsierende Kammer. Obwohl sie frei atmen konnte, hatte sie das Gefühl, sie würde ersticken und erdrückt werden.

Überrascht stellte sie fest, dass der Edelstein zwischen Hitomis Fingern leicht glühte. Vielleicht war ja der Stein das Geheimnis hinter ihren Fähigkeiten. Im Stillen nahm sich Merle vor unter allen Umständen sich einen eigenen zu besorgen. Zwar standen ihr die Energiesteine aus dem Flugschiff und ihrem Guymelef zur Verfügung, doch sie brauchte die für eben diese Transportmittel. Außerdem schienen diese faustgroßen Steine nicht ganz das gleiche zu sein wie Hitomis Anhänger. Unglücklicherweise wusste Merle nicht einmal im Ansatz, wo oder wie sie an ein solches Schmuckstück herankommen sollte.

Die großen Steine, die in Fahrzeugen eingesetzt wurden, wurden aus Minen gewonnen. Orte, die Drachen einst aufgesucht hatten um zu sterben. In jedem der Skelette steckte ein solcher Energiestein. Was, wenn der Stein von Hitomi auch einmal ein Teil eines Lebewesens gewesen war? Dann müsste es irgendwo noch andere geben, schlussfolgerte Merle. Vielleicht gab es sogar Gräber, die Massen solcher Steine beinhalteten. Schließlich hat jedes Wesen auch Artgenossen.

Die Vorstellung mit Hitomi aufschließen zu können, gab Merle neue Hoffnung, sodass der Druck auf ihren Schultern deutlich nachließ. Sie trat näher an ihr heran und betrachtete sie vom ausgiebig. Hitomis Atem war ruhig und regelmäßig, vielleicht sogar etwas zu langsam, doch die Falten auf ihrer Stirn zeugten von der Anstrengung, der sie sich aussetzte. Zeit für eine Pause, entschied Merle und rüttelte an Hitomis Schulter. Die protestierte mit einem undefinierbaren Laut und schlug die Hand des Mädchens weg.

„Aufwachen, Schlafmütze!“, befahl Merle ihr und trat einen Schritt zurück „Du hast das Essen verpasst.“

„Musste das sein?“, fragte Hitomi verärgert, während sie ihre Augen öffnete und sich orientierte. „Warum störst du mich?“

„Weil ich wissen will, was du hier machst. Du lässt dich den ganzen Tag nicht blicken, du isst nichts, und doch strahlst du wie die Sonne im Hochsommer.“

„Ich suche etwas, was dich eigentlich nichts angeht!“

„Alles, was du tust geht mich etwas an. Wer weiß? Vielleicht kann ich dir sogar helfen.“, bot Merle an.

„Nein, das kannst du mit Sicherheit nicht.“, lehnte Hitomi genervt ab.

„Ach! Warum nicht? Etwa, weil ich mein ganzes Leben auf Gaia verbracht habe. Weil ich im Regierungssitz eines Landes gewohnt habe. Oder kann es daran liegen, dass ich über die vergangen Jahre hinweg eine Leibwache kommandiert und dabei viele Kontakte angehäuft habe.“ Hitomi schwieg verlegen. „Du solltest mich nicht unterschätzen, nur weil ich jünger bin als du.“, riet Merle ihr gereizt und stand auf. „Ich bin die nächsten Tage weg um Informationen zu sammeln und eine falsche Fährte auszulegen. Solltest du in dieser Zeit etwas brauchen, musst du dich an Lumu oder an seine Frau wenden. Vermutlich können sie dir sowieso besser helfen.“ Sie wollte gerade die Kammer wieder verlassen, da meldete sich Hitomi zu Wort.

„Nein, Merle, geh nicht! Verzeih mir bitte. Ich wollte dich nicht kränken.“, bat sie aufrichtig.

„Hast du aber.“, klagte das Mädchen sie an. „Van hat dich mir anvertraut, und ob du es glaubst oder nicht, du bist für ihn das Teuerste auf der Welt.“ Erneut setzte sie sich vor Hitomi auf die Decke und sah sie mit großen Augen an. „Also, schieß los!“, forderte sie die junge Frau auf.

„Ich mich doch nur entschuldigt.“, erwiderte Hitomi verwundert. „Um Hilfe habe ich dich nicht gebeten.“

„Ich werde nicht gehen, solange ich nicht weiß, was du vorhast. Schließlich brauche ich Anhaltspunkte, wenn du wegläufst.“, konterte Merle.

„Warum sollte ich das tun?“, wunderte sich Hitomi.

Merle blieb ihr eine Antwort schuldig. Stattdessen starrte sie die Frau weiter an. Hitomi hielt dem Druck ihres Blickes nicht stand und lenkte ein.

„Gut, ich erzähl es dir. Vielleicht kannst du mir ja doch helfen.“

„Bin ganz Ohr.“

„Du weißt doch, dass Van das Kind eines Königs und einer Frau vom Volk von Atlantis ist. Die Herkunft von Vans Vater ist allgemein bekannt. Sie ist wahrscheinlich sogar über Jahrhunderte hinweg dokumentiert, doch weißt du etwas über seine Mutter?“, erkundigte sie sich.

„Ich weiß nur, dass Vans Vater sie von einem seiner letzten Feldzüge mitgebracht hat. Mehr ist nicht bekannt.“, antwortete Merle.

„Selbst jemand aus dem Drachenvolk entsteht nicht einfach aus dem Nichts. Vans Mutter muss selbst Eltern gehabt haben. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sie die letzte Überlebende ihres Volkes war.“, führte Hitomi aus.

„Aber das Tal der Wunder ist verlassen und von einer anderen Siedlung des Drachenvolkes habe ich nie etwas gehört.“, gab das Katzenmädchen zu bedenken.

„Das heißt nur, dass sie sich verstecken.“, erwiderte Hitomi Schulter zuckend.

„Dann wirst du sie nie finden. Sie schirmen mit Sicherheit ihre Aura ab. Wie effektiv das sein kann, hast du ja bei Van gemerkt. Außerdem, wie willst du einen Ort finden, von dem du nicht einmal eine Ahnung hast, ob er existiert und wie er aussieht?“

„Niemand hat gesagt, dass es leicht ist, aber ich gebe nicht auf. Nicht, solange ich keinen Weg nach Hause gefunden habe.“, verkündete Hitomi entschlossen.

„Was willst du dort? Van kann dir ein viel besseres Zuhause geben, als du es je hattest.“

„Ich werde darüber nicht mit dir diskutieren!“

„Wer sind überhaupt diese Engel, von denen du heute morgen gesprochen hast?“, fragte Merle frustriert.

„Engel werden in drei der größten Religionen meiner Welt als himmlische Boten verehrt. Beweise für ihre Existenz gibt es nicht, aber man stellt sie häufig als Menschen in weiten Gewändern und mit weißen Schwingen dar. Van erinnert mich jedes Mal an diese Wesen, wenn ich seine Flügel sehe.“, erklärte Hitomi.

„Glaubst du, das Drachenvolk und diese Engel haben etwas miteinander zu tun?“

„Ich weiß es nicht, aber möglich wäre es. Obwohl Engel in den Erzählungen der Erde nie mit Atlantis in Verbindung gebracht werden, liegen die Ursprungsorte beider Legenden sehr nahe bei einander.“

Als Hitomi schließlich die Luft ausging, merkte sie, wie Merle still vor sich hin brütete.

„Was ist?“, erkundigte sie sich.

„Nichts.“, antwortete Merle und erhob sich. „Ich werde jetzt aufbrechen. Meinst du, du kommst ohne mich zurecht?“

„Ich werde einfach weiter suchen.“

„Vergiss aber nicht etwas zu essen und zu trinken! Wir könnten jederzeit zur Flucht gezwungen werden. Dann solltest du gut genährt sein und nicht tot umfallen.“

„Wer gibt dir eigentlich das Recht mich zu bemuttern. Ich bin immer noch älter als du.“, protestierte Hitomi empört.

„Ich gebe mir das Recht. Außerhalb des Palastes gelten meine Regeln.“, konterte Merle herrisch und verließ die Kammer.

Hitomi fluchte Zähne knirschend über die Überheblichkeit dieses Mädchens, doch ihr grummelnder Magen fiel ihr in den Rücken. Sie hasste es, wenn Merle Recht behielt. Mit ihrer Stimmung im Keller rappelte sie sich auf und verließ das Lager auf der Suche nach etwas Essbaren.

Neue Konkurrenz

Sophia traute ihren Augen nicht, als sie den Mond der Illusionen samt Firmament direkt über sich sah. Erst war sie verängstigt. Sie wusste nicht, wo sie war. Dann aber fiel ihr der weiche Untergrund und die helle Umgebung auf. Ein schneller Blick zur Seite bestätigte ihre Vermutung. Sie lag auf dem Bett in der Sternenkuppel, dem schönsten und teuersten Zimmer in ganz Farnelia. Oberflächlich gesehen war dieses Zimmer nur das Innere einer Kuppel, deren Wände bunt angemalt worden waren, doch der Schein trog, wie sie sich erinnerte.

Ihr letzter Besuch lag zwar schon ein Jahr zurück. Ein Jahr, das nur so voll gestopft gewesen war mit Besuchen, Besichtigungen und diplomatischen Anlässen. Das meiste, was ihr an Besonderheiten eines jeden Landes gezeigt worden war, hatte Sophia schon längst vergessen, doch dieser Raum war ihr im Gedächtnis geblieben. Gerade weil er nicht protzte und sein Wert sich nur dem aufmerksamen Betrachter erschloss, bildete dieses Zimmer eine absolute Ausnahme unter den ganzen Besitztümern der Mächtigen von Gaia.

Soweit sie wusste, ist die Sternenkuppel noch nie zuvor benutzt worden. Selbst der König selbst soll hier noch nie geschlafen haben, obwohl das Zimmer zu seinen Gemächern gehört. Warum also war sie in diesem Raum und nicht im Gästezimmer, wo sie sein sollte?

Sophia brauchte einen Moment, ehe sich der Schleier in ihrem Kopf lichtete, dann erinnerte sie sich an den gestrigen Anschlag auf ihr Leben, den sie nur Dank des Einsatzes König Vans heil überstanden hatte.

König Van…

Eigentlich war sie diejenige gewesen, die auf eine Freundschaft mit ihm gedrängt hatte. Er hatte diesen Schritt zögernd begrüßt, doch jetzt war sie es, die Schwierigkeiten hatte in Van einen Freund an Stelle eines Königs zu sehen.

Sophia, die sich nicht länger mit so frustrierenden Gedanken beschäftigen wollte, stand auf und sah sich genauer um. Die Vorhänge waren geöffnet. Seltsam, dachte sie, die Vorhänge werden sonst nur von Dienerinnen geöffnet, die ihr bei der Morgenwäsche behilflich sein sollten, doch sie konnte niemanden sehen.

In Sophias Kopf machte es plötzlich Klick und ein kleines, aber nicht gerade unwichtiges Detail des Mordanschlages kam ihr in den Sinn. Sie sah an an sich herab und konnte dabei nicht den kleinsten Fetzen Stoff ausmachen. Überhaupt schien es ein bisschen kühl zu sein. Sie kreischte auf vor lauter Scham. Umso überraschter war sie, als Van von unten rief: „Ein Nachthemd liegt auf dem Bett.“

Panisch stürzte sie auf das Bett zu und griff nach dem Hemd. Nachdem sie es über ihren Körper gestreift hatte, stürmte sie wutentbrannt die Wendeltreppe hinunter in Vans Zimmer. Der saß seelenruhig an seinem Schreibtisch und sah Sophia verwundert an.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“ Statt zu antworten trat sie an Van heran und verpasste ihm eine kräftige Ohrfeige. „Wofür war das denn?“, wimmerte er.

„Hast du die Vorhänge geöffnet?“

„Ja, wieso fra...“

Sophia antwortete mit einer weiteren Schelle.

„Was ist los?“, fragte Van verzweifelt.

„Du hast mich nackt gesehen, du Perverser! Mehrmals sogar!“, klagte sie ihn an.

„Hab ich nicht.“, verteidigte sich Van.

„Ach ja, was ist mit Gestern, als du ohne zu klopfen in mein Zimmer gestürmt bist, während ich aus der Wanne gestiegen bin. Und eben musste ich feststellen, dass ich die ganze Nacht unbekleidet im Bett gelegen habe.“

„Das eine Mal gebe ich zu, aber seitdem warst du entweder bedeckt oder ich hab die Augen geschlossen gehalten.“

„Na klar, du bist mit geschlossen Augen in die Sternenkuppel gegangen, hast die Vorhänge aufgemacht und mir ein Nachthemd rausgesucht.“, erwiderte Sophia sarkastisch.

„Du hast unter der Decke gelegen.“, versicherte Van.

„Und was wäre, wenn nicht? Warum hast du keine Dienerin gerufen? Die hätte mich auch ankleiden können.“

„Weil ich dachte, nach dem Attentat von gestern würdest du eine Zeit lang allein sein wollen, bis…“

„Bis was?“

„Bis du darüber reden kannst. Über das, was geschehen ist, meine ich.“

„Wieso sollte ich das tun?“, erwiderte Sophia ungläubig.

„Auf dich ist ein Mordanschlag verübt worden. So etwas muss doch Wunden hinterlassen.“, wunderte sich Van.

„Das war jetzt schon mein fünfter, die Attentate, bei denen ich zu jung war um mich zu erinnern, nicht mitgezählt.“

„Du sagst das so, als wäre es selbstverständlich.“

„Dort, wo ich herkomme, ist es das auch. Politische Morde sind bei uns in Chuzario mehr oder weniger an der Tagesordnung.“

„Warum weiß ich nichts davon?“, fragte er sich.

„Wir ziehen es vor unsere Streitigkeiten intern zu lösen.“, antwortete Sophia kalt.

„Deswegen konntest gestern so gut einschlafen.“

„Ich bin nicht das kleine, scheue Mädchen, als das ich mich vorgestellt habe und ich habe es satt, den Gefahren in meinem Land so hilflos gegenüberzustehen.“

„Kann ich gut verstehen.“, gab Van zu. Ausgiebig betrachtete er sein Schwert, welches an der

Wand hing.

„Dann wirst du mich also trainieren?“, erkundigte sich Sophia erwartungsvoll.

„Nein, ich kann mich nicht um dich kümmern. Farnelia lässt mir einfach keine Ruhe.“

„Verstehe.“, seufzte sie enttäuscht. „Ich geh mich dann mal umziehen. Es wäre schön, wenn mir jemand dabei behilflich sein könnte.“

„Warte, ich möchte dich noch jemanden vorstellen.“

„Im Nachthemd?“

„Könnte sein, dass du etwas Zeit sparst.“, sagte Van lächelnd und öffnete die Tür zu seinem Zimmer. Herein trat ein hoch gewachsener Mann mit angegrautem Haar. Zuerst verbeugte er sich förmlich vor Van dann vor Sophia. Die kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Obwohl der Mann viel älter war als der König, wirkte er so jung und kräftig wie Van selbst.

„Sein Name ist Gesgan. Er ist dein Leibwächter und dein Lehrmeister, solange du hier bist.“, stellte der König ihn vor.

„Es ist mir eine Ehre eure Bekanntschaft zumachen, Prinzessin.“, fügte der hinzu.

„Ganz meinerseits.“, antwortete Sophia automatisch und fragte: „Mein Lehrmeister?“ Blitzschnell und ohne Vorwarnung zuckte plötzlich die rechte Hand von Gesgan vor. Ehe sie reagieren konnte, spürte sie den kalten Stahl eines Dolches an ihrem Hals.

„Ihr müsst anscheinend noch sehr viel lernen, Prinzessin. Dennoch…es wäre mir eine Ehre euch im Schwertkampf zu unterrichten.“, teilte Gesgan ihr mit. Langsam und so, dass sie es sehen konnte, steckte er den Dolch wieder zurück in das Versteck an seiner Hüfte. Sophia, die sich wieder von ihrem Schock erholte, trat ohne es zu merken einen Schritt zurück. Davon scheinbar unberührt reichte Gesgan ihr ein Bündel Kleidung

„Findet euch bitte in fünf Minuten in der Trainingshalle ein.“, wies er sie an.

„In fünf Minuten?“, protestierte Sophia. „Die Zeit reicht nie und nimmer für ein Frühstück.“

„Im Ernstfall habt ihr nicht einmal eine Sekunde Vorbereitungszeit, wie euch bekannt sein dürfte, Prinzessin. Im Übrigen würden es die Diener sicherlich vorziehen, wenn ihr erst nach dem Training etwas esst. Erbrochenes aufzuwischen ist wahrlich nicht die angenehmste Tätigkeit am Hof. Vor dem Training solltet ihr wenn überhaupt nur leichte Kost zu euch nehmen.“

„Na großartig!“, stöhnte Sophia und nahm das Kleiderbündel entgegen. Erst jetzt fiel ihr die Wasserflasche auf, die darin versteckt war.

„Bevor das Training anfängt, sollte diese Flasche leer sein.“, riet ihr Van.

„Was? So viel kann ich nicht auf einmal trinken.“, wandte Sophia ein.

„Wenn du lieber wegen Wassermangel ohnmächtig werden willst, soll mir es recht sein. Dann kann ich dich noch einmal ins Bett bringen.“, konterte er.

Sophia starrte ihn mit großen Augen an, öffnete schließlich die Flasche und leerte sie in einem Zug aus.

„Schade, dass da keine Alkohol drin war. Dann würdest auf jeden Fall umkippen.“, sagte Van mit gespielten Bedauern.

„Wenn das Alkohol gewesen wäre, würde ich wahrscheinlich freiwillig ohnmächtig werden.“, kicherte Sophia.

„Noch vier Minuten.“, unterbrach Gesgan die beiden. Sophia lief so schnell sie konnte zur Treppe. Dort wandte sie sich um und lächelte Van unsicher an.

„Es war übrigens nicht nur meine Erfahrung, die mich hat schnell einschlafen lassen.“, merkte sie an und rannte ohne auf eine Antwort zu warten die Stufen hinauf.

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, Majestät.“, sagte Gesgan. Van zuckte nur mit den Schultern und lehnte sich an seinen Schreibtisch.

„Warum nicht? Dank dem Training ist sie immer in der Nähe und geht nicht allein auf Erkundungsreise. Wir müssen sie irgendwie beschäftigen, wenn sie keine Dummheiten machen soll.“

„Ich weiß nicht, ob ich einem weiteren Mädchen die Unschuld rauben will. Ob ich das überhaupt kann. “, zweifelte der Krieger.

„Was sie wollen, steht nicht zur Debatte.“, stutzte ihn Van zurecht. „Einzig und allein Sophias Wille zählt in dieser Sache. Außerdem, unschuldig ist eigentlich niemand. Gerade sie nicht. Sie hat schon sehr viel Leid gesehen.“

„Das heißt aber nicht, dass sie dafür auch verantwortlich ist.“

„Stimmt, aber ich wüsste trotzdem gerne, ob sie etwas getan hat um den Kämpfen in ihrem Land ein Ende zu bereiten.“

„Sie ist doch erst vierzehn!“, gab der Kriger zu bedenken.

„Was sie nicht davon abhalten sollte ihren Mund aufzumachen. In meinem Stand gibt es keine Jugend. Entweder man ist erwachsen und hat dementsprechend Möglichkeiten, Pflichten und Verantwortung, oder man ist ein Kind und hat von allem keine Ahnung. Ein Kind ist sie mit Sicherheit nicht mehr.“, konterte Van.

Gesgan nahm dies kommentarlos hin und starrte nachdenklich zur Treppe, wo die Prinzessin eben noch gestanden hatte.

„Majestät, mit eurer Erlaubnis würde ich mich gerne zurückziehen.“, bat er.

„Erlaubnis erteilt.“, sagte Van schlicht.

Gesgan verneigte sich und verließ das Zimmer. Van indes setzte sich und schaute auf die Stadt. Er teilte durchaus Gesgans Bedenken, was der jedoch nicht wissen durfte. Ein König hatte sich nun einmal sicher in seinen Entscheidungen zu sein.

Er starrte weiterhin zum Fenster hinaus, bis er ein leises Tippeln aus dem anderen Ende des Zimmers hörte. Neugierig drehte er seinen Kopf in Richtung Treppe. Sophia grinste über beide Ohren. Selbstsicher präsentierte sie ihren schwarzen Kampfanzug, bestehend aus einer langen Hose mit Stoffgürtel und einem ärmellosen Hemd. Ihr Haar war zu einem schlichten Zopf zusammengebunden.

„Du siehst gut aus.“, lobte Van schelmisch. „Man könnte glatt meinen, du wärst gefährlich.“

„Ja, ja, schwing du nur deine Reden. Mal sehen, ob dein Mund noch so groß ist, wenn ich dich beim Turnier besiegt habe.“, erwiderte Sophia.

„Pah, träum weiter!“, schnaubte Van.

„Natürlich, was sollte ich sonst auch tun?“, sagte sie total ernst. Der König war übertölpelt und beschloss das Gespräch abzubrechen

„Wolltest du nicht wohin?“

„Leider weiß ich nicht, wo die Trainingshalle ist.“, antwortete Sophia ihm verlegen.

„Ich bring dich hin.“, bot Van ihr an.

Doppelte Überraschung

Gedankenverloren saß Siri auf einer knochigen Baumwurzel, während der Himmel über ihr immer dunkler wurde. Ein kalter Luftzug zerrte an ihren Haaren, die eine Handlänge vor den Spitzen zu einem schlichten Zopf zusammengebunden waren. Zwei Strähnen hingen frei vor ihren Ohren und kitzelten ihre Wangen. Fröstelnd presste sie ihre mit ihren Armen ihre schlichte Reisekleidung an sich und stocherte in der Wasserbrühe, die ihre Begleiter Suppe nannten. Sie war nun schon einige Tage mit dem Händler unterwegs und jeder Tag wurde langweiliger.

Alles, was sie tun hatte, war eine tägliche Untersuchung ihrer Gefährten auf Anzeichen einer Seuche, die vor kurzem in Farnelia gewütet hatte, und schon nach einer halben Stunde war sie meist fertig. Den Rest des Tages saß sie nur untätig herum. Anfangs hatte sie noch den Beziehungsgeschichten der Arbeiter gelauscht, doch inzwischen kannte Siri sie alle auswendig. Warum die Männer trotz der ewigen Wiederholungen noch lachen konnten, erschloss sich ihr beim besten Willen nicht.

Ihre Begleiter hatten sich zum Essen ein paar Meter von ihr entfernt um ein Lagerfeuer versammelt. Siri konnte die geschmacklosen Witze um ihre Person nicht mehr hören und hielt sich daher absichtlich abseits, sodass sie nicht weiter auffiel. Sie hatte früh gelernt, bei allen Gefährten bis auf dem verantwortlichen Händler galt der Spruch: Aus dem Auge, aus dem Sinn. Kaum war sie nicht mehr zu sehen, hörten auch die Sprüche auf. Nur Gades, der Händler, drehte sich gelegentlich zu ihr um.

Seine Aufmerksamkeit ihr gegenüber war schmeichelhaft, doch sie würde am liebsten darauf verzichten. Er hatte ihr die Teilnahme an sämtlichen Arbeiten untersagt, weswegen sie die meiste Zeit nur einsam und verlassen da stand, während die Männer das Lager aufbauten, die Zugtiere fütterten oder Reparaturen an einem der Wagen durchführten. Auch sonst behandelte er sie wie eine Dame. Als ob sie seine Hand bräuchte um vom Wagen herunterzukommen.

Seufzend lehnte sich Siri an den harten Baumstamm, schloss ihre Augen und lauschte den Geräuschen des Waldes. Das Gespräch der Männer gewann an Lautstärke, doch abgesehen davon hörte sie…nichts!

Schlagartig öffnete sie ihre Augen wieder und sah sich um. Von Panik erfüllt stand sie auf und nahm ihre Schwert mitsamt der Scheide in die linke Hand.

„Seid still!“, wies sie die Männer an und lauschte wieder.

„Was ist los?“, brummte Kio. Ein halbes Dutzend Männer starrten sie erwartungsvoll an, als würde gleich etwas lustiges geschehen.

„Ihr sollt still sein!“, wiederholte sich Siri und schloss ihre Augen um besser zu hören.

„Also, ich hör nichts.“, sagte Pail und beugte sich wieder über seine Schale.

„Eben, der Wald ist viel zu ruhig.“

„Vielleicht ist gerade ein Rudel Wölfe vorbeigezogen. Nichts weswegen man sich Sorgen machen müsste.“, schlug Riden vor, woraufhin Siri der Kragen platzte und sie sich wütend zu ihm umdrehte.

„So dumm könnt nicht mal ihr sein. So eine Stille ist nicht normal. Hier sind garantiert Räuber in der Nähe.“, fuhr sie ihn an.

„Diese Route wurde seit Monaten nicht mehr benutzt. Die Wegelagerer sind längst weg.“, beruhigte Gades sie, während er seine Suppe auf den Boden stellte.

„Gerade weil der letzte Handelskonvoi so lange her ist, werden sie uns überfallen. Das Mehl, das wir geladen haben, wird ihr hungrigen Mäuler anziehen wie das Licht die Motten.“, konterte Siri.

„Wenn das wahr wäre, solltest du die Art unserer Ladung nicht alle Welt hinausschreien.“, belehrte Theo sie. Daraufhin wurde Siri still. Am liebsten würde sie für im Boden versinken. Plötzlich kam Ohren betäubendes Geschrei aus den umliegenden Büschen und von einem Moment auf den anderen waren die Männer von Wegelagerern umstellt. Geschockt wollte Siri sich der Gefahr zuwenden, da ließ ein Tritt in ihre Beine sie einknicken. Eine kräftige Hand zerrte an ihrem Zopf und zwang sie so aufrecht auf den Boden zu knien. Aus ihrem Augenwinkel sah sie eine Klinge, die ihr bedrohlich nahe kam, während ihr eigenes Schwert vor ihr lag, außerhalb ihrer Reichweite. Sie hat es wie ein Anfänger fallen gelassen. Gades und seine Männer waren aufgesprungen und wollten gerade ihre Waffen ziehen.

„Nichts da, Hände weg von euren Waffen oder ich mach das kleine Fräulein hier einen Kopf kleiner.“, dröhnte eine kräftige Stimme über ihr. Verzweifelt musste sie zusehen, wie den Arbeitern ihre Schwerter und Dolche abgenommen wurden. Sie fühlte sich schuldig. Warum war sie nur so inkompetent? Die Wegelagerer trieben die Männer zu einem Baum und durchsuchten das Lager.

Besorgt beobachtete sie, wie einer der Räuber in den Wagen, in dem der unbekannte Passagier lag, an dem man sie nicht heran gelassen hatte. Einen Augenblick später ertönte ein Aufschrei. Der Räuber flog im hohen Bogen aus dem Wagen heraus auf die Erde. Alle Wegelagerer sahen überrascht auf ihren Kameraden. Gades nutzte die Ablenkung als erster und streckte einen mit einem kräftigen Fausthieb gegen den Nacken nieder. Augenblicklich reagierten auch seine Kameraden und preschten gegen die Angreifer vor.

Mit den Schwertern der ersten Gefallenen trieben sie den Rest der Bande zusammen, die sich dann ergab. Überraschenderweise schaltete sich auch ein Mann mit langen, blonden Haaren in den Kampf ein, der aus dem Wagen des Kranken gestiegen war. Leichtfüßig und elegant wie ein Tänzer bewegte er sich durch die Reihen seiner Gegner, während seine Klinge Schrecken verbreitete. Am Ende hatte nur noch Siris Peiniger seine Waffe und riss an ihren Haaren, sodass sie sich vor Schmerzen nicht rühren konnte. Der blonde Mann baute sich vor dem Räuberhauptmann auf und zeigte drohend mit der Spitze seines kostbares Schwertes auf ihn.

„Lass sie gehen und ich verschone dein Leben.“, befahl er ihm.

„Allen Shezar! Nur ihr könntet so eine verrückte Falle aufstellen.“, erwiderte der Räuber. Die Erwähnung von Allens Namen ließ Siri aufhorchen. Sie betrachte forschend den Mann vor ihr. Er schien Ende zwanzig zu sein und war damit einer der jüngsten der Männer. Dennoch zeigte seine Auftreten ein Maß an Autorität, das keine Zweifel über seine Rolle als Anführer zuließ. „Dass ihr allerdings ein schwaches und unschuldiges Mädchen in Gefahr bringt, hätte ich nicht gedacht.“, führte der Räuber weiter aus und zog fester an ihren Zopf. Plötzlich spürte Siri eine so große Wut im Bauch, dass sie ihre Schmerzen und ihre Haare, aber nicht ihre Würde vergaß. Der Dolch an ihren Waden schied daher als Waffe aus. Doch wenn ihr Geiselnehmer auch nur einen Hauch Professionalität besaß, so dachte sie sich, hatte er bestimmt auch…

Siri fand den Dolch dort, wo sie ihn vermutet hatte.

Im Stiefel ihres Peinigers.

In einer Bewegung zog sie den Dolch heraus und schnitt damit durch ihren Zopf. Dann stieß sie sich vom Boden ab, rollte sich nach vorne ab, hob beim Aufstehen ihre Schwertscheide auf und ging in Kampfposition.

„Der gehört mir!“, verlangte sie mit angekratzten Stimme.

Sie sah nicht die ungläubigen Blicke ihrer Begleiter hinter ihr, doch war der Spott in den Augen des Räuberhauptmannes genug, um das Feuer in ihr weiter anzufachen.

„Kein Mädchen würde so mit ihrem Haar umgehen.“, stellte der Räuber amüsiert fest. Mit einer lässigen Handbewegung warf er das Haarbündel weg und griff im nächsten Moment mit ganzer Kraft ihr Gesicht an. Siri wurde von seinem Schwertstreich vollkommen überrascht und riss reflexartig sie ihr Schwert hoch.

Von der Wucht des Angriffes getroffen, torkelte sie ein paar Schritt rückwärts, ehe sie ihr Gleichgewicht wiederfand, doch ihr Gegner setzte ihr rücksichtslos nach. Mit kraftvollen und schnellen Schlägen setzte er ihr zu, während sie immer weiter zurückwich, um seinem Schwert zu entkommen. Schließlich parierte sie ein weiteres Mal und wurde durch die Kraft des Hiebes gegen einen Baum geschleudert. Der Aufprall betäubte ihre Sinne. Der Räuberhauptmann sah seine Chance und rammte seine Klinge mit der Spitze voran auf sie zu. Erst im letzten Augenblick lichtete sich der Nebel vor ihren Augen. Gerade so konnte sie mit Körperdrehung ausweichen. Das Schwert schrammte nur wenige Zentimeter an ihre Brust vorbei und drang tief in den Stamm ein. Geschockt trat Siri ein paar Schritte zurück, der Räuberhauptmann hatte derweil Mühe seine Klinge aus dem Holz herauszuziehen. Mit einem selbst zufriedenen Lächeln wurde Siri klar, dass er hilflos war. Ohne weiter unnötig Zeit zu verlieren hielt sie ihr eigenes Schwert an seine Kehle.

„Loslassen!“, befahl sie ihm. Einen Moment schien es so, als wolle der Räuber lieber sterben als sich zu ergeben. Seine Augen brannten sich in Siri hinein, aber sie hielt seinem Blick stand. Schließlich löste er doch seine Hände von dem Schwertgriff und streckte sie von sich weg.

Gades und Riden waren eine Sekunde später bei ihm und fesselten ihn. Während sie ihn abführten, ging Siri auf Allen Shezar zu. In seinem sanften Lächeln lag noch immer eine Spur von Verwunderung.

„Ihr seid also der geheimnisvolle Kranke.“, begrüßte sie ihn.

„Mein Name ist Allen Shezar, Ritter von Astoria.“, stellte er sich vor.

„Ich wünschte, ich könnte behaupten, ich hätte Gutes über euch gehört, Ritter des Himmels, aber dann müsste ich lügen.“, warf sie ihm entgegen.

„Nun, von euch hab ich noch gar nichts gehört. Wie ist euer Name?“

„Ihr seid ein Lügner, Allen Shezar. Ihr habt die ganze Zeit mich und Gades belauscht.“

„Ich halte mich nur an die Etikette.“, verteidigte er sich.

„Was machen wir mit den Räubern?“, fragte Siri und warf dabei einen Blick auf die elf Männer, die inzwischen gefesselt bei den Bäumen lagen.

„Wir verladen sie.“

„Die Wagen sind mit Mehlsäcken gefüllt. Da ist kein Platz mehr.“

„In den Säcken ist nur Stroh. Wir leeren die Säcke und packen die Räuber da rein.“

„Mit anderen Worten: Der Transport ist nur ein Köder. Warum ihr euch unbedingt verstecken musstet, versteh cih allerdings nicht.“, hakte sie nach.

„Ein Pferdewagen wäre ein schlechter Köder mit einem gefürchteten Ritter auf dem Bock.“

„Ein gefürchteter Ritter…Warum leiden alle Männer an Selbstüberschätzung?“

„Ich bin nur realistisch.“, konterte Allen. „Außerdem müsst ihr zugeben, mein Eingreifen war eine gelungene Überraschung.“

„Ja, sie war aber nicht die einzige.“, fügte Siri lächelnd hinzu.

„Zugegeben, mit euch hatte ich nicht gerechnet.“, erwiderte er.

„Warum hattet ihr mir dann gestattet mitzukommen? Oh, wartet, ich weiß schon. Ihr konntet dem Gedanken an einer weiblichen Begleitung für die lange Reise nicht widerstehen, obwohl ihr nicht einmal mein Gesicht gesehen hattet.“

Verärgert wandte sich der Ritter an seine Untergebenen.

„Was habt ihr über mich erzählt, dass sie so eine schlechte Meinung von mir hat.“, fragte er scharf.

„Nur das Beste, Kommandant, wie immer.“, antwortete Pail und alle fingen an zu lachen.

„Gades, teil die Wachen ein! Wir beide übernehmen die erste.“, befahl er mit strenger Stimme.

„Gades, ihr könnt euch ausruhen. Allen Shezar und ich werden die erste Wache übernehmen.“, meldete sich Siri überraschend zu Wort.

„Ihr könnt doch nicht einfach…“, protestierte Allen.

„Ich kann sehr wohl eine Wache übernehmen. Ich lasse mich nicht weiter wie ein Kind behandeln! Ich bin genauso ein Krieger wie ihr.“

Einen Augenblick sah Allen so aus, als traute er seinen Ohren nicht, fing sich aber schnell wieder.

„Es wird mir eine Ehre sein die Wache mit euch zu verbringen.“, schmeichelte er ihr und fasste Siris Hand und führte sie an seine Lippen, doch Siri zog sie zurück.

„Glaubt ja nicht, ihr könnt mich so behandeln wie eine eurer zahllosen Eroberungen. Ich habe genug gehört um noch auf diese Masche hereinzufallen. Im Übrigen seid ihr viel zu alt für mich.“, sagte sie verärgert und zeigte ihm die kalte Schulter.

Allen beobachtete sie noch einen Augenblick lang wie sie zu einem der Pferdewagen ging. Besonders schmerzte ihn ihr Kommentar über sein Alter und der Anblick ihres Haares, das ihr nicht einmal mehr bis zur Schulter reichte. Nur die zwei Strähnen vor ihren Ohren erinnerten an die vergangene Haarpracht.

Von einem Gedankenblitz getroffen suchte Allen die Stelle ab, an der das Mädchen von dem Räuberhauptmann festgehalten worden war. Im nah liegenden Gebüsch fand er schließlich den Rest ihres Zopfes und strich vorsichtig den Dreck aus den Strähnen. Dann legte er das Haarbündel in einer seiner Taschen. Schließlich viel ihm auf, dass alle bis auf Gades ihn beobachteten und dabei über beide Ohren grinsten.

„Macht euch gefälligst wieder an die Arbeit. Hier gibt es nichts zu sehen.“, befahl er ihnen, woraufhin sie sich Späße reißend zerstreuten. Gades indes konnte sich ein Lächeln nicht mehr verkneifen, er verbarg es aber sorgfältig.

Eine kurze Nachtwache

Siri saß allein am Feuer in der Mitte des Lagers und sah gelangweilt zu, wie Flammen tanzten und Funken dem schwarzen Himmel entgegen wirbelten, bis sie schließlich erloschen. Um sie herum war es still, aber nicht so still, dass sie sich hätte Sorgen machen müssen. Wenn man genau darauf achtete, hörte man die Grillen zirpen und gelegentlich war drang das Heulen eines Wolfes zu ihr ans Ohr. Die Einsamkeit und die Sehnsucht nach Nähe, die sie aus diesem Ruf heraushörte, sprachen ihr aus dem Herzen und so erschauderte sie jedes Mal, wenn ein weiterer Ruf durch die Nacht hallte. Langsam wurde ihr kalt, also beugte sie sich dem Feuer entgegen. Sie streckte ihre offenen Handflächen der Wärme entgegen. Deutlich spürte sie das Streicheln der Hitze auf ihrer Haut. Ist schon komisch, dachte sie bitter, eigentlich ist das Feuer ganz angenehm und bewahrt mich vor dem Erfrieren, doch wenn ich ihm zu nahe komme, verbrenne ich mich und bin für den Rest meines Lebens gezeichnet. Ihr Blick fiel auf das Schwert, welches neben ihr lag. Sie hob es vom Boden auf und nahm es zögernd in beide Hände. Langsam und sachte zog sie die Klinge etwa eine Hand breit aus der Scheide und beobachtete, wie sich warmes Licht im kalten Stahl spiegelte.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte eine besorgte Männerstimme und riss Siri so aus ihren Gedanken. Sofort glitt das Schwert wieder zurück in die Scheide und Siri legte es wieder neben sich auf den Boden.

„Ja, alles bestens.“, antwortete sie und erhob sich steif. Mit eleganten Schritten trat Allen aus den Schatten heraus in das Licht des Lagerfeuers.

„Ich dachte, ich hätte gehört, wie jemand sein Schwert zieht.“, sagte er verwundert.

„Ich hab nur meine Klinge auf Schäden untersucht.“, beruhigte Siri ihn und setzte sich zurück auf den Boden. „Sind die Seile straff gezogen?“, fragte sie pflichtbewusst.

„Ja, ich hab sie alle kontrolliert.“

„Keine schlechte Idee einfach ein Käfig aus Seilen über die Karren zu spannen. Ich hatte mich schon gefragt, was für einen Sinn die Haken an den Wagen haben sollten.“, lobte Siri Allen, der sich neben ihr setzte.

„Van hat die Falle gut vorbereitet.“, stimmte er ihr zu.

„Der König hat das alles hier geplant?“, erwiderte Siri überrascht.

„Natürlich, es war seine Idee.“, antwortete Allen.

„Hat er auch befohlen, die Gefangenen auszuziehen, sie nackt und gefesselt in die Säcke zu stecken, so dass gerade mal ihre Köpfe zu sehen sind?“

„Wir haben in diesem Punkt keine Wahl. Räuber haben immer versteckte Waffen an ihrer Kleidung, die wir mit Sicherheit nicht alle bei einer Durchsuchung gefunden hätten. So gehen wir auf Nummer sicher.“, rechtfertigte sich Allen.

„Schlafen sie wenigstens?“, erkundigte sich Siri.

„Kaum einer von ihnen bekommt ein Auge zu. Kein Wunder, angesichts dessen, was sie erwartet.“

„Was erwartet sie denn?“

„Zwangsarbeit auf Feldern, in Steinbrüchen und Minen aller Art für den Rest ihres Lebens.“

„Ziemlich hart.“, fand sie und starrte auf den Boden.

„Niemand hat sie gezwungen uns auszurauben.“, konterte der Ritter.

„Vielleicht doch, wer weiß?“

„Was meint ihr?“

„Ich meine, dass wir gar nicht wissen, unter welchen Bedingungen diese Menschen bisher gelebt haben. Wissen wir, wie sie aufgewachsen sind, von woher sie kommen und was sie alles schon erlebt haben? Kennen wir überhaupt ihre Namen?“

„Wohl kaum. Höchstens kennen wir die Decknamen, die sich die Räuber geben.“

„Wie können wir dann über sie richten, wenn wir nichts über sie wissen?“

„Das ist nicht unsere Aufgabe.“, klärte Allen sie auf. „Wir sollen sie nur fangen, nichts weiter. Es gibt andere, die für das Richten verantwortlich sind.“

„Ihr lehnt also jede Verantwortung für das Schicksal dieser Männer ab?“, fragte Siri vorwurfsvoll.

„Indem ich diese Männer aus dem Verkehr ziehe, beschütze ich die Händler, die nach uns kommen. Dafür bin ich verantwortlich.“, verteidigte sich Allen.

„Bei der Festnahme sind sechs Räuber gestorben. Ich selbst hätte beinahe jemanden umgebracht.“

„Ja, und?“

„Als Sani ist es meine Aufgabe Leben zu retten, als Kriegerin ist es meine Aufgabe Leben zu beenden. Beides schließt sich aus und doch erwartet man beides von mir.“, zweifelte Siri.

„Wer erwartet das?“, erkundigte sich Allen.

„Bevor ich…diesem Konvoi zugeteilt wurde, war ich der Sani der königlichen Leibgarde.“

„Hast du schon mal getötet?“

„Nein, aber ich habe jemanden schwer verletzt.“ Siri hielt für einen Moment inne. „Dann habe ich ihn behandelt und so sein Leben gerettet. Das ist doch schwachsinnig!“

„Nein, ist es nicht. Das Leben eines Kriegers ist immer dazu da um andere zu beschützen. Insofern schließen sich die Aufgaben eines Arztes und eines Kriegers nicht aus.“

„Das mag vielleicht in der Theorie so sein, aber die Praxis sieht anders aus.“, widersprach Siri verbittert.

„Wirklich?“, wunderte sich Allen. „Als ihr euren Gegner verletzt hattet, habt ihr es getan um das Leben des Königs zu schützen. Anschließend habt ihr ihm das Leben gerettet. Ihr wart also eine Kriegerin und eine Sani.“

„Stimmt, aber was ist, wenn ich wirklich jemanden töte?“

„Das werdet ihr nicht, außer es ist notwendig um ein anderes Leben zu retten.“, antwortete er überzeugt.

„Ich wäre mir da nicht so sicher.“, flüsterte Siri. Allen sah mitleidig zu ihr hinab. Vor ein paar Stunden noch hatte sie sich im Kampf einen Furcht erregenden Gegner gestellt und ihn besiegt, doch jetzt war sie nichts weiter als ein Kind, das Angst vor der eigenen Zukunft hatte.

„Warum bist du überhaupt aus der königlichen Leibgarde ausgestiegen?“, fragte er, um sie auf andere Gedanken zubringen.

„Ich wurde rausgeworfen.“, antwortete Siri schlicht und emotionslos.

„Rausgeworfen? Angesichts deines Talentes im Umgang mit dem Schwert kann ich mir das kaum nicht vorstellen.“

„Es ist aber so. Ich hatte einen Auftrag und ich hab ihn vermasselte, also schickte mich König Van höchstpersönlich fort.“, berichtete sie verbittert.

„Was für ein Auftrag war das?“, fragte Allen. Das Mädchen zögerte.

„Ich sollte…etwas bewachen. Etwas, was dem König sehr am Herzen lag.“

„Und das wurde gestohlen? Wie viel war es denn wert?“

„Es war eine Frau und sie war König Van wohl wichtiger als alles andere auf dieser Welt.“, antwortete Siri bedrückt. Auf Allens Gesicht spiegelten sich Entsetzen und pure Angst.

„Diese Frau, die du beschützen solltest…war ihr Name Hitomi?“, erkundigte er sich mit mühsam kontrollierter Stimme. Das Mädchen fühlte sich ertappt.

„Entschuldigt, aber ich habe schon zu viel gesagt.“, blockte sie, doch Allen sah seine Vermutung bestätigt.

„Wer hat sie entführt?“, fragte er wütend. Siri schluckte.

„Ich darf nicht darüber sprechen.“, wiederholte sie. Großartig, dachte sie, noch jemand, dem die Frau viel bedeutet hatte.

„Darfst du nicht oder möchtest du nicht?“, drängte Allen sie.

„Ich darf nicht. Bitte fragt mich nicht mehr.“, bat sie und wendete sich von dem Ritter ab. Eine Zeit lang herrschte Stille, bis Allen sich schließlich sicher war, dass er seine Stimme wieder im Griff hatte.

„Falls es dich interessiert, ich glaube nicht, dass deine Versetzung zu uns eine Strafe war. Van wusste, wie gefährlich diese Reise sein würde und trotzdem hat er dich uns zugeteilt. Du solltest darin ein Beweis seines Vertrauens in deine Fähigkeiten sehen.“

„Ja, wahrscheinlich.“, gab Siri wenig überzeugt zu.

„Wenn du aber weiterhin mit uns mitreisen möchtest, solltest es du ein paar Regeln beherzigen.“

„Regeln?“

„Zum Beispiel solltest du nie meine Autorität vor den anderen in Frage stellen.“

„Wann bitte schön habe ich das getan?“, fragte Siri unschuldig.

„Du hast dich einfach so für die erste Wache eingeteilt, obwohl ich Gades dafür vorgesehen hatte.“

„Oh nein, Kommandant, ihr habt eure Autorität selbst in Frage gestellt, indem ihr mir nicht widersprochen habt.“, widersprach Siri. „Ich, für meinen Teil, hatte euch nur eine Gelegenheit gegeben eure Autorität zu beweisen.“

„Die Soldaten erzählen sich so schon Geschichten über mich, da brauchst du sie nicht noch zu ermutigen, sich über mich das Maul zu zerreißen. Meine Befehlsgewalt wird dadurch empfindlich gestört.“

„Pah!“, platzte es laut aus Siri heraus. „Ihr selbst bestätigt die Meinung der Soldaten über euch.“

„Kommandant, hier kommt die Wachablösung.“, sagte Theo und trat plötzlich zusammen mit Pail an das Lagerfeuer heran.

„Ist es schon soweit?“, wunderte sich Allen.

„Nein, aber solange ihr beide euch unterhaltet, kann eh kein Mensch schlafen.“, erwiderte Pail mürrisch. Der Himmelsritter warf dem Mädchen einen strengen Blick zu. Sie zuckte mit der Schulter und machte sich auf zu den Schlafsäcken. Allens leise Schritte folgten ihr. Während sie ihren Umhang und ihr Kleid auszog, fühlte sie Allens erwartungsvolle Blicke auf ihr haften. Von der eisigen Kälte und ihrem Scham angetrieben schlüpfte sie so schnell wie möglich unter die warme Decke ihres Lagers, das sie bewusst so weit wie möglich von seinem gelegt hatte. Während der Zeit, in der sie wach lag, schmiedete sie schon neue Pläne, wie sie dem berühmten Allen Shezar am nächsten Tag eins auswischen konnte.

Ein stürmisches Treffen

Der Konvoi, bestehend aus drei Ochsenkarren und zwei Pferdewagen, schlängelte sich auf einen kaum erkennbaren Weg durch den Wald, der den Grenzstreifen von Farnelia zu Astoria darstellte. Die Pferdewagen bildeten den Anfang und das Ende des Zuges, während auf den Karren Räuber, gefesselt und mit Getreidesäcken bekleidet, die nicht vorhandene Aussicht auf den Wald genossen. Alles, was sie sehen konnten, waren die Unterseiten der Baumkronen und Lanzen aus Licht, die durch das Blätterdach auf sie herab schossen.

Siri lehnte sich zurück, blickte auf die leere Straße vor ihr und zweifelte einmal mehr an den Sinn ihrer Mission. Die Sonne stand beinahe auf dem Höhepunkt ihrer täglichen Reise, die Stunden krochen nur langsam vor sich hin und ihr fielen immer wieder die Augen zu. Neben ihr saß Allen Shezar, der Himmelsritter, in einer wenig himmlischer Aufmachung und hielt die Zügel, während die Hufe ihrer Zugtiere lautstark im regelmäßigen Rhythmus auf den gefrorenen Boden auftrafen. Die Straße, die man kaum als solche bezeichnen konnte, schüttelte Siri immer wieder kräftig durch, so dass sie trotz ihrer Langweile nicht zur Ruhe kam.

„Wann sind wir endlich da?“, quengelte sie.

Allen hüllte sich, wie schon in den Stunden davor, in Schweigen und starrte wie gebannt auf den Weg vor ihnen. Siri verstand die Welt nicht mehr. Heute Morgen hatte er noch mit Nachdruck darauf bestanden, dass sie zusammen mit ihm den ersten Wagen des Konvois besetzen. Jetzt sprach er nicht ein einziges Wort mit ihr.

„Wo wollen wir überhaupt mit den Gefangenen hin? Wie weit ist es noch?“, fragte Siri ungeduldig. Allen schwieg. „Nun antwortet mir doch endlich mal, Kommandant.“ Sie wollte schon zur Frage ansetzten, da fing er plötzlich und völlig unerwartet an zu sprechen.

„Hat man dir keine Geduld beigebracht?“

„Hä?“, fragte Siri verdutzt.

„Oder Aufmerksamkeit? Du verschwendest mehr Gedanken auf das Ende als auf den Weg, der vor dir liegt.“, erklärte er.

„Ich wollte doch nur wissen, wie lange unsere Reise noch dauert.“

„Was nützt dir diese Information. Wird die Reise schneller vorüber sein, wenn du es weißt?“

„Das hat niemand behauptet.“, erwiderte das Mädchen störrisch.

„Seitdem wir unseren Posten auf dem ersten Wagen bezogen haben, hätten Wegelagerer dich jederzeit töten können. Ich musste dich nicht einmal ablenken. Das hast du ganz allein geschafft. Wer hat dich ausgebildet?“, fragte Allen ernst.

„Was soll die Frage? Wollt ihr meine Meister kritisieren?“

„Nein, deine…eure Ausbildung ist unvollständig. Ihr kämpft mir der Entschlossenheit eines Kriegers, aber ihr habt nicht dessen Geduld. Ihr seid sehr talentiert mit dem Schwert, aber ihr tragt es auf dem Rücken und achtet nicht auf eure Umgebung. Im Falle eines Hinterhalts sind eure Fähigkeiten nutzlos.“

„Kritisiert ihr jetzt mich?“, fuhr Siri ihn an.

„Ihr müsst noch sehr viel lernen. Mehr sage ich nicht“, beruhigte Allen sie, dann hielt er einen Augenblick lang inne. Bildete es sich Siri nur ein oder flatterten hinter der ruhigen Fassade seine Nerven? „Ich könnte es euch beibringen, so wie mein Meister es mir beigebracht. Ihr könntet mein Schüler werden.“ Mein erster, fügte er in Gedanken hinzu.

„Euer Schüler?“, staunte Siri. In ihrem Kopf ratterte es gewaltig. Sie sah natürlich die Möglichkeiten, die mit diesem Angebot verknüpft waren, dann aber kamen die Pflichten hinzu. Sie würde sehr lange von Zuhause weg sein, ihr Mutter würde sie kaum sehen können. Sie würde sich um ihre Tochter sorgen, mehr noch als sonst. Oder frohlocken. Immerhin war Allen Shezar alleinstehend und gut betucht. Anderseits jagte Siri der Gedanke sich einem Mann zu versprechen einen Tornado durch ihren Verstand. War sie bereit? Wollte sie ihn? Immerhin sah er verdammt gut aus und sein Körper spiegelte sein Können wieder, so viel hatte sie diesen Morgen feststellen können. Aber noch nie hatte ein Mädchen ihn ganz für sich gewinnen können, obwohl er den Gerüchten zur Folge schon mit vielen sein Bett geteilt hat. Sollte sie es ihm so einfach machen? Wie würde es sich anfühlen, seinen Astralkörper über sich zu spüren, während er tief... Wie ging er wohl mit der Möglichkeit einer Schwangerschaft bei seiner Partnerin um? Halt! Schwangerschaft! Sie war noch nicht so weit. Sie musste unbedingt raus aus dieser Sache. „Ist das eure neueste Art ein Mädchen zu umwerben?“, erwiderte Siri grinsend.

„Ich meine es ernst.“, erwiderte Allen mürrisch.

„Oh, entschuldigt bitte, aber allein der Gedanke…“ Sie konnte nicht aufhören zu schmunzeln, also wandte sie sich von ihm ab. Allen beließ es dabei und konzentrierte sich wieder auf den Weg vor ihm. Die Sonne setzte ihre Reise über den hellblauen Himmel fort, ohne dass er und das Mädchen neben ihn auch nur ein Wort wechselten, bis der kalte Stern fast den Horizont berührte. Dessen Untergang war durch die dicke Mauer aus Bäumen nicht zu sehen. Nur ein dunkler werdendes Himmelszelt kündigte den Abend an. Als es fast kein Licht mehr zu sehen war, konnte Siri das Leuchten von Lampen durch die Reihen der Bäume hindurch ausmachen.

„Hey, dort drüben ist ein Dorf. Endlich können rasten.“, freute sie sich.

„Nicht nur das. Dort werden wir auch unsere Gefangenen los.“, informierte der Ritter sie.

„Bringen wir sie denn nicht nach Palas?“, wunderte sich Siri.

„Nein. Im Keller des Gasthauses gibt es ein paar Zellen. Dort bleiben die Räuber, bis ein Militärzug sie abholt. Wir sind für die Überführung bis nach Palas zu schlecht ausgerüstet. Ab morgen sind wir wieder harmlose und leicht zu überfallender Händler, die Nahrungsmittel transportieren.“

„Und ihr seid wieder der Kranke, den niemand sehen darf? Das wird nicht funktionieren.“

„Warum?“

„Weil die Wegelagerer auf jeden Fall Informanten in diesem Dorf haben. Selbst wenn ihr euch versteckt, werden sie uns garantiert nicht noch einmal überfallen, da sie über ihre bereits gefangenen Kollegen Bescheid wissen.“

„Und was schlägst du vor?“

„Gar nichts. Eine Falle funktioniert eben nur einmal. Dagegen kann man nichts machen. Vielleicht wird man uns hinter dem nächsten Dorf wieder überfallen, wenn wir uns bis dahin wie normale Händler benehmen.“

„Also werden wir morgen einen ruhigen Tag haben.“, meinte Allen, während sie gerade das Tor der Dorfpalisade passierten.

„Nur wenn die Räuber sich nicht dazu entschließen, uns mit Pfeilen oder in einer großen Überzahl anzugreifen.“, entgegnete Siri, als sie vor dem Gasthaus von dem Wagen runter stieg.

„In beiden Fällen werde ich sie rechtzeitig bemerken.“, versicherte er.

„Ach ja, ich vergaß, wir haben ja Ritter Perfekt in unseren Reihen.“

Allen blieb scheinbar unbeeindruckt von Siris Stichelei. Während Gades und der Rest der Truppe die Gefangenen für die Überführung in die Zellen vorbereiteten, gingen beide Seite an Seite auf das Gasthaus zu. Allen öffnete die Tür und ließ Siri mit einer Geste erkennen, dass sie den Vortritt hatte. Siri blieb stehen und verschränkte demonstrativ die Arme und sagte ihrerseits: „Nach euch.“

Er betrachtete sie verwirrt, betrat dann aber das Gasthaus vor ihr. Bevor die Tür zufiel, folgte Siri ihm. Nachdem sie den Eingang hinter sich gelassen hatte, löste sie sich von Allens Rücken, woraufhin ihr eine Wolke aus Schweiß, Mundgeruch und Erbrochenen entgegenschlug. Wie von Gegenwind getroffen, torkelte sie einen Schritt rückwärts, ehe sie sich wieder gefangen hatte.

„Hilfe, das stinkt ja ekelhaft. Die sollten mal lüften.“

„Hier gilt die Weisheit: Erfroren sind schon viele, erstunken ist noch keiner.“

„Na toll! Hat mein Zimmer wenigstens ein Fenster?“

„Dein Zimmer?“, wunderte sich Allen. „Wir schlafen alle in einem Gemeinschaftsraum.“

„Was? Aber das geht nicht!“, fleht Siri.

„Warum nicht? Du hast doch auch ein Lager mit uns geteilt.“

„Da hatte ich keine Wahl. Gasthäuser haben Einzelzimmer.“

„Bei dem Betrieb hier wird wohl kaum eins frei sein.“, konterte Allen und weiß auf den überfüllten Raum. „Außerdem...Wer soll dein Zimmer bezahlen?“

„Ihr natürlich.“, forderte Siri.

„Ich denk nicht dran.“

„Wo bitte schön ist eure Höflichkeit gegenüber Damen geblieben, für die ihr so berühmt seid?“

„Die hört dort auf, wo sie mein Gewinn schmälert.“, erwiderte Allen vollkommen ernst.

Beschämt wurde sich Siri dem Schauspiel bewusst, dem sie sich eben unbewusst verpflichtet hatte. Mürrisch gab sie nach und schmollte, dann fiel ihr ein Mädchen an der Theke auf. Sie war dank des Mantels und der weiten Kapuze fast nicht als solche zu erkennen, doch die kleine Statur verriet sie. Was jedoch wirklich Siris Aufmerksamkeit weckte, war die mit Fell überzogenen Hand, die gerade zum Becher griff.

„Kommandant!“, schrie sie wütend und zog ihr Schwert aus der Rückenscheide. Im Lauf sprang sie auf einen Tisch und flog nach einem mächtigen Satz mit erhobenem Schwert auf ihr Opfer zu. Das verhüllte Mädchen schien die Angreiferin überhaupt nicht wahrzunehmen. Erst im letzten Moment wich sie zur Seite aus und Siris Klinge spaltete den Tresen. Während das Mädchen noch damit beschäftigt war ihre Waffe zu lösen, wirbelte das vermeintliche Opfer herum und versetzte ihr einen Tritt unter die Brust. Von der Wucht des einschlagenden Fußes betäubt stürzte sie rückwärts und landete unsanft auf den Brettern des Bodens.

Allen lief auf die beiden Kontrahentinnen zu. Die verhüllte Gestalt gönnte ihm und Siri einen kurzen Blick, landete dann nach einem für einen Menschen schier unmöglichen Sprung auf der Treppe, die zu den Gästeräumen führte, und verschwand hinter der ersten Türen. Nach einem kurzen Moment der Verwunderung lief der Ritter ihr hinterher. In einer eleganten Bewegung zog er sein Schwert und trat auf die Tür des Zimmers ein.

Das Holz flog krachend auf, doch er sah niemanden. Vorsichtig wagte er sich vor. Als er mit einem Fuß schon im Zimmer stand, erschienen wie aus dem Nichts zwei Stiefel samt Anhang vor seiner Brust. Die Wucht des Tritts beförderte ihn aus dem Zimmer hinaus gegen die gegenüberliegende Tür. Er rappelte sich auf, musste währenddessen aber zusehen, wie die Gestalt auf das kleine Fenster des Zimmers zuhielt und sprang. Das Holz und dünnen Scheiben splitterten fast widerstandslos und von der Flüchtigen war nichts mehr zusehen.

Unsicher, was gerade passiert war, betrat er in den verwüstete Raum. Eine Verfolgungsjagd war sinnlos. Nicht einmal er konnte bei ihren Tempo mithalten, geschweige denn sein Männer. Die Pferde hingegen würden sich eher die Beine brechen, als das sie die Kriegerin im dichten Gestrüpp einholen konnten. Ratlos schaute sich Allen im Zimmer um. In der Wand über dem Türrahmen sah er Kratzspuren in der Form zweier menschlicher Hände.

„Ein Katzenmensch.“, meinte Siri. Überrascht schaute er zur Tür, in der sie stand.

„Kennst du sie?“, fragte der Ritter. Anstatt ihm eine Antwort zugeben, starrte das Mädchen beschämt auf den Boden. „Du hattest sie vorhin Kommandant genannt. Hat sie etwas mit der Königlichen Leibwache zu tun?“, versuchte er es ein zweites Mal, doch sie stürmte den Tränen nahe aus dem Gasthaus.

Ein neuer Weg

Sanft wog der Fluss den Schein des Mondes, dessen Licht in mitten der schwarzen Nacht auf der unruhigen Wasseroberfläche tanzte und nie länger als einen Augenblick an einer Stelle blieb. Gedankenverloren hockte Siri am Ufer und zeichnete mit einem ihrer Finger Kreise in das Wasser. Sie starrte auf die fließenden Massen an Wasser hinaus, doch sie sah nichts von dem Naturschauspiel, das sich ihr bot. Stattdessen verlor sich ihr leerer Blick irgendwo im Nirgendwo. Weder das Zittern ihres Körpers noch das Stechen in ihrem Finger drangen zu ihr durch.

War sie würdig für die Leibwache des Königs gewesen oder hatte sie nur wegen ihrer Mutter eine Einladung zur Mitgliedschaft in dieser Eliteeinheit erhalten? War sie bei ihrer Aufnahme überhaupt bereit für diese Bürde gewesen? War sie damals gut genug für diese Ehre? Ist sie es heute?

Plötzlich durchbrach ein unangenehmes Gefühl ihre Gedanken. Kalter Stahl berührte ihren Hals. Wieder kam eine Erinnerung hoch. Siri sah sich plötzlich am Bett von Hitomi stehen. In ihrer Hand spürte sie das Gewicht ihrer Klinge, während ihre Spitze auf Hitomis Kehle wies. Ihre Blicke trafen sich und Hitomis ruhigen Augen verwirrten Siri nur noch mehr. Hatte Hitomi es ihr etwa nicht zugetraut, dass Siri sie töten könnte? Hielt sie Siri etwa auch für ein kleines Mädchen, so wie Merle es tat?

„Deine Deckung ist offen und du bist unaufmerksam! Du willst eine Kriegerin sein?“, fragte Allen streng. Auf einmal wurde Siri sich der Situation bewusst, in der sie sich befand. Hinter ihr stand Allen und hielt sein Schwert an ihren Hals. Forderte er sie heraus? Unterschätzte er sie etwa auch? Nach allem was heute passiert war?

Kaum hatte sie ihren Gedanken zu Ende gedacht, verzerrte sich ihr Gesicht durch ungebändigte Wut und Tränen traten ihr in die Augen. Explosionsartig stieß Siri sich vom Boden ab und flog am Ufer entlang von Allens Klinge weg. Sie rollte sich ab, zog ihr Schwert und sah ihn mit Hass erfüllten Augen an.

„Für wen haltet ihr mich eigentlich?“, schrie sie ihn an. Allens Haltung entspannte sich. Gerade als er ihr auf ihre Frage antworten wollte, machte Siri einen kräftigen Satz nach vorne und schlug mit ihrer Klinge nach ihm. Allen wich überrascht nach hinten aus, während er sein Schwert in Verteidigungsstellung brachte. Danach rührte er sich nicht mehr von der Stelle während Siri ihn immer wieder von allen Seiten attackierte. Mit scheinbarer Leichtigkeit wehrte er ihre Schläge ab, während sie um ihn herum tobte und mit zunehmender Verzweiflung versuchte, eine Lücke in seiner Verteidigung zu finden. Schließlich schlug Siri nach seinen Beinen, doch Allen wich galant aus und stand plötzlich hinter ihr. Von blinder Wut und Verzweiflung getrieben, schwang sie ihre Klinge in einem weiten Bogen herum, doch Allen trat seelenruhig ein Paar Schritte zurück. Ihr Schwertstreich ging ins Leere, doch sein Schwung ließ sie stolpern. Überrascht sah sie das eiskalte Wasser auf sie zukommen, ehe sie hinein fiel.

Ihr Körper fühlte sich plötzlich an, als würde er von tausend Nadeln gestochen, die sich tief ihr Fleisch gruben. Sie wollte aufschreien, doch das in ihre Lunge eintretende Wasser erstickte jedes Geräusch und raubte ihr den Atem. Verzweifelt rang sie nach Luft und strampelte wild im Wasser umher, bis schließlich zwei kräftige Hände sie zu fassen bekamen und sie aus dem Wasser ans Ufer zogen. Noch immer geschockt wälzte sich Siri auf den Boden und hustete das Wasser aus ihren Lungen heraus. Als sie wieder zu Atem kam, sah sie Allen über sich stehen. Sanft lächelnd hob er sie auf und trug mit schnellen Schritten zum Gasthaus. Siri, die am ganzen Leib schlotterte, presste ihr Gesicht an seine Brust. Das Gefühl von Wärme und Geborgenheit, welches von ihm ausging, ließ ihre Augenlieder schwer werden. Noch bevor sie im Gasthaus ankamen, war sie eingeschlafen.

Als sie ihre Augen wieder öffnete, sah sie über sich ein Gerüst aus dunklen Holzbalken. In ihre Ohren drang das angenehme Knistern aus einem Kamin und über ihren Körper lag eine mollig warme Wolldecke.

„Hast du dich wieder beruhigt?“, fragte Allen leise. Überrascht drehte Siri ihren Kopf in die Richtung aus der die Stimme kam. Sie sah Allen nur ein paar Meter neben sich am Kamin sitzen, während er in das Feuer starrte.

„Woher wusstet ihr, dass ich wach bin.“, fragte Siri verwundert.

„Dein Atem hat sich verändert.“, antwortete Allen ruhig und sah dann Siri direkt an. „Gewiss hast du das bei einem deiner ehemaligen Patienten auch schon beobachtet.“

„Wo bin ich?“

„Im Gasthaus.“, informierte Allen sie und lächelte sie dann an. „Das hier das Einzelzimmer, das du wolltest. Gefällt es dir?“

„Ja, danke.“, antwortete Siri und sah sich in dem kleinen Raum um, in dem sie lag. Schließlich fiel ihr die Kleidung auf, welche vor dem Kamin hing. Erst jetzt merkte sie, dass sie unter der Decke nichts weiter trug als ein Nachtgewand.

„Habt ihr mich etwa ausgezogen?“, verlangte sie empört zu wissen.

„Nein, natürlich nicht. Eine Magd hat dich von den nassen Kleidern befreit. Wofür hältst du mich?“, erwiderte Allen entrüstet.

„Euch traue ich alles zu.“, antwortete Siri mürrisch.

„Gern geschehen.“

„Wie lange habe ich geschlafen?“

Allen sah wieder in die Flammen und setzte eine ernstere Mine auf. „Warum möchtest du das wissen? Du wachst doch jetzt nicht eher auf, wenn ich es dir sage.“

Daraufhin stöhnte Siri und richtete sich drohend auf.

„Schon gut, es war nur ein Scherz.“, beruhigte Allen sie und hob abwehrend seine Hände. „Du hast nur ein paar Stunden geschlafen.“

Siri beließ es dabei und legte sich wieder hin. Für ein paar Minuten herrschte ein erdrückendes Schweigen, bis sich Allen sicher war, das er den nächsten Schritt wagen konnte.

„Darf ich dich was fragen?“

Zu ihrer eigenen Überraschung musste das Mädchen über diese Frage nachdenken. Zurückhaltung im Umgang mit Menschen war doch sonst nicht ihre Art, doch jetzt fühlte sie einen Knoten in ihrer Kehle. Nur mit Würgen brachte sie ein Ja heraus.

„Passiert es dir öfter, dass du so aus der Haut fährst wie eben am Fluss?“, fragte Allen einfühlsam. Wieder brauchte sie einen Moment, ehe sie sprechen konnte.

„Nein, es war das erste Mal.“

„Gibt es auch einen Grund dafür, dass du versucht hast mich umzubringen?“

„Ich war wütend, wie ihr euch sicher denken könnt.“

„Auf mich?“, wunderte sich Allen.

„Ja…Nein…Ach, ich weiß es nicht! Ich war wütend und hab die Kontrolle verloren. Das ist alles, woran ich mich erinnern kann.“, antwortete Siri mit einer Spur von Verzweiflung.

„Hatte dein Wutausbruch etwas mit deiner Versetzung von der Leibwache zu tun?“, hakte er nach.

„Ich sagte doch schon, ich weiß es nicht. Warum wollt ihr das überhaupt wissen?“, blockte sie ab.

„Ich möchte wissen, was im Kopf meiner Schülerin vorgeht.“

„Ich habe nicht Ja gesagt.“, konterte Siri.

„Abgelehnt hast du auch nicht. Außerdem werde ich doch wohl wissen dürfen, warum du versucht hast mich umzubringen.“, stocherte Allen weiter.

„Es ging mir gar nicht um euch. Zufrieden?“

„Nicht, bevor du mir erklärst, warum du wahllos Leute anfällst.“

„Ihr wolltet mich köpfen, da darf man sich doch wohl mal wehren.“

„Wehren ja, aber nicht umbringen. Im Übrigen solltest du mir endlich sagen was los war, sonst muss ich dich wegen Gefährdung der Öffentlichkeit in die Zelle zu den Räubern stecken.“, warnte er sie. Ein Schaudern ergriff die junge Frau.

„Na gut, wenn es denn sein muss.“, stöhnte sie. „Ich wusste nicht, dass ihr so nerven könnt.“

Allen setzte sich näher an sie heran und lehnte sich zurück. Daraufhin erzählte Siri Allen von ihrem letzten Wachdienst in der Villa De Farnel und ließ dabei auch nicht ihre Vermutung aus, ausgenutzt worden zu sein.

„Du glaubst also, deine Kommandantin hat dich nur eingesetzt, weil sie dachte, dass sie mit dir leichtes Spiel haben würde.“

„Ich durfte zum ersten Mal in der Nacht die Wache alleine übernehmen, in der meine Kommandantin ihren Verrat verübt und die Geliebte meines Königs entführt. Was soll ich sonst denken?“

„Wer ist überhaupt deine Kommandantin?“

„Ihr wisst, dass ich es nicht sagen darf. Hört bitte endlich auf mich danach zu fragen!“

„Auch gut. Ich weiß es sowieso schon.“, teilte ihr Allen Schulter zuckend mit.

„Ihr wisst es? Aber woher…?“, wunderte sich Siri.

„Deine Kommandantin ist ein Katzenmensch, was ich dank dir weiß. Es gibt nur eine Katzenfrau in Vans Gefolge und das ist ein vorlautes Mädchen namens Merle.“ Siri wäre am liebsten im Boden versunken und senkte ihren Blick. „Deine Reaktion sagt mir, dass ich recht habe.“, führte Allen weiter aus.

„Ja, ihr habt Recht.“, gab Siri genervt zu. „Wieder Mal. Seid ihr jetzt zufrieden? Ein Mädchen ist Merle übrigens nicht mehr.“

„Nein, in den letzten drei Jahren dürfte sie zu einer jungen Frau herangewachsen worden sein und ist ganz nebenbei zu einer Meisterin für den Kampf aus dem Verborgenen geworden. Ich frage mich, von wem sie das alles gelernt hat.“

„Das ist nicht alles. Sie ist ebenfalls meine Meisterin. Sie war es jedenfalls.“

„Sie musste doch selbst erst einmal ihr Handwerk lernen. Wie konnte sie dich dann unterrichten?“, fragte Allen überrascht.

„Sie hat das, was sie gelernt hat, gleich an mich weitergegeben. Ich war wohl so etwas wie die Strohpuppe, an der sie ihre Führungsqualitäten trainieren konnte.“, antwortete Siri abfällig.

„Sie hat doch einen guten Job gemacht.“, verteidigte Allen sie.

„Heute Mittag habt ihr noch behauptet meine Ausbildung wäre schlecht gewesen.“, warf ihm sie entgegen.

„Unvollständig, nicht schlecht.“, verbesserte Allen sie.

„Wenn ihr meint.“

„Aber seltsam ist es schon.“, sagte der Ritter mehr zu sich selbst, als zu Siri.

„Was?“, fragte sie.

„Ich kenne Merle nicht so gut. Genau genommen haben wir uns nie richtig unterhalten, obwohl wir lange gemeinsam unterwegs waren. Ich weiß nicht, wie lange sie schon an Vans Seite ist. Es muss eine sehr lange Zeit gewesen sein. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie ihn hintergehen könnte.“, zweifelte der Himmelsritter, während er seine Erinnerungen an die Reisen mit Van vor drei Jahren durchging.

„Nun, sie hat es offensichtlich getan.“, meinte Siri.

„Könnte es nicht sein, dass sie Hitomi einfach nur in Sicherheit gebracht hat?“

„Wo sollte es sicherer sein als in der Villa?“

„Genau das ist es, was ich wissen will. Im Moment sorgt sich Merle offenbar nicht über Hitomis Sicherheit, sonst wäre sie bei ihr geblieben, statt alleine in dieses Gasthaus zu kommen.“

„Vorausgesetzt, sie hat das Kopfgeld für Hitomi nicht schon eingestrichen.“, widersprach das Mädchen.

„Hast du so wenig Vertrauen zu deiner Kommandantin?“, wunderte sich Allen.

„Vertrauen gehört nicht zu meinem Geschäft.“, erwiderte sie kalt. „Merle hat eine Person entführt, die sie…die man mir anvertraut hat. Diesen Fehler muss ich ausbügeln.“

„Weißt du, wo du mit der Suche nach Hitomi anfangen musst?“

„In Merles Zimmer fand man ein Steckbrief von ihr. Die Art des Papiers und des Druckes lässt darauf schließen, dass der Steckbrief aus Palas stammt. Mehr hab ich nicht.“

„In dem Fall könnte ich dir weiter helfen.“, sagte Allen zuversichtlich.

„Wie?“, fragte Siri überrascht.

„Es gibt im Gefolge des Königs ein paar Personen, die sehr gute Verbindungen zum Kopfgeldjägernetzwerk in Astoria haben.“

„Zu solchen Kreisen bekomme ich nie und nimmer Zutritt.“, seufzte sie.

„Es wäre mir möglich dir Zutritt zum Palast zu beschaffen, aber nur, wenn du meine Schülerin wirst.“, schlug Allen vor und wartete gespannt ihre Antwort ab. In dem Augenblick schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf des verwirrten Mädchens und es dauerte ein paar Minuten, ehe sie das Chaos bereinigte hatte. Allen ließ ihr diese Zeit.

„In dem Fall bin ich einverstanden.“, sagte sie schließlich und sah ihn dabei ernst an. „Allen Shezar, ich bitte euch, werdet mein Meister.“

„Akzeptiert.“, antwortete er zufrieden und erhob sich aus seinem Stuhl.

„Ruh dich jetzt aus! Morgen beginnt das Training.“, informierte sie ihr Lehrer, dann löschte er das Feuer im Kamin und verließ das Zimmer. Durch das kleine Fenster einen Meter über ihr konnte Siri den Mond der Illusionen sehen, dessen Licht ihr Zimmer in einem matten Blau tauchte. Sie lag noch etwa eine Stunde wach, bis es ihr schließlich gelang die Tragweite ihrer Entscheidung so weit herunter zu spielen, dass sich ihr klopfendes Herz beruhigte konnte und ihr die Augen zufielen.

Illusionsraub

Mit langen Schritten ging Van den Flur hinab zum schwer gesicherten Konferenzraum im Herzen der Villa. Die zwei Wachen vor der Tür standen sofort stramm, als sie ihn sahen. Eine öffnete ihm die Tür und er trat hindurch, ohne die Männer zu beachten. Im Innern saß an einem Tisch ein älterer Herr, Heinrich von Schliemann, Prinzessin Sophias Privatlehrer, flankiert von zwei grimmig dreinblickenden Soldaten. Seine stolze Haltung und der starre Blick an die Wand sprangen Van sofort ins Auge, doch ließ er sich davon nicht einschüchtern. Die Tür schloss sich hinter ihm und er trat näher an Schliemann heran.

„Ihr wolltet mich sprechen?“

„Warum werde ich festgehalten?“, fragte der Gelehrte überheblich, ohne dabei den König anzusehen.

„Aus dem gleichen Grund, aus dem der Rest der Besatzung eures Schiffes unter Hausarrest gestellt worden ist. Ihr werdet verdächtigt bei dem Anschlag auf Prinzessin Sophia beteiligt gewesen zu sein.“

„Das ist doch kompletter Unfug. Die Besatzung hat das Schiff nie verlassen und ich war auch die ganze Zeit in der Villa.“

„Was euch nicht daran hindern könnte, während der Kutschfahrt hierher eine Nachricht abzusetzen oder den Anschlag schon vor eurer Reise nach Farnelia geplant zu haben. Außerdem hat es Warenverkehr zu eurem Schiff gegeben, weswegen auch die ganze Besatzung unter Verdacht steht.“

„Die Besatzung hat die Vorräte aufgefüllt.“, erklärte Schliemann gereizt.

„Ich bin verwirrt.“, sagte Van. „Wenn eure Reise so geheim sein soll und die Besatzung gemäß meinem Befehl nie das Schiff verlassen hat, wie konnte dann der Auftrag zum Auffüllen der Vorräte zu einem Händler der Stadt geschickt werden?“

Schliemann schwieg.

„Ich…habe es einem Händler auf dem Weg hierher aufgetragen.“, gab er schließlich zu.

„Mit anderen Worten: Sie hatten zu Leuten hier in Farnelia Kontakt. Tut mir leid, aber wir müssen sie bis zum Ende der Alliiertenkonferenz festhalten. Danach übergeben wir sie zusammen mit der Besatzung, dem Schiff und den Ergebnissen unserer Ermittlungen meinen geschätzten Kollegen aus Chuzario. Alles Weitere liegt bei ihm.“

Mit diesen Worten verließ Van den Konferenzraum und begab sich zu einem der Trainingsräume im rechten Flügel der Villa. Aus dem Innern des Raumes drang mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms ein Kampfschrei, woraufhin Van sofort wusste, dass Gesgan mit Sophia einen Schwertschlag übte. Leise öffnete er die Tür und schlich hinein. Die sonst so zerbrechlich wirkende Prinzessin stand mit dem Rücken zu ihm und schwang ihre Klinge wieder und wieder über ihren Kopf hinweg senkrecht nach unten. Ihr schlichter, dunkelblonder Zopf pendelte über ihrem Rücken hin und her, ihre Schweiß gebadete Kleidung schmiegte sich eng an ihren Körper.

Der Glückliche, der sie zur Frau nehmen darf, dachte Van bei sich und atmete daraufhin scharf ein. Schnell machte er eine Inventur seiner Gefühle und war beruhigt, dass weder Neid noch Eifersucht auf Sophias Zukünftigen dabei waren. Er fühlte auch nicht die wunderbare Wärme, wenn Hitomi in seiner Nähe war oder er auch nur an sie dachte. Dafür erfüllte ihn etwas anderes, er war…Stolz.

Er wusste nicht, wie er auf die Idee kam, auf sie stolz zu sein. Sophia war erst seit einer halben Woche in Farnelia und während dieser Zeit hatte er sie kaum gesehen. Nur zum Essen hatten sich beide getroffen. Die Gespräche, die sie während der Mahlzeiten geführt hatten, waren teilweise sehr persönlich, doch die meiste Zeit hatte Van ihr etwas über Politik, kommunale Verwaltung, Finanzwesen oder ähnlichem erklärt. Irgendwie hatte Sophie es geschafft nie einzuschlafen oder auch nur einmal den Faden zu verlieren, sondern hatte stets aufmerksam zugehört. Plötzlich fragte sich Van, ob sie das Gelernte irgendwann einmal gegen ihn verwenden könnte.

Neben Sophie stand Gesgan und überwachte ihre Bewegungen. Zufrieden sah Van dabei zu wie er den Griff ihrer Hände am Schwert und ihre Körperhaltung korrigierte. Er gönnte dem König einen kurzen Blick, wandte sich dann aber wieder seiner Schülerin zu. Schließlich befahl er ihr aufzuhören und nahm ihr das Holzschwert ab.

„Ihr habt Besuch.“, informierte Gesgan sie. Sophia wandte sich daraufhin um und sah Van im Eingang des Trainingsraumes stehen.

„Was führt dich denn her?“, wunderte sie sich.

„Ich muss doch meine Konkurrenz für das Turnier analysieren.“, scherzte er und wies Gesgan mit einer Geste an zu gehen. Das Mädchen war von seinem ironischen Unterton alles andere als begeistert.

„Ob du es glaubst oder nicht, ich meine es ernst mit der Teilnahme.“, sagte sie.

„Wenn du dich blamieren willst, soll es mir recht sein.“, antwortete Van unschuldig. Mit einem grimmigen Lächeln nahm Sophia die versteckte Herausforderung zur Kenntnis.

„Ich mich blamieren?“, platzte es aus ihr heraus. „Im Finale werde ich dich vor Volk und Adel bloßstellen.“

Van musste lachen.

„Du glaubst mir nicht? Dann lass es mich dir beweisen.“

Sie nahm ein Holzschwert von der Wand und hielt es drohend vor sich. Ohne lang zu überlegen löste Van seine Schwertscheide samt Schwert vom Gürtel.

„Wie du willst.“, antwortete Van auf ihr Anliegen.

„Wehe, du hältst dich zurück, nur weil ich eine Prinzessin bin. Dann setzt es Extrahiebe.“, warnte sie ihn. Van zuckte mit der Schulter und ging in Position. Sophia stürmte vorwärts, war mit ein paar langen Schritten bei ihm und wendete den Schlag an, den sie eben immer wieder geübt hatte. Eiskalt fing Van das Schwert mit der Scheide über seinem Kopf ab, drehte sich mit einer Dreiviertelkörperdrehung in Sophias offene Deckung hinein und schlug mit seinem rechten Ellbogen gegen ihre rechte Schläfe. Auf Sophias Überraschung folgte ein explosionsartiger Schmerz in ihrem Schädel, der sie von Van weg schleuderte. Ungebremst traf sie mit ihrer linken Seite auf den Boden auf. Nur mit Mühe konnte Van den Impuls unterdrücken, ihr zu Hilfe zu eilen. Stattdessen baute er sich vor ihr auf und blickte hochnäsig auf sie herab.

„Hast du schon genug?“, fragte er ohne eine Spur von Mitleid. Erst rührte sich Sophia überhaupt nicht, sah dann aber zu ihm hinauf. Die Träne in ihrem Gesicht jagte Van einen Pfahl durch das Herz, doch er behielt seine Maske bei. Mühsam rappelte sich Sophia wieder auf und nahm das Übungsschwert in ihre zitternden Hände.

„Es ist noch nicht vorbei.“, keuchte sie. Der erfahrene Kämpfer war anderer Meinung. Mit einem Streich seiner Scheide schlug der König ihr das Holzschwert aus den kraftlosen Fingern. Die Waffe flog im hohen Bogen in die andere Seite des Trainingsraumes. Fassungslos sah Sophia ihr hinterher.

„Für heute hast du genug.“, entschied Van. „Komm, ich bringe dich auf dein Zimmer.“

„Willst du mich etwa wieder ausziehen?“, fragte die Prinzessin scherzhaft, während sie einen Arm über seine Schulter legte und sich auf ihn stützte. Ohne darüber nachzudenken schlang Van seinen Arm um ihre Hüfte und führte sie aus dem Trainingsraum heraus.

„Kannst du mir nicht endlich verzeihen?“

„Du bist ohne Erlaubnis in mein Zimmer gestürmt, hast mich nackt gesehen und obendrein noch gerettet. So ein Erlebniss vergisst ein Mädchen nicht so schnell.“

„Klingt wie der Inhalt seichter Unterhaltung“, erwiderte Van trocken.

„Stimmt, jetzt fehlt nur noch ein Kuss von dir und die Geschichte wäre perfekt.“, kicherte sie.

„Gut, dass das hier die Wirklichkeit ist.“

Sophia zuckte merklich zusammen und konnte plötzlich ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. In der Hoffnung, dass niemand es sehen würde, strich Sophia mit ihrer freien Hand über beide Wangen. Van, der sie durch die Gänge der Villa schleppte, bemerkte dies und bereute seine Worte sofort, obwohl er genau wusste, wie notwendig sie gewesen waren. Die Richtung, in die Sophia ihn drängte, stimmte nicht mit seinen Gefühlen überein, auch wenn er es nicht so hatte aussehen lassen. Nun wusste er, dass seine Ausgelassenheit ihr gegenüber einen falschen Eindruck hinterlassen hatte. Er konnte sich gut vorstellen, wie weh ihr der Raub ihrer Illusion getan hatte, doch da musste sie durch. Dieser Schmerz gehört zum Erwachsen werden dazu. Als beide an der Wendeltreppe zum Kuppelzimmer ankamen, schob Sophia ihren Schwarm sanft von sich weg. Dieser verstand das Signal und ließ sie gehen.

„Soll ich doch nicht lieber mit rauf kommen und nach deiner linken Seite sehen?“, fragte Van besorgt.

„Dort sind nur ein paar Schürfwunden. Nichts, womit ich nicht alleine klarkomme.“, lehnte Sophia mit gequälter Stimme ab. Van versuchte zu lächeln, doch es kam nur eine unnatürliche Schieflage seiner Mundwinkel zustande.

„Du weißt, wo das Verbandszeug ist?“, hakte er nach.

„Ja, du hast mir alles gezeigt.“, beruhigte sie ihn.

„In Ordnung. Ich schicke eine Dienerin mit dem Abendbrot zu dir. Wenn du Gesellschaft möchtest…“

„Ich brauche keine, vielen Dank.“, blockte Sophia ein weiteres mal ab und machte sich niedergeschlagen auf den Weg nach oben. Schwermütig sah er ihr nach, bis sie ganz aus seinem Blickfeld verschwunden war. Jemand klopfte an seiner Tür. Van entfernte sich erst von der Treppe, ehe er den Besucher herein bat. Gesgan stand vor der Tür.

„Majestät, ist Prinzessin Sophia in der Nähe?“, flüsterte er.

„Sie ist oben.“, erwiderte Van unschlüssig.

„Könnten wir uns bitte unter vier Augen unterhalten, Majestät?“

„So ernst?“

„Bitte, Majestät, folgt mir in den sicheren Konferenzraum!“, bat Gesgan.

Auf den Weg dorthin verstärkten sich Vans Sorgen immer mehr, aber auch Neugierde regte sich in seinen Innern. Im Konferenzraum angekommen, fragte Van unruhig, was denn nun los sei. Als Antwort überreichte ihn Gesgan einen Bericht.

„Dort drin steht, was wir heute alles in den Kneipen und Gasthäusern erfahren konnten.“, informierte der Krieger seinen Herrn und bewahrte schließlich Ruhe, als ihn Van mit einer Handbewegung dazu aufrief. Dessen Gesicht indes versteinerte sich zu einer Maske, während er weiter die Zeilen überflog.

„Sind diese Informationen vertrauenswürdig?“, fragte er.

„Die Gerüchte decken sich größtenteils. Sie verbreiten sich auch im Palast.“, antwortete Gesgan besorgt.

„Ich werde es der Prinzessin mitteilen, aber nicht heute. Den Dienern ist jeder Kontakt zu ihr untersagt.“

„Wann wird sie es erfahren?“

„Morgen, wenn sie sich beruhigt hat. Erst einmal bringe ich ihr etwas zu Essen.“

Vergangenheit und Zukunft

Die Situation schien aussichtslos. Gefangen in einem kleinen, dunklen Kellergewölbe vernahm Siri das Tuscheln und Lachen von mehreren Dutzend Männern um sich herum. Sie war von einem Kegel aus matten Licht umgeben und daher für jeden anderen im Raum gut sichtbar. Am Leib trug sie ihren schwarzen Overall, ihre langen Haare zu einem schlichten Zopf zusammengebunden, während sie ruhig und berechnend abwartete. Plötzlich trat ein hoch gewachsener Mann in den Lichtkegel. Sein Gesicht konnte Siri nicht erkennen, doch die Stiefel mit dem leeren Dolchhalfter und seine Statur ließen nur einen Schluss zu. Vor ihr stand der Räuber, den sie erst gestern im Kampf besiegt hatte und wegen dem sie die Hälfte ihrer Haare eingebüßt hatte. Kaum hatte Siri sich daran erinnert, da spürte sie schon das sanfte Kitzeln ihrer Strähnen, wie sie an ihren Rücken entlang zum Boden fielen. Sie kümmerte sich nicht um sie.

Stattdessen erschien wie aus dem Nichts ein Schwert in ihrer Hand. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer bösartigen Grimasse, während in ihren Augen eiskaltes Feuer loderte. Ohne Vorwarnung griff sie an. Der Räuberhauptmann zuckte nicht einmal. Fast ohne Widerstand glitt ihre Klinge durch sein Fleisch und trennte ihn in zwei Teile, vom Hals bis zur Hüfte abwärts. Sofort stürzten sich die anderen Männer mit gezogenen Schwertern auf sie. Von allen Seiten aus wurde das Mädchen bedrängt, doch sie wich den Klingen geschickt aus, so als würde sie die Bewegungen ihrer Angreifer von vorne herein wissen. Dann bemerkte sie etwas. Es war eine Eingabe, ein Impuls, der sie dazu brachte die Spitze ihrer Klinge so schnell sie konnte in die scheinbar leere Dunkelheit zu stoßen. Wieder merkte sie nur wenig Widerstand, sah daraufhin aber einen Räuber direkt vor ihren Füßen liegen. Er war tot.

Es folgten weitere Impulse, denen Siri ohne Ausnahme folgte. Sie verfiel in einen tödlichen Tanzt aus dem es kein Entrinnen gab…für die Räuber.

Die Kriegerin wirbelte herum, schlug mit dem Schwert zu, trat um sich, fegte mit ihren Beinen dicht über den Boden durch die Reihen der Räuber. Sie fielen, einer nach dem anderen. Als sie schließlich den makellosen Fluss ihrer Bewegungen beendete, stand sie in einem Meer aus Blut und Leichen. Niemand war mehr übrig. Stolz hob sie ihren Kopf und blickte grinsend um sich.

Plötzlich erschien Allen vor ihr. Seine imposante Gestalt war von einem hellen Schein umgeben. Es schien fast so, als würde sein Inneres von selbst leuchten und ihn in diese Aura aus warmem Licht tauchen. Er nickte ihr voller Respekt zu, kam dann näher, beugte sich zu ihr herab, noch näher, bis seine Lippen nur noch wenige Zentimeter von den ihren entfernt waren. Die ganze Schlacht gegen die Räuber hatte das Mädchen nicht außer Atem bringen können, doch jetzt schlug ihr Herz wie wild und ihre Brust hob und senkte sich immer schneller. Seine Lippen berührten nun fast ihr eigenen und sie schloss ihre Augen. In ihrem wirbelten Scham, freudige Erwartungen und rationale Argumente wild umher. Gelähmt von dem Chaos in ihrem Kopf wartete sie auf den einen, den einzig wahren Kuss.

Das Pochen an einer hölzenren Tür schleuderte Siri aus ihrem tiefen Traum. Stöhnend wandte sie sich unter der Decke. Nur langsam konnte sie ihre Augen zwingen sich zu öffnen. Es war dunkel. Sie fand sich in ihrem Zimmer der Herberge wieder. Der Blick zum Fenster zeigte nicht den Hauch eines Sonnenstrahls. Trotzdem hämmerte jemand gegen Tür und damit auf ihr empfindsames Trommelfell. Genervt stand Siri auf, vergewisserte sich, dass sie durch ihr Unterkleid angemessen bedeckt war, und öffnete die Tür. Im Eingang stand Allen, sanft lächeln, so wie er es immer tat, mit einen mit Wasser gefüllten Schale und einer Lampe in der Hand. Über der Schale lag ein Handtuch, auf dessen gespannte Oberfläche sich eine große Schere und ein Kamm befanden.

„Was macht ihr denn zu so später Stunde noch hier?“, wunderte Siri sich.

„Deine Frage sollte eher lauten: Meister, was kann ich für euch tun so früh am Morgen?“, verbesserte Allen sie.

„Aber es ist doch Nacht.“, widersprach sie.

„Die Sonne geht in einer halben Stunde auf.“, informierte er das Mädchen. „Willst du mich denn gar nicht herein bitten?“

„Oh ja, natürlich.“ Der Tag fing ja gut an. „Bitte kommt herein, Meister.“

Siri trat verlegen zur Seite und ließ ihn passieren. Er stellte Schale und Lampe auf den kleinen Tisch im Zimmer und rückte einen Stuhl vor der Schale zurecht. Mit einer Geste wies er seine Schülerin an sich zu setzten, was sie erst nach langem Zögern tat.

„Was habt ihr vor, Meister?“, fragte sie unsicher.

„Ich schneide dir die Haare.“, antwortete der galante Ritter, als sei es selbstverständlich. Empört sprang Siri auf.

„Ihr macht was?“, rief sie entsetzt.

„Sei leise! Möchtest du die ganze Herberge aufwecken?“, mahnte Allen und legte sie Hände auf Siris Schulter. „Und ja, ich werde dir die Haare schneiden. Mit dem Chaos auf deinen Kopf kannst du dich in keiner Stadt blicken lassen.“

Siri gab widerstrebend nach und setzte sich wieder.

„In Ordnung.“, sagte sie. „Aber nur meine Spitzen und keine Experimente!“

„Was ist mit den Strähnen vor deinen Ohren?“

„Die behalte ich. So lange ich lebe, rührt die niemand an!“

Allen ließ ihr ihren Stolz. Er zog seine weißen Handschuhe aus und entfernte das Handtuch von der Schale. Sanft drückte er ihren Kopf nach hinten über die niedrige Lehne hinweg, so dass die Spitzen ihres Haares die Wasseroberfläche berührten. Allen fuhr mit seiner Hand immer wieder erst durch das Wasser und dann durch Siris Haar. Als ihr Haar schließlich sauber war, schlang er das Handtuch über ihren Hinterkopf und rückte den Tisch von ihr weg. Mit kräftigen Bewegungen massierte er ihre Kopfhaut, während er ihr Haar trocknete. Erst sträubte ich Siri gegen das angenehme Gefühl seiner Massage, ließ sich dann aber fallen und genoss seine Aufmerksamkeit. Schließlich lag er das Handtuch beiseite, zückte Schere, setzte den Kamm an und begann damit ihre Haarspitzen auf eine Länge zu schneiden.

„Meister, kann ich euch etwas fragen?“

„Natürlich.“, antwortete der Ritter, während er weiter seiner Arbeit nachging.

„Warum habt ihr mich als eure Schülerin ausgewählt?“

„Ich sah ein sehr großes Talent vor mir und wollte schon immer jemanden ausbilden, also ergriff ich die Gelegenheit.“

„Aber ich bin ein Mädchen.“

„Das spielt keine Rolle.“

„Aber…“

„Nichts Aber.“

Siri schwieg.

„Wer war euer Meister?“, fragte sie schließlich.

„Vargas. Er hat auch Van ausgebildet.“, antwortete Allen.

„Ich weiß. Es gibt wohl kaum jemanden in Farnelia, der ihn nicht kennt.“

Wieder entstand eine Pause.

„Du erinnerst mich übrigens an Van.“, sagte er in die Stille hinein.

„Wirklich? Ich erinnere euch an seine Majestät?“, wunderte sich Siri.

„Als ich ihn kenne lernte, war er genauso hitzköpfig und talentiert wie du, und hatte den Ehrgeizig es ganz allein mit dem gesamten Zaibacher Imperium aufzunehmen. Ich musste ihn mit Waffengewalt daran hindern.“, erzählte Allen. „In der Entscheidungsschlacht um Zaibach duellierten wir uns wieder und dort hatte er mich beinahe besiegt.“

Er beendete seine Arbeit.

„Verstehst du, was ich dir damit sagen will?“, hakte er nach.

„Nein, was soll ich verstehen, Meister?“, wunderte sich Siri.

„Dass auch du eines Tages so gut sein wirst wie ich. Ich glaube sogar, dass du mich überflügeln wirst. Alles, was du dafür aufbringen musst, ist Zeit, Geduld und harte Arbeit.“, ermunterte er sie und trat ein Schritt zurück. „Wie gefällt es dir?“

Erwartungsvoll strich Siri mit ihrer Hand über die Spitzen ihrer Haare, welche auf halber Höhe zwischen Kopf und Nacken endeten. Sie lächelte zufrieden.

„Hier.“, sagte Allen und hielt ihr ein Bündel Haarbänder hin, die sie auch sogleich ergriff. Mit einem band sie ihre kürzeren Haare zusammen, so dass ein Büschel am Hinterkopf entstand. Die beiden langen Strähnen vor ihren Ohren hatte sie zu zwei kunstvollen, gerade mal einen halben Zentimeter dicken Zöpfen geflochten und band diese mit den zwei kleinsten Haarbändern zu.

„Wie sehe ich aus?“

Allen legte in sein Lächeln noch ein bisschen mehr Wärme.

„Wie eine Frau, die ihre Gegner mit ihrer Schönheit, statt mit ihrem Schwert besiegen will.“

Angesichts Allens Schmeichelei dachte Siri sofort, dass sie wieder wütend auf ihn werden sollte, doch nichts dergleichen geschah. Sie war verwirrt. Damit er nichts merkte, drehte sie sich um und sprach laut: „Bitte geht, Meister. Ich möchte mich umziehen.“

„Selbstverständlich.“, antwortete der Ritter wie ein wahrer Gentleman und ließ sie allein. Siri setzte sich auf das Bett, ließ sich fallen und blieb noch eine lange Zeit liegen. Es dauerte, bis sie die Wirbel ihrer Gedanken soweit durch Rationalität unter Kontrolle brachte, dass sie sich wieder auf die Gegenwart konzentrieren konnte. Sie richtete sich auf und legte sich ihre Kleidung zurecht. Schließlich orakelte ihr der durch das kleine Fenster einfallende, orange Sonnenschein einen schönen Tag.

Selbst sein

In Gedanken versunken saß Van an seinem Schreibtisch, während über dem Palast die kalte Wintersonne aufging. Vor ihm lag der Bericht über die Gerüchteküche in Farnellia, den er gestern Abend erhalten hatte. Seine Augen blickten starr auf die Zeilen, die er eigentlich schon auswendig kannte und trotzdem immer wieder durchlas.

Erinnerungen stiegen hoch. Van sah sich als kleiner Junge, wie er aufgeregt an Falkens Arm zog um ihn etwas zu zeigen, eine Entdeckung, welche damals für ihn völlig neu gewesen war. Was es war, wusste er längst nicht mehr. Doch dann war plötzlich alles anders gewesen. Er erinnerte sich, wie er am Familiengrab gestanden hatte, neben seiner weinenden Mutter, die wegen des Verschwinden seines Bruders trauerte. Deutlich spürte er das unangenehme Kitzeln der Tränen auf seiner Haut, während er versuchte seiner gebrochenen Mutter Mut zu machen und ihr etwas Stärke zu geben, die er selbst nicht einmal hatte. Kurze Zeit danach war auch sie spurlos verschwunden. Sein Vater war schon Jahre zuvor gestorben.

Wäre Vargas über die ganzen Jahre nicht an seiner Seite gewesen, wäre Van nie über den Verlust seiner Familie hinweg gekommen. Wäre Merle nicht gewesen, hätte er keine mehr gehabt. Wäre Hitomi nicht gewesen, hätte er niemals den Wunsch verspürt, eine eigene zu gründen. Doch gerade sie war nicht hier. Nur ein Echo ihrer Präsenz geisterte durch sein Inneres und riss immer größere Löcher in den Panzer seines Herzens.

Hinter sich vernahm Van das Tippeln kleiner Füße auf der Treppe und drehte sich um. Er sah Sophia, wie sie in ihrem Kampfanzug die Treppe runter kam. Nur zögernd kam sie auf ihn zu, lächelte zwanghaft, senkte dann ihren Kopf, während sie an ihm vorbei zur Ausgangstür ging. Sie hatte schon den Türknauf in der Hand.

„Warte!“, bat er sie mit leiser, aber eindringlicher Stimme, woraufhin Sophia sich versteifte.

„Was ist denn noch? Ich wüsste nicht, was wir uns zu sagen hätten.“, sagte sie verbittert. Der König erhob sich von seinem Stuhl und näherte sich der Prinzessin langsam.

„Ich wüsste vieles, doch das hat Zeit.“

„Dann kann ich ja gehen.“

Angesichts der Kälte in Sophias Stimme zuckte Van innerlich zusammen, was ihn für einen Moment aus dem Konzept brachte. Er fing sich jedoch wieder.

„Nein, das kannst du nicht. Es gibt da etwas, dass du vorher wissen solltest.“

„Und das wäre?“

„Bitte setz dich.“

Sophias Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und ihre Hand würgte den Türknauf. In ihren Innern wirbelten der Schmerz, die Trauer und Enttäuschung von seiner Zurückweisung gestern noch immer wild durcheinander. Eigentlich hatte sie gehofft, dies alles bei dem Training vergessen zu können.

„Also gut, lass uns reden!“, stimmte sie unterkühlt zu.

Van seufzte niedergeschlagen und setzte sich ebenfalls. Fieberhaft überlegte, er wie er ihr die Neuigkeiten am besten mitteilen konnte. Im Vertrauen auf ihre seelische Stärke entschied er sich für die direkte Variante.

„Nach dem Attentat habe ich nach den aktuellen Gerüchten in den Wirtshäusern und Kneipen forschen lassen. Diesen Bericht habe ich gestern erhalten.“, informierte der König sie fast förmlich und hielt ihr den entsprechenden Bogen Papier hin.

„Ich will dich ja nicht enttäuschen, Van, aber ich interessiere mich nicht für die Klatschpresse.“, sagte die Prinzessin Nase rümpfend und schob den Bericht von sich weg.

„Glaub mir, diese Gerüchte solltest du kennen.“, widersprach Van ernst . Sein eindringlicher Blick stach ihr ins Auge, woraufhin ihre Wut durch Sorge, aber auch durch Neugierde ersetzt wurde. Sie nahm den Bericht an und begann ihn zu lesen. Plötzlich weiteten sich ihre Augen und Tränen liefen ihre Wangen hinunter. Der König merkte sofort, dass sie am Knackpunkt des Schreibens angekommen war.

„Ich habe dafür noch keine offizielle Bestätigung bekommen. Es könnte sein, dass…“, versuchte er sie zu beruhigen.

„Du hättest mir den Bericht nicht gezeigt, wenn du nicht glauben würdest, dass er der Wahrheit entspricht.“, schluchzte das Mädchen.

„Ich wollte nur nicht, dass du es von den Dienern erfährst.“

„Warum? Damit ich vor ihren Augen keine Schwäche zeige? Darf ich in der Öffentlichkeit nicht einmal weinen? Warum soll niemand sehen, dass ich genauso über den Tod meines Bruders weine wie jeder andere Mensch auch?“, schrie sie.

Nach diesen Worten stürmte sie die Wendeltreppe hinauf in das Kuppelzimmer und warf sich auf das Bett. Der Herrscher folgte ihr nicht, blieb regungslos sitzen, während er auf Farnelia blickte.

Ja, warum eigentlich nicht?

Van wusste, dass jedes Zeichen von Schwäche in der Öffentlichkeit das Vertrauen seines Volkes in ihn erschütterte und seinen Feinden einen weiteren Trumpf zuspielte. Für sein Volk hatte er perfekt zu sein, als Vorbild musste er alle Tugenden in sich vereinen, einfühlsam sein und nicht die kleinste Regung von Emotionen zeigen. Sie könnten ja sein Urteilsvermögen trüben. Zeit seines Lebens hatten die Erwartungen anderer sein Verhalten geprägt und geschliffen. Wo sein eigenes Selbst dabei geblieben war, wusste er nicht mehr. Wann er es verloren hatte, konnte er auch nicht sagen.

Aber er wusste, wann er es wieder gefunden hatte.

Hitomi hatte ihm sein Wesen wiedergegeben, als sie ihm gesagt hatte, wie sehr sie seine Flügel mochte. Als sie ihn angenommen hatte, so wie er war. Dann kam ihm das Gespräch mit Merle auf dem Dach der Mühle in den Sinn und ihm wurde klar, dass Merle seine Menschlichkeit die ganze Zeit über in ihrem Innern bewahrt hatte. Dank Hitomi hatte sie ihm davon auch wieder etwas zurückgeben können. Natürlich warf diese Erkenntnis die Frage auf, ob sie seine Entwicklung zu einer seelenlosen Puppe unter der Krone schon vor Jahren geahnt hatte. Ob sie es die letzten Jahre auch so beobachtet hatte.

Er betrachtete verhalten die Wendeltreppe und fragte sich, ob es für Sophia auch eine Person gab, die ihr Selbst für sie bewahrte? War diese Person vielleicht ihr Bruder gewesen, der allem Anschein nach einem Attentat zum Opfer gefallen war?

Das leise Heulen aus dem Kuppelzimmer war noch immer nicht verstummt und der Van begann sich ernsthaft Sorgen zu machen. Er hielt Sophia in jeder Hinsicht für ein starkes Mädchen, doch der Laufpass, den er ihr gestern gegeben hatte, und die heutige Nachricht von dem Tod ihres Bruders wäre wohl für jeden zu viel.

Leise betrat Van das Kuppelzimmer. Die Prinzessin lag noch immer auf dem Bett und vergrub ihr Gesicht in ihr Kissen. Langsam trat er an sie heran, setzte sich auf das Bett und legte seine Hand über ihre Schulter.

Ihr Körper verkrampfte sich und wehrte sich für einen Moment gegen den sanften Druck seiner Hand, entspannten sich dann doch zusehends und akzeptierten seine Nähe. Jedoch dauerte es noch eine viertel Stunde, ehe sie sich ihm zuwandte. Ihre Wangen waren rot und zeigten Spuren der vergangenen Tränen. Ihr Blick hingegen strahlte stählerne Entschlossenheit aus.

„Bist du dir sicher, dass du mich nicht lieben kannst?“, fragte sie ihn. „Ich bin das einzige noch lebende Kind meines Vaters. Wenn du mich heiratest, ist dir der Thron von Chuzario sicher.“

„Du weißt, für mich zählen solche Dinge nicht.“, gab Van sanft zurück.

„Aber du würdest der Herrscher eines der mächtigsten Königreiche werden. Das wäre nicht nur für dich, sondern auch für Farnellia das Beste.“, versuchte die Prinzessin es erneut.

„Hör bitte auf! Ich würde in einer Lüge leben. So etwas kann ich nicht. Könntest du es?“

„Für mich wäre es keine Lüge! Ich liebe dich wirklich!“

„Du denkst also, was du für mich fühlst, ist Liebe?“

Er schüttelte mit dem Kopf und erhob sich.

„Willst du etwa schon gehen?“, fragte Sophia fassungslos. Anstatt zu antworten, drehte er sich von ihr weg und machte sich auf den Weg zur Treppe. „Warum gehst du? Willst du mich jetzt etwa alleine lassen? Jetzt, wo ich dich am dringendsten brauche?“, schrie sie ihn wütend hinterher. Doch alles Keifen half nichts. Als Van nicht mehr zu sehen war, brach sie erneut in Tränen aus. „Warum?“, flennte sie. „Warum? WARUM?“

Das Mädchen war allein.

Um sie herum erstarben alle Geräusche. Nur ihr eigenes, leiser werdendes Wimmern drang noch in ihr Ohr, bis auch Tränen endgültig versiegt waren.

Totenstille. Sie ließ sich zurück auf das Bett fallen und starrte mit leerem Blick auf die vielen Sterne an der Wand. Ihre Gedanken wanderten umher zu längst vergangenen Zeiten und vergessen Orten.

Plötzlich sah sie sich selbst vor dem Grab ihrer Familie stehen. Ein dunkelgrauer Himmel ließ einen laut prasselnden Regen auf die Erde los. Sophias Kleidung war durchnässt und ließ sie frösteln, doch sie merkte es nicht einmal. Um sie herum war eine große, schwarz gekleidete Trauergemeinde versammelt, welche natürlich nur aus den engsten Freunden und Familienmitgliedern bestand. Sophia brauchte sich nicht umzusehen um zu wissen, dass nur die wenigsten mit echter Trauer auf das Grab vor ihren Augen sahen. Die meisten Blicke waren kühl, berechnend.

Wieder spürte sie einen sanften Druck auf ihren Schultern. Sie dachte schon, Van wäre zurückgekommen, aber als sie sich umsah, empfing sie das sanfte Lächeln ihres großen Bruders. Tapfer lächelte sie zurück.

Seine Mundwinkel verzogen sich einen Moment lang zu einem breiten Grinsen, dann aber sah er wieder mit einem ernsten und durch Trauer geprägten Gesichtsausdruck auf das Familiengrab, in dessen Kammer gerade eine Urne eingelassen wurde.

Bald wird es die meines letzten Bruders sein.

Einmal gedacht, ließ der Gedanke Sophia nicht mehr los. Erst verschwand das sanfte Gewicht seiner Hände von ihren Schultern. Sie drehte sich panisch um und konnte gerade noch beobachten, wie er schnell durchsichtig wurde und sich in Luft auflöste. Mit einem Schlag war auch von der Trauergemeinde keine Spur mehr zu finden und Sophia war ganz alleine vor dem Grab. Die Kammer stand noch immer offen, in ihrem Innern jedoch lagen fünf Urnen. In Sophia regte sich plötzlich der Wunsch, ihre eigene wäre mit dabei.

Daraufhin verschwanden auch das Grab und die ganze Landschaft. Um sie herum war nur eine erstickende, undurchdringliche Finsternis. Sie spürte weder Boden unter ihren Füßen noch irgendwelche Kleidung an ihrer Haut.

Sie fror, fühlte sich bedrängt und entblößt. Schutzlos ausgeliefert kauerte sie sich zusammen und wartete. Sie hatte keine Ahnung, worauf. Alles, was sie wusste, war, dass etwas passieren musste, sonst würde sie nicht mehr lange durchhalten und dann…

Wieder einmal berührte eine Hand ihre Schulter. Sophia hielt es für eine Illusion, für eine weitere Einbildung ihrer verzweifelten Seele, doch dann rüttelte die Hand ihre Schulter. Langsam erwachte Sophia aus ihrer Trauer und fand sich auf den Bett im Kuppelzimmer wieder. Neben ihr saß Van und er zeigte das sanfte Lächeln, welches die Prinzessin so an ihren jüngst verstorbenen Bruder erinnerte.

„Hast du Lust auf einen Ausritt? Ich habe die Pferde bereits satteln lassen.“, fragte er freundlich.

„Keine Lust!“, nörgelte sie.

„Einen König versetzt man nicht.“, mahnte Van verspielt und plusterte sich auf.

„Wenn ich mitkomme, hältst du dann die Klappe?“

„Abgemacht!“

Verlorene Hoffnung

Wie Raubvögel kreisten drei kampfbereite Luftschiffe über Farnellia. Wachsam beäugten sie sich gegenseitig und die Stadt unter ihnen. Im Innern eines jeden Schiffes schlummerten drei Guymeleffstaffeln, die nur darauf warteten losgelassen zu werden. Van fühlte sich bei dem Anblick der Kriegsschiffe wie ein Gefangener in seiner eigenen Stadt. Der prasselnde Regen und die tiefen, dunkelgrauen Regenwolken verstärkten diesen Eindruck noch.

Die Sicht auf die Stadt und die Schiffe verschwamm durch die verregneten Fensterscheiben seines Zimmers und für einen Augenblick schien es Van so, als wäre der Schleier, der einen genauen Blick auf die Welt außerhalb seines Zimmers verhinderte, direkt vor seinen Augen.

Jedes der drei Schiffe gehörte einer anderen Großmacht und hatte das entsprechende Oberhaupt nach Farnellia gebracht. Gerade waren die drei Könige aus Astoria, Vasram und Chuzario, welche den Rat der Allianz bildeten, im sicheren Konferenzraum und berieten sich untereinander. Der Gedanke daran, dass sie dabei ganz alleine waren, beunruhigte Van. Die sturen Hitzköpfe könnten sich gegenseitig an Gurgel gehen, ohne dass er davon etwas mitbekam.

Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich und Sophia trat ein. Schweiß floss über ihre Stirn und an ihren Wangen herunter. Erschöpft lehnte sie sich an die Wand und trocknete sich mit dem mitgebrachten Handtuch das Gesicht ab.

„Wie siehst du denn aus?“, wunderte sich Van.

„Gesgan war wohl der Meinung, er müsse mein letztes Training besonders schwierig gestalten. Am Ende haben wir gegeneinander gekämpft.“, keuchte Sophia.

„Und?“, fragte Van neugierig.

„Er nahm mich auseinander. Nach allen Regeln der Kunst.“, antwortete Sophia schwach lächelnd.

„Glaubst du, dass Training hat sich gelohnt?“

„Auf jeden Fall. Hätte ich noch einmal die Wahl, ich würde mich nicht anders entscheiden.“

„Ich nehme nicht an, dass du jetzt noch die Kraft hast gegen mich zu kämpfen?“

„Du willst kämpfen?“

„Ich möchte auch sehen, was du gelernt hast.“, erwiderte Van Schulter zuckend.

„Du bekommst deine Chance.“, teilte ihm Sophia mit und begann zu grinsen. „Auf dem Turnier hier in Farnellia werden wir garantiert aufeinander treffen.“

„Wie kannst du so sicher sein?“, wollte Van wissen.

„Wenn du gewinnen willst, wirst du an mir vorbei kommen müssen.“

„Ich könnte Frauen die Teilnahme verweigern.“

„Gerade das wirst du nicht wagen. Merle würde dich vierteilen.“

„Auch wieder wahr.“, sagte Van trocken. „Gibt es keinen Weg dich umzustimmen? Dein Vater macht Farnellia dem Erdboden gleich, wenn dir etwas während dem Turnier passiert.“

„Keine Chance. Um meinen Vater brauchst du dich nicht zu sorgen. Um den kümmere ich mich.“, bekräftigte Sophie ihren Anspruch. „Wo wir gerade von ihm sprechen, wo ist er überhaupt?“

„Noch immer im Konferenzraum. Meine geschätzten Kollegen sitzen jetzt schon seit Stunden da drinnen.“

„Es muss je wirklich was Wichtiges zu besprechen geben, wenn sie solange brauchen.“

„Glaub ich nicht. Die wollen mich nur warten lassen und spielen Karten, um sich die Zeit zu vertreiben.“, scherzte Van. „Damit zeigen sie mir, welchen Rang ich ihrer Meinung nach in der internationalen Elite einnehme.“

„Du wirst schon wieder zynisch. Verlier nicht die Nerven, Van. Gerade jetzt wäre das tödlich.“, warnte ihn Sophia.

„Du hast Recht.“

Jemand klopfte an Vans Tür.

„Herein.“, rief er, wobei er seine Hand unbewusst an den Griff des Schwertes legte, das an seinem Stuhl gelehnt war. Langsam öffnete sich die Tür und eine junge Dienerin gab sich zu erkennen.

„Verzeiht, Majestät.“, flüsterte sie.

„Schon gut, was ist los?“, beruhigte Van sie.

„Der Rat…er möchte euch sprechen…im gesicherten Konferenzraum.“, stotterte die Dienerin.

„Ich komme.“, informierte er sie, woraufhin die Dienerin sich zurückzog. „Ich frage mich allen ernstes, was der Rat mit meinem Personal anstellt. So nervös sind sonst nur die Frischlinge.“, sagte er zu Sophia.

„Die Dienerin schien mir auch noch sehr jung zu sein.“, wandte sie ein.

„Sie arbeitet schon seit einem halben Jahr hier in der Villa und ist den Umgang mit hohen Gästen gewohnt. So schüchtern war sie lange nicht mehr.“, widersprach Van.

„Solltest du nicht langsam gehen? Mein Vater wartet nicht gerne.“

„Ich bin ja schon weg. Du solltest dich ebenfalls für deine Abreise vorbereiten. Er will hier, soviel ich weiß, nicht übernachten.“

„Meine Sachen sind bereits gepackt.“

„Aber du wirst ihm doch nicht verschwitzt entgegentreten.“

„Schon gut! Ich werde mich frisch machen.“, entgegnete Sophia. Van schenkte ihr ein Schmunzeln und verließ das Zimmer.

Mit einem flauen Gefühl im Magen schritt er durch die Gänge zum Konferenzraum, welchen er getrost als Höhle der Löwen bezeichnen konnte. Jetzt endlich würde er den Grund erfahren, warum König Aston darauf bestanden hatte eine Ratssitzung in Farnellia abzuhalten. Wobei...er konnte es sich denken. Aston schien das Interesse an Hitomi nicht zu verlieren, welches er schon seit dem Bankett in Palas vor drei Jahren pflegte. Worin sein Interesse bestand, wollte Van sich lieber nicht vorstellen.

An der Tür zum Konferenzraum angekommen, nahm er alle Stärke zusammen, die er besaß. Er wollte auch auf den Rückhalt zugreifen, den ihn Hitomi gab, bis er merkte, dass er wieder nur Leere an Stelle ihrer Präsens in seinem Innern fand. „Wo bist du?“, formulierte er in Gedanken und schickte die Frage in die weite Welt hinaus. Dann ließ er die Tür öffnen und trat ein.

Drei stechende Augenpaare empfingen ihn. Van war von den überheblichen Blicken einen Moment lang überwältigt, doch die zufallende Tür jagte ihm einen kleinen Schrecken ein, so dass er wieder einen klaren Kopf bekam.

An dem runden Tisch saßen König Aston von Astoria in den für ihn typischen und teuren aristokratischen Gewändern, der kleine und dicke General Friedrich von Vasram in seiner braunen Militäruniform und König Franziskus IV von Chuzario, der Vater von Sophia. Er stach Van sofort ins Auge. Nicht nur, weil sein schneeweißer Anzug sich deutlich von allen Farben im Zimmer abhob und er unter den Ratsmitgliedern der einzige schlanke war. Der berechnende Ausdruck seiner Augen fiel Van auf und er fühlte sich, als wäre er gerade nach Waffen durchsucht worden. Auch die aufrechte Körperhaltung verriet Van, dass Chuzarios Oberhaupt jederzeit auf einen Angriff gefasst war. Van erinnerte sich an das, was Sophia über die mörderische Politik in ihrem Land erzählt hatte. Hätte er jemals Zweifel an ihren Worten gehabt, sie wären bei dem Anblick ihres Vaters ausgeräumt worden.

König Aston begann zu sprechen.

„Wisst ihr, warum wir euch haben rufen lassen, König von Farnellia?“, fragte er großspurig.

„Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, weshalb ihr diese Konferenz in Farnellia abhalten musstet.“, erwiderte Van betont gelassen.

„Das ist keine Antwort auf meine Frage.“, donnerte Aston.

„Nein, ich weiß nicht, warum ich gerufen worden bin.“, antwortete Van respektvoll, hielt dabei aber das Kinn höher.

„Meinen Quellen zufolge wurde ein Mädchen mit dem Namen Hitomi hier in Farnellia gesehen. Ihr sollt von ihrer Anwesenheit gewusst und sie sogar in euer Haus aufgenommen haben.“, führte König Aston aus.

„Das ist richtig.“, bestätigte Van.

„Ihr leugnet es nicht?“

„Warum sollte ich? Soviel ich weiß, ist es nicht illegal Gäste aufzunehmen.“

„Ihr wisst, was man dem Mädchen vorwirft? Dass sie den Krieg gegen Zaibach ausgelöst und vorangetrieben haben soll? Dass sie mit Hilfe ihrer Kräfte versucht hat, Zugang zu unseren Kreisen zu bekommen? Natürlich wisst ihr das, schließlich wart ihr ja auch das erste Opfer, welches ihren zerstörerischen Einflüssen unterlag.“, warf Aston Van vor und lehnte sich selbstsicher zurück. Van verschlug es angesichts der Lügen, welche über seine Geliebte verbreitet wurden, die Sprache.

„Ihr glaubt diesen lächerlichen Gerüchten?“, fragte er fassungslos.

„Bisher konnten die Vorwürfe nicht entkräftet werden.“, meinte Franziskus und beobachte Vans Reaktion. Dieser knirschte mit den Zähnen und rang um seine Fassung. Er hat dieses Theater mehr oder weniger erwartet und eigentlich geglaubt, dass er mitspielen konnte, doch jetzt erkannte er, dass er sich die ganze Zeit nur etwas vorgemacht hatte. Selbst wenn Hitomi in keiner Weise anwesend war, ließ sie ihn nicht kalt. „Wenn das Mädchen sich jedoch stellen würde, könnten mit Sicherheit alle Missverständnisse ausgeräumt werden.“, argumentierte Sophias Vater weiter.

Van überlegte fieberhaft. Friedrich ging die ganze Sache an seinem fetten Arsch vorbei, Aston hatte aus persönlichen Gründen Interesse an Hitomis Gefangennahme, doch warum setzte sich nun auch Franziskus für einen Haftbefehl ein. Auf einmal wurde Van klar, dass er sich auf diese Art und Weise Van als Schwiegersohn freihalten wollte.

„Daher wird ein offizielles Kopfgeld im Rahmen eines Haftbefehles der Allianz auf sie ausgesetzt. Dieses Mädchen wird ab sofort wegen ihrer Kriegsverbrechen gesucht.“, verkündete König Aston. „Sollte sie Farnellia noch einmal betreten, ist es selbstverständlich eure Pflicht, König Van, für ihre Verhaftung und die Überstellung nach Pallas zu sorgen. Sollte Gegenteiliges geschehen, werden die Hilfslieferungen für die Bevölkerungen eingestellt und Sanktionen verhängt. Habt ihr das verstanden?“

„Ja, ich habe verstanden.“, bestätigte Van verärgert. „Nun, da dies geklärt wäre, sollten die Herrschaften nicht noch mehr Zeit wegen einer solchen Kleinigkeit verschwenden und wieder in ihre eigenen Schlösser zurückkehren.“

Der General von Vasram lief rot an.

„Ihr schmeißt uns raus?“, brüllte er außer sich.

„Ich bitte euer Exzellenz lediglich zu gehen.“, verbesserte Van ihn. „Ihr könnt natürlich bleiben, solange es euch beleibt eh beliebt.“

Friedrich und Aston starrten Van ungläubig an und stürmten dann wütend aus dem Konferenzraum. Nur Sophias Vater blieb gelassen sitzen. Nachdem wieder Ruhe in das Zimmer eingekehrt war, erhob er sich langsam und ging auf Van zu.

„Euer Verhalten zeugt von sehr viel Mut, König von Farnellia, aber auch von Dummheit.“, teilte er ihm mit.

„Vielleicht habe ich mich eurer königlichen Majestät gegenüber unklar ausgedrückt. Ich möchte, dass ihr Farnellia verlasst. Sofort!“, befahl ihm Van.

„Nein, ihr habt euch sehr klar ausgedrückt. Etwas zu klar für meinen Geschmack, aber das sei euch vergönnt. Ihr seid noch jung und lasst euch von der Liebe leicht verwirren.“

„Was wollt ihr von mir?“, fragte Van wütend.

„Vor der Konferenz konnte ich noch ein kurzes Gespräch mit meiner Tochter führen.“, informierte ihn Franziskus. „Sie beschrieb euch als einen König, der etwas von seinem Handwerk versteht, von euren heutigen Ausrutschern mal abgesehen. Angeblich sollt ihr euch sogar in allen Bereichen der Politik und der Verwaltung auskennen. Bedingt durch die Größe eures Reiches soll euch die Außenpolitik genauso geläufig sein wie die Verwaltung auf kommunaler Ebene.“

„Kommt endlich zum Punkt!“

„Ich bitte euch Sophia auszubilden.“, schloss König Franziskus.

„Wie stellt ihr euch das vor? Bedingt durch die Größe meines Stabes habe ich einfach zu viel Arbeit am Hals, als dass ich mich auch noch um eure Tochter kümmern könnte.“

„Dann lasst meine Tochter euren Stab verstärken. Die Grundlagen der Politik beherrscht sie bereits.“

Van seufzte und gab auf. Er war des Kämpfens müde. So müde!

„In Ordnung, aber ihr solltet es ihr selbst sagen.“

„Sie weiß es bereits. Genau genommen war sie so fest von eurer Zusage überzeugt, dass sie nicht einmal ihre Sachen hat packen lassen.“

„War ja klar!“, flüsterte Van. „Darf ich euch jetzt also eine gute Reise wünschen?“, verabschiedete er sich. „Wegen eurer Tochter braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Ich passe gut auf sie auf.“

„Oh, davon bin ich überzeugt. Schon allein, weil Heinrich von Schliemann ebenfalls hier bleiben und mir wöchentlich einen Bericht schreiben wird.“

Mit diesen Worten verließ auch der König von Chuzario den Konferenzraum. Van machte sich ebenfalls auf den Weg zu seinem Zimmer. Dort angekommen schlug er die Tür zu, stürmte auf seinen Schreibtisch zu, fasste seinen Stuhl an der Lehne und schleuderte ihn brüllend gegen das Fenster. Das Geschoss prallte harmlos an dem Glas ab und hinterließ nur dünne, sternenförmige Risse. Völlig außer Kontrolle trat Van auf den Stuhl ein und zerstückelte ihn in kleine Teile. Vom Lärm aufgeschreckt kam Sophia die Treppe herunter gestürmt. Sie sah Van wie einen Wahnsinnigen stampfen und hörte das Klopfen an seiner Tür. Eine stumpfe Stimme erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei.

„Van, was ist in dich gefahren? Was ist los?“, fragte Sophia panisch.

„Politik! Das ist los!“, brüllte Van. „Nur weil bei Aston an Stelle des Hirns sein Schwanz denkt und dein Vater sich einbildet, er könne mich zu einer Heirat zwingen, kann ich meine wahre Liebe in den Wind schreiben. Ich werde Hitomi nie wieder sehen!“

„Okay, langsam, noch einmal von vorn! Was ist passiert?“, versuchte sie es erneut.

„Auf ihr ist ein Kopfgeld ausgesetzt worden. Sie wird von nun an überall im Einzugsbereich der Allianz gesucht. Auch hier in Farnellia. Sollte ein Wunder geschehen und sie eines Tages zu mir zurückkehren, muss ich sie an Astoria ausliefern oder den Tod meines Volkes in Kauf nehmen.“, erklärte Van, während Tränen über seine Wange flossen. An der Tür pochte es noch immer.

„Es ist alles in Ordnung! Gehen sie!“, schrie Sophia entnervt. Das Pochen hörte auf. Mühsam richtete Sophia Van auf und stützte ihn auf ihre Schulter.

„Komm mit nach oben! Dort kannst du mir die ganze Geschichte erzählen.“, schlug sie vor.

Gedanken zum nächsten Schritt

Merle fand Hitomi genau an dem Ort, wo sie sie zurückgelassen hatte. Sie saß allein in der Höhlenkammer, welche ihr und Merle als Quartier zugewiesen worden war, und meditierte. Merles Platz war aufgeräumt, während Hitomis Decke zur Hälfte neben ihrem Schlaflager lag und die Feuerstelle im Zentrum der Kammer war genauso kalt wie das unberührte Essen, welches auf einem Tablett direkt neben Hitomi stand.

So kalt und leblos die Kammer auch wirkte, Hitomi erfüllte den Raum bis auf den letzten Kubikzentimeter mit ihrer lebendigen und warmen Aura. Ehrfürchtig betrat Merle die Höhle. Wieder einmal hatte sie das Gefühl von der durch Hitomis Konzentration aufgebrachten Energie erdrückt zu werden und brachte daher ihre mentalen Schilde in Stellung. Unsicherheit meldete sich in ihrem Bewusstsein, doch Merle kaschierte das Gefühl sofort, indem sie sich selbst daran erinnerte, dass Van sie, sie allein, mit der Aufgabe betraute seine Liebste zu beschützen.

„Bist du krank?“, fragte sie ohne weitere Umschweife.

„Wie kommst du darauf?“, antwortete Hitomi, wobei ihre Augen geschlossen blieben.

„Linu sagte mir, dass du vorgestern während deiner Meditation ohnmächtig geworden bist.“

„Das war…nichts, kein Grund zur Besorgnis.“

„Nichts? Du sollst dich erst vor Schmerzen gekrümmt haben und dann leblos zusammen gesagt worden sein.“, zweifelte Merle.

„Ich sag doch, es war nichts. Mach dir um mich keine Sorgen!“, wiegelte Hitomi ab. Enttäuscht sah Merle sie an.

„Hitomi, warum kannst du mir nicht ein einziges Mal vertrauen? Wieso sagst du mir nicht, was vorgefallen ist?“

Daraufhin schwieg Hitomi. Merle wartete geduldig, bis sie sich endlich überwand.

„Jemand ist mir eingedrungen.“, erzählte Hitomi leise.

„Was meinst du?“, fragte Merle verwirrt.

„Jemand war in meinem Kopf und hat alle Informationen durchsucht, die dort abgespeichert sind.“

„Du meinst…“

„Ich meine, dass derjenige jetzt alles über mich weiß. Er kennt meine Erinnerungen, meine Denkmuster, meine Vorlieben, meine Abneigungen, meine Stärken und meine Schwächen. Er weiß sogar von meiner Liebe zu Van. Als ich sein Eindringen bemerkte, versuchte ich mich zu wehren, doch dann schien mein Kopf plötzlich zu explodieren und ich wurde ohnmächtig.“

„Weißt du, wer dahinter steckt? Könnte Van…“, fragte Merle.

„Van würde mir niemals dermaßen wehtun. Na ja, vielleicht doch, aber er war es nicht. Ich spürte die Aura des Eindringlings. Sie war kalt, gefühllos, beinahe so, als wäre derjenige, welcher sie erschafft, gar nicht mehr am Leben.“, berichtete Hitomi völlig aufgelöst.

„Das ist unmöglich.“, meinte Merle.

„Mag sein, aber ich weiß, was ich gespürt habe.“, entgegnete Hitomi.

„Da ist aber noch mehr. Man sagte mir, dass du nichts isst, nicht schläfst und überhaupt nie diese Kammer verlässt.“, warf Merle ihr vor.

„Ich würde es ja gerne tun, wenn ich mich draußen nicht so beobachtet fühlen würde.“

„Du hast wohl noch immer nicht kapiert, in welcher Gefahr du dich befindest. Es wäre verantwortungslos dich alleine nach draußen gehen zu lassen.“, versuchte Merle sie zu überzeugen.

„Ein bisschen Privatsphäre möchte ich doch gerne behalten.“, erwiderte Hitomi trotzig.

„Privatsphäre?“, wunderte sich das Katzenmädchen. „Du bist eine Anwärterin auf den Thron von Farnelia. Dein ganzes Leben lang wirst du keine Privatsphäre mehr haben.“

„Übertreibst du jetzt nicht etwas? Außerdem habe ich nie behauptet, dass ich diesen Job möchte.“

„Du willst also nur eine Konkubine von Van werden.“, schlussfolgerte Merle.

„Auf keinen Fall!“, verneinte Hitomi vehement.

„Dann hast du nur die eine Wahl. Entweder wirst du Vans Ehefrau und damit die Königin von Farnelia, was eine vollkommene Transparenz deines Lebens zur Folge hat, oder du weist ihn ab und entscheidest dich damit für ein stinknormales Leben. Sollte Van tatsächlich kommen und dich abholen, musst du diese Wahl treffen.“

„Schön, aber ich muss diese Wahl jetzt noch nicht treffen. Also lasst mir bitte ein bisschen Freiraum, okay?“

„In dem Punkt habe ich keine Wahl. Im Moment ist das Risiko einfach zu groß.“

Hitomi seufzte.

„War deine Reise wenigstens erfolgreich?“, fragte sie um das Thema zu wechseln.

„Kann mal wohl sagen. Rate mal, wen ich getroffen habe!“

„Woher soll ich das wissen?“

„Och, nun rate doch wenigstens einmal.“, quengelte Merle.

„Wenn ich nicht die geringste Ahnung habe, wo du dich überhaupt herumgetrieben hast, kann ich ja wohl schlecht dein Ratespiel mitmachen.“

„Ich war auf der Handelsstraße zwischen Palas und Farnelia.“

„Handelsstraße? Dann hast du Dryden getroffen.“, mutmaßte Hitomi.

„Nein, natürlich nicht. Den interessieren Straßen schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Inzwischen hat er wieder eine ansehnliche Flotte aus Luftschiffen aufgebaut.“

„Dann weiß ich es wirklich nicht.“

Merle rollte mit den Augen.

„Allen habe ich getroffen.“

„Oh toll, warum bin ich nur nicht selbst darauf gekommen!“, erwiderte Hitomi.

„Siri war bei ihm.“, erzählte Merle weiter, ohne auf den Sarkasmus in Hitomis Stimme einzugehen.

„Und sie hat dich einfach so gehen lassen?“, wunderte sich Hitomi.

„Natürlich nicht. Ich musste die beiden erst ausschalten, ehe ich durch ein Fenster das Gasthaus verlassen konnte. Siri denkt anscheinend noch immer, dass ich dich entführt habe.“

„Hast du ja auch. Ich kann mich nicht daran erinnern dich gebeten zu haben, mich mitten in der Nacht aus Farnelia herauszuschmuggeln.“

„Hast du etwa schon Heimweh?“, fragte Merle erwartungsvoll.

„Farnelia ist nicht meine Heimat, Merle. Sie war es noch nie.“, widersprach Hitomi.

„Sag nicht, du willst noch immer auf deine komische Kugel zurück.“

„Mehr als jemals zuvor. Während ich hier tatenlos herumsitze, geht das Leben auf der Erde weiter.“

Angesichts ihrer wehmütigen Antwort zweifelte Merle für einen Moment an ihrem Vorhaben, Hitomi und Van zu verkuppeln. Schnell jedoch zählte sie die Gründe auf, warum diese Verbindung zwingend notwendig war. Ohne Hitomi an seiner Seite würde Van nicht mehr lange durchhalten und es war jetzt an Merle die Umstände zu schaffen, welche die Krönung Hitomis zu Farnelias Königin ermöglichen sollten. Praktisch gesehen musste sie einerseits auf Hitomi aufpassen, die Quelle des Kopfgeldes ausschalten und diese sture Frau davon überzeugen auf Farnelia zu bleiben. Alles drei zur gleichen Zeit zu erledigen, war wenig Erfolg versprechend. Also musste sie erst einmal ein Problem loswerden. Da kam Merle der Gedanke, dass es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, wenn Hitomi zum Mond der Illusionen zurückkehren würde. Immerhin wäre sie dort in Sicherheit und Merle hätte ein Problem weniger am Hals.

„Wie wäre es, wenn wir dich zurück nach Hause zurückbringen.“, schlug sie vor.

„Weißt du etwa einen Weg zur Erde?“, wunderte sich Hitomi.

„Ich nicht, aber deine Engel sollten einen wissen. Und ich weiß, wo wir möglicherweise einen Hinweis auf deren Verbleib bekommen.“

„Wo?“

„Im Tempel der Fortuna.“; verkündete Merle.

„Wie kommst du darauf?“, wollte Hitomi wissen, wobei in ihrer Stimme eine Spur von Verwirrung mitschwang.

„Das liegt doch nahe. Fraids Geschichte ist am engsten mit der von Atlantis verbunden, wie wir ja schon früher festgestellt haben. Der beste Beweis dafür ist der Tempel der Fortuna. Wenn es noch irgendwo Hinweise auf den Verbleib des Drachenvolkes gibt, dann dort.“, erklärte Merle, woraufhin Hitomi unsicher auf den Boden starrte.

„Was ist?“, fragte Merle besorgt.

„Die Verbindung, welche der Eindringling zu mir aufgebaut hatte, funktionierte wohl in zwei Richtungen. Jedenfalls konnte ich ein Bild in meinem Kopf erkennen, welches mir eindeutig die Halle mit den vielen Statuen im Tempel der Fortuna zeigte.“, erzählte Hitomi.

„Ein seltsamer Zufall. Konntest du feststellen, wo dein Eindringling sich befand, während er in deinem Kopf einbrach?“

Hitomi brauchte einen Moment um sich anhand der Schlaflager in der Kammer zu orientieren. Schließlich zeigte ihr Finger auf eine Stelle der Felswand links neben dem Eingang.

„Aus der Richtung kam die Verbindung. Wie weit sie reichte, kann ich bei besten Willen nicht sagen.“

„Noch so ein seltsamer Zufall. In der Richtung liegt Astoria.“, grübelte Merle.

„Gehen wir der Sache nach?“, erkundigte sich Hitomi.

„Nein, denn die falsche Spur, welche ich ausgelegt habe, führt ebenfalls dorthin. Nachdem ich mir soviel Mühe gemacht habe unsere Verfolger glauben zu lassen, du seiest nach Astoria verschleppt worden, werden wir unter Garantie dort nicht auftauchen.“

„Glaubst du, die Menschen dort sind in Gefahr?“

„Ich habe keine Ahnung, aber sag du es mir doch! Du bist schließlich diejenige von uns mit Weitblick.“

„Ich habe die Wahrsagerei aufgegeben. Das weißt du doch.“

„Ja, ist vermutlich auch besser so. Ich konnte deine theatralischen Zusammenbrüche sowieso nie leiden.“, scherzte Merle.

„Die waren immer noch besser als dein Zickengehabe, weil ich dir Van ausgespannt hatte.“, erwiderte Hitomi grinsend.

„Er steht halt mehr auf schwache Mädchen, die er beschützen kann.“; konterte Merle.

Einen Moment lachte Hitomi über Merles Kommentar, doch dann holten sie ihre Befürchtungen wieder ein, woraufhin sie wieder schwieg.

„Sag bloß, du machst dir über deinen Ohnmachtsanfall sorgen. Das passiert dir doch ständig.“, versuchte Merle sie zu beruhigen.

„Ich weiß auch nicht.“, grübelte Hitomi. „Ich habe irgendwie das Gefühl, als würde jemand wollen, dass wir zum Tempel der Fortuna reisen.“

„Du meinst deinen Eindringling?“

„Vielleicht. Ich habe keine Ahnung, wer es sein könnte.“

„Komm schon, wir haben noch viel zu tun, ehe wir aufbrechen können.“, forderte Merle Hitomi auf.

„Merle!“, rief Hitomi panisch aus.

„Ich weiß.“, unterbrach Merle sie mit sanfter Stimme. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich beschütze dich, wer oder was auch immer kommen mag.“

Fest der Masken

Die Kutschfahrt von Allens Villa zum Ball im Königspalast verdarb Siris Stimmung, ehe der Abend überhaupt angefangen hatte. Das Rütteln und Schütteln der offenen Kutsche auf dem mit Löchern gespickten Kopfsteinpflaster zerrte an ihren Nerven und auch die angenehm kalte Meeresluft und der überwältigende, klare Sternenhimmel konnten daran nichts ändern. Grimmig griff sie in die Falten ihres Umhanges und warf Allen einen erbosten Blick zu.

„Ich dachte, Astoria wäre eine Großmacht, aber anscheinend hat es nicht einmal genug Geld um die Löcher in den Straßen zu stopfen.“

Allen widerstand dem Reflex seinen Mantel enger an sich heran zu ziehen und erwiderte Siris Blicke mit einem ermunternden Lächeln.

„Gerade weil Astoria eine Großmacht ist, bezahlt es viel Geld für den Unterhalt der Armee und der Stützpunkte. Außerdem musste nach dem Krieg viel wiederaufgebaut werden und die Bevölkerung von Zaibach ist auch heute noch auf Lebensmittellieferungen aus dem Ausland angewiesen.“, erklärte er. „Ich fürchte, für das Straßennetz bleibt nicht mehr viel übrig. Aber keine Sorge. Gleich kommen wir in die unmittelbare Umgebung des Palastes. Dort werden die kleinsten Straßenschäden sofort repariert.“

„Toll! Warum nur dort?“, fragte Siri mürrisch.

„Weil dort der Adel größtenteils wohnt und die Diplomaten anderer Länder herumgeführt werden, um den Reichtum von Astoria zu demonstrieren.“

Siri schnaubte verächtlich und im Stillen stimmte Allen ihr zu, doch konnte er eine solche Taktlosigkeit, wie Siri sie an den Tag legte, angesichts des Anlasses dieser Fahrt nicht tolerieren.

„Siri, du weißt doch, dass du dich auf dem Ball im Palast nicht so benehmen kannst wie jetzt?“, erkundigte er sich, wobei in seiner Stimme schon ein gewissen Gesicht lag.

„Wir sind ja noch nicht im Palast, Meister.“, konterte Siri.

„Trotzdem könntest du dich doch schon darauf einstellen. Es kommt nicht oft vor, dass ein Krieger weiß, wann eine Schlacht kommt. Wenn er es weiß, nutzt er natürlich die Zeit, die ihm noch bleibt, und bereitet sich vor.“

„In den letzten Tagen habe ich nichts anderes gemacht als mich vorzubereiten. Ich dachte, als euer Schüler würde ich lernen wie man kämpft, stattdessen musste ich Tag ein Tag aus mit einem Buch auf dem Kopf die Treppen hoch und runter stolzieren und tanzen lernen. Glaubt ihr, ich weiß auch nur noch die Hälfte der Benimmregeln, die ihr mir eingetrichtert habt?“

„Es wäre besser für dich, denn wenn du sie verletzt, ruiniert dein Fehlverhalten deinen Ruf auf ewig.“

„Aber es sind einfach zu viele Regeln, als dass ich sie in zwei Tagen lernen könnte.“; beklagte sich Siri. „Allein um die Tischregeln alle zu beherrschen, bräuchte ich jahrelangen Unterricht.“

„Da bist du nicht die einzige. Im Gegensatz zu den anderen Damen am Hof hast du diese Zeit nicht. Trotzdem sollte es für ein ehemaliges Mitglied eines Geheimdienstes kein Problem sein nicht aufzufallen.“, beruhigte Allen sie.

Siri blieben angesichts Allens Optimismus die Worte im Halse stecken. Ihre Nervosität jedoch wollte nicht verschwinden. Als die Kutsche die letzte Brücke vor dem Palast überquerte, fing er mit ihr ein belangloses Gespräch an und legte seine Hand auf ihre. Siris Gesicht flammte einen Moment lang auf, doch dann erinnerte sie sich mit einem wehmütigen Gefühl daran, dass beides von vorneherein abgesprochen war. Sie sollte Allens neue Gefährtin spielen, damit jeder sie für eine weitere seiner zahllosen Eroberungen hält und niemand sie ernst nimmt. Auf diese Art sollte Siri den Freiraum bekommen sich unbehelligt in der Menge bewegen zu können.

Nach einer kurzen Kontrolle am Tor fuhr die Kutsche in den Innenhof des Palastes und machte vor dem Eingang zur goldenen Halle halt. Allen stieg aus der Kutsche, nachdem ein Diener ihm die Tür geöffnet hatte. Gemäß der Etikette wartete er bis derselbe Diener Siri aus dem Wagen half, indem er ihre Hand hielt. Allen übernahm dann diese Hand durch seine eigene und führte Siri drei dutzend halbkreisförmigen Stufen hinauf zu einer Flügeltür, die durch geschnitzte Ornamente die Geschichte Astorias erzählte. Dahinter erstreckte sich ein langer Flur, der mit einem Purpurteppich ausgelegt war. Zwei Diener nahmen Allen seinen Mantel und Siri ihren Umhang ab und brachten sie durch eine kaum erkennbare Tür in die Garderobe. Möglichst unauffällig musterte Siri ihn nochmals, wie er in seiner blauweißen Paradeuniform vor ihr stand. Erst ertappte sie sich dabei, dann fiel ihr auf, dass Allen bei ihr dasselbe tat. Plötzlich fragte sie sich, ob das weinrote, enge Kleid nicht doch besser seinen Zweck erfüllt hätte als das dunkelblaue, für welches sie sich nach langem Hin und Her vor dem Spiegel entschieden hatte. Schüchternd lächelnd Siri hakte sich bei Allen ein und zusammen schritten sie den Flur entlang auf eine weitere Flügeltür zu, welche von zwei sich verbeugenden Dienern geöffnet wurde. Das spöttische Grinsen auf den Lippen der Bediensten entging Siri ebenso wenig wie Allen, der jedoch müde darüber hinweg lächelte. Die nun offene Tür gab den Blick auf eine bunte Gesellschaft frei, die allesamt auf die Tür starrten.

„Unser Erscheinen ist wohl groß angekündigt worden.“, kommentierte Siri flüsternd.

„Jeder eintreffende Gast wird durch einen Herold angekündigt.“, erklärte Allen leise, während beide Arm in Arm, tapfer lächelnd die Menge abschritten, bis sie vor König Aston traten, der sie von seinem Thron aus auf sie herabsah. Pflichtgemäß zollten sie ihm ihren Respekt und mischten sich dann unter die Gäste. Mehr oder weniger führte Allen sie durch die Masse.

Schließlich hielt er vor einer Frau mit langen, blonden Haaren, deren Anblick Siri die Sprache verschlug. Die Frau empfing beide mit einem warmherzigen Lächeln, welches durch die goldene Kette und das funkelnde Diadem noch strahlender wurde.

„Guten Abend, Ritter Allen. Wer ist eure Begleitung?“, fragte sie freundlich.

„Prinzessin Milerna, was für eine Freude euch zu sehen.“, begrüßte Allen sie, ohne auf ihre Frage einzugehen. Milerna bot ihm ihre Hand an, woraufhin er sofort in die Knie ging und ihr einen Handkuss gab. In Siri regte sich plötzlich Wut, deren Ursprung sie sich selbst nicht erklären konnte. Allen erhob sich und wandte sich dann an sie.

„Könntest du uns bitte für einen Moment entschuldigen, Schatz?“

Missmutig sah Siri ihn an und die amüsierten Blicke der Umstehenden verrieten ihr, dass sie gerade zutiefst beleidigt worden war.

„Natürlich.“, antwortete sie und wendete sich von ihm ab. Mit schnellen Schritten tauchte sie in der Menge unter. Milerna trat näher an Allen heran.

„Hast du wieder ein neues Opfer gefunden?“, sagte sie leise zu ihm, sodass nur er sie hören konnte.

„Nein, habe ich nicht. Siri ist nicht meine Geliebte, sondern mein Schüler.“, erklärte er sich.

„So?“, wunderte sich Milerna. „Was sollte dann ihr Auftritt?“

„Es ist alles abgesprochen. Jetzt kann sie ungestört ihren eigenen Interessen nachkommen.“, antwortete Allen.

„Bei all deinen Eroberungen hätte ich dir mehr Sachverstand zugetraut, Allen.“, neckte sie ihn. „Das eben in ihrem Gesicht war keine gespielte Eifersucht.“ Er nahm diese Nachricht mit Schweigen zur Kenntnis. „Was für Interessen geht Siri denn nach?“

Überrascht stellte Allen fest, dass er einen Moment überlegte, ob er Milerna trauen konnte.

„Hitomi ist nach Gaia zurückgekehrt.“, erzählte er, während er seine Zweifel energisch zerstreute.

„Was?“, platzte es aus Milerna heraus.

„Siri behauptet, dass Hitomi von Merle verschleppt worden ist. Anscheinend gibt es eindeutige Hinweise, dass sie nach Astoria gebracht werden sollte.“

„Dann willst du Baron Trias also wieder nachstellen.“, warf sie ihm vor.

„Seine Kopfgeldjäger töten und entführen Menschen in ganz Gaia.“, rechtfertigte er sich.

„Sie jagen nur Verbrecher, welche sich durch die Flucht ins Ausland sich unserem Zugriff entziehen.“

„Nein, sie tun mehr als das. Politische Gegner Astons sind ebenfalls auf ihrer Liste.“

„Dafür hast du keinen Beweis.“

„Aber ich werde einen bekommen, wenn die Entführung Hitomis offen gelegt wird.“

„Meinst du? Hast du es denn noch gar nicht gehört?“, erkundigte sich Milerna.

„Was gehört?“

„Nach Vaters Ankunft vor ein paar Tagen wurde ein offizielles Kopfgeld auf Hitomi ausgesetzt, welches in Farnelia beschlossen worden war.“

Allen wurde kreidebleich.

„Mit welcher Begründung?“, fragte er beherrscht.

„Unter anderem Anstiftung zum Krieg. Es sieht nicht gut für Hitomi aus. Warum auch immer sie auf unsere Welt zurückkam, sie sollte so schnell wie möglich wieder verschwinden.“, riet Milerna. Große Sorge und eine Spur von Traurigkeit zeichnete plötzlich auf Allens Gesicht ab.

„Was ist passiert?“, fragte Siri erstaunt, die gerade ihre Runde durch die Halle beendet hatte.

„Nichts, was für dich von Belang ist.“, log Allen und zwang sich ruhiger zu werden. „Wie war deine Runde?“

„Enttäuschend, Meister. Alles, was ich die letzten fünf Minuten über gemacht habe, war sinnlos Leute anzulächeln. Morgen habe ich bestimmt ein Muskelkater im Gesicht.“

Milerna kicherte, während Allen der flapsige Ton seiner Schülerin ganz und gar nicht gefiel, doch konnte er es sich unmöglich erlauben sie vor allen Leuten zur Schnecke zu machen, da sonst ihre Tarnung auffliegen würde. Plötzlich vielen ihm die Blicke von einem der Gäste auf.

„Dein Ausflug war aber nicht umsonst. Du hast die Aufmerksamkeit der genau richtigen Person auf dich gelenkt. Nicht umdrehen!“, mahnte er Siri.

„Wer ist es?“

„Er steht direkt hinter dir. Ein Mann mittleren Alters mit langen, blonden Haaren. Sein Name ist Baron Trias. Er ist einer der beiden persönlichen Berater von König Aston und Leiter der Kopfgeldjägergilde in Astoria.“

„Steckt er hinter Hitomis Entführung?“, erkundigte sich Siri.

„Wahrscheinlich. Sei still jetzt, er kommt her!“

Ein paar Sekunden später stand der Baron neben Siri.

„Seid gegrüßt, Allen Shezar. Ich hörte, eure Räuberjagd war ein voller Erfolg.“

„Ja, euer Hochwohlgeboren. Wir konnten mehrere Banden gefangen nehmen.“, antwortete er respektvoll.

„Prinzessin Milerna, ich fürchte, wir heute noch nicht das Vergnügen.“

Milerna erwiderte seine Begrüßung, indem sie ihre Hand für einen Kuss anbot, den der Baron auch sogleich ausführte.

„Das Vergnügen ist ganz meinerseits.“, sagte sie ihm.

„Allen, wollt ihr uns nicht einander vorstellen?“, fragte der Baron und wies dabei mit einem Nicken auf Siri.

„Ja, natürlich, euer Exzellenz.“, bestätigte Allen und stellte die beiden aneinander vor. Auch Siri empfing einen Handkuss.

„Ich muss gestehen, ich habe euch noch nie zuvor gesehen und euer Name sagt mit auch nichts. Von wo kommt ihr?“

„Aus Farnelia.“, antwortete Siri wahrheitsgemäß. „Ich kam als Arzt mit Allens Konvoi nach Astoria.“

„Und ihr seid nicht zurückgekehrt?“

„Nun, die Vorzüge Allens haben mich bewogen in dieser schönen Stadt zu bleiben.“

„Ja, da seid ihr wahrlich nicht einzige.“, kommentierte der Baron ihre Geschichte. „Ich hoffe, Ritter Allen, ihr habt nichts dagegen, wenn ich mir dieses liebreizende Geschöpf für einen Tanz ausleihe.“

Obwohl ihm eigentlich der erste Tanz mit ihr zustand, ließ Allen ihn gewähren, woraufhin der Baron Siri zur Tanzfläche führte und sie beide in den Walzer mit einstimmten. Wieder blieb Allen mit Milerna allein in der Menge zurück. Mit wachsamen Augen beobachtete er, wie Siri den Tanz mit Trias durch militärische Disziplin und Konzentration meisterte. Er war von der Geschwindigkeit, mit der sie die letzen Tage über gelernt hatte, sehr beeindruckt.

„Wo ist eigentlich Dryden?“, fragte er Milerna scheinbar desinteressiert.

„Er ist noch immer auf Reisen. Ich habe schon seit Jahren nichts mehr von ihm gehört.“, antwortete Milerna wehmütig lächelnd.

„Warum trägst überhaupt noch den Ehering?“

„Weil ich weiß, dass er zu mir zurückkommen wird. Noch hat mein Vater die Ehe nicht für nichtig erklärt.“

„Woher weißt du, dass er zurückkommen wird. Er ist schon seit fast drei Jahren unterwegs ohne auch nur einen Brief geschrieben zu haben.“

„Das kannst du nicht verstehen, weil du noch nie jemanden wirklich geliebt hast.“, behauptete Milerna. Allen traute seinen Ohren nicht.

„Wie kommst du darauf? Ich hatte schon mehr Beziehungen, als du jemals in deinem Leben haben wirst.“, konterte er.

„Dennoch hast du niemanden wirklich an dich rangelassen und daran sind deine Beziehungen alle gescheitert. Selbst Hitomi musste um den Blick in dein Herz kämpfen und weil sie diesen Blick schließlich auch bekommen hatte, wolltest du sie heiraten. Du hattest Angst, eine Fremde könnte alles über dich wissen, also wolltest du sie an dich binden und sie gefangen nehmen.“, erklärte Milerna einfühlsam.

„Woher willst du das wissen?“, fragte Allen unsicher.

„Vieles wird einem klar, wenn man die Geschehnisse und Eindrücke aus der Vergangenheit wie ein Puzzle neu zusammensetzt. So wurde mir auch bewusst, dass Dryden der einzige Mensch ist, der sich je für mich eingesetzt hat. Er beschützte mich, als die Trümmer des Turmes die Hochzeit unter sich begruben. Seitdem vermisse ich ihn jeden Tag mehr.“

„So etwas würde ich jederzeit tun.“

„Aber nur aus Pflichtgefühl.“

„Er hat dir seinen Ring aber bereits gegeben. Bedeutet das nicht, dass er nie mehr wiederkommen wird?“

„Nein, das bedeutet nur, dass er sich ihn wiederholen wird.“, erwiderte Milerna überzeugt. Allen wollte gerade darauf antworten, als er Siri auf sich zukommen sah.

„Hast du etwas rausbekommen?“, fragte er, als sie nah genug war.

„Nun, Meister, ich habe mich bei dem Baron über das Schicksal eurer Verflossenen erkundigt. Er erwähnte bei seiner Aufzählung auch Hitomi, doch er erzählte mir nur etwas über ein offizielles Kopfgeld, welches vor kurzem auf sie ausgesetzt worden ist. Ihr wisst nicht zufällig etwas darüber?“, fragte Siri drohend.

„Ich habe selbst eben erst davon erfahren.“, log Allen.

„Ich fragte Trias daraufhin, ob man Hitomi bereits verhaftet hat. Er verneinte dies.“

„Hast du irgendwelche Anzeichen einer Lüge entdeckt?“, hakte Allen nach, doch er kannte die Antwort bereits. Wenn Siri schon seine Lüge nicht durchschaut hatte, wie hätte es ihr dann bei einem Vollblutpolitiker, wie Baron Trias einer war, gelingen können.

„Nein, Meister, das heißt aber nicht, dass er es nicht getan haben könnte.“, antwortete Siri wahrheitsgemäß.

„Was wirst du also als nächstes tun?“, erkundigte sich Allen weiter.

„Sie wird den Ball genießen und nicht weiter über Pflichten nachdenken.“, antwortete Milerna an Siris Stelle mit einem scharfen Blick zu Allen. Wieder ließ er es zu. Er war zu müde um zu Widersprechen.

Der Kampf um ein Ich

Noch immer jagte die Erinnerung an ihre Tänze mit Allen Siri einen Schauer durch sämtliche Glieder. Beide saßen wieder Seite an Seite in der offenen Kusche und befanden sich auf dem Heimweg. Lampen beleuchteten die vor ihnen liegende Straße mit mattem Licht, während die engen Gassen zwischen zwei benachbarten Häusern in tiefer Dunkelheit versanken und die über dem ganzen, wolkenlosen Himmel verteilten Sterne strahlten. Allen bemerkte das leichte Zittern von Siris Gliedern.

„Ist dir kalt?“, fragte er fürsorglich.

Siri musste sich anstrengen nicht zu lachen. Ihr Herz klopfte wie wild, in ihrem Bauch tanzten Schmetterlinge Tango, ihr Blut stieg ihr zu Kopf und wollte nicht mehr runterkommen. Wie konnte er sie da fragen, ob ihr kalt wäre?

„Nein, mir geht’s gut…ich meine, mir ist nicht kalt.“, stotterte Siri und strich sich verlegen eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Jedenfalls versuchte sie es, doch ihr Haar war zu kurz und blieb daher nicht hinter ihrem Ohr hängen. Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie durch den Räuberüberfall auf den Konvoi ein beträchtliches Maß an Länge ihrer Haare verloren hatte, woraufhin ihr vor Verlegenheit noch mehr Blut in den Kopf schoss. Ob Allen sie deswegen nicht mehr mochte? Siri bekam auf einmal Angst, sie könnte ihn verlieren und griff instinktiv nach seiner Hand. Ehe sich beide berühren konnten, zog Allen seine Hand zurück und richtete seinen Blick auf Straße. Nur mit Mühe drängte Siri ihre Tränen zurück.

„Ich habe mein Versprechen gehalten und dir Zugang zur höchsten Stelle des Kopfgeldjägernetzwerkes verschafft. Was wirst du jetzt tun?“, fragte Allen kühl. Allens Ton trieb einen weiteren Keil in Siris Herz, doch sie nahm sich zusammen.

„Ich muss feststellen, ob Hitomi nun hier in Palas festgehalten wird oder nicht.“

„Wie willst du das anstellen?“

„Ich bitte Lord Trias um eine kleine Führung durch die Geschäftsstellen der Kopfgeldjäger. Ich werde ihm erzählen, dass ich mich besonders für die Buchhaltungen interessiere.“, erklärte sie.

„Was soll dir diese Führung nutzen? Die werden wohl kaum eine offizielle Mitteilung in ihren Räumen ausgehängt haben.“, zweifelte Allen.

„Natürlich nicht, Meister. Dennoch sollte die Führung mir das notwendige Wissen über die Räumlichkeiten vermitteln, um dort einzubrechen und die Akten einzusehen. Sollte Trias tatsächlich Merle angeheuert haben um Hitomi zu entführen, sollte der in diesem Fall zweifellos erfolgte Geldtransfer in den Akten verzeichnet sein.“

„Weißt du überhaupt, wie viele Akten die dort liegen haben? Man braucht Tage, um alles zu durchsuchen.“

„Falls die Buchhalter gute Arbeit geleistet haben, brauche ich etwa eine halbe Stunde, um mir verdächtige Bewegungen zu notieren. Inzwischen glaube ich jedoch nicht mehr, dass ich etwas finden werde.“

„Du meinst wegen des offiziellen Kopfgeldes.“

„Ja, Meister. Da auf Hitomi ein offizieller Haftbefehl erlassen worden ist, gäbe es für die Kopfgeldjäger keinen Grund mehr ihre Gefangenschaft zu verheimlichen.“, bestätigte sie.

„Warum willst du dort überhaupt noch einbrechen?“, fragte Allen

„Weil ich mich vergewissern muss.“, antwortete Siri. „Erst dann kann ich König Van Bericht erstatten.“

„Du gehst zurück nach Farnelia?“, wunderte sich Allen.

„Ich komme selbstverständlich so schnell wie möglich wieder, Meister.“, beruhigte Siri ihn, während ihr Herz vor Freude sprang. Dann bemerkte sie eine Bewegung im Schatten einer Gasse links vor ihr.

„Meister, ich glaube, wir werden verfolgt.“, flüsterte sie ihm aufgeregt zu.

„Der Kerl folgt uns schon seit zehn Minuten. Schön, dass es dir auch endlich auffällt.“, wies er sie zurecht.

„Verzeiht, Meister. Was machen wir mit ihm?“

„Viel interessanter finde ich die Frage: Warum setzt man jemanden auf uns an? Wo meine Villa steht, ist allgemein bekannt.“

Plötzlich hörte Siri ein lautes Klicken und es schien ihr, als wolle der Verfolger Allens Frage beantworten. Vor den Augen von Allen und Siri durchbohrte ein Bolzen den Hals des Kutschenführers und lies ihn auf seinen Sitz zusammenbrechen.

„Runter!“, schrie Allen und drückte Siris Kopf auf ihren Schoß. Siri suchte mit ihrer rechten Hand verzweifelt nach dem Dolch an ihrem Oberschenkel, während sich die linke an ihrem Kleid festkrallte. Obwohl ihre Augen fest verschlossen waren, sah sie den Kutscher immer wieder vor sich sterben und fing an zu wimmern. Ganz unvermittelt verschwand der Druck von Allens Hand und sie konnte ihren Oberkörper aufrichten. Inzwischen bekam sie ihren Dolch auch in die Finger und fühlte sich daher etwas sicherer.

Mit Schrecken erkannte sie, dass Allen sich mitten in einem Schwertduell vor der Kutsche mit dem vermummten Angreifer befand und es ganz und gar nicht gut für ihn aussah. Nur mühsam wehrte sich ihr Meister gegen die geschickten und sehr schnellen Attacken seines Gegners. Immer wieder parierte er die Schläge, wurde dabei jedoch stetig zurückgedrängt und kam selbst zu keinen einzigen Schwerthieb. Siri wollte sich schon in den Kampf stürzen, erinnerte sich dann jedoch daran, dass sie mit ihrem Kleid unmöglich kämpfen konnte. Mit beinahe unerträglicher Hilflosigkeit verfolgte sie das Duell, bei dem der Ritter weiter an Boden verlor.

Schließlich gelang es dem Angreifer Allens Schwert mit einem kräftigen Hieb zur Seite zu schlagen und so für eine Sekunde seine Deckung zu entblößen. Diese Lücke nutzte er sofort und preschte in ihn hinein. Mit voller Wucht traf sein Knie Allens Bauch, woraufhin dieser zusammensackte. Offenbar damit zufrieden, seinen Gegner nur ohnmächtig geschlagen zu haben, ließ der Angreifer von ihm ab und kam mit betont langsamen Schritten auf Siri zu. Trotz des Kleides ging sie auf der Kutsche in eine Kampfstellung und wartete verängstigt auf den bevorstehenden Angriff. Eine Flucht erschien ihr sinnlos.

„Komm nicht näher! Ich weiß mich zu verteidigen.“, drohte sie dem Angreifer verzweifelt.

„Ach ja? Weißt du es denn besser als dein Meister?“, spottete die vermummte Gestalt und wies auf Allens leblosen Körper. Siri erschrak. Sie kannte die Stimme des Angreifers. Plötzlich überbrückte dieser die letzten sechs Meter zwischen den beiden mit einem einzigen Sprung aus dem Stand und ehe Siri auch nur zucken konnte, spürte sie seinen eisigen Atem auf ihrer Stirn. Mit ihrem letzten funken Kampfeswillen trieb sie ihre Klinge seinen Rippen entgegen. Blitzschnell ergriff seine linke Hand ihre rechte am Gelenk und hielt sie mit einem stahlharten Griff fest. Dann drückte er so fest zu, dass Siri ihren Dolch vor lauter Schmerzen und unter lautem Geschrei losließ. Die Klinge Grub sich in das Holz des Kutschenbodens unter ihren Füßen.

„Schon viel besser, meinst du nicht auch?“, hauchte der Angreifer ihr ins Ohr und leckte an ihrem Hals.

„Verzieh dich, Perverser!“, fuhr Siri ihn angewidert an und versuchte sich aus seinem Griff zu winden.

„Du gehörst mir!“, flüsterte dieser amüsiert und biss sie zwischen Hals und Nacken. Sie schrie noch lauter auf als zuvor, während seine oberen Eckzähne durch ihre Haut stießen und das Blut aus den beiden Wunden hervorquoll. Gerade spürte sie noch, wie etwas in ihrem Kopf hämmerte, dann fiel auch sie in tiefe Dunkelheit.
 


 

„Nein!“, kreischte Hitomi verzweifelt, woraufhin Merle sofort vom Cockpit aus in Hitomis dunkle Koje stürmte und sie dort schweißgebadet, schwer atmend und aufrecht auf ihrer Liege sitzend vorfand. In Hitomis Gesicht spiegelte sich blanke Angst, ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Finger gruben sich in den Stoff der Decke. Aufs Äußerste besorgt stürzte Merle auf sie zu und packte sie an ihren Schultern.

„Was ist los, Hitomi? Sag doch etwas!“, flehte Merle sie an.

„Sie kämpft…sie kämpft gegen seinen Einfluss an!“, stammelte Hitomi panisch.

„Wer kämpft gegen wen? Von wem sprichst du?“

„Ich weiß es nicht…ich meine, ich habe beide Auren noch nie zuvor gespürt. Doch die eine…die eine kenne ich. Es ist die gleiche…die gleiche, welche ich in den Wolfshöhlen gespürt habe. Sie kämpfen…gegeneinander. Die andere Aura verliert. Sie wird schwächer…immer schwächer.“

Mehr musste Merle nicht hören um zu wissen, was mit ihr los war. Einfühlsam drückte sie Hitomi an sich, umarmte sie und flüsterte ihr ermutigende Worte ins Ohr. Erst fing Hitomi an zu wimmern. Nachdem Merle ihr gesagt hatte, dass sie alles rauslassen sollte, floss ein stetiger Strom aus Tränen aus ihren Augen. Nach einer halben Stunde hatte sie sich beruhigt und wandte sich aus Merles fester Umarmung.

„Danke, Merle, mir geht es wieder besser.“, schniefte sie.

„Danach siehst du mir aber nicht aus. Leg dich wieder hin! Ich bring dir erst einmal eine heiße Tasse Tee und werde deine Wache übernehmen.“

„Nein, Merle, bitte nicht. Lass mich für den Rest der Nacht Wache schieben! Ich kann sowieso nicht mehr schlafen. Gerade du musst morgen während dem Treffen mit Cid wach sein. Es könnte eine Falle sein.“, bat Hitomi.

„Es ist keine Falle. Mein Kontaktmann in der Hauptstadt von Fraid ist vertrauenswürdig. Ich konnte keine Spur von Verrat in seiner Aura erkennen, als ich ihn heute traf.“

„Bitte Merle, lass mich ausnahmsweise Mal dir einen Gefallen tun.“

„In Ordnung.“, erwiderte Merle seufzend. „Ich stelle den Tee ins Cockpit und begebe mich dann ins Bett. Aber wehe du schläfst während der Wache ein. Das Schiff ist zwar getarnt, aber ein technischer Fehler lässt sich nie ausschließen.“

„Das weiß ich.“

Mühsam verließ Hitomi ihre Liege und stellte sich demonstrativ aufrecht hin.

„Siehst du? Ich bin hellwach.“, behauptete sie. Merle konnte sich einen skeptischen Gesichtsausdruck nicht verkneifen, nickte dann aber und verließ Hitomis Koje. Hitomi sank zurück auf die Liege und versuchte zu vergessen, was sie eben gefühlt hatte und noch immer fühlte.

Ein geheimes Wiedersehen

Durch einen schmalen Silberstreif am Horizont über den Reisfeldern von Fraid kündigte sich der kommende Tag an. Hitomi saß im Cockpit des von den Kopfgeldjägern erbeuteten Luftschiffes und genoss den Anblick des frühen Sonnenaufganges.

„So schön!“, hauchte sie.

Das Leben erwacht

Licht vertreibt die Dunkelheit

Kein Ende in Sicht

Hinter ihr glitt die Tür zur Seite und Merle betrat mit nassen Haaren und einem Handtuch in ihren Händen das Cockpit.

„Du bist wach?“, fragte sie erstaunt. „Sag bloß, du hast durchgehalten.“

„Natürlich.“, bestätigte Hitomi. „Ich sagte doch, du kannst dich auf mich verlassen.“

„Stimmt. So etwas in der Art hast du behauptet. Platz mir jetzt aber nicht aus allen Nähten, nur weil du eine Nacht durchgehalten hast. Ich kann ohne größere Probleme eine ganze Woche ohne Schlaf auskommen.“, behauptete Merle, während sie sich mit dem Rücken an die Schiffswand lehnte und sich das Haar abrubbelte.

„Pass du lieber auf, dass du vor lauter Stolz nicht das ganze Schiff sprengst.“, erwiderte Hitomi lachend.

„Ha, Ha! Wie ist überhaupt der Kampf von gestern ausgegangen?“

„Was?“

„Na, du hast doch gestern Abend, nachdem du dich mal wieder in Tränen aufgelöst hattest, von einem Kampf zwischen zwei Auren berichtet.“, erinnerte Merle.

„Ach so, der.“, sagte Hitomi betont gleichgültig, wobei Merle der Schmerz in ihrem Unterton nicht entging.

„Entschuldige, wenn ich dir…“

„Die Aura, welche ich aus den Wolfshöhlen kenne, hat gewonnen. Die andere Aura kann ich seit ein paar Stunden nicht mehr spüren. Wenn es sie noch gibt, wird sie durch eine dauerhafte Verbindung zwischen beiden Auren kontrolliert.“, unterbrach Hitomi sie. Merle schluckte.

„Meinst du, die unterlegene Aura…die Person, der die unbekannte Aura gehörte,…meinst du, sie hatte noch einen freien Willen nach dem Kampf?“

„Wenn, dann nur im begrenzten Maße. Der Einfluss der Siegeraura war sehr stark.“

„Verstehe.“

Merle lief es allein bei dem Gedanken an das Schicksal dieser unbekannten Person kalt den Rücken runter. Schnell verdrängte sie alles, was Hitomi ihr erzählt hatte, aus ihren Gedanken.

„In fünf Minuten bin ich fertig. Dann können wir los.“, teilte Merle Hitomi mit.

„Wo treffen wir uns überhaupt mit Cid?“, wollte Hitomi wissen.

„In der Villa, die einmal seiner Mutter gehört hatte.“

„Ich wusste gar nicht, dass sie eine besaß.“

„Nun, sein Vater schien ihr gegenüber sehr spendabel gewesen zu sein. Außerdem wurde seit ihrem Tod nichts in der Villa weggenommen, hinzugefügt oder sonst irgendwie verändert. Seine Eltern müssen sich wirklich sehr geliebt haben.“, meinte Merle.

„Ach, du weißt es ja noch gar nicht. Cid ist…“

Plötzlich stoppte Hitomi. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie beinahe mal so eben das größte Geheimnis um Cid ausgeplaudert hätte.

„Was?“, fragte Merle neugierig. „Was ist mit Cid? Weißt du etwa von etwas, von dem ich nichts weiß?“

„Wolltest du dich nicht noch fertig machen, Merle? Oder soll dich Cid etwa in einem Nachthemd sehen?“

„Was heißt hier `Nachthemd`? Das ist meine normale Bekleidung.“, schnauzte Merle.

„Also ich würde so etwas nur im Dunklen anziehen.“, neckte Hitomi sie und gratulierte sich selbst zu dem gelungenen Themenwechsel.

„Ach ja? Ich hab wenigstens ein ordentliches Kleidungsstück. Du läufst ja immer noch in den gleichen, stinkenden Fellen rum, die du von den Wölfen hast.“, konterte Merle aufgekratzt.

„Das ist ja wohl deine Schuld. Schließlich hast du meine Tasche zurückgelassen.“, keifte Hitomi zurück.

„Geh doch zurück nach…“

„Merle, es ist genug.“, unterbrach Hitomi sie streng und sah sie ernst an. „Geh dich bitte umziehen! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“

Merle war angesichts des Tadels einen Moment fassungslos und wollte schon scharf zurückschießen, beließ es dann aber dabei und verließ das Cockpit. Zehn Minuten später hob das Luftschiff mit Merle, die ihren schwarzen Kampfanzug trug, an Kontrollen ab und flog in Richtung des Palastes des Herzogtums Fraid. Nach nur wenigen Minuten landete das Schiff neben der Villa und enttarnte sich im Schutz des dichten Waldes im Palastgarten. Hitomi ließ Merle zuerst aussteigen. Schließlich winkte Merle sie zu sich.

„Es ist alles in Ordnung. Du kannst rauskommen.“

„Was ist mit der Aura innerhalb der Villa.“, erkundigte sich Hitomi.

„Keine Angst. Das ist nur Cid. Er erwartet dich.“

Vorsichtig schritt Hitomi die Rampe hinunter. Auch sie spürte nur die eine Aura, traute ihren Kräften aber noch nicht über den Weg. Verwundert beobachtete sie, wie Merle wieder zurück in das Luftschiff ging.

„Kommst du nicht mit?“, fragte sie unsicher.

„Jemand muss die Tarnung des Schiffes wieder aktivieren und bei aktiver Tarnung kann man das Schiff weder betreten noch verlassen. Du bist auf dich allein gestellt.“

„Merle, was ist, wenn jemand kommt?“

„Ich werde rechtzeitig da sein und dich retten.“, versicherte Merle und ließ die Rampe hochfahren. Hitomi nickte zustimmend und staunte, als das Luftschiff unter der Morgensonne einmal kurz aufblitzte und dann vor ihren Augen verschwand. Mit klopfenden Herzen betrat sie die Villa. Ihre Angst wich zusehends der Freude, dass sie endlich nach so vielen Jahren den kleinen Cid wieder sehen würde. Ob er sich wohl auch so sehr wie Van verändert hatte?

Aufgeregt folgte sie der Aura bis in das Kaminzimmer. Erleichtert atmete sie auf, als sie ihn schließlich vor dem Kamin hocken sah. Obwohl das Haus vor Kälte zu erfrieren schien, brannte im Kamin selbst kein Feuer. Hitomi trat näher und stellte verwundert fest, dass Cid ihre Anwesenheit gar nicht zu bemerken schien. Er starrte weiter geistesabwesend auf den leeren Kamin und rührte sich nicht.

„Guten Morgen, Prinz Cid.“, begrüßte sie ihn. Erschrocken drehte sich Cid zu ihr um. „Oder sollte ich lieber sagen `Eure Hoheit`?“

„Hitomi! Oh, ich freu mich so dich zu sehen.“, grüßte Cid überschwänglich zurück und stürmte auf sie zu.

„Hey, langsam! Dein Verhalten ziemt sich nicht für einen Herzog.“

„Oh, natürlich, du hast recht.“, erwiderte Cid wehmütig und trat einen Schritt zurück.

„Ach ja? Was bitte schön ist aus dem quietschlebendigen Cid geworden, den ich vor drei Jahren kennen gelernt habe? Ich glaube, ich bin im falschen Haus.“, scherzte Hitomi.

„Nein, du bist hier richtig.“, sagte Cid. „Die Zeit hat mich verändert. Mehr, als du glaubst.“

Traurig lächelnd betrachtete Hitomi den blonden Jungen in seiner aristokratischen Kleidung.

„Größer als damals bist du jetzt auf jeden Fall. Auch das Schwert an deiner Seite ist gewachsen, wie ich sehe. Aber ich denke, du hast dich weniger verändert als du vielleicht glaubst. Na komm, lass dich drücken!“, forderte Hitomi ihn auf und umarmte ihn fest.

Cid erwiderte die Umarmung mit ganzer Seele, bis Hitomi schließlich von ihm ab ließ. Zusammen setzten sich beide auf den Teppich vor dem Kamin.

„Wie ist es dir in den letzten drei Jahren ergangen?“, fragte Hitomi neugierig.

„Den Umständen entsprechend ganz gut, schätze ich. Der Palast steht wieder, auch wenn er sich mit der Pracht und den Ausmaßen seines Vorgängers nicht messen kann.“

„Cid, es kommt überhaupt nicht auf die Größe an.“

„Wirklich?“

„Ach, vergiss es! Erzähl bitte weiter.“

„Es ist ein Wunder, dass der Palast überhaupt wieder steht. Die Zaibacher hatten nichts außer kalter Asche zurückgelassen und wir mussten hier in der Hauptstadt von ganz von vorne anfangen. Ohne die Unterstützung meines Volkes hätte ich es nie geschafft.“, berichtete Cid.

„Natürlich.“, meinte Hitomi. „Was ist schließlich ein Herrscher ohne sein Volk.“

„Ziemlich einsam, glaube ich.“, stimmte Cid zu. „Aber in meinem Fall ist dies nicht einfach nur ein oberflächlicher Spruch. Mein Vater hat viele Verwandte, die auf Grund meines Alters die Krone oder zumindest die Vormundschaft forderten. Wäre das Volk und die Armee nicht auf meiner Seite gewesen, ich wäre nicht lange Herzog geblieben.“

Hitomi beschloss, dies nicht weiter zu kommentieren. Stattdessen sah sie sich etwas im Kaminzimmer um.

„Wenigstens scheint dieses Haus den Zaibachern entkommen zu sein.“, sagte sie.

„Ja, wie durch ein Wunder hatte der Wald im Palastgarten und Mutters Villa während dem Angriff keinen Schaden genommen, obwohl die Zaibacher den ganzen Palast abfackelt hatten. Unglücklicherweise hat das Haus nicht die ganze Zeit unbeschadet überstanden.“

„Was ist passiert?“

„Vor ein paar Monaten ist hier jemand eingebrochen.“, erzählte Cid.

„Die Hintereingangstür war aufgebrochen worden und musste ersetzt werden.“

„Was wurde gestohlen?“, erkundigte sich Hitomi.

„Scheinbar nichts. Ich hatte eine genaue Inventur des Bestandes durchführen lassen. Alles war noch an seinem Platz.“

„Seltsam. Was wollte der Einbrecher dann hier?“, fragte Hitomi.

„Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Aber ich bin froh, dass nicht mehr passierte. Die Villa ist mir doch sehr ans Herz gewachsen, besonders in den ersten Monaten nach der Invasion. Während dieser Zeit übernachtete ich hier.“, antwortete Cid.

„War bestimmt nicht einfach, so kurz nach dem Tod deines Vaters hier drin schlafen zu müssen.“, mutmaßte Hitomi.

„Ganz im Gegenteil. Diese Villa half mir über den Schmerz hinweg. Es steckt so viel Liebe von Mutter und Vater in diesem Haus. Es war…als würden beide direkt neben mir schlafen. Nur wegen der Geborgenheit dieser Räume konnte ich überhaupt ein Auge zutun.“, widersprach Cid verträumt. Plötzlich kullerten zwei Tränen seine Wange hinunter. Als Hitomi das sah, fühlte sie sich sofort schuldig. Sie rückte näher an Cid heran und drückte ihn fest an sich. „Ich darf nicht weinen. Vater hat es mir doch verboten.“, flennte Cid und lehnte sich an sie.

„Nein, das ist Unsinn. Natürlich darfst du weinen. Jeder Mensch weint, wenn ihm danach ist.“, ermutigte ihn Hitomi.

„Ich darf aber nicht. Keiner darf mich weinen sehen. Sie würden ihr Vertrauen in mich verlieren.“

„Hier ist aber niemand. Nur wir zwei. Und mein Vertrauen kann niemand erschüttern, nicht einmal der große Herzog Cid persönlich.“, erwiderte sie lächelnd.

Cid fing an zu lachen, obwohl seine Tränen nicht versiegten.

„Ich habe dich vermisst, Hitomi. Obwohl ich dich nur einmal traf, konnte ich dich nie vergessen.“

„Danke, solche Komplimente hört man selten.“, kicherte sie.

„Deswegen musst du gehen. Sofort!“, forderte er.

„Was?“, wunderte sich Hitomi.

„Es tut mir leid, aber du musst Fraid sofort verlassen. Du musst Gaia sofort verlassen.“

„Wovon sprichst du?“

Cid konnte Hitomi nicht mehr länger in die Augen sehen und starrte stattdessen auf den Boden.

„Cid!“

„Es ist ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt worden.“, erklärte er.

„Ach so, wenn das alles ist, brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Merle passt auf mich auf.“, beruhigte Hitomi ihn.

„Nein, du verstehst mich nicht. Von dem inoffiziellen Kopfgeld rede ich gar nicht. Gestern kam ein Botenschiff nach Fraid. Es brachte die neuen, offiziellen Steckbriefe mit und deiner war mit dabei. Du wirst auf ganz Gaia per Haftbefehl der Allianz gesucht.“, sagte Cid eindringlich.

Hitomi verschlug es die Sprache.

„Auch in Farnelia?“, fragte sie schließlich fassungslos.

„Auch dort. Du bist nirgendwo mehr sicher.“

Nun war es Hitomi, die ihren Blick abwendete.

„Hitomi, wenn es etwas gibt, was ich tun kann, brauchst du es nur…“, bot Cid an.

„Ja, du kannst etwas tun.“, sagte Hitomi und schluckte ihre Verzweiflung förmlich runter und sah Cid wieder an.

„Du kannst mir sagen, wie es momentan um den Tempel der Fortuna steht. Ist dort inzwischen wieder ein Kloster?“

„Nein, weil sich der Schlüssel zu der Kraft von Atlantis längst nicht mehr dort befindet. Die Zaibacher nahmen alles mit, was für uns von Bedeutung war.“

„Das ist doch kein Grund den Tempel aufzugeben. Ich meine, er ist doch ein Teil eurer Geschichte.“, protestierte sie.

„Stimmt. Es gäbe sogar Mönche die trotz der fehlenden Reliquien dorthin zurückkehren würden, doch ich kann es ihnen nicht erlauben.“

„Wieso nicht?“

„Erstens gehört der Tempel der Fortuna formell nicht mehr zu Fraid. Erst mussten wir ihn an Zaibach abgeben und als schließlich Chuzario, Astoria und Vasram die Gebiete der Zaibacher untereinander verteilten, schien der Tempel irgendwie unter den Teppich gekehrt worden zu sein. Er kam im Vertrag nicht einmal zur Sprache. Im Prinzip ist der Tempel also neutrales, herrenloses Gebiet.“, erklärte Cid.

„Dann nimm ihn einfach doch in Besitzt. Wenn das Gebiet wirklich niemanden gehört, darf man das doch, oder nicht?“, schlug Hitomi vor.

„Daran habe ich natürlich auch schon gedacht. Ich habe bereits drei Spähtrupps, bestehend aus einem Luftschiff und ein paar Guymelefs, losgeschickt, doch kein einziger kehrte zurück. Daraufhin bat ich die Allianz um Aufklärung der Situation vor Ort, doch die weigert sich bis heute beharrlich. Die Sache sei ihnen nicht groß genug.“, erzählte Cid kopfschüttelnd. Hitomi grübelte.

„Danke, dass du für mich Zeit hattest, Cid. Ich gehe jetzt lieber, ehe noch jemand etwas von unserem Treffen mitbekommt.“, verabschiedete sie sich und stand auf.

„Ich wünsche dir eine gute Heimreise, Hitomi.“, erwiderte Cid. Er schaute ihr nach, bis sie in den Gang verschwand, aus dem sie gekommen war.

Meister gegen Meister

Die Leere in Siris Sinnen lichtete sich allmählich und mit einem leisen Stöhnen öffnete sie ihre Augen. Sie fand sich in einem hohen, luxuriösen und hell beleuchteten Zimmer wieder. Dick zugedeckt auf einem weichem Bett liegend versuchte sie zu ergründen, wo sie war. Als sie ihren Kopf schließlich um ein paar Grad drehte, schoss ein gleißender Schmerz durch ihren Hals und Nacken.

„Du solltest dich erst einmal nicht bewegen.“, riet ihr eine wohlbekannte Stimme. Sofort vergaß Siri ihre Schmerzen und legte ihren Kopf auf die Seite. Helle Freude strömte durch ihre Adern, als sie Allen neben sich am Bett sitzend erblickte. Er erwiderte ihr lachendes Gesicht mit einem sanften Lächeln.

„Wie geht es dir?“, fragte er fürsorglich.

„Es geht mir gut, M…“, antwortete Siri.

„Wie ich sehe, bist du endlich aufgewacht, meine Dienerin.“, unterbrach eine betont arrogante, männliche Stimme ihre Gedanken. Siri fuhr ein Schock durch sämtliche Glieder.

„Meister!“, flüsterte sie leise und erschrak erneut.

„Ja, was ist?“, erkundigte sich Allen.

Panisch sah sie Allen an. Sie kannte die Stimme, die in ihrem Kopf schallte, jedoch hatte Siri das Gefühl, dass sie die Stimme nicht wirklich hörte. Die Stimme schien vielmehr nur in ihren Gedanken zu existieren.

„Ah, du erkennst mich also. Bist du auch bereit mir zu dienen?“, fragte die Stimme. Mit aller Kraft versuchte Siri sich zu weigern. Es gab keinen Grund diesen aufgeblasenen, selbst verliebten Schnösel auch nur zuzuhören, dennoch schickte sie in ihren Gedanken ein Ja als Antwort. Verzweifelt kniff sie ihre Augen zu, fuhr mit einer Hand an ihren Kopf und stützte sich mit der anderen ab um ihren Oberkörper aufzurichten. Jedenfalls versuchte sie es, doch die unbarmherzige Schwerkraft hielt sie zurück. Von der eigenen Schwäche überrascht sank Siri auf das Bett zurück.

„Gut.“, antwortete die Stimme und lachte. Es war ein hässliches, schadenfrohes Lachen.

„Ist alles in Ordnung? Wie geht es deinem Hals?“, äußerte sich Allen aufs äußerste besorgt, woraufhin Siri sich an den Biss erinnerte. Mit einer Hand tastete sie ihren Hals ab.

„Die Wunde war schon nach ein paar Tagen verheilt. Nicht einmal eine Narbe ist noch zu sehen.“, beruhigte er sie.

„Nach ein paar Tagen?“, wunderte sich Siri. „Wie ist das möglich? Was ist geschehen?“

„Das wüsste ich auch gerne. Als ich mein Bewusstsein wiedererlangte, lagst du regungslos auf der Kutsche. An deinem Hals war Blut und ein Bissabdruck mit zwei Stichwunden. Du hast über eine Woche lang geschlafen.“, erklärte Allen.

„Und der Angreifer?“, erkundigte sie sich.

„Unauffindbar. Es gibt nicht einmal Zeugen für den Vorfall.“

„Allen, ich hab die Stimme erkannt. Der Angreifer war…“

Plötzlich schien ihr Kopf vor Schmerzen zu explodieren und sie stöhnte laut auf.

„So nicht, meine Dienerin. Noch soll niemand meine Identität kennen.“, dröhnte die Stimme wieder in ihrem Kopf. Widerwillig bestätigte Siri, dass sie verstanden hatte.

„Sehr schön! Jetzt, da du wieder klar zu denken scheinst, ist die Zeit gekommen mir zu dienen. Beweise mir deine Loyalität! Töte Allen, deinen ehemaligen Meister!“

Sie wollte nicht wahrhaben, was ihr neuer Meister von ihr verlangte. Die Kopfschmerzen wurden stärker, dennoch hörte Siri nicht auf sich gegen den neuen Befehl zu wehren. Von Verzweiflung getrieben versuchte sie sich an ihre Gefühle für Allen zu klammern, während die Stimme ihr den Befehl immer wieder und wieder sagte und ihn so in ihren Kopf einbrannte. Schließlich wurden die Schmerzen unerträglich und sie gab nach. Die Schmerzen verschwanden.

„Sehr gut, meine Dienerin. Vergiss deinen schwachen Körper! Du hast mehr Kräfte in dir, als du weißt. Ich habe sie dir gegeben. Jetzt nutze sie!“, sagte ihr die Stimme und sie gehorchte. Scheinbar mühelos erhob sie sich und stand auf. Allen wollte sie stützen, doch Siri schob ihn mit einem Arm zur Seite. Überrascht von ihrer Stärke fiel Allen auf das Bett und beobachtete, wie Siri ihren Kleiderschrank öffnete, ihr Schwert daraus hervorholte und die Klinge aus der Scheide zog. Er wollte sie schon fragen, was sie vorhabe, doch bevor er dazu kam, sprang sie pfeilschnell auf ihn zu. Gerade rechtzeitig rollte sich Allen zur Seite, während ihre Klinge das Bett an der Stelle teilte, auf der er vor einer Zehntelsekunde noch gelegen hatte. Sichtlich von ihrer Schnelligkeit und ihrer Kraft beeindruckt verharrte Allen einen Augenblick, bis es Siri gelang die Spitze ihres Schwertes aus dem Holzboden zu lösen. Dann wich er ihrem waagerecht geführten Schwertstreich aus, indem er seine Beine hochriss und sich nach einer Rückwärtsrolle auf beiden Füßen hockte. Gespannt wartete er ihren nächsten Schlag ab, doch dann erstaunte sie ihn wieder. Anstatt weiter anzugreifen, hielt sie am ganzen Leib zitternd inne. Verwirrt beobachtete er, wie Tränen an ihren beiden Wangen herunter kullerten.

„Siri, was ist los?“, fragte er verwundert. Plötzlich schrie Siri auf und ihr Körper krümmte sich, als hätte ihr jemand den Bauch aufgeschnitten. Sie sackte zusammen, wimmerte und erhob sich nach ein paar Augenblicken wieder. Ohne Vorwarnung schoss sie wieder auf ihn zu und schlug mit Schwert nach seinem Kopf. Sie traf jedoch nur die Bettdecke, deren Ende Allen schützend vor sich hoch geworfen hatte. Die Sekunde, in der Siri ihn nicht sehen konnte, nutzte er um sich an ihr vorbei zu mogeln. Als die Decke sich wieder gelegt hatte, stand er hinter ihr und hob beschwichtigend beide Hände.

„Ich will nicht mit dir kämpfen.“, sagte er eindringlich.

„Bitte lauf weg!“, bat sie verzweifelt, ohne sich zu ihm umzudrehen.

„Ich weiß nicht, was mit dir los ist, aber ich werde dich nicht einfach so zurücklassen.“, teilte Allen ihr entschieden mit.

„Flieh!“, schrie Siri und wirbelte herum. Allen konnte geradeso der Klinge mit einem Rückwärtsschritt ausweichen, stolperte jedoch und fiel auf sein Rücken. Langsam trat sie an ihn heran und hielt drohend die Spitze ihres Schwertes an seinem Hals.

„Du hättest fliehen sollen.“, sagte sie unter Tränen. „Jetzt muss ich dich töten.“

„Was ist los? Warum tust du das? Siri!“, fragte Allen verwirrt.

„Sei still!“, befahl sie und holte mit ihrer Klinge aus.

„Nein, so nicht!“, sagte die Stimme in ihrem Kopf und hielt sie zurück. „Allen soll sich wehren. Töte seine Schwester! Dann wird er kämpfen.“

Daraufhin senkte Siri ihr Schwert. Sie sah Allen noch einmal flehend an und rannte dann aus Raum heraus. Allen verstand die Welt nicht mehr. Was ging hier vor? Dann hörte er einen panischen Schrei.

„Serena!“, hörte er sich rufen und ehe er sich versah, war er auf den Beinen. Er nahm sein Schwert, welches er an seinen Stuhl gelehnt hatte und rannte in das Zimmer seiner Schwester. Dort angekommen, sah er, wie Siri die drei Jahre ältere Frau mit ihrer Klinge bedrohte. Der rechte Ärmel von Serenas Kleid war bereits aufgeschnitten und mit Blut getränkt. Ohne zu zögern zog Allen sein Schwert und stürmte auf Siri zu. Die sah ihn kommen und lächelte erleichtert, bevor sie seinen Schlag mit scheinbarer Leichtigkeit parierte. Dann drückte sie ihn mit samt seiner Klinge von sich weg und ging zum Angriff über. Mit schnellen und kraftvollen Schwertstreichen drosch sie auf seine Verteidigung ein.

Die Geschwindigkeit ihrer Schläge erinnerte Allen an sein Duell auf der Kutschfahrt, jedoch waren die Schwächen in ihren Schwerttechniken noch immer präsent, so dass Löcher in ihrer Deckung ihm immer wieder Möglichkeiten zum Kontern boten. Noch immer aufgebracht durch die Verletzung seiner Schwester und angestachelt von dem anspruchsvollen Kampf nutzte Allen diese Löcher auch und trieb Siri so immer weiter zurück, bis sie schließlich mit ihrem Rücken zur Wand stand und sich nur noch verteidigen konnte. Zwar konnte sie seine Angriffe mühelos abfangen, doch fand sie beim besten Willen keine Möglichkeit zurückzuschlagen, worüber sie sich jedoch nur freute.

Plötzlich jedoch fing ihr Kopf wieder an zu dröhnen und die Schmerzen trieben Siri zu einem selbstmörderischen Angriff. Völlig ihre Deckung aufgebend hob sie ihr Schwert über ihr Haupt und trieb es senkrecht auf Allens Gesicht zu, doch der wich dem gewaltigen Schlag mit einem Schritt zu Seite aus. Siri hatte ihre Klinge nicht mehr unter Kontrolle und so grub sich die Spitze in den Boden. Sie brauchte eine Sekunde, ehe sie ihr Schwert wieder frei bekam, welche Allen benutzte um aus einer Drehung seine Klinge gegen ihre Rippen zuschlagen. Sein Schwert traf, aber nicht nur ihre Bewegungen waren schneller geworden. Bevor seine Klinge ihren Körper durchtrennen konnte, sprang sie aus der Bahn seiner Klinge heraus und gewann Abstand zu ihm. Beide hielten überrascht inne. Vorsichtig fuhr Siri mit ihrer Hand an ihren Rippen entlang und befühlte das aufgeschlitzte Nachthemd und den zehn Zentimeter langen Kratzer in ihrer Haut, den Allens Schwert ihr zugefügt hatte. Innerlich hatte sie den Tot schon vor ihren Augen gehabt und war nun umso mehr geschockt, dass sie noch lebte.

Traurig sah sie in Allens fassungsloses Gesicht. Dann meldete sich der Schmerz in ihren Kopf zurück und sie griff an. Wirbelnd kam sie auf ihn zu. Über den ersten Schlag sprang Allen hinweg, den zweiten blockte er mit seiner Klinge ab. Schließlich entschied er, dass er den Kampf endlich beenden musste, und wich Siris nächstem Streich elegant durch eine Körperdrehung aus. Dann täuschte er einen Schlag auf ihren Kopf an, trieb seine Klinge aber wieder ihren Rippen entgegen. Dieses Mal verhinderte Siris Staunen über seinen genialen Schwertstreich eine angemessene Reaktion. Seine Klinge schnitt fünf Zentimeter tief in ihre Seite und hinterließ eine blutende Wunde.

Siris Beine wollten ihr Gewicht nicht mehr tragen und sie sank auf ihre Knie. Ihr Gesicht verzehrte sich vor Schmerzen, doch auf ihrem Mund sah Allen ein zufriedenes Lächeln. Plötzlich jedoch versteinerte sich ihr Gesichtsausdruck und sie stand scheinbar unbeeindruckt von ihrer Wunde auf. Dann griff sie nach der Lehne eines Stuhles und schleuderte ihn gegen eines der Fenster. Das Fensterglas zerbrach in tausend kleine Splitter und ehe er reagieren konnte, sprang sie durch das Fenster. Spurlos verschwand sie in die Dunkelheit der Nacht. Fassungslos sah Allen ihr hinterher. Dann erinnerte er sich wieder an seine Schwester, die weinend an einer Wand lehnte. Besorgt lief er auf sie zu und erkundigte sich, wie es ihr ginge.

Der Mann mit dem Speer

Hitomi saß am Rande einer kleinen Lichtung und rieb ihre Hände aneinander, während Merle in voller Kampfmontur auf dem Luftschiff hin und her ging und das übergespannte Tarnnetz mit Laub und Zweigen ergänzte. Neugierig beobachtete Hitomi sie dabei und geriet einmal mehr darüber ins Staunen, wie sehr sich Merle in den letzten drei Jahren entwickelt hatte. Die Art, wie das orange Licht der Morgensonne ihre weichen Gesichtszüge unterstrich, passte überhaupt nicht zu dem harten und professionellen Ausdruck ihrer Augen.

Plötzlich tat sie Hitomi Leid, als sie begriff, dass sie etwas genossen hatte, was Merle offensichtlich schon vor Jahren verloren hatte und ihr niemand zurückgeben konnte. Ihre Gedanken schweiften zu den längst vergangen Tagen, an denen Yukari sie Bahnhof begrüßt hatte und sie zusammen zur Schule gefahren waren. Sie dachte an die unzähligen Leichtathletikwettbewerbe zurück, an denen sie und Amano als Sprinter auf hundert Meter angetreten waren und Yukari die beiden begleitet hatte. Damals hatte sie von Van noch nichts gewusst und für Amano geschwärmt. Für Yukari war dies offensichtlich gewesen, doch Hitomi selbst hatte ihre Augen vor der Zuneigung ihrer besten Freundin für ihn verschlossen.

„Eh, brauchst du wieder eine Ohrfeige?“, fragte Merle schnippisch.

Verdutzt sah Hitomi zu ihr auf. Sie hatte wie immer nicht gehört, wie Merle auf sie zugekommen war.

„Nein…mir geht es gut.“, antwortete sie schnell.

„Dir ist hoffentlich klar, dass wir drauf und dran sind Feindesland zu betreten.“, warnte Merle.

„Ja, natürlich! Du hast die Information über den Tempel der Fortuna schließlich von mir erhalten, oder etwa nicht?“

„Ich habe sie selbstverständlich überprüfen lassen.“

„Und?“

„Es ist wahr, dass, seitdem die Zaibacher dort alles leer geräumt haben, niemand den Tempel lebend verlassen zu haben scheint. Luftschiffe berichten übrigens von drei ausgebrannten Fracks im Innern des Tempels.“

„Interessant. Das heißt also, man kann zwar gefahrlos über den Tempel hinweg fliegen, aber nicht in seinem Innern landen.“, meinte Hitomi.

„Stimmt. Bist du dir sicher, dass du mitkommen willst?“, erkundigte sich Merle.

„Bin ich. So ist es besser für uns beide. Du kannst mich beschützen und ich kann dich vor Gefahren warnen, bevor sie da sind.“

„Aber nur, wenn du sie auch kommen siehst. In letzter Zeit war deine Gabe nicht gerade zuverlässig. Außerdem müsste ich dich überhaupt nicht beschützen, wenn du im Schiff bleiben würdest. Dann könnten wir nämlich die richtige Tarnung aktivieren.“, konterte Merle.

„Sobald jemand so wie du mich über meine Aura erspäht, nützt mir die Unsichtbarkeit des Schiffes auch nichts mehr.“, hielt Hitomi dagegen.

„Das ist ein sehr großes Wenn.“

„Es könnte viel kleiner sein, als du denkst. Ich muss dich wohl nicht an mein Erlebnis in den Wolfhöhlen erinnern.“

„Auch wieder wahr.“, gab Merle zu. „Aber bleib dicht bei mir! Richte deine Sinne nach außen und renn weg, sollte Gefahr drohen!“

Hitomi erhob sich steif und salutierte.

„Ja, Si…eh, Madam!“

„Was sollte das denn gerade?“, wunderte sich Merle.

„Na ja, weißt du, so…ach, vergiss es!“, wiegelte Hitomi ab. Merle schnallte sich kopfschüttelnd ihren kleinen Rucksack auf den Rücken.

„Der Krater, in dem sich der Tempel befindet, ist nur ein paar Minuten entfernt. Ab jetzt herrscht funkstille, außer es ist wirklich wichtig.“, wies sie Hitomi an. Diese nickte und ließ Merle den Vortritt.

Beide gingen zusammen durch ein kurzes Stück Wald, bis sie schließlich den Schutz der Bäume verließen und eine schräge Wand aus Erde sich vor ihnen auftürmte. Beide starrten sie auf das Hindernis vor ihnen.

„Meinst du, du schaffst das?“, fragte Merle. Hitomi nahm die Herausforderung in Merles Stimme lächelnd zur Kenntnis.

„Vergiss nicht, ich bin eine Athletin! So ein kleines Hügelchen ist doch ein Klacks für mich.“

„Wenn du meinst.“, sagte Merle Schulter zuckend und machte sich an den Aufstieg. Auf allen vieren kletterte scheinbar mühelos auf dem losen Geröll die Wand hoch. Hitomi versuchte mit ihrem Tempo mitzuhalten, verlor aber nach ein paar Minuten schon den Anschluss. Beschämt musste sie mit ansehen, wie Merle das Ende der Wand erreichte und sie nicht einmal die Hälfte geschafft hatte.

„Na Prima!“, flüsterte sie und wäre daraufhin beinahe abgerutscht. Verzweifelt gruben sich ihre Finger schmerzhaft in die Erde und sie musste sich zusammenreißen, um nicht loszulassen. Merle sah sich noch einmal nach ihr um und verschwand dann in das Kraterinnere. Schließlich erreichte auch Hitomi das spitze Ende des Walls und sah auf die abschüssige Wand vor ihr. Wie Merle gesagt hatte, konnte man auf der kreisförmigen Ebene in der Mitte des Kraters drei ausgebrannte Luftschiffwracks erkennen. Alle drei schienen ein und derselbe Typ von Schiff zu sein. Von Merle gab es kein Spur. Hitomi riskierte noch einen letzten Blick auf die helle Morgensonne und versuchte dann möglichst unbeschadet den Abhang herunterzurutschen. Unten angekommen achtete sie auf Auren von intelligenten Wesen im Innern des Tempels und der Wracks, doch sie fand keine. Sie wollte schon nach Merle rufen, erinnerte sich dann jedoch an die Anweisung still zu sein. Stattdessen sandte sie einen mentalen Ruf aus. Als ihre Gefährtin daraufhin nicht erschien, bekam sie ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend und wiederholte ihren Ruf. Wieder blieb eine Antwort aus und sie bekam Angst. Was, wenn Merle etwas zugestoßen war?

Hitomi setzte schon einen panischen Ruf an, da sah sie Merle, wie sie gerade aus einem der Wracks heraus kroch. Heilfroh lief sie auf ihre Freundin zu und wollte sie umarmen, doch Merle stieß sie sanft von sich weg.

„Was ist denn los?“, fragte sie genervt. „Kannst du nicht einmal eine Minute ohne mich auskommen?“

Angesichts Merles abweisender Haltung Hitomi brauchte eine Sekunde, ehe sie sich wieder gefasst hatte.

„Tja, weißt du, normalerweise schweißt es zwei Menschen zusammen, wenn sie über mehrere Wochen zusammen reisen.“ Misstrauisch beäugte sie die Haufen aus Schrott. „Konntest du etwas über die Absturzursache der Luftschiffe herausfinden?“

„Nein, denn sie sind überhaupt nicht abgestürzt. Alle drei wurden sauber gelandet, bevor sie jemand ausgeschlachtet und verbrannt hat.“

„Woran siehst du das?“

„Bei allen drei Schiffen sind die Landestützen ausgefahren. In ihrem Innern habe ich keine Spur von verkohlter Technik, verbrannten Guymelefs oder menschlichen Überresten gefunden. Im Prinzip sind diese Schiffe nur Stahlskelette. Da wollte uns jemand für dumm verkaufen.“, erklärte Merle.

„Aber was ist dann aus der Besatzung geworden? Und wer hat die Ausrüstung gestohlen?“, fragte sich Hitomi.

„Wir sollten uns das Innere des Tempels ansehen. Vielleicht wissen wir dann mehr.“, meinte Merle.

„Spürst du jemanden?“, erkundigte sich Hitomi.

„Nein. Der Tempel scheint verlassen zu sein.“, antwortete Merle und beide gingen auf den mit Ornamenten geschmückten, verdreckten Eingang zu.

Plötzlich fasste sich Hitomi an ihren Kopf und stöhnte. Gerade als sie drohte umzukippen, stützte das Katzenmädchen sie.

„Was ist los?“, fragte Merle besorgt.

„Jemand versucht bei mir einzubrechen.“, teilte ihr Hitomi mit schwacher Stimme mit und keuchte.

„Wer?“

„Ich…weiß es nicht. Diese Aura…ist mir neu, aber sie kommt…aus dem Tempel!“

In diesem Augenblick erregte das leise Geräusch schwere Schritte Merles Aufmerksamkeit. Sie richtete ihren Blick auf den Eingang des Tempels und sah einen großen, kräftigen Mann mit Glatze herauskommen. Er trug die Uniform eines Luftschiffkapitäns aus Fraid und wog einen dicken, eisernen Speer in seinen Händen.

„Willkommen in meinem bescheiden Zuhause!“, dröhnte seine Stimme über die ganze Ebene. Die Mädchen starrten ihn fassungslos an.

„Du bist überrascht.“, stellte der Mann fest. „Dachtest du wirklich, diese Göre wäre die einzige, die ihre Aura verbergen könnte? Ich habe deine Ankunft schon vor Stunden gespürt. Du kannst dir sicher vorstellen, wie überrascht ich war, dass nach all den Toten noch jemand den Mut hat mich hier zu besuchen.“

„Wer seid ihr? Wie kommt ihr hier her?“, fragte Merle.

„Fragt dein Haustier, wer ich bin oder wer ich war? Nun, mein früheres Ich kam mit der ersten Aufklärungsmission hier her.“

„Ihr seid also der Kommandant der ersten Mission?“

„Nein, der ist schon lange Tod.“, antwortete der Mann.

„Aber nach eurer Uniform zu urteilen…“, wunderte sich Merle.

„Mein Meister gab diesem Narren die Ehre seinen Körper und seine Seele umgestalten zu lassen. Der Narr ist tot. Im Augenblick seines Todes wurde ich geboren um über das Domizil meines Meisters während seiner Abwesenheit zu wachen.“

Angeekelt verzog Merle ihr Gesicht, während Hitomi ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt sah.

„Mein Meister hat dich zu sich eingeladen, nicht aber das Katzenweib. Dennoch kann ich sie unmöglich gehen lassen. Sie muss sich unserer Sache wohl oder übel anschließen.“

Verdutzt schaute Merle auf ihre Gefährtin herab.

„Kennst du den Kerl?“

„Nein, ich habe ihn nie zuvor gesehen.“, sagte Hitomi schwach.

„Wieso spricht er von dir, als wärst du seine Verbündete?“, fragte Merle eindringlich.

„Oh, Mädchen, du weißt es noch gar nicht, aber du wirst dich uns anschließen. Im Gegensatz zu der Katze wirst du es sogar freiwillig tun.“, behauptete der Mann. Sanft ließ Merle ihre Freundin zum Boden gleiten und zog wütend ihre Dolche aus den Halftern an ihren Oberschenkeln.

„Ihr scherzt!“, schrie Merle ihn an und stürmte auf ihn zu.

„Du hast nicht die Rasse mich herauszufordern.“, erwiderte der Mann und streckte seinen Arm in ihrer Richtung aus. Plötzlich zerrte eine Kraft an Merle und riss sie von ihren Beinen. Ihren Katzeninstinkten folgend landete sie auf alle vier Pfoten und drehte sich in Rage wieder zu ihrem Gegner um.

„Nicht ich bin dein Gegner.“, verkündete er. Als wäre dies ein Zeichen gewesen, liefen auf einmal dutzende Menschen an ihn vorbei. Sie alle waren wie Fraids Soldaten gekleidet, bewegten sich aber auf allen vieren und stießen grelle Schrei aus.

Erstaunt beobachtete Merle, wie die zu Primaten mutierten Menschen rasend schnell auf sie zukamen. Sie brauchte einen Moment um sich wieder auf ihre Kampfausbildung zu besinnen. Mit einer schnellen, geübten Bewegung steckte sie ihren rechten Dolch zurück in den Halfter und zog drei Wurfdolche aus dem versteckten Magazin auf ihrem Rücken. Sie warf alle drei mit einer Bewegung ihren Angreifern entgegen. Drei Menschen brachen leblos zusammen.

Sie wusste, für einen weiteren Wurf hatte sie keine Zeit mehr, also wechselte der Dolch in ihrer Linken die Hand und sie schlitzte damit die Kehle des ersten Gegners, der auf sie zugesprungen war. Geschickt rollte sie sich unter seiner fallenden Leiche nach links ab, zog noch in der Bewegung mit der linken Hand den verbliebenen Dolch aus dem rechten Halfter und führte beide Klingen überkreuz dem Bauch des nächsten Angreifers entgegen. Dann war sie auch schon umzingelt und verfiel in eine scheinbar ständige Pirouette. Jedem, der ihr zu nahe kam, traf eine ihrer beiden Klingen.

Hilflos beobachtete Hitomi am Boden, wie ihre Freundin um ihr Leben kämpfte. Die herumliegenden Leichen schränkten den Bewegungsfreiraum von ihr immer weiter ein. Schließlich spürte Hitomi so etwas wie ein Signal, einen Entschluss in der Aura, die noch immer versuchte in ihren Erinnerungen einzudringen. Im nächsten Augenblick sah sie den Mann mit einer übermenschlichen Geschwindigkeit auf Merle zu laufen. Überraschung und die Ablenkung durch zahllose Gegner verhinderten eine angemessene Reaktion ihrerseits und so schaffte es der Mann seinen Ellbogen gegen ihre Schläfe zu schmettern. Bewusstlos sank Merle auf den Boden. Die anderen Menschen wollten sich schon wie reißende Wölfe auf sie stürzen, doch der Mann hielt sie mit einer gebieterischen Geste zurück. Dann kam er langsam Hitomi zu, zog sie an ihrer Kleidung zu sich hoch, grinste sie schelmisch an und schlug ihr von unten gegen ihre Magengrube. Hitomi versuchte noch die aus ihren Lungen entweichende Luft wieder reinzuholen, dann stürzte auch sie in tiefe Finsternis.

Spiel mit Informationen

Geduldig wartend saß Allen in seiner Paradeuniform auf einen der Stühle im Vorzimmer von Baron Trias Büro im Hauptquartier der Kopfgeldjägergilde. Das ganze Gebäude bestand aus Holz und bildete damit einen auffälligen Gegensatz zu den aus Stein gebauten Häusern, die das Stadtbild Palas bestimmten. Ausgestopfte Köpfe erlegter Tiere aus ganz Gaia säumten die Flure und sämtliche Zimmer. Dazwischen hingen Gemälde, auf denen berühmte und gefürchtete Kopfgeldjäger der Vergangenheit wie aristokratische Jäger gekleidet in einem Wald oder auf einem Feld mit einem getöteten Tier abgebildet waren.

Allen konnte angesichts dieser Verharmlosung nur angewidert seine Mundwinkelverziehen. Indes rief die Umgangsform, mit der man ihn behandelte, ungläubiges Kopfschütteln hervor. Man hatte ihn bereits für den Zeitpunkt vor zwei Stunden für ein Gespräch bei Baron Trias kommen lassen und jetzt saß er da wie bestellt und nicht abgeholt. Er war pünktlich gewesen und doch hatte der Baron noch vor ihm drei Delegationen empfangen, die alle später eingetroffen waren als er. Allen überlegte, wie er auf diese offensichtliche Erniedrigung angemessen reagieren konnte, ohne sich gleich selbst in Dolunkirks Küche zu bringen.

Er wollte schon ein weiteres Mal die Sekretärin fragen, wann er denn endlich empfangen werden würde, da öffnete sich die Tür zum Büro und ein Kopfgeldjäger mit kantigem Gesicht und einer Zigarettenspitze im Mund trat heraus. Er durchschritt den Raum und blieb vor Allen stehen. Ihm schlug ein Lächeln entgegen, in dem sich Schadenfreude und Verachtung widerspiegelte, aber auch eine Spur von Neid lag. Allen erwiderte es mit einem zu einer neutralen Maske erstarrtem Gesichtsausdruck.

„Der Baron möchte dich jetzt sehen, Allen Shezar.“, teilte ihm der Kopfgeldjäger mit.

„Seit wann habt ihr das Recht mich zu duzen, Sajima?“, fragte Allen ernst.

„Du verdienst keinen Respekt, Himmelsritter!“, antwortete Sajima und verließ lachend den Raum. Allen sah in einem Augenblick hinterher, trat dann aber eilig an Trias Bürotür heran. Erwartungsvoll blickte er zur Sekretärin. Die jedoch ignorierte ihn völlig und er öffnete selbst die Tür.

„Ah, Ritter Allen, kommt nur herein. Setzt euch!“, begrüßte ihn der Baron mit einem Lächeln, das so glatt und sauber wirkte wie der gebohnerte Boden, auf dem Allen stand. Betont langsam rückte sich Allen ein Stuhl zurecht und setzte sich.

„Ein unangenehmer Zeitgenosse, dieser Sajima, nicht wahr? Jedoch sehr effektiv. Ich habe ihm offiziell die Leitung der Jagd nach diesem Mädchen übertragen. Wie hieß sie noch gleich?“

Trias verzog sein Gesicht, als müsste er überlegen. „Ach ja, Hitomi, so hieß das Mädchen. Sie war doch eine Geliebte von euch, mich nicht alle täuscht.“

Anstatt zu antworten, saß Allen nur still und regungslos da.

„Also, Allen.“, begann Trias von neuem. „Was kann ich für euch tun?“

„Das sollte ich euch fragen. Ihr selbst habt mich kommen lassen.“, klärte ihn Allen auf.

„Ach ja, richtig. Ich wollte euch zu dem Vorfall von gestern Nacht befragen.“, erinnerte sich Trias. „Wie geht es eurer Schwester?“

„Gut, Baron. Es ist nur eine kleine Schnittwunde am Arm.“, teilte Allen ihm mit.

„Ein seltsames Geschöpf, nicht wahr? Als sie verschwand, war sie noch ein quicklebendiges Kind und jetzt ist sie eine Frau, von der man nicht ein Wort in der Öffentlichkeit gehört hat. Ich frage mich, ob sie immer so schweigsam ist oder ob es daran liegt, dass sie nie aus dem Haus geht.“

„Baron Trias, wolltet ihr nicht über den Vorfall mit mir reden?“

„Richtig.“, sagte Trias. „Vielleicht wisst ihr es noch nicht, aber mir ist auf Grund der politischen Brisanz dieses Falles die Aufsicht der Ermittlungen übertragen worden.“

„Politische Brisanz?“, erkundigte sich Allen.

„Ein Mitglied der persönlichen Leibwache des Königs von Farnelia verübt zwei Anschläge auf das Leben eines viel beachteten Ritters Astorias. Natürlich ist dieser Fall brisant und könnte folglich zu einer erheblichen Verschlechterung der Beziehungen zwischen beiden Ländern führen. Vielleicht müssen wir sogar die Hilfslieferung an Werkzeugen und schwerem Gerät nach Farnelia einstellen und bereits gelieferte Ware zurückfordern.“

Allen biss sich auf die Lippen. Langsam dämmerte es ihm, wohin dieses Gespräch führen sollte.

„Sagt bloß, Ritter Allen, ihr wusstet nicht, dass eure Geliebte König Vans Leibgarde angehört.“, erkundigte sich Trias erstaunt.

„Nein, davon…wusste ich nichts.“, log Allen schweren Herzens. „Baron, wie kommt ihr überhaupt darauf, dass es zwei Anschläge waren. Der Überfall auf die Kutsche…“

„…gestaltete sich anders, als ihr, Ritter Allen, es uns weismachen wollt.“, beendete Trias den Satz. „Ich glaube, nein, ich bin mir sicher, es hat sich folgender Maßen zugetragen. Ihr wurdet von Fräulein Riston bereits in der Kutsche angegriffen. Das Fräulein hatte wohl vor, euch mit eurem eigenen Schwert zu erschlagen. Doch eure überaus geschulten Sinne sahen den Angriff kommen und noch bevor die Attentäterin an euer Schwert gelangen konnte, schlugt ihr sie bewusstlos. Aber dann verhinderte eure Liebe zu dem Mädchen eine angemessene Reaktion. Anstatt den Ermittlern die Wahrheit mitzuteilen, tischtet ihr ihnen eine Lügengeschichte auf und aus der Attentäterin wurde das Opfer. Ihr brachtet das Mädchen in eure Villa, um sie selbst zu den Gründen ihrer Tat zu befragen und sie so vor dem Gesetz zu verstecken.“

„Wie erklärt ihr euch die Stichwunden an Siris Hals?“

„Wenn es sie je gegeben hätte, wären sie bestimmt nicht schon nach wenigen Tagen verheilt. Das, was die Ermittler vor Ort an dem Hals der Attentäterin gesehen haben, waren wohl einfache Schürfwunden, entstanden durch die Rangelei mit euch.“

„Siri saß auf der Rückbank der Kutsche. Wie hatte sie von dort aus dem Kutscher mit einer Armbrust in den Hals schießen können.“, hielt Allen dagegen.

„Guter Einwand.“, gab Trias zu. „Sie hat es natürlich nicht selbst getan, sondern einen Komplizen gehabt. Er sollte den Kutscher ausschallten, ehe dieser fliehen konnte. So wurde der einzige Zeuge ausgeschaltet, den es je gegeben hat. Das führt mich übrigens zur einzigen Frage, die ich habe.“

Trias sah Allen erwartungsvoll an.

„Um die für den Bolzenschuss notwendigen Informationen zubekommen, musste sich der Komplize ohne Zweifel mit der Attentäterin treffen.“, stellte Trias fest. „Zu wem also das Fräulein Riston Kontakt?“

„Zu niemandem.“, antwortete Allen. „Als ich ihr vom Ball erzählte, befanden wir uns beide bereits in meiner Villa. Vor dem Ball hatte sie die Villa dann nicht mehr verlassen und ich empfing während dieser Zeit auch keine Gäste.“

„Wart ihr während der ganzen Festnacht bei ihr?“, hakte Trias nach.

„Nein, unter anderem hatte Siri mit euch getanzt, Baron.“

„Das heißt, ich muss sämtliche Gäste und die ganze Dienerschaft überprüfen und beschatten lassen.“, seufzte Trias. Allen konnte sich gut vorstellen, dass es genau das war, was der Politiker mit dem Gespräch hatte erreichen wollen.

„Verzeiht, Baron, ihr seid doch ebenfalls verdächtigt. Müsstet ihr nicht eigentlich den Fall abgeben?“, fragte er mit künstlicher Verwunderung.

„Ganz im Gegenteil. Ich werde die Gelegenheit, meine Unschuld beweisen zu können, doch nicht einfach so aus meinen Händen gleiten lassen.“, erwiderte Trias lächelnd. Genauso wenig, wie er sich die Gelegenheit entgehen lassen will, unliebsame Gegner aus dem Weg zu räumen, dachte Allen säuerlich.

„Ich nehme an, ich kann jetzt gehen.“, verabschiedete er sich. Ehe Trias etwas erwidern konnte, war Allen schon zur Tür hinaus. Er wusste, dass sein fluchtartiger Abgang ihn noch in sehr große Schwierigkeiten bringen konnte, doch die Luft im Büro des Barons war ihm zu dick geworden. Überhaupt schienen die Wände plötzlich aus allen Ritzen zu müffeln. Mit schnellem Schritt hastete er durch die Gänge Er musste nur noch die Empfangshalle hinter sich bringen, dann würde er endlich wieder frische Luft atmen können. Die große, reich geschmückte Halle war gefüllt mit Händlern, die Kopfgeldjäger als Eskorte für ihre Transporte anheuern wollten, und so fiel es Allen dementsprechend schwer, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Überrascht hielt er inne.

„Hallo, Allen. Dich habe ich nun wirklich nicht hier erwartet.“, begrüßte Dryden ihn.

„Gleichfalls.“, sagte Allen. „Ich dachte immer, man braucht keine Eskorte für Flugschiffe.“

„Die Zeiten ändern sich.“, meinte Dryden Schultern zuckend.

„Was wollt ihr hier?“, fragte Allen misstrauisch.

„Mich nach alternativen Handelsruten umhören. Genau genommen wollte ich erfahren, wie sicher der Weg nach Farnelia ist.“, antwortete Dryden.

„Nicht so sicher. Ich war vor kurzem erst mit einem Ködertransport auf dieser Strecke unterwegs. Nach jedem zweiten Dorf wurden wir überfallen.“

„Ich weiß.“

„Das könnt ihr gar nicht wissen. Der Bericht über die Reise ist vertraulich.“, belehrte ihn Allen.

„Ich habe Mittel und Wege, an solche Informationen ranzukommen.“, erklärte Dryden.

„So? Dann wisst ihr bestimmt auch, dass Milerna sehnsüchtig auf eure Rückkehr wartet.“, erwiderte Allen gereizt.

„Ich ebenfalls.“, sagte Dryden mit einer Spur von Trauer und schloss für einen Augenblick die Augen. Als er sie öffnete, hatte er wieder seinen glasklaren und aufgeschlossenen Blick zurückerlangt. „Ich fürchte, ich muss wieder los.“, verabschiedete sich Dryden, während er Allens Hand schüttelte und ihn auf die Schulter klopfte. Dieser erwiderte nichts und Dryden verschwand daraufhin in der Menge. Allen ballte seine Hand zu einer Faust und setzte sich in Bewegung, fest entschlossen dieses Mal den Ausgang zu erreichen. Nachdem er es endlich geschafft hatte, bestieg er seine Kutsche und wies den Kutscher mit herrischer Stimme an, ihn zur seiner Villa zurückzufahren. Als die Kutsche schließlich die viel bevölkerten Straßen verlassen hatte, öffnete Allen seine Faust und ein kleiner Zettel kam zum Vorschein, auf dem nur ein Satz stand:
 

Über dem Tempel der Fortuna wurde im vergangenen Monat mehrmals während den Sonnenuntergängen ein Hitzeflimmern beobachtet.
 

Ein Hitzeflimmern im Winter und zur späten Stunde? Erst fragte sich Allen, was diese Nachricht sollte. Dann erinnerte er sich an Berichte aus dem Krieg gegen Zaibach und an Drydens Kommentar. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen, was Dryden mit der Nachricht sagen wollte. Einen Moment zweifelte Allen die Verlässlichkeit der Notiz an, doch Dryden schien es ernst gewesen zu sein. Enttäuscht musste Allen sich eingestehen, dass er keine andere Wahl hatte, als dieser Sache sofort nachzugehen. Ganz nebenbei, so sagte er sich, hatte er ja auch überhaupt nicht die Mittel um Siri aufzuspüren. Bei Dryden war das offensichtlich etwas anderes, weswegen Allen sich ärgerte, dass er ihn nicht um diesen Gefallen gebeten hatte.

Versuchung

Durch die schmalen Schlitze ihrer schweren Augenlieder schlug Merle reine Finsternis entgegen. Sie spürte schon gar nicht mehr die Kälte des nackten Steinbodens, den Druck der Fesseln an ihren Handgelenken, den Schmerz ihrer überlasteten Schulter. Alles, was sie wahrnahm, war dieses beständige Summen in ihrem Kopf. Sie konnte nicht schlafen, an nichts mehr denken. Ihre Gedanken zogen zu schnell an ihr vorbei, als dass sie auch nur einen hätte fassen können. Wie viel Zeit war vergangen? Stunden? Tage? Jahre? Sie wusste es nicht. Alles, was sie wusste…was sie fühlte, war der Durst in ihrer Kehle, die Kraftlosigkeit in ihren Beinen, die Leere in ihrem Herzen. Es gab niemanden. Niemand, der es spüren konnte. Niemand, der ihr zu Hilfe eilen würde. Niemand, der sich auch nur einen Gedanken um ihr Befinden machte. Sie war allein.
 

„Merle!“, schrie Hitomi aufgeregt, nachdem sie schlagartig aus ihrem tiefen Schlaf erwacht war. Erschöpft und schwer atmend fasste sich Hitomi an ihre Stirn. Sie spürte noch immer, wie ihre Gefährtin litt, wie Einsamkeit sie zu brechen drohte. Ihr Schmerz schnürte Hitomi die Kehle zu.

„Guten Morgen, Fräulein. Hattet ihr angenehme Nächte?“, fragte eine ihr wohlbekannte Stimme. Verwundert fixierte sie das Mädchen neben ihrem Bett.

„Siri? Wo bin ich?“

„Nun, Fräulein, ihr seid noch immer im Tempel der Fortuna. Eigentlich solltet ihr dieses Zimmer wieder erkennen. Angeblich habt ihr schon einmal hier geschlafen.“

„Aber…“

Es verschlug ihr für einen Moment die Sprache, als es ihr wieder einfiel, was geschehen war, bevor sie das letzte Mal das Bewusstsein verloren hatte. Eigentlich müsste sie sich in den Händen des Feindes befinden, wer auch immer dieser Feind war. Hatte Siri sie befreit?

„Was machst du hier?“, fragte sie verwirrt.

„Ich passe auf euch auf, so wie es von Anfang meine Aufgabe war.“, erklärte Siri.

„Wo ist Merle?“

„Im Verließ. Ein passender Ort für einen Verräterin wie sie.“

„Verräterin? Aber…“

Hitomi richtete ihren Oberkörper auf und sah sich unschlüssig im Zimmer um. Plötzlich viel ihr der stämmige Mann am Eingang des Zimmers auf.

„Was macht er hier?“, fragte sie.

„Oh, er sollte euch eigentlich in Empfang nehmen, Fräulein. Ich muss mich für seine ungehobelte Art entschuldigen.“, antwortete Siri.

„Siri, wir wollten uns doch duzen.“, sagte Hitomi unsicher.

„Ihr, Fräulein, wolltet, dass wir uns duzen. Damals folgte ich eurem Wunsch, doch das ist jetzt vorbei.“, widersprach Siri lächelnd und entblößte dabei ihre Zähne. Hitomi erschrak. Zwar erkannte sie das Mädchen wieder, welches vor ihr stand, doch dieses kalte Lächeln und die spitzen Eckzähne waren ihr neu. Siri war doch nicht etwa ein… Schnell verdrängte Hitomi den Gedanken. Vampire gibt es nicht und hat es auch nie gegeben. Sie waren nur eine Legende, erfunden von irgendwelchen europäischen Spinnern. Was aber war dann mit Siri geschehen?

„Ich möchte Merle sehen.“, verlangte Hitomi.

„Wieso? Was kümmerte euch noch diese Verräterin? Sie war es doch, die euch entführte.“, erkundigte sich Siri.

„Aber das tat sie doch nur, um mich zu beschützen!“

„Vor was denn? Euch droht auf Gaia keinerlei Gefahr.“

„Auf meinen Kopf ist eine Belohnung ausgesetzt.“, erwiderte Hitomi entrüstet.

„Ein Kopfgeld? So einen Unsinn hat man euch erzählt?“, lachte Siri.

„Es ist wahr. Als ich hier ankam, wurde ich zwei Mal von Kopfgeldjägern verschleppt.“

„Deren Auftrag es war, euch zu beschützen.“

„Vor wem?“, fragte Hitomi fassungslos.

„Vor dem König von Farnelia und seiner Leibgarde.“, sagte Siri und ging zum Fenster des Zimmers.

„Vor Van? Aber warum?“

„Er wollte verhindern, dass ihr meinen Meister trefft.“, führte Siri aus.

„Ich wurde von einem Zaibacher Guymelef gefangen genommen und man hat mich geschlagen, betäubt und bedroht. Sieht so eine Rettungsaktion aus?“, beschwerte sich Hitomi.

„Nun, die Kopfgeldjäger haben den Auftrag wohl selbst nicht richtig verstanden oder ihn bewusst geändert. So etwas kommt bei denen des Öfteren vor. Der Guymelef indes stammt aus dem von Astoria beschlagnahmten Inventar der Zaibacher. Diese Guymelefs sind die offizielle Ausrüstung der Kopfgeldjäger, die unter meinem Meister dienen.“

„Wer ist dein Meister?“

„Ihr kennt ihn, Fräulein.“, sagte Siri und kam wieder auf Hitomis Bett zu. „Ihr habt ihn schon einmal getroffen.“

„Wo? Wann?“, erkundigte sich Hitomi. Anstatt zu antworten nickte Siri dem stämmigen Mann zu, woraufhin dieser zurücktrat und damit den Eingang zum Zimmer freimachte. Herein trat ein aristokratisch gekleideter Mann mit langen, blonden Haar.

„Ihr?“, platzte es aus Hitomi heraus. Der Mann lächelte sie auf die Art und Weise an, wie es Hitomi schon bei vielen Diplomaten und Politkern gesehen hatte. Auch Siri machte dem Neuankömmling Platz und stellte sich an das Kopfende von Hitomis Bett.

„Siri, willst du uns nicht einander vorstellen?“, fragte der Mann und blieb vor Hitomis Bett stehen.

„Fräulein, vor euch steht Baron Trias, persönlicher Berater von König Aston von Astoria. Meister, darf ich euch vorstellen, Fräulein Hitomi vom Mond der Illusionen.“

Ohne Vorwarnung ergriff der Baron Hitomis Hand und gab ihr einen Handkuss.

„Das ist so üblich in unseren Kreisen, wertes Fräulein.“, erklärte er sich, doch sie zog geschockt ihre Hand zurück.

„Wir sind uns einmal begegnet…bei dem Bankett.“, erinnerte sie sich.

„Ich fühle mich geehrt, dass dieser kurze Augenkontakt euch im Gedächtnis blieb.“, bestätigte der Baron.

„Was wollt ihr von mir?“, fragte Hitomi betont sachlich.

„Warum so feindselig?“, erkundigte der Baron.

„Ihr seid schließlich für alle Entführungen verantwortlich, die ich erdulden musste.“, warf sie ihm vor.

„Das ist nicht richtig. Die überaus brutale Freiheitsberaubung von König Vans Schoßkatze war gewiss nicht in meinem Sinne.“, verteidigte sich Trias.

„Die vorherigen Versuche waren auch nicht gerade angenehm.“

„Ich muss mich in der Tat für das Benehmen meiner Bediensteten entschuldigen. Dennoch solltet ihr verstehen, Fräulein, dass alles sehr schnell gehen musste. Die Häscher König Vans waren euch…“

„Was wollt ihr von mir?!“, wiederholte sich Hitomi. Trias sah Hitomi einen Augenblick lang nachdenklich an und setzte sich dann zur ihr auf das Bett.

„Ich will, dass ihr euch euren tiefsten Herzenswunsch erfüllt.“

„Und der wäre?“, fragte Hitomi skeptisch.

„Frieden.“, antwortete Trias schlicht und atmete dann tief an. „Das ist es doch, was ihr euch wünscht. Ihr ertragt es nicht zu sehen, wie ein Mensch einen anderen das Leben nimmt. Dennoch geht das Töten weiter, auf Gaia und auf eurer Welt, und ihr könnt es nicht aufhalten. Das muss euch doch frustrieren.“

Hitomi wollte etwas erwidern, doch sie konnte nicht.

„Wisst ihr, wann es zu Gewalt und Aggressionen kommt?“, fragte Trias.

„Vans…Jemand sagte mir, dass sich überlappende Gedanken dafür der Grund sind.“

„So ist es. Wenn sich die Gedanken zweier Menschen überlappen und sich somit ihre Interessen kreuzen, kommt es zu Spannungen. Manchmal und nur mit viel Mühe kann man diese Knoten aus Interessen entwirren und zu einer friedlichen Lösung kommen. Doch die Überlappungen der Milliarden von Menschen zu entwirren, ist schier unmöglich. Kein Computer, und sei er noch so schnell, könnte dieses Problem lösen.“

„Woher wisst ihr, was ein Computer ist?“, wundert sich Hitomi, doch Trias fuhr unbeirrbar fort.

„Im Grunde ist der Mensch ein Egoist und demzufolge auch böse. Jeder hasst im Grunde seines Herzens alle anderen Menschen. Nur die Vermittlung von Werten durch das erdachte Konstrukt Gesellschaft und die Beschneidung von Freiheiten macht ein Zusammenleben der Menschen auf engsten Raum überhaupt möglich. Dies war schon immer so und wird auch immer so sein.“

„Das stimmt nicht! Nicht alle Menschen sind so! Wie könnt ihr es überhaupt wagen, dies zu behaupten?“, fuhr sie ihn an.

„Selbst ihr, mein liebes Fräulein, seid nicht anders. Ihr hasst die Menschen von Farnelia, weil sie euch eure Liebe versperren. Ihr hasst die Menschen von Gaia und der Erde, weil deren Leid euch leiden lässt.“

Wieder konnte sie nichts erwidern.

„Ja, ich habe Recht. Ihr Leid, ihre Wut und ihre Angst bombardieren eure Aura und lassen euch keinen Augenblick ruhig schlafen. Seitdem ihr die Stimmen aller Menschen hören könnt, sehnt ihr euch danach, dass sie verstummen.“, drang Trias auf Hitomi ein. Tränen sammelten sich in ihren Augen.

„Ihr selbst könnt euch diesen Wunsch erfüllen. Ihr selbst habt die Gabe das Schicksal aller zu bestimmen. Nur ihr könnt den Krieg heraufbeschwören. Den einen Krieg, der alle Menschen vernichtet und somit euch und der Welt ewigen Frieden bringt.“

„Hört auf!“, flehte sie und hielt sich die Ohren zu, doch es nützte nichts. Trias Stimme kam jetzt direkt aus ihren Gedanken und verstärkte die Schreie der leidenden Menschen in ihrem Unterbewusstsein.

„Ihr könnt alles Leid beenden!“, redete Trias auf sie ein. „Selbst Van, der euch verstoßen…“

„Hört auf!“, schrie Hitomi aus vollem Leib. Völlig unvermittelt und ohne erkennbaren Grund flog Trias von Hitomis Bettkante runter und krachte gegen die gegenüberliegende Wand des Zimmers. Siri reagierte sofort. Mit ihrer rechten Hand strich sie über Hitomis Stirn, woraufhin sie sofort einschlief. Mühsam rappelte sich Trias auf.

„Sie wird sich uns nicht anschließen.“, verkündete er. „Die Menschen haben sie zu sehr mit ihren Illusionen vergiftet.“

„Was machen wir mit ihr?“, erkundigte sich der Mann.

„Benutzt sie als Köder für Van! Fügt ihr großmögliche Schmerzen zu! Dann wird er kommen.“

„Das können wir doch auch mit Merle machen. Es gibt vielleicht noch eine Chance Hitomi zu überzeugen.“, wandte Siri ein.

„Nein! Sie hat Angst, ihrem wirklichen Ich zu begegnen. Sie ist schwach. Für uns hat sie keinen Nutzen. Außerdem hat sich dieser Van mit einer Blockade umgeben, die ihn unempfindlich gegenüber Schmerzen anderer macht. Das Katzenweib steht ihm nicht nah genug, um diesen Schutzwall niederzureißen. Nur dieses Mädchen hier kann es schaffen.“

Trias wandte sich an Siri.

„Du musst ihr seelischen Schmerz zufügen. Alles andere wird Van nicht mitkriegen. Sie muss aus dem Abgrund ihres Herzens schreien. Schaffst du das?“

Siri blickte konzentriert auf Hitomi und nickte schließlich.

„Ihr Gedächtnis hat mir ein Paar Möglichkeiten offenbart. Das wird kein Problem sein.“

„Gut, wenn dieser Möchtegernkönig hier auftaucht, schafft ihr ihn runter ins Labor. Ich sehe ihn mir an, wenn ich wiederkomme.“

„Was ist mit dem Katzenmädchen?“, fragte der glatzköpfige Mann.

„Spiel mit ihr, solange du willst! Hauptsache sie entkommt nicht. Keines der Mädchen wird gebissen! Beide würden der mentalen Viruskomponente widerstehen.“

Der Weg zum Schmerz

Dafür, dass Farnelias König Hitomi für das Amt der Königin ausgewählt hatte, fand Siri das Heim ihrer Eltern eindeutig zu mickrig. Umgeben von einem winzigen Garten stand das weiße Haus in einer Reihe mit vielen anderen, die zwar nicht alle gleich waren, sich aber auch nicht sehr von einander unterschieden. Sicher, dem sauberen und ordentlichen Gebäude nach zu urteilen, stammte Hitomi aus wohlhabenden, bürgerlichen Familie, doch diese Abstammung qualifizierte sie längst nicht für die Krone. Eigentlich, so fand Siri, konnte Farnelia nur froh darüber sein, dass Siri im Namen ihres Meisters diesen für den Thron unwürdigen König beseitigen wird. Im Prinzip machte sie damit den Weg frei für jemanden, der sich nicht so leicht den Kopf verdrehen lassen würde. Obwohl sie zugeben musste, dass der Gedanke an eine Liebesbeziehung zwischen einem König und einem Mädchen aus dem einfachen Volk durchaus seinen eigenen, romantischen Reiz hat, störte sie die Tragik solcher Geschichten. Am Ende fügen diese Art von Beziehungen allen Beteiligten nur Leid zu.

Und für dieses Leid musste Siri nun selbst sorgen. Zwar war ihr überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, die Spielverderberin zu sein, der ganzen Geschichte noch einen Beteiligten hinzuzufügen und letztendlich für den Tod des Fräuleins verantwortlich zu sein, doch die Befehle ihres Meisters waren eindeutig. Zweifel an das, was sie tat, lagen nicht in ihrer Macht…nicht mehr.

Siri konzentrierte sich auf die Auren im Innern des Hauses. Zwei befanden sich im Erdgeschoss und führten allem Anschein nach ein ernstes Gespräch, während eine weitere Aura sich im Obergeschoss aufhielt. Den gleichmäßigen und sanften Wellen dieser Aura nach zu urteilen schlief die Person im Obergeschoss. Mein Ziel, dachte sich Siri. Mit einem kleinen Satz sprang sie über dem Zaun und mit einem großen erreichte sie ein vier Meter hoch gelegenes Fensterbrett. Dann zog sie leise das Schwert, welches ihr der Meister vor seiner Abreise überlassen hatte. Das Metall der Klinge war das härteste, welches man auf ganz Gaia herstellen konnte, doch die eigentliche Besonderheit war der kleine Diamant, welcher auf der Spitze des Schwertes ruhte. Durch ihn konnte Siri mit ihrer Waffe ein Loch in die Fensterscheibe schneiden.

Während sich ihr jedoch die Frage aufdrängte, wie sie das herausgeschnittene Stück lösen könnte, fiel es auch schon in das Innere des Zimmers und zersplitterte auf dem Schreibtisch. Im Stillen verfluchte Siri sich und ihre Dummheit. Von den unteren Räumen her drang ein lautes Rufen, während die schlafende Person langsam aufwachte. Für Vorsicht hatte sie keine Zeit mehr. Mit der bloßen Faust zerschlug sie den Rest der Fensterscheibe und drang in das Zimmer ein. Die Person, ein Junge in etwa ihrem Alter, saß kerzengerade in seinem Bett und starrte sie erschrocken an.

Ursprünglich hatte Siri ihn überzeugen wollen freiwillig mit ihr nach Gaia zu kommen. Sie hatte ihn mit der Rettung seiner Schwester und das Erleben großer Abenteuer locken wollen, doch auch dafür fehlte ihr jetzt die Zeit. Blitzschnell war sie an seiner Seite, packte seine Gedanken und schickte ihn zurück in einen tiefen Schlaf. Dann hob sie ihn hoch und zusammen wurden sie von einer Säule aus Licht verschluckt und durch das Dach hindurch gen Himmel gezogen.
 

Als Hitomi erwachte, geisterten noch die Echos von Trias Worten durch ihre Gedanken. Sie brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, was geschehen war, doch als ihr alles wieder einfiel, wollte sie es vergessen. Es war ja schon schlimm genug, dass sich bei ihr auf Grund der Ereignisse wieder eine gewisse Abneigung gegen Gaia in ihren Kopf einschlich, doch dieses Gefühl ihr auch noch unter die Nase zu reiben und es zur zerstörerische Wut steigern zu wollen, war echt das Allerletzte. Dafür hasste sie Trias, dafür hasste sie ihn aus tiefsten Herzen.

Nur zögerlich öffnete Hitomi ihre Augen, da sie wieder Siris Gesicht über sich vermutete, doch als sie einen Jungen mit wilden, dunkelbraunen Haar sah, stockte ihr der Atem.

„Ryu, warum…Was machst du denn hier?“

„Das sollte ich dich fragen!“, schnauzte Ryu sie an. „Mom und Dad machen sich große Sorgen um dich, während du hier in diesem Bett liegst und lustig vor dich hin schnarchst.“

„Aber das ist unmöglich! Wie…Wie kommst du hier her?“, erwiderte Hitomi verzweifelt.

„Ich habe ihn extra für euch hergebracht, Fräulein.“, antwortete Siri und trat in ihr Sichtfeld.

„DU!“, schrie Hitomi rasend vor Wut. „Reicht es dir nicht, mein Leben zur Hölle zu machen? Musst du jetzt auch noch meine Familie mit hineinziehen?!“

„Nur so kann ich euch genug Schmerzen bereiten, um Van hierher zu locken.“, erklärte Siri.

„Du hast mir doch versprochen, ich könnte Hitomi wieder nach Hause bringen!“, wunderte sich Ryu.

„Oh, entschuldigt, junger Herr. Ich habe mich wohl versprochen.“, offenbarte sie ihm. „Übrigens wird keiner von euch gehen. Ich und mein glatzköpfiger Kollege sind hier offenbar die einzigen, die eine Lichtsäule erschaffen können. Ihr, junger Herr, wisst nicht einmal, was eine Lichtsäule ist oder wie sie funktioniert und ihr, Fräulein, könnt sie nicht erschaffen.“

„Woher weißt du das?“

„Es ist mehr oder weniger offensichtlich. Ihr werdet durch einen Bann auf Gaia festgehalten. Anscheinend will König Van mit allen Mitteln verhindern, dass seine Geliebte diesen Planeten verlässt.“

„Aber er hat mich doch selbst gebeten, auf den Mond der Illusionen zurückzukehren!“, hielt Hitomi dagegen. Bei der Gelegenheit prüfte sie mit ihrer Hand, ob ihre Kette noch um ihren Hals hing. Ein Glück, sie war noch da!

„Für einen solchen Bann reicht es vollkommen aus, dass er euch unbewusst nicht gehen lassen will.“, erklärte Siri.

„Warum hat mir Merle nie davon erzählt?“, sagte Hitomi leise zu sich selbst, während ein brennendes Glücksgefühl durch ihren ganzen Körper strömte.

„Sie hat mit Sicherheit den Bann gespürt, ihn aber nicht als solchen einordnen können. Ich selbst weiß auch nur, worauf ich achten muss, weil auf meinen Meister ebenfalls ein Bann liegt und er mich darüber aufgeklärt hat.“, beantwortete Siri ihre Frage.

„Wieso kannst du plötzlich ebenfalls die Gedanken anderer spüren? Was ist mit dir geschehen?“, hakte Hitomi verwirrt nach.

„Das gleiche, was jetzt mit euren kleinen Bruder geschieht.“, sagte Siri wehmütig lächelnd, zog Ryu zu sich heran und schlang ihre Arme um seinen Körper. Er stand nun mit dem Rücken zu ihr, während sie leicht zitternd ihren Kopf auf seine Schulter legte.

„Ich bin kein Mensch mehr, ebenso wenig wie mein Meister. Er hat mir ein neues Wesen gegeben. Aus euren beiden Köpfen weiß ich, dass ihr mich am ehesten als Vampir beschreiben würdet. Ich glaube sogar, mein Meister hat sich für seine neueste Kreation von euren Sagen und Geschichten über diese Kreaturen inspirieren lassen. Natürlich ließ er all die lächerlichen Schwächen weg, welche man den Vampiren nachsagt. Wir sind keineswegs empfindlich gegenüber Sonnenlicht, müssen nicht in Särge schlafen und sind nicht auf das Blut von Menschen angewiesen. Wir können uns auch von anderer organischer Nahrung ernähren, wobei menschliches Blut selbstverständlich eine besondere Delikatesse für uns darstellt. Wie ihr, Fräulein Hitomi, bereits festgestellt habt, offenbart sich für jeden unserer Art sofort und ohne große Umstände die Kraft der Gedanken. Nebenbei werden sämtliche Gewebe des Körpers verbessert und das Gen, welches den Menschen altern lässt, ausgeschaltet. Der ganze Umbau des menschlichen Körpers wird durch ein Virus in Gang gesetzt, welches ein Vampir wie eine Giftschlange durch die Zähne in den Körper seines Opfers spritzt. Das sieht dann etwa so aus…“, führte Siri weiter aus und biss Ryu erst zögernd, dann fester in den Nacken. Siris fester Griff und ihre Erklärungen hatten in ihm schon blanke Panik ausgelöst, die nun durch den Schmerz in seinem Nacken ihren Höhepunkt fand. Geschockt beobachtete Hitomi, wie ihr Bruderlaut aufschrie und ohnmächtig niedersank. Wie sich Siris Augen vor Überraschung und Verlangen weiteten , sie sich zu ihm hinabbeugte und noch mehr Blut trank. Hitomi wollte aufspringen und sie von ihrem kleinen Bruder wegreißen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Stattdessen musste sie mit ansehen, wie Siri ihr blutiges Mahl beendete. Zufrieden stand sie wieder auf, leckte die rote Flüssigkeit von ihren Lippen und grinste. Als ihr Blick auf Hitomi fiel, wurde sie wieder ernst.

„Wenn er in etwa einer Woche aufwacht, wird er einer von uns sein.“

„Du Bestie! Wie kannst du nur!“, schrie Hitomi hasserfüllt. Siri blieb ihr eine Antwort schuldig. Stattdessen wandte sie sich ab und legte ein kunstvolles Schwert in einer Scheide neben Hitomis Bett.

„Dies ist das Willkommensgeschenk für meinen Schüler. Ich habe Ryu auch schon den ersten Befehl eingetrichtert. Sobald er aufwacht, wird er euch töten.“

„Was?“, fragte Hitomi ungläubig.

„Dies wird der Beweis für seine Treue sein. Ihr könnt das natürlich verhindern, indem ihr ihn zuerst ermordet.“

„Niemals würde ich das tun! Er ist mein Bruder!“

„Ihr habt etwa ein Woche Zeit, um es euch anders zu überlegen. Wenn Ryu erst einmal aufwacht, wird niemand ihn stoppen können, außer mir natürlich. Es nützt übrigens nichts mehr, wenn ihr nur seinen Bauch aufschlitzt. Sein Körper heilt sehr schnell. Nur noch das Durchtrennen von Schlagadern und ein Stoß mitten sein Herz können ihn töten. Vor dem Virus braucht ihr im Übrigen keine Angst zu haben. Der ist darauf ausgelegt nur den ursprünglichen Zielkörper zu befallen und kann daher nur von einem Vampir durch einen Biss übertragen werden.“

„Geh endlich!“, schrie Hitomi. Siri zuckte zusammen und machte sich auf Hitomis Zimmer zu verlassen. An der Tür hielt sie noch einmal inne.

„Fräulein, ich muss euch wohl nicht darüber aufklären, dass es vollkommen unmöglich ist, von hier zu fliehen.“

Dann war sie verschwunden. Hitomi merkte plötzlich, wie ein großes Gewicht von ihren Beinen zu fallen schien. Panisch verließ sie das Bett und kniete neben Ryu. Verzweifelt versuchte sie ihn zu wecken, flüsterte wieder und immer wieder seinen Namen ins Ohr, doch er blieb regungslos liegen. Mit etwas Erleichterung stellte sie fest, dass die Stichwunden in seinem Nacken aufgehört hatten zu bluten. Sanft strich sie mit ihren zitternden Fingern über seine Stirn, holte dann ihre Bettdecke und deckte ihn damit zu. Schließlich nahm sie eine seiner Hände, hielt sie ganz fest und drückte sie an sich. Warme Tränen flossen über ihre Wangen und tröpfelten auf seine kalte Haut.
 

Ruckartig erhob sich Van von seinem Stuhl. Sophia und die im sicheren Konferenzraum versammelten Beamten starrten ihn verwundert an.

„Majestät, was ist los?“, fragte Sophia.

„Ich muss weg!“, teilte Van mit und stürmte zur Tür.

„Entschuldigen sie uns bitte!“, bat Sophia die Beamten und rannte ihm hinterher.

„Van, wo willst du hin? Van!“, rief sie ihm nach. Erst in seinem Zimmer konnte sie ihn stellen.

„Was hast du?“, fragte sie ganz außer Atem.

„Hitomi hat Schmerzen! Große Schmerzen! Sie ist in Gefahr! Ich muss sie retten!“, sagte er grimmig, während er das nötigste an Ausrüstung in seinen Rucksack stopfte.

„Aber…Sie war doch schon immer in Gefahr.“, versuchte Sophia ihn zur Vernunft zu bringen.

„Dieses Mal ist es anders!“, erwiderte er panisch.

„Du hast mir doch erzählt, dass dieses Katzenmädchen bei ihr ist!“

Genervt trat Van nahe an Sophia heran.

„Ich werde Hitomi nicht im Stich lassen! Nicht noch einmal!“, bekräftigte er und durchbohrte sie mit seinem Blick.

„Dann lass mich mitkommen! Mein Schwert könnte dir helfen.“, verlangte Sophia standhaft.

„Unmöglich!“, lehnte Van ab.

„Warum?“

„Ich kann nicht auf zwei Mädchen gleichzeitig aufpassen!“, begründete er seine Entscheidung.

„Du wirst mich überhaupt nicht schützen können, wenn ich nicht bei dir bin!“, konterte sie.

„Dafür hab ich ja auch eine königliche Leibgarde.“

„Die hat schon einmal versagt!“

Van atmete tief durch. Irgendwann würde er diese Entscheidung bereuen.

„Meinetwegen. Hol deine Ausrüstung! Wir nehmen die Katzenpranke.“

„Wohin fliegen wir?“, wollte Sophia wissen. Er richtete seinen Blick durch das Fenster hinaus in die Ferne.

„Zum Tempel der Fortuna!“

Stirb nicht!

Missmutig schloss Siri die Tür hinter sich. Ihre Mine verfinsterte sich noch zusätzlich, als sie sah, dass ihr glatzköpfiger Mitbewohner im Flur an der Wand sitzend auf sie gewartet hatte. Amüsiert registrierte er das mit Brotscheiben und einer Kanne Wasser gefüllte Tablett in ihren Händen.

„Ich hätte echt nicht gedacht, dass du so grausam sein kannst.“, meinte er. „Du lässt das Mädchen nicht nur verhungern, sondern hältst ihr regelmäßig auch noch frisches Essen unter die Nase.“

„Das Essen stammt von gestern. Ich hab ihr eben etwas Frisches gebracht.“, erklärte Siri sich.

„So wie gestern? Wozu der ganze Aufwand, wenn sie es doch eh nicht isst?“

„Weil König Van vielleicht nicht kommen wird, wenn seine Geliebte erst einmal vertrocknet ist. Ich muss sie solange am Leben erhalten, bis er hier ist.“

„Du lügst.“, behauptete ihr Mitbewohner und richtete sich in seiner ganzen imposanten Größe auf. „In Wahrheit sorgst du dich um ihr Leben.“

„Warum sollte ich? Ich kenne sie kaum.“, konterte sie.

„Dennoch kennst du sie. Ihr habt das ein oder andere Gespräch miteinander geführt, nicht wahr?“

„Raus aus meinem Kopf!“, keifte Siri ihn an.

„Ich bin nicht einmal drin. Dein Gesicht sagt alles.“, lachte er. „Ist sie überhaupt noch am Leben?“

„Sie ist schwach und liegt bewusstlos neben ihrem Bruder, aber sie lebt.“

„Sicher? Ich spüre ihre Aura nicht mehr.“

„Hey, ich bin Ärztin. Ich weiß, wovon ich spreche.“

„Aber ihre Aura…“

„Hitomi schottet sich ab.“

„Woher kennt sie die dafür erforderliche Gedankentechnik?“

Siri zuckte betont gleichgültig mit ihren Schultern.

„Die hat bestimmt unbewusst selbst gelernt. Ihr Wille, das Leid der Welt und ihr eigenes Leid zu verdrängen, muss eine Verteidigung errichtet haben.“

„Willst du ihre Mauern nicht mal langsam niederreißen? Wer weiß, was in ihrem Kopf so alles vor sich geht.“, wunderte sich ihr Mitbewohner.

„Das habe ich bereits versucht, aber sie schlägt mich jedes Mal zurück. Sie ist einfach zu stark.“, gab Siri zu.

„Erst ist sie schwach, dann wieder stark. Könnt ihr Ärzte euch mal für etwas entscheiden?“

„Körper und Geist sind zwei vollkommen verschiedene Dinge.“

„Wenn du meinst.“, sagte er Schulter zuckend. „Ich hoffe allerdings, dass sie noch vor Vans Eintreffen abkratzen wird.“

„Auch auf die Gefahr hin, dass er dann gar nicht mehr kommt?“, erinnerte ihn Siri.

„Wenn die Gerüchte aus meiner ehemaligen Heimat stimmen, wird er kommen, egal ob sie lebt oder tot ist. Angeblich hat dieses Würstchen die Kraft dieses Mädchen vom Tode wiederzuerwecken.“

„Und wenn das Gerücht nicht stimmt?“

„…können wir uns auch gleich einen anderen Köder suchen. Wenn er Hitomi nicht spüren kann, wird er sie für tot halten.“

„Es gibt einen Unterschied zwischen dem Abflauten einer Aura und einer plötzlichen Blockade. König Van weiß, dass sie sich abschottet. Außerdem haben wir keinen anderen Köder.“, meinte Siri.

„Er kennt das Katzenmädchen schon, solange er denken kann. Also wenn das kein Köder ist…“

„Es würde nicht funktionieren.“, unterbrach sie ihn. „Sie steht dem König nicht nah genug um zu ihm durchdringen zu können.“

„Dann schicken wir ihm halt einen Boten, der ihm flüstert, wo seine Sandkastenfreundin sich befindet.“

„Pah!“, platzte es aus Siri heraus. „Wenn wir das tun, kommt er mit einer ganzen Armee im Schlepptau.“

„Aber er kommt.“
 

„Aber er ist jetzt schon zwei Tage da drin.“, beschwerte sich Sophia bei dem Soldaten, der ihr die Tür zu Vans Koje versperrte.

„Verzeiht, Prinzessin, aber ich kann euch nicht durchlassen.“, wies der Soldat sie zurück.

„Hat er die letzten Tage überhaupt etwas zu essen bekommen?“

„Der Befehl verbietet allen Personen ohne Ausnahmen den Zutritt.“

„Das ist doch verrückt! Der König wird noch verdursten, wenn er nicht bald etwas zu trinken bekommt.“, sagte Sophia besorgt.

„Das liegt ganz allein im Ermessen seiner Majestät.“, erwiderte die Wache stur.

„Tun sie eigentlich alles, was man ihnen sagt?“, fragte Sophia ungläubig.

„Mein Eid verpflichtet mich dazu.“, klärte der Soldat sie auf.

„Würden sie auch aus einem Flugschiff in tausend Meter Höhe abspringen, wenn man ihnen den Befehl dazu gibt?“ Die Wache blieb ihr eine Antwort schuldig. „Sehen sie? Das hier ist genauso verrückt, nur das sie jetzt an Stelle ihres eigenen Lebens das Leben von Van grundlos wegschmeißen.“

„Ich habe meine Befehle.“, bekräftigte der Soldat.

„Zum Mond mit ihren Befehlen. Er könnte im Sterben liegen und wir wüssten es nicht.“, schrie Sophia wütend. „Ich gehe jetzt in Küche und hole ihm etwas Verpflegung. Wenn ich wiederkomme, ist diese Tür offen oder es gibt ein Donnerwetter.“

Der Soldat schluckte.
 

Neue Techniken entstehen immer aus der Notwendigkeit heraus. Zu dieser Erkenntnis gelangte Van, während er im Schneidersitz auf dem Boden seiner Koje meditierte. Der Raum war in vollkommener Dunkelheit gehüllt. Sämtliche Vorhänge waren vor dem Fenstern zugezogen worden. Van brauchte die Finsternis. Die bewusste Wahrnehmung von Zeit lenkte ihn nur unnötig ab. Er wusste nicht wie lange er gebraucht hatte, um überhaupt auf die Idee zu kommen, wie er Hitomi trotz ihrer Blockade finden konnte, und es spielte auch keine Rolle.

Wie er anhand von Merle schon lange hatte feststellen können, bilden Personen, die ihre Gedanken abschotten, eine Leere im Strom der Gedanken. Um die Blockade zu durchbrechen, musste man sich der genauen Position der Zielperson bewusst sein, was eigentlich nur über Augenkontakt möglich ist, doch Van hatte das dumme Gefühl, dass er nicht solange warten konnte, bis die Katzenpranke im Tempel der Fortuna eintraf. Um die Position Hitomis Vakuums im Meer der Gedanken selbst zu lokalisieren, war er viel zu weit weg. Ihre Blockade äußerte sich für ihn nur durch eine kleine Anomalie aus der Richtung des Tempels, doch eine ungefähre Richtungsangabe reichte nicht aus. Er braucht sechs davon. Zum Glück befanden sich gut ein dutzend Wesen mit einfachem Bewusstsein in Hitomis Nähe. Die Struktur der Gedanken dieser Wesen wiesen Mängel auf, als hätte jemand versucht, ihnen das Bewusstsein des eigenen Ichs zu rauben und sie somit zu willenlosen Sklaven zu machen, doch dieses Vorhaben war nicht ganz gelungen. Diese Wesen besaßen noch ein Rest ihres Selbst, welcher aber durch primitive Gedanken und Instinkte überdeckt wurde. Was jedoch noch viel wichtiger war als ihre bewussten Gedanken, war deren Unterbewusstsein, das noch immer dazu in der Lage war, die Energiemuster der Gedanken in der Umgebung wahrzunehmen.

Van stutzte, als er das Unterbewusstsein eines dieser Wesen prüfte, und verzog dann sein Gesicht. In dem Tempel befanden sich mehr als eine Person, die ihre Gedanken abschotteten. Es waren vier, um genau zu sein. Zwar konnte Van den exakten Standort dieser Personen bestimmen, doch deren Identität blieb ihm verborgen. Die Wesen, deren Van sich bediente, schienen zu einer dieser Personen einen ständigen Kontakt zu haben. Das muss ihr Meister sein, erkannte Van und schloss diese Person aus. Eine weitere Person schien sich sehr schnell zu bewegen und kam dabei einem von Vans Kontakten sehr nahe. Dieses Wesen bekam plötzlich sehr viel Angst und schien sich zu verkriechen zu wollen. Auch diese Person konnte Van getrost ausschließen. Die restlichen zwei Personen mit einer Gedankenmauer rührten sich dummerweise keinen Zentimeter, so dass Van keinen Unterschied zwischen den beiden ausmachen konnte. Dann jedoch bediente er sich des Gedächtnisses eines primitiven Wesens in dem Tempel und erfuhr, dass eine Anomalie schon seit Ewigkeiten bestand hatte, während die andere erst vor ein paar Tagen aufgetaucht war.

Das ist Hitomi, dachte er triumphierend und konzentrierte sich auf ihren Standort. Bisher hatte er noch nie versucht gewaltsam in die Gedanken eines anderen Menschen einzudringen. Doch er brauchte ihren Beistand und was noch wichtiger war, sie brauchte seinen. Van atmete noch einmal tief durch, rief dann in Gedanken nach Hitomi und sandte diese Gedanken ihr entgegen.

Mit aller Kraft versuchte Van ihre Mauern niederzureißen und als die ersten Echos seiner eigenen Gedanken zu ihm zurückkamen, durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz und er fand sich auf einer Treppe aus nacktem Stein wieder. Um ihn herum herrschte tiefe Finsternis. Nicht einmal die Stufen konnte er erkennen, doch ein Gefühl sagte ihm, dass sein Ziel, Hitomi, am Ende der Treppe auf ihn wartete. Langsam tastete er sich auf allen vieren die hohen Stufen hinauf. Er hatte gerade fünf hinter sich gelassen, als plötzlich ein heller Blitz sich knisternd um ihn herumwickelte und sein Körper vor Schmerzen zu zerreißen drohte. Der Blitz verschwand so schnell wie gekommen war. Van hielt einen Moment lang inne und sammelte Kraft. Schließlich hatte er sich wieder gefangen und kroch weiter die Treppe hinauf. Wieder entlud sich ein Blitz. Wieder brauchte Van ein paar Sekunden, ehe er weiter gehen konnte. Mit jeder Stufe kamen die Blitze häufiger. Schmerzen durchfluteten seinen Körper, doch er war ihnen sogar ein bisschen dankbar, da sie seinen Weg erleuchteten und er so schneller vorankam. Schließlich zuckten sie unablässig. In seinem Kopf begann sich die Vorstellung zu manifestieren, wie seine Haut verbrannte und sich von seinem Fleisch löste. Immer mehr Nervenzellen in seinem Körper kreischten protestierend auf und setzten sein Inneres in Flammen. Doch aller Schmerz vermochte die Leere in seinem Herzen nicht zu füllen. Hitomis Lächeln, das Kitzeln ihre Haare auf seiner Wange, das Feuer in ihren Augen, an all das konnte Van sich nicht mehr erinnern. Er brauchte diese Erinnerungen.

Er musste noch einmal ihr Lachen sehen. Er musste noch einmal ihre Stimme hören. Er musste noch einmal ihre Haut auf seiner spüren und sei es auch nur ein einziges Mal.

Plötzlich hörte der Schmerz auf und die Finsternis lichtete sich. Stattdessen umgab ihn ein dichter, grauer Nebel.

„Ich bin drin!“, flüsterte er. Doch wo war er? Der Nebel verschleierte die Aussicht auf eine flache Ebene aus losem Geröll. Vor sich sah er Hitomi liegen. Ohne ein einziges Stück Kleidung auf ihrer Haut wälzte sie sich auf dem mit spitzen Steinen gespickten Boden und schrie unablässig. Ihr ganzer Körper war übersäht mit blutenden Wunden und langen Kratzern. Fassungslos beobachtete Van, wie sie einen Stein in die Hand nahm und sich selbst damit die Haut aufritzte. Er rief panisch ihren Namen und stürzte auf sie zu. Mit aller Kraft entriss er ihr den Stein und strich dann sanft mit seiner Hand über ihre Wangen. Obwohl ihre Augen offen waren, fand er nur Leere in ihnen.

„Hitomi, hörst du mich?“, fragte er verzweifelt. Mit Sorge registrierte Van ihren Schwachen Puls und ihren flachen Atem. Schnell zog er sein Hemd aus und bedeckte damit ihre Blöße. „Bitte antworte mir! Komm schon! Lass uns nach Hause gehen!“, flehte er, doch sie rührte sich kein Stück. Seine Augen wurden feucht und verschleierten seinen Blick. „Wach doch auf! Ich will dir etwas sagen.“

Sie zeigte keine Reaktion. Verzweifelt schloss er Hitomi in seine Arme und drückte fest an sich. Tränen lösten sich von seinen geschlossenen Augen, während er zu wimmern anfing. Ihr Kopf ruhte nun auf seinem Nacken und seine Tränen benetzten ihre Wange.

Ohne dass es Van bemerkte veränderte sich die Umgebung schlagartig. Wo vorher eine von Geröll bedeckte und im Nebel versunkene Ebene war, bedeckte eine weite Wiese das Land. Der Himmel klarte auf und zeigte sich nun in einem hellen Blau. Ein starker Wind strich durch seine Haare und trieb Wellen durch das hohe Gras. Van erwachte jedoch erst aus seiner Trauer, als spürte, wie Hitomi seine Umarmung erwiderte. Überrascht riss er die Augen auf und betrachtete verwundert die Landschaft.

„Es erinnert mich an dich.“, flüsterte Hitomi ihn ins Ohr. Überglücklich löste er seine Umklammerung etwas, so dass er ihr in die Augen sehen konnte. Sie strahlten vor Freude. „Du riechst genau wie das Gras hier.“, erklärte Hitomi lächelnd.

„Hitomi, du lebst!“, freute er sich.

„Ja, dank dir.“, gab sie zu, während eine ihrer Hände ihn sanft an seinen Kopf packte und zu sich runter zog. Van wehrte sich nicht, stattdessen schloss er seine Augen und wartete sehnsüchtig auf den Augenblick, an dem seine Lippen sich mit ihren treffen würden. Doch der Kuss blieb aus. Verwundert öffnete Van seine Augen wieder und wäre fast nach hinten gekippt, als er Sophias wütendes Gesicht vor sich sah.

„Das gibt es nicht!“, schrie sie ihn an. „Während ich mir Sorgen mache, weil du tagelang nicht deine Koje verlässt, sitzt du hier seelenruhig und hast feuchte Träume.“

„Hä, was hab ich?“, wunderte sich Van. Vollkommen neben der Spur sah er sich um und erkannte schließlich die Inneneinrichtung seiner Koje auf der Katzenpranke. Schließlich erinnerte er sich auch an den Befehl, den er gegeben hatte. Vorwurfsvoll blickte er zur Wache, die an der Tür stand.

„Verzeiht, Majestät! Sie ließ sich nicht aufhalten.“

„Schon gut.“, sagte Van verärgert. „Schließen sie die Tür!“

Der Soldat gehorchte und ließ die beiden allein.

„Mund auf!“, befahl Sophia.

„Hä?“, platzte es aus Van heraus und Sophia nutzte die Gelegenheit um den Rand eines Bechers in sein offenes Maul zu schieben.

„Trink langsam!“
 

Völlig unvermittelt stoppte Siri ihren Hindernislauf durch das Kraterinnere des Tempels und sah zu dem Fenster hinauf, hinter dem Hitomi festgehalten wurde. Zufrieden spürte sie, wie erst die Mauer um Hitomis Bewusstsein weggewischt wurde und sie wenig später anfing zu trinken.

„Vielleicht ist das Gerücht ja doch wahr.“, sagte sie zu sich selbst und nahm ihr Training wieder auf.

Geschwisterliebe

Hitomi starrte durch das kleine Fenster ihres Gefängnisses hinaus in den Himmel. Sie dachte noch immer voller Sehnsucht an ihren letzten Traum zurück. An die Schmerzen erinnerte sie sich genauso gut wie an die Wärme von Vans Händen. Noch immer fühlte sie Vans Tränen, wie sie an ihrer Wange herunter liefen. Noch immer stieg der süße Geruch seiner Haut ihr in die Nase und ließ sie vor Erregung zittern. Die Intensität, mit der ihr Körper nach seinem lechzte, löste in ihr gleichzeitig Angst und freudige Erwartung aus. Hitomi sehnte sich nach seiner Nähe und je näher er kam, desto größer wurde ihr Verlangen. Jetzt, da sie spürte, dass Van nur noch wenige Minuten entfernt war, hielt sie es kaum noch aus.

„Er ist also gleich hier.“, stellte Siri hinter ihr fest.

Erschrocken drehte sich Hitomi um. Gelassen lehnte Siri am Türrahmen und grinste Hitomi an. „Natürlich ist er das. Was für einen anderen Grund könnte das heftige Aufflammen eurer Aura haben?“

„Es wäre besser für dich, wenn du gehst.“, forderte Hitomi sie so ruhig und freundlich auf, wie es nur ging.

„Warum sollte ich, Fräulein?“, fragte Siri erstaunt. „Schließlich möchte ich es doch mit meinen eigenen Augen sehen, wie euch euer eigener Bruder umbringt.“

„Warum tust du das?“, schrie Hitomi verzweifelt. „Ich dachte, du hättest mir den Tod deines Vaters verziehen.“

„Wenn eure Geschichte wirklich stimmt, Fräulein, gibt es da nichts zu verzeihen.“, erwiderte Siri kalt. „Es war doch Kaiser Dolunkirk, der die Kriege angefacht hat, oder etwa nicht?“

„Ja, natürlich, aber warum…?“

„Wenn ich Trias… meinem Meister nicht gehorche, spüre ich so große Schmerzen, wie kein Mensch sie sich je vorstellen könnte und ein Befehl lautet nun einmal, dass ich euch quälen soll.“

„Aber…“

„Erst lehnt ihr sein äußerst großzügiges Angebot ab, dann stößt ihr ihn mit einem Schild aus reiner Gedankenenergie von euch weg und schlagt ihn somit mit seinen eigenen Waffen. Kein Wunder, dass mein Meister sauer auf euch ist.“

Hitomi verstand die Welt nicht mehr. Was hatte sie getan? Langsam ging Siri auf das Bett zu und setzte sich auf den Rand. Sanft strich sie den bewusstlosen Ryu durch sein zerzaustes Haar.

„Ich bin wirklich überrascht, dass ihr es geschafft habt, ihn in das Bett zu schleppen, obwohl ihr nach eurem Erwachen so schwach wart. Es ist vor allem erstaunlich, dass ihr gegenüber jemandem, der euch töten wird, so zuvorkommend seid.“

„Er ist und bleibt mein Bruder.“

„Schon bevor ich ihn gebissen habe, war er sehr schön, doch das Virus hat ganze Arbeit geleistet. Jetzt hat er nicht nur ein hübsches Gesicht, sondern ist auch sehr gut gebaut.“, meinte Siri und zog die Decke und die Kleidung über seinen Oberkörper zurück. „Seht euch nur seine Bauchmuskeln an. Die sind der Hammer!“

„Er ist mein Bruder!“, bekräftigte Hitomi entrüstet.

„Und das hindert euch daran, ihn attraktiv zu finden oder etwas für ihn zu empfinden?“

Hitomi starrte Siri ungläubig an, welche abwehrend die Hände hob.

„Ich bin ein Einzelkind und kann so etwas nicht wissen, daher frage ich.“

„Ständig provoziert er einen Streit mit mir und am Ende bin immer ich die Dumme. Liebe sieht anders aus!“

„Trotzdem sorgt ihr euch um ihn und über die letzten Tage habt ihr mit ihm sogar das Bett geteilt. Habt ihr das aus Pflichtgefühl getan oder empfindet ihr nicht doch etwas für euren Bruder?“

„Natürlich liebe ich meinen Bruder, aber hierbei handelt es sich um reine Geschwisterliebe.“

„Jedoch frage ich mich, wie groß der Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Liebe ist…“, erklärte Siri und fuhr mit ihrer Hand über Ryus Stirn. Schlagartig öffneten sich seine Augen und bewegten sich verwirrt hin und her. „…und wie schnell aus Geschwisterliebe heißes Verlangen wird.“

Fast schon hektisch verließ Siri den Raum und ließ dabei eine panisch zitternde Hitomi zurück. Nachdem sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, torkelte sie zur gegenüberliegenden Flurwand und stützte sich schwer atmend ab. Die bisher langsam anschwellenden Kopfschmerzen waren mittlerweile unerträglich geworden. Erschöpft und die Zähne zusammenbeißend sank Siri auf ihre Knie.

„Was sollte dieses belanglose Gespräch eben? Wolltest du etwa Zeit schinden?“, dröhnte Trias Stimme aus ihrem Unterbewusstsein heraus.

„Bitte, Meister!“, flehte Siri leise. „König Van ist doch praktisch schon hier. Der Köder hat funktioniert. Es gibt keinen Grund sie zu töten!“

„Du hast mir zu Diensten zu sein. Ich habe dich erwählt. Das Leben dieser minderwertigen Kreatur hat dich nicht zu interessieren! Meinen Willen zu erfüllen hat deine einzige Sorge zu sein! Sag deinem Schüler, er soll sie töten, oder mach es selbst! Es ist mir egal. Hauptsache, sie stirbt.“, donnerte Trias. Daraufhin explodierte Siris Kopf. Von den Schmerzen überwältigt, gruben sich beide Hände in ihr Haar und Siri wälzte sich schreiend auf dem Boden hin und her. Schließlich gab sie ihren Widerstand auf, woraufhin ihr Kopf sofort wieder klar wurde. Ein warmer Strom aus Tränen floss über den kalten Stein, auf dem sie lag.

„Tu es endlich! Mach es kurz und schmerzlos!“, wimmerte sie und schickte den Gedanken an Ryu. Deutlich spürte sie, wie er sich verwirrt aus dem Bett erhob. Zwischen der Liebe zu seiner Schwester und dem Pflichtgefühl gegenüber seiner Meisterin hin und her gerissen, verharrte seine rechte Hand über dem Griff seines Schwertes. Hitomis lautstarkes und verzweifeltes Flehen, er möge doch wieder der Alte werden, und Ryus innerlicher Konflikt weckten in Siri erneut Zweifel, die Ryu in seinem Widerstand gegenüber ihrem Befehl bestärkten. Wieder schnitt ein gleißend heller Blitz durch ihre Gedanken. Der Ohnmacht nahe packte sie ihren Kopf und schickte ihre Schmerzen an Ryu weiter, der ohne Zurückhaltung aufschrie.

„Siehst du nicht, wie ich leide?“, flüsterte sie und schickte ihm ein Bild von sich selbst, wie sie zusammengekauert auf dem Boden lag.

„Siehst du nicht, wie deine Schwester leidet?“ Mit dem Rest an gedanklicher Kontrolle zwang sie ihn sich auf das vor Angst erstarrte Gesicht seiner Schwester zu konzentrieren.

„Du kannst dem ein Ende machen! Tu es für uns beide!“ Ryu fasste den Griff seines Schwertes und zog es aus der Scheide.

„Mach es kurz und schmerzlos!“

Er ging schwankend auf Hitomi zu und holte aus.
 

Mit erhobenem Schwert stand ihr kleiner Bruder drohend vor ihr. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Maske aus Schmerz und Verwirrung. Panik lähmte Hitomis Körper und ließ sie nicht zurückweichen. Unerträglich langsam und zitternd senkte sich sein Schwert diagonal ihren Schultern entgegen. Instinktiv ging Hitomi dann doch zwei Schritte rückwärts, woraufhin Ryu den Schlag schnell und entschlossen durchzog. Fast ohne Widerstand durchschnitt die Spitze seiner Klinge ihre Fellkleidung und das Fleisch ihres linken Oberarmes.

Brennendes Leid breitete sich über ihren ganzen Arm aus. Geschockt stolperte sie über ihre eigenen Füße und fing sich mit den Ellbogen beider Armen auf, wobei eine weitere Welle heißen Schmerzes ihr für einen Moment das Bewusstsein raubte. Als sie sich wieder gefangen hatte, presste sie ihre rechte Hand auf die stark blutende Wunde und robbte sich von Ryu weg, bis sie mit dem Nacken an die Zimmerecke neben dem Fenster stieß. Hilflos musste sie mit ansehen, wie Ryu langsam und bedrohlich mit der blutgetränkten Schwertspitze näher kam. Sie kreischte, schrie panisch auf, rief mit aller Kraft nach Van und verlangte nach seiner Hilfe.

Wieder hob Ryu sein Schwert und als in sie schon fast alle Hoffnung gestorben war, schoss Van durch das Fenster in ihr Gefängnis. Während sich die Fingerspitzen seiner Hände so gut es ging in den heißen Stein der Außenwand über dem Fenster gegraben hatten, trafen seine Füße Ryu in die Rippen und schleuderten ihn gegen die Tür, die krachend aus dem Rahmen fiel. Das laute Geräusch mehrer Propeller wurde schnell leiser und verstummte schließlich ganz.

Aufrecht und kampfbereit stand Van im Zimmer, während ihm ein paar Federn in das Zimmer folgten und andere sacht zu Boden glitten. Angesichts seines nackten, Muskel bepackten Oberkörpers vergaß Hitomi alle Furcht. Beeindruckt verfolgte sie, wie Van sein Schwert aus dem Rückenhalfter zog und in Kampfstellung ging. Im nächsten Augenblick trat Ryu durch den Türrahmen und schlug waagerecht mit dem Schwert nach Vans Rippen. Dieser parierte, wurde jedoch von Ryus Kraft und Geschwindigkeit vollkommen überrascht, hob ab und flog im hohen Bogen auf das Bett, wo er weich landete. Zum Ausruhen blieb ihm jedoch keine Zeit. Ryu sprang ihm gleich hinterher, Van rollte zur Seite und Ryus Klinge teilte das Bett in zwei Hälften. Inzwischen hatte Van sich wieder gefasst und schob Ryu mit einem Bein von sich weg, während er das andere aufrichtete. Den gewonnenen Abstand nutzte Ryu erneut für einen waagerechten Schwertstreich, doch seine Klinge spaltete nur Luft. Van hatte sich erst mit seinen Händen, dann mit dem aufgestellten Bein von der harten Matratze abgestoßen, flog mit einer 180° Rolle über Ryu und seinen Schlag hinweg und noch während der Landung führte er einen senkrechten Schlag gegen die Wirbelsäule seines Kontrahenten. Plötzlich hatte Ryu seinen Gegner im Nacken, also machte er einen Hechtsprung nach vorne auf das zertrümmerte Bett um Vans Klinge zu entgehen.

Die Zeit, die Ryu brauchte um aufzustehen und sich umzudrehen, nutzte Van zum Verschnaufen und zu einer Analyse seines Gegners. Dieser war zwar sehr schnell, doch war auch ein blutiger Anfänger und hatte wahrscheinlich zum ersten Mal ein Schwert in der Hand. Durch das weite Ausholen waren seine Schläge frühzeitig erkennbar. Somit war der Geschwindigkeitsvorteil praktisch vernichtet und seine übernatürliche Stärke würde dem Jungen auch nichts nützen, wenn er nicht traf. Im Hinterstübchen registrierte Van, dass Hitomi ihm etwas zurief, doch er verstand es nicht. Es spielte sowieso keine Rolle. Seine ganze Aufmerksamkeit gehörte seinem Gegner. Sie musste warten.

Wieder stürmte Ryu auf ihn zu und schlug nach ihm, doch Van wich den Schwertstreichen nur noch aus statt sie zu parieren. Dabei fiel er über seine eigenen Füße und landete auf seinem Rücken. Ryu war sofort bei ihm, baute sich vor ihm auf und trieb seine Klinge senkrecht Vans Kopf entgegen. Dieser versuchte zu blocken, konnte jedoch der Kraft seines Gegners nichts entgegensetzen. Die Spitze seines eigenen Schwertes rammte sich neben seinen Kopf in den Boden, während Ryus Schwert an dessen schiefen Klinge abrutschte und er so aus dem Gleichgewicht kam. Reingefallen, dachte Van und ließ sein Schwert los. Wieder rollte er sich von Ryu weg, zog dabei ein Bein an und kam wieder hoch. Der Dolch, der sich noch eben in einem seiner Stiefel befunden hatte, war nun in seiner rechter Hand. Noch während Ryu um sein Gleichgewicht kämpfte, überbrückte Van die Distanz zwischen den beiden mit nur einem Schritt, rammte den Dolch in Ryus Rippen und schlug mit der anderen Faust Ryu ins Gesicht. Zum Abschluss packte er dessen Kopf mit beiden Händen und drosch sein Knie in den Unterkiefer seines Kontrahenten, der daraufhin bewusstlos niedersank.

„Es reicht, Van!“, schrie Hitomi verzweifelt. Erst jetzt bemerkte Van, dass sie ganz bleich im Gesicht war.

„Er wollte dich umbringen!“, rechtfertigte er sich.

„Und du hast ihn erfolgreich daran gehindert. Jetzt lass ihn in Ruhe!“, befahl sie und rappelte sich auf. Verärgert zog Van seinen Dolch aus dem Körper seines Gegners und wischte das Blut an der Klinge mit der Bettdecke ab.

„Du könntest ruhig etwas dankbarer für deine Rettung sein!“, beschwerte er sich.

„Noch ist es nicht vorbei.“, konterte sie.

„Doch, ist es.“, behauptete er. „Ich muss dich jetzt nur noch in meine Arme zu nehmen und zur Katzenpranke fliegen.“

„Und was wird aus Merle? Willst du sie hier einfach so verrecken lassen?“, erwiderte Hitomi empört.

„Merle ist hier?“, wunderte sich Van.

„Sag bloß, du wusstest das nicht. Du scheinst ohne sie vollkommen blind zu sein. Was dachtest du denn, wo sie wäre?“

„Sie kann nicht hier sein. Ich kann ihre Aura nicht spüren. Es gibt zwar eine Person, die sich abschirmt und deren Unbeweglichkeit auf eine Gefangenschaft schließen lässt, aber die befindet sich schon seit Jahren hier.“

„Merle schirmt sich nicht ab. Ihre Aura ist offen wie ein Scheunentor.“

„Warum kann ich sie dann nicht fühlen?“

Hitomi bedachte Van mit einem stechenden Blick.

„Weil ihre Aura nur noch aus Leid und seelischen Schmerzen besteht. Sie wird förmlich von Einsamkeit überrannt, aber gegen solche negativen Gefühlen schirmst du dich ja ab.“

Van verfluchte sich im Stillen selbst, während Hitomi sich zu ihrem Bruder herunter beugte.

„Wo ist sie?“, erkundigte er sich.

„Unten. Irgendwo unterhalb des Erdgeschosses.“, teilte ihm Hitomi mit.

Van griff nach seinem Funkgerät an seinem Gürtel, während er verwundert beobachtete, wie Hitomi dem Jungen einen Kuss auf die Stirn gab und ihm dann Lebewohl sagte.

„Was soll das denn? Dieser Junge wollte dich töten, falls du es schon vergessen hast.“

„Hab ich nicht.“, versicherte Hitomi. „Ich erkläre es dir später. Erst müssen wir Merle retten.“

Er nickte und sprach dann in sein Funkgerät.

„Katzenpranke, hier Sturmfalke. Brechen sie den Rundflug ab und landen sie im Hof des Tempels! Die Soldaten sichern den Hof und das Erdgeschoss des Tempels! Ich stoße im Erdgeschoß zu ihnen.“

Daraufhin gab das Funkgerät etwas von sich, was sie jedoch nicht verstand.

„Sagen sie ihr, sie soll die Rampe zu Schiff bewachen! Wehe, ich sehe sie im Tempel!“, antwortete Van und steckte das Gerät weg.

„Gehen wir?“ fragte er, woraufhin Hitomi nickte.

„Befreien wir den anderen Gefangenen ebenfalls?“, erkundigte sie sich.

„Wenn wir Zeit dafür haben.“, versprach Van und schob sie durch den Türahmen in den Flur hinein.
 

Als Siri aus ihrer Ohnmacht erwachte, sah sie gerade noch, wie Hitomi zusammen mit Van den Flur hinab schritt. Ihre Erleichterung wurde gleich mit einer Welle aus Schmerz beantwortet. Mühsam stand sie auf und ging in Hitomis ehemaliges Gefängnis. Über das kaputte Bett und die herausgerissene Tür wunderte sie sich schon gar nicht mehr. Besorgt beugte sie sich über Ryu, ihren neuen Schüler. Großzügig versuchte sie dabei die Tatsache zu ignorieren, dass der Junge wahrscheinlich genauso alt war wie sie. Ein kurzer Blick in sein Gedächtnis verriet ihr, was passiert war. In Stiefeln versteckte Dolche retten einem doch immer wieder den Tag, dachte sie und auch der wiedereinsetzende Schmerz konnte Siri ihr Lächeln nicht nehmen.

Lebendig oder tot?

In ihren Gedanken verfluchte Sophia alle Männer und deren Hochnäsigkeit. Verärgert lehnte sie sich im Eingang des Schiffes an die Hülle der Katzenpranke und sah den zwei Dutzend Soldaten zu, wie sie erst den Hof mit den drei ausgebrannten Luftschiffen sicherten und dann paarweise in den Tempel vorstießen, bis nur noch zwei Wachen am Eingang zurück blieben. Flüchtig sah sie zu dem Soldaten rüber, der mit ihr die Schiffsrampe bewachte. Nur allzu deutlich sah man ihm an, wie sehr er sein Babysitterjob hasste. Es war erst eine Minute vergangen, als die Wachen am Tempeleingang plötzlich unruhig wurden und sie sich vorsichtig ins Innere vorwagten. Während sich in Sophia Sorge und Neugierde vermischten, hörte sie den scharfen Atem des Soldaten neben ihr und den hellen Klang seines Schwertes, als sein Daumen es um wenige Zentimeter aus der Scheide schob. Plötzlich wichen die Wachen am Tempeleingang zurück. Ehe Sophia sich fragen konnte, was los war, überschwemmte eine Flutwelle aus Menschen die Soldaten und begrub sie unter sich. Ein paar Angreifer beugten sich über die hilflos schreienden Soldaten, doch der Grossteil setzte sein Weg fort und stürmte auf allen Vieren der Katzenpranke entgegen. Sophias Leibwächter fluchte und rannte die Rampe hinunter. Als er sich ein letztes Mal zu ihr umdrehte, war sein Gesicht gezeichnet von der Erkenntnis, dass er jetzt sterben würde.

„Fahren sie die Rampe hoch, Prinzessin, und lassen sie das Schiff starten! Sie müssen von hier fliehen!“, rief er ihr zu. Sophia brauchte einen Augenblick um zu verarbeiten, was er ihr eben befohlen hatte.

„Nein! Van ist noch da drinnen!“, widersprach sie.

„Hören sie…“, versuchte der Soldat sie zu überzeugen, unterbrach sich aber selbst, da die animalischen Menschen nur noch zehn Meter von ihm entfernt waren. Ohne Vorwarnung landete krachend ein grauer Guymelef mit blauem Umhang vor ihm, der elegant seine riesige Klinge kreisen ließ. Überrascht blickte Sophia zum Himmel hinauf und sah noch im letzten Moment das Heck eines roten Luftschiffes über ihr vorbeirauschen, welches zwischen zwei fliegenden Felsen eingespannt war, ehe es hinter der imposanten Gestalt der menschlich anmutenden Maschine verschwand. Immer wieder kratzte die Spitze des Schwertes über den Boden und hinterließ dabei ein Meer aus Blut und Knochen inmitten eines Nebels aus Staub und Sand. Nur wenige Angreifer schafften es hinter den Guymelef zu kommen, welche dann aus der Staubwolke hervor brachen und sich schreiend auf den Soldaten stürzten. Der jedoch hielt sie sich mit präzisen, tödlichen Schlägen vom Leib. Die Flut an Gegnern wurde allmählich weniger, ebbte schließlich ganz ab und der Nebel legte sich.

Keuchend wischte sich der Soldat den Schweiß von der Stirn. Besorgt rannte Sophia auf ihn zu und fragte, ob er in Ordnung sei. Statt ihr zu antworten starrte der Soldat mit einer Mischung aus Ekel, Angst und Fassungslosigkeit auf den Tempeleingang. Sophia folgte seinem Blick und erschrak. Vor dem Tempel standen etwa zwei Dutzend der animalischen Menschen. Sie kreischten, klopften mit ihren Fäusten auf den Boden. Es waren längst nicht so viele wie in der ersten Angriffswelle und an ihren hasserfüllten Augen und den sabbernden Mäulern hatte sich Sophia längst gewöhnt, jedoch raubte der Anblick ihrer Kleidung ihr den Atem. Diese Tiere trugen Uniformen der Soldaten aus Farnelia. Das sind unsere Männer, realisierte sie. Der Ansturm begann und der Guymelef ging in Kampfposition.

„Nein, töte sie nicht!“, schrie der Soldat verzweifelt, während er Sophia zurückstieß. „Das sind meine Kameraden.“

„Jetzt nicht mehr.“, antwortete die Maschine kalt, als jedoch die ersten Gegner in die Reichweite seines Schwertes kamen, zögerte der Pilot einen Augenblick zu lang, ehe er wieder seine Klinge kreisen ließ. Drei Bestien konnten unter den Beinen der riesigen Maschine durchschlüpfen. Da der Guymelef noch nicht allzu viel Sand aufgewirbelt hatte, konnte der Soldat sie relativ früh ausmachen, doch die Mordlust in ihren Augen raubte ihn seine Kraft. Vollkommen gelähmt sah er zu, wie seine einstigen Freunde von der Maschine niedergemäht wurden und drei von ihnen quälend langsam auf ihn zu rannten. Ein Herzschlag dauerte Minuten, ein Augenblick hielt eine ganze Ewigkeit an. Seine Kameraden kamen näher, immer näher und streckten ihre Klauen nach ihm aus. Im hintersten Winkel seines Verstandes hörte er jemanden rufen, doch die Stimmer war ganz leise, kaum mehr als ein Piepsen. Es war ein…Mädchen.

Ein Mädchen rief nach ihm und befahl mit herrischer Stimme, er solle sich verteidigen.

Es war die Prinzessin, die nach ihm rief.

Er war ihr zugeteilt…er hatte die undankbare Aufgabe diese Möchtegernheldin vor ihrer eigenen Dummheit zu bewahren.

Dabei wäre er lieber bei seinen Kameraden gewesen, bei seinen Freunden im Tempel, während sie…während sie alle niedergemetzelt wurden…als jeder einzelne von ihnen starb.

Sie sind tot!

Mit aller Kraft schwang der Soldat sein Schwert und schlitzte mit einem waagerechten Hieb die Bäuche der beiden ersten Bestien auf. Die dritte jedoch sprang hinter den beiden gefallenen hervor und biss sich in den Hals seines Opfers fest. Der Soldat versuchte verzweifelt das Tier von sich zustoßen. Von der Kraft seines Gegners überwältigt fiel er nach hinten. Auf einmal erschlaffte der Körper der Bestie und ihr Gewicht löste sich von seinem Körper. Als der Soldat seine zugekniffenen Augen wieder öffnete, sah er Sophia mit einem Blut getränktem Schwert und einem vor Panik erstarrtem Gesichtsausdruck über sich stehen. Er lächelte ihr zu und versuchte etwas zu sagen, doch als ein weiteres Biest direkt hinter ihr auftauchte, verzerrte sich seine Mine zu einer Maske des Schreckens. Sie interpretierte sein Gesichtsausdruck richtig, drehte sich schlagartig um und nutze dabei den Schwung für einen Schwertstreich, der das Tier in zwei Hälften schnitt. Wild entschlossen ihr Leben und das des Soldaten zu verteidigen stellte Sophia sich vor ihm und hielt ihr Schwert in einer defensiven Position.

Sie musste warten. Der Guymelefpilot machte seine Sache gut und lies lange Zeit, etwa eine halbe Minute, kein weiteres Biest durch. Sophia senkte schon ihr Schwert, da kam eins dieser Tiere ohne Vorwarnung aus der Wolke auf sie zugeschossen. Instinktiv trat sie einen Schritt zur Seite, führte ihre Klinge dabei in einem kompromisslosen Angriff senkrecht zum Boden hin und durchschnitt das Rückenmark der Bestie. Eine Fontäne aus Blut schoss aus der Wunde und landete auf dem Gesicht und dem Oberkörper des Soldaten. Sophia wollte sich für die Schweinerei entschuldigen, doch ihre Worte blieben ihr im Hals stecken. Angewidert beobachtete sie, wie der Verletzte genüsslich den roten Lebenssaft von seinen Lippen leckte und sich daraufhin in eine gebückte Haltung aufrichtete. Sie musste mit ansehen, wie er näher an eine der Körperhälften ihres ersten Opfers trat und begann die Eingeweide zu essen. Es dauerte nur einen weiteren Augenblick, bis das Tier auf sie aufmerksam wurde und seine Mahlzeit unterbrach. Es wollte Sophia gerade anspringen, als sie den Kopf vom Körper trennte und sich ein weiterer Blutstrom über ihre Kleidung ergoss. Mit den Nerven am Ende suchte sie sich eine unbefleckte Stelle auf der Schiffsrampe und setzte sich hin. Dann vergrub sie ihr Gesicht in ihren Handflächen und vergoss Tränen.

Der Guymelefpilot kümmerte sich nicht um sie, sondern beobachtete den Eingang des Tempels. Aus dessen Schatten trat ein glatzköpfiger Mann, bekleidet mit einer zerfledderten Uniform aus Fraid und bewaffnet mit einem schweren Eisenspeer. Der Mann sah auf, zeigte für einen Moment ein kindliches Lächeln und griff an. In weinigen Sekunden legte er die fünfzig Meter vom Tempeleingang bis zum Guymelef zurück. Davon scheinbar unbeeindruckt stach die Maschine kalt berechnend in den Boden. Die Spitze der Guymelefklinge hätte den Mann bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt, wäre er nicht in letzter Sekunde langsamer geworden. Stattdessen nutzte er das Schwert des Guymelefs als Sprungbrett um bis auf die Höhe des Cockpits zu kommen und noch im Flug mit dem Stab seines Speeres auf das goldene Visier einzuschlagen. Von einer ungeheuren Wucht getroffen, stürzte der Guymelef mit dem Rücken voran auf die Rampe der Katzenpranke. Von dem Kampflärm aus ihrer Starre erweckt, sprang Sophia gerade rechtzeitig zur Seite über den Rand der Rampe hinweg. Geistesgegenwärtig landete sie auf beiden Füßen und rollte sich ab. Im nächsten Moment hörte sie ein mechanisches Klacken und kurz darauf das charakteristische Klingen aufeinander treffender Schwerter. Der Pilot ist ausgestiegen, schlussfolgerte sie und lief vor die Füße des Guymelefs.

Sophia staunte nicht schlecht. Eigentlich hatte sie einen zweiten Guymelef erwartet, doch auf dem sandigen Grund kämpften nur ein Soldat aus Fraid und ein Ritter aus Astoria miteinander. Der Glatzkopf kämpfte gut, sehr gut sogar. Er stach mit einer Geschwindigkeit zu, wie Sophia sie noch nie gesehen hatte. Dabei hatte sie schon bei sehr vielen Turnieren zugesehen. Sein Gegner konnte da nur mit Mühe Schritt halten. Auch seine Kraft war überwältigend. Der Soldat schwang seinen Speer teilweise nur mit einer Hand und der Ritter wich den Attacken seines Gegners meistens nur aus, anstatt sie mit seinem Schwert zu parieren. Irgendwie schaffte er es trotzdem seine Eleganz zu bewahren.

Sophia erschrak. Sie kannte den Ritter. Sein sanftes Gesicht und sein langes, blondes Haar hatten bis vor ein paar Wochen noch die Essenz ihrer Träume gestellt, bis Van in ihr Leben getreten war.

Allen Shezar, der beste Kämpfer auf ganz Gaia. Die Tatsache, dass er gerade um sein Leben rang, machte seinen Gegner noch bedrohlicher. Zu allem entschlossen zog Sophia ihr blutendes Schwert und wollte sich gerade in Kampf einschalten, als Allens Stimme sie zurückhielt.

„Nein, lauf in den Tempel und hol Van!“, rief er ihr zu, wobei Sophia eine Spur Verzweiflung in seiner Stimme wahrnahm. Bestätigend nickte sie ihm zu und lief in einem weiten Bogen um Kampfschauplatz herum auf den Tempel zu. Hinter ihr versuchte der glatzköpfige Mann sie mal kurz zu erstechen, doch Allen unterband seinen Angriff mit einem Konter.

„Ich bin dein Gegner!“, bekräftigte er.

Ohne sich umzudrehen rannte Sophia in den Tempel und kam in der Eingangshalle zum Stehen. Erst jetzt dämmerte ihr, dass sie sich im Tempel gar nicht auskannte. Wie sollte sie Van da finden? Glücklicherweise kam er gerade mit einem Jungen die Treppe hinunter gestürmt.

Sophia runzelte die Stirn. Waren sie nicht eigentlich hier, um ein Mädchen zu retten? Erst als die beiden näher kamen, musste Sophia enttäuscht feststellen, dass die Entfernung, die weite Fellkleidung und die ungewöhnlich kurzen Haare von Vans Begleiterin sie getäuscht hatten. Auch konnte bei näherer Betrachtung nicht von einem Mädchen, sondern nur von einer Frau die Rede sein. Van kam auf Sophia zu und trieb ihr mit seinem zerknautschten Gesichtsausdruck, mit dem er sie begrüßte, einen weiteren Pfahl durchs Herz.

„Was machst du hier? Ich hatte doch befohlen, man sollte dich vom Tempelinneren fernhalten. Hier ist es zu gefährlich.“

„Von den Soldaten lebt niemand mehr und die Angreifer sind auch fast alle tot. Nur Allen Shezar und ich sind noch übrig. Er kämpft gerade mit einem Soldaten aus Fraid. Es sieht nicht besonders gut für ihn aus.“, berichtete Sophia pflichtbewusst und musterte die Frau ein weiters Mal. „Hey, sie ist verletzt.“, merkte sie dann an und zeigte auf den provisorischen Verband aus Fell an Hitomis linken Arm.

„Schön, dass es wenigsten einem auffällt.“, ätzte Hitomi.

„Ich habe kein Verbandszeug mit und du hast dich doch schon selbst darum gekümmert. Ich muss ich dich wohl kaum darauf aufmerksam machen, dass du blutest.“, verteidigte sich Van mürrisch.

„Du hast Glück, dass ich auch deine guten Seiten kenne, Van, sonst würde ich dich mit einer Lichtsäule ins All schießen.“, erwiderte sie wütend. Anstatt zu antworten, wandte er sich ab.

„Ich geh und helfe Allen. Ihr beide sucht nach Merle!“, wies er die Mädchen mit mühsam herrischer Stimme an und rannte daraufhin auf den Hof. Hitomi und Sophia sahen ihm mit gelassener Mine nach.

„Ist der zu dir immer so?“, fragte Sophia.

„Nur wenn er auf ein fremdes Mädchen trifft.“, antwortete Hitomi.

Erwachen

Vorsichtig schlich Sophia bis an das Ende der Treppe, welche zu den unteren Ebenen des Tempels der Fortuna führten. Ebenso bedächtig schielte sie um die rechte Ecke der T-Kreuzung, konnte außer der Dunkelheit jedoch nichts erkennen. Darauf hoffend, dass der Gang leer war, preschte sie los und presste sich dann an die gegenüberliegende Wand. Mit der rechten Hand hielt sie schützend ihr Schwert vor sich, während sie mit der linken Hitomi zu sich ranwinkte. Ohne ein Zeichen von Besorgnis betrat Hitomi die Kreuzung und blieb in ihrer Mitte stehen.

„Ich unterbreche deine Übungsstunde ja nur ungern…“, wies Hitomi Sophia freundlich zu Recht. „…aber Van und Allen kämpfen da oben gerade um ihr und unser Leben. Jede Sekunde, die wir vergeuden, könnte eine Sekunde zuviel sein.“

„Vielleicht möchtet ihr in einen Hinterhalt laufen, Fräulein, ich nicht!“, widersprach Sophia verärgert.

„Hier unten ist niemand außer Merle und einem Gefangen, der sich schon seit Jahren nicht bewegt hat. Es wird keinen Hinterhalt geben.“

„Und woher wisst ihr das so genau?“

„Ich weiß es einfach.“, erwiderte Hitomi leicht genervt. „Wir haben keine Zeit für umständliche Erklärungen.“

Mit diesen Worten sprintete sie los und ließ eine ungläubig glotzende Sophia zurück, die ihr wenige Augenblicke später zu folgen versuchte. Einige Sekunden später weiteten sich Hitomis Augen und sie bremste völlig unvermittelt ab, jedoch rutschten ihre Füße auf den staubigen Boden noch ein paar Meter weit. Wenig später war Sophia an ihrer Seite. Ihre Augen wurden eben so groß wie die Gefährtin, als sie in der von Hitomi aufgewirbelten Wolke mehrere rote Linien erkennen konnte, die waagerecht übereinander lagen.

„Diese Linien…“, stotterte Sophia.

„Das sind Laser. Lichtstrahlen, die man nur sehen kann, wenn sie auf einen Gegenstand treffen.“, erklärte Hitomi.

„Wozu soll das gut sein?“, erkundigte sich Sophia.

„Werden diese Lichtschranken unterbrochen, wird immer etwas ausgelöst.“, antwortete Hitomi, während sie Sophia drängte zurückzutreten. „Meist handelt es sich dabei um Stillen Alarm oder ein Fallgitter, aber in diesem Fall…“, führte sie weiter aus, nahm einen Stein in die Hand und warf auf ihn die Lichtschranken. Plötzlich gab es ein lautes Donnern und Stichflammen zuckten aus beiden Wänden. „…sind es Schusswaffen.“

„Sind diese Waffen gefährlich? Die Flammen können uns doch kaum schaden, so kurz wie sie waren.“, gab Sophia zu bedenken.

„Was? Sag bloß, auf Gaia kennt man diese Waffen nicht.“, wunderte sich Hitomi.

„Nein, ich zumindest weiß nichts davon.“, Sophia.

„Und Laserstrahlen?“

„Ich höre jetzt das erste Mal davon.“

„Aber woher…“, flüsterte Hitomi, jedoch unterbrach eine Welle der Verzweiflung ihre Gedanken. Sophia zugewandt sagte sie: „Du musst alleine weitergehen!“

„Was? Ich bin doch nicht lebensmüde!“, beschwerte sich Sophia.

„Ich kann dich schützen, aber du musst mir vertrauen!“

„Wieso gehen wir dann nicht zusammen?“

„Keine Zeit für Erklärungen. Van und Allen halten nicht mehr lange durch und Merle befindet sich nur zehn Meter von uns entfernt in der Richtung dieses Ganges. Hol sie!“, befahl Hitomi und schubste Sophia auf die Falle zu. Innerhalb eines Augenblickes wurde ihr Körper schlaff und ihre Augen leer. Ungebremst fiel sie zu Boden. Sophia wurde von dem Stoß vollkommen überrascht und stolperte unaufhaltsam auf die Falle zu. In Zeitlupe sah sie die Stichflammen neben sich aus den Wänden schießen und wie aus dem Nichts erschienen leuchtend gelbe, kreisrunde Wellen, welche sich auf einer unsichtbaren Kugel um Sophia herum ausbreiteten. Fasziniert beobachtete sie, wie das Leuchten verblasste und sich schließlich ganz auflöste. Dann durchfuhr sie ein Schrecken, als sie Hitomi auf den schwarzen Steinen liegen sah.

„Mir geht es gut!“, schoss Hitomis Stimme durch ihren Kopf und verwirrte sie damit noch mehr. Als Hitomi sie jedoch sanft aufforderte zu gehen und sie an Van erinnerte, ließ Sophia alle Bedenken hinter sich und stürmte den Gang hinunter. Vier Mal zuckten die Flammen noch aus den Wänden und erleuchteten für jeweils einen Moment ihren Weg, doch sie beachtete diese nicht. Nach wenigen Sekunden prallte sie hart gegen eine Wand und konnte sich gerade noch so auf den Beinen halten, während die vor ihr ausgebrochenen Lichtkreise immer größer wurden und erneut verschwanden. Überrascht stellte sie fest, dass sie keinerlei Schmerz gespürt hatte. Eigentlich verstand sie die Welt nicht mehr und hätte liebend gern eine Pause eingelegt, um zu begreifen, was hier vor sich ging, doch ein unterschwelliges Gefühl im Bauch drängte sie zur Eile.

Hastig tastete sie die Wand vor sich ab und glaubte schließlich einen Türknauf in ihrer Hand zu halten. Mit aller Kraft drückte sie dagegen und tatsächlich gab die scheinbare Wand nach. Sophia traute ihren Augen nicht. Das Zimmer vor ihr war von einem schwachen hellblauen Leuchten erfüllt, welches von einem drei Meter hohen und ein Meter dicken Tank ausging, der das Zentrum des Raumes bildete. Auf Hüfthöhe war der Tank von grauen, quadratischen Kästen umgeben, in denen jeweils eine glatte schwarze Oberfläche eingebettet war. Was Sophia jedoch den Atem raubte, war der junge Mann, der nur mit einer Kette mit rosafarbenen Anhänger bekleidet im durchsichtigen Tank schwebte. Zwei dicke Schläuche führten von den Schulterblättern des Ohnmächtigen zum Tankdeckel. Der von oben und unten beleuchtete Tank verbarg kein Detail seines Körpers.

Ausführlich betrachtete Sophia die glatten Züge seines Gesichtes, ihr Blick glitt an seinen langen, schneeweißen Haaren herunter über seinem muskulösen Oberkörper bis sich ihre Augen wieder auf sein Geschlecht fixierten.

Ihr Herz schlug wie wild, immer schneller und schneller, während sie die ihr unbekannten Regionen der männlichen Anatomie erfasste. Plötzlich jedoch erwiderte ein Impuls, der durch ihren ganzen Körper schoss, das Pochen ihres Herzens und ließ sie aufsehen. Sophia starrte direkt in die Augen des Gefangenen, als dieser sie öffnete und ihren Blick erwiderte. Seine Lippen verzogen sich zu einem überheblichen Lächeln, woraufhin sein Körper zu glühen begann und von einem gleißenden Licht überzogen wurde. Ehe Sophias Mine ihre Enttäuschung ausdrücken konnte, quiekte sie überrascht, während eine unsichtbare Kraft sie von ihren Füßen hob und sie ihr Gleichgewicht verlor. Verwirrung und Panik brach in ihr aus, da ihr Tastsinn sagte, dass sie in eine Mulde hockte, ihre Augen sie aber etwa einen Meter über den Boden schweben sahen. Schließlich vollendete der leuchtende Mann ihren Schrecken, als er die beiden Schläuche von seinem Rücken losriss und zwei ausgestreckte, blendend helle Flügel den Tank sprengten. Glassplitter zischten durch den ganzen Raum. Ein paar prallten, begleitet von kleinen, violetten Kreisen, von Sophias Schild ab. Der flüssige Inhalt des Tanks verbreitete sich im ganzen Raum. Sophia sah gerade noch, wie die grauen Kästen implodierten und der Steinboden tiefe Risse bekam, ehe ein weißer Nebel den Boden bedeckte und langsam höher stieg.

Übertrieben selbstsicher stieg die gleißende Gestalt von ihrem Podest und ging ohne Sophia einen Blick zu würdigen, an ihr vorbei. Die Kugel, in der sie hockte, folgte ihm. Sie war gerade dabei die massive Tür zu passieren, als eine andere vor ihren Augen an sie vorbei quer durch den Gang flog, an die Wand krachte und scheppernd zu Boden fiel. Ungeachtet dessen schwebte sie weiter. Während sie sich über der von Geisterhand herausgerissenen Tür befand gesellte sich ein weiteres schwereloses Mädchen zu ihr. Ein Katzenmädchen, im völlig verwahrlosten Zustand und mit abgetrennten Ketten gefesselt. Sophia hielt sie einen Moment lang für Tod, doch war ein leises Wimmern von dem sonderbaren Geschöpf zu vernehmen.

Der Mann war nun kurz vor der Falle und Sophia wollte ihn schon warnen, doch erneut überraschte er sie. Blitzschnell streckte er beide Hände zu den Seitenwänden des Ganges aus, die daraufhin erbebten. Kleine Steine bröckelten von der Decke herunter und Risse durchzogen sämtliche Seiten des Ganges. Nachdem das Zittern nach einiger Zeit aufgehört hatte, wartete der Mann noch einen Augenblick und setzte dann seinen Weg fort. Die Flammen blieben aus. Schließlich schloss sich Hitomis Kugel der Gruppe an. Hitomi, die inzwischen wieder bei Bewusstsein war, starrte besorgt auf das Katzenmädchen. Ihr Blick verriet Sophie, dass ihre Gefährtin es offenbar kaum abwarten konnte, sich um das Katzenmädchen kümmern zu können. Mit den drei Kugeln im Schlepptau stieg die leuchtende Gestalt die Treppe rauf und ließ somit den Nebel hinter sich.

Als alle wohlbehalten das Erdgeschoß erreichten, sanken die Kugeln sacht zu Boden und lösten sich auf. Hitomi stürzte sofort auf Merle zu, packte sie und flüsterte ihr immer wieder ihren Namen ins Ohr. Der Mann indes kam geradewegs auf Sophia zu.

„Darf ich?“, fragte er kurz gebunden und zog Sophias Schwert aus der Scheide, während sie noch immer von dem göttlichen Klang seiner Stimme gefangen war.

„Bitte hilf Van!“, flehte Hitomi die gleißende Gestalt an.

„Wir werden sehen.“, antwortete der junge Mann kalt und lief dann zum Hof, wobei er eine Leuchtspur hinter sich herzog. Hitomi wandte sich wieder Merle zu, sprach sie mit ihren Namen an und drückte das leblose Mädchen fest an sich. Jetzt, wo Merle auf ihren Schoß lag, spürte Hitomi ihren Schmerz umso deutlicher. Schmerzhaft verkrampften sich ihre Gedärme, doch kam es für sie nicht in Frage das Bündel aus Leid von sich weg zu stoßen. Stattdessen umarmte sie das Mädchen nun auch mit ihrer Aura und versuchte mit all der Zuneigung, die sie für Merle in den letzten Wochen entwickelt hatte, durch den Schleier zustoßen.

Der Schleier…

Hitomi ging ein Licht auf. Erst begriff sie, dass Merles Aura zwar total offen war, jemand anders aber den Schleier über sie geworfen hatte und somit verhinderte, dass Merles Sinne etwas erfassen konnten. Doch die Absperrung wurde schwächer. Anscheinend konnte sich Merles Peiniger nicht mehr ordentlich konzentrieren. Wenn sie Merle jetzt einem ausreichend starken Reiz aussetzten könnte, müsste sich der Nebel um ihre Sinne lichten. Trotz dem Ernst der Lage begann Hitomi schelmisch zu grinsen. Während sie mit einem Arm Merles Nacken stützte holte sie mit der anderen Hand aus…

…und verpasste Merle eine kräftige Ohrfeige. Kurz darauf folgte eine zweite, doch nach der dritten kassierte Hitomi selbst eine. Langsam öffneten sich Merles Augen. Obwohl sie froh darüber, dass Merle zu sich gekommen war, vermisste Hitomi das Feuer in ihrem Blick.

„Wie kannst du es nur wagen mich zu retten?“, klagte Merle Hitomi mit schwacher Stimme an. „Wenn ich schon gerettet werden muss, hat nur Van das Recht dazu, klar?“

„Der ist gerade damit beschäftigt, Allen zu retten.“, erwiderte Hitomi lächelnd.

„Was? Der bekommt meine Krallen zu spüren! Hier und jetzt!“, verkündete Merle und versuchte sich aufzurichten, scheiterte aber.

„Du bist noch zu schwach. Lass mich dich tragen.“, bat Hitomi eindringlich.

„Danke…dass du…bei mir bist.“, flüsterte Merle, woraufhin sich Augen schlossen.

„Nein, Merle, nicht einschlafen! Bleib bei mir!“, flehte Hitomi und versuchte sie wachzurütteln. Mühsam öffnete Merle wieder ihre Augen und lächelte ihre Gefährtin schwach an. Diese begriff, dass sie keine Zeit mehr verlieren durfte.

„Hey, wach auf!“, forderte sie ihre Begleiterin auf, die noch immer verträumte auf den Tempelausgang starrte. „Wir müssen Merle zur Katzenpranke bringen, sonst stirbt sie.“

Noch etwas neben sich, wandte sich Sophia Hitomi zu.

„Natürlich, ich komme!“

Tödliche Überraschung

„Ich bin dein Gegner!“, bekräftigte Allen.

Mit einen schnellen Konter hatte er noch vor einen Moment verhindert, dass sein glatzköpfiger Kontrahent das Mädchen mit seinem eisernen Speer aufspießen konnte, und ihr somit die Flucht ermöglicht. Jetzt brauchte er seine ganze Kraft um den Wahnsinn in den Augen seines Gegners mit einer gelassenen Mine zu erwidern.

„Ich werde mich an deinem Blut laben!“, drohte dieser Allen und schmetterte mit einem markerschütternden Brüllen die Spitze seines Speeres auf dessen Kopf. Der jedoch trat einen Schritt beiseite, so dass sich das scharfe Ende des Speeres in die Erde vergrub. Noch während der Ring aus aufgewirbeltem Sand expandierte und die Unterkörper der Kontrahenten einhüllte, stürmte Allen vorwärts und schlug mit seinem Schwert diagonal auf seinen Gegner ein, um dessen Körper von Nacken bis zu den gegenüberliegenden Rippen zu spalten. Doch die übermenschliche Kraft des Soldaten gestattete es seiner linken Hand, die allein den Speer am stumpfen Ende hielt, ihn hochzureißen. Allens Angriff prallte harmlos an der Eisenstange ab, wobei die Wucht seines eigenen Angriffes auf ihn zurückgefedert wäre, hätte sich nicht die rechte Faust des feindlichen Soldaten mit dem Handrücken voran in seinen Magen gebohrt.

Seine gespannte Bauchmuskeldecke heulte protestierend auf, während Allen selbst fünf Meter weit durch die Luft geschleuderte wurde und zwei weitere rollend zurücklegte. Es dauerte einige Augenblicke, ehe sein Blut wieder den Weg in sein Gehirn fand. Der anhaltende Protest der geschädigten Muskeln bahnte sich langsam einen Zugang in sein Bewusstsein, während die Rufe der zahlreichen Schürfwunden in seinem Adrenalinspiegel ganz untergingen. Als sich die Finsternis vor seinen Augen schließlich lichtete, sah er mit Ekel und Schrecken, wie der Soldat sich über ihn beugte und genüsslich seine hervorstehenden Eckzähne leckte. Instinktiv packte Allen die zerfetzte Uniform des Soldaten, stemmte beide Füße in dessen Unterleib und schleuderte ihn mit der Kraft der Verzweiflung über sich hinweg. Heilfroh, geradeso mit heiler Haut davongekommen zu sein, sah er sich nach seinem Schwert um. Es lag ein paar Meter von ihm entfernt, am Anfang der Spur, die seine unsanfte Landung verursacht hatte. Innerlich geschockt darüber, dass er seine Waffe losgelassen hatte, robbte er dem Schwert entgegen, griff danach und richtete sich dann mühselig auf.

Als Allen seinen Gegner wieder im Blickfeld hatte, stellte er beschämt fest, dass dieser ihn beobachtete und sich dabei prächtig amüsierte. Sein Gegner stieß noch ein letztes brüllendes Gelächter aus, ehe er sich wieder auf ihn stürzte und seinen mächtigen Speer wie ein Schwert schwang. Noch während des ersten Ausweichmanövers fiel Allen auf, wie langsam der Speer auf einmal war, doch wie viel Kraft in den neuartigen Angriffen steckte, wollte er lieber nicht wissen. Geradezu provokant vernachlässigte der stämmige Soldat seine Verteidigung, doch Allen wusste, dass sein Gegner ihm nur immer wieder eine Falle stellte, wie er es nach der Flucht des Mädchens schon einmal getan hatte. In der Hoffnung dieses Spiel aufrechterhalten zu können, griff Allen nicht an, sondern beschränkte sich darauf, sich unter den kreisenden Speer zu ducken oder über ihn hinweg zu springen.

Er folgte diesem Trott schon einige Minuten lang, als der Soldat plötzlich den Schwung seines Speeres abwürgte und blitzschnell mit der Spitze nach Allens Brust stach. Jedoch hatte Allen es nicht zugelassen, dass die bisherige Monotonie seines Gegners seine Konzentration trüben konnte, und wich knapp mit einer Hüftdrehung aus. Dennoch musste seine teure Uniform dran glauben. Ohne ein Zeichen von Widerstand durchbohrte die Speerspitze den blauen Stoff, der Allen somit an der Waffe seines Gegners fesselte. Der grinste über beide Ohren, schwang den Speer zusammen mit dem hilflosen Allen mit aller Kraft einmal um sich herum und stoppte wieder abrupt, woraufhin Allen, getragen der Fliehkraft, im hohen Boden davonflog.

Da er durch die Drehbewegung benommen war, dauerte es seine Zeit, bis sich Allen über die lange Flugdauer wunderte. Als er seine zugekniffenen Augen öffnete, blickte er in Vans schief lächelndes Gesicht. Plötzlich spürte er auch die zwei Arme, die ihn sicher trugen.

Allen tat, was ihm als erstes in den Sinn kam, und platzierte seine Faust zielsicher in Vans Gesicht, woraufhin dieser ihn losließ. So schlug Allen schließlich doch noch recht unangenehm auf den Sandboden auf. Verärgert rappelte er sich auf, wobei der sich vor Lachen kugelnde Soldat seine Stimmung in den Keller stieß.

„Mensch, Allen, selbst Hitomi war dankbarer über ihre Rettung!“, beschwerte sich Van lauthals, während er sich seinen Kiefer rieb.

„Wenn du sie auf die gleiche Art und Weise gerettet hast wie mich, ist das ja wohl selbstverständlich.“ Allen wollte gerade sein Schwert auf eventuelle Schäden überprüfen, als er merkte, dass seine rechte Hand schon wieder leer war.

„Wo ist mein Schwert?“, brüllte er Van an.

„Spricht man so mit einem König?“, fragte dieser mürrisch.

„Ich trete dir gleich in deinen königlichen Arsch, wenn du mir mein Schwert nicht zurückgibst!“, drohte Allen.

„So habe ich dich ja noch nie reden gehört!“, prustete Van.

„Wo?!“, schrie Allen völlig außer sich.

„Es liegt neben dir im Sand, oh bester Schwertkämpfer von Gaia. Du hast es wie ein Frischling im Flug losgelassen. Es hätte mich beinahe erschlagen!“, antwortete Van vorwurfsvoll. Mit den Nerven am Ende hob Allen es auf und unterzog es einer kurzen Kontrolle, die er auch benutzte um sich zu beruhigen. Gerade rechtzeitig, denn ein kurzer Blick auf den nun gemeinsamen Gegner von ihm und Van verriet, dass dieser sich wieder gefangen hatte.

„Abwechselnd!“, schlug Allen vor.

„Wollte ich auch gerade sagen.“, bekräftigte Van und zog sein Schwert. Gemeinsam stürmten sie auf den Feind zu, wobei sich Allen etwas zurückfallen ließ. Dementsprechend stach der glatzköpfige Soldat zuerst auf Van ein, der jedoch rutschte unter der Attacke hindurch und ging hinter dem stämmigen Kontrahenten in Kampfstellung. Allen sah durch den gegnerischen Angriff auf Van eine Lücke und war entschlossenen sie dieses Mal zu nutzen, doch der Soldat lies Allens Klinge wirkungslos an seinem Speer abprallen und setzte sogleich zum Gegenschlag an, während Allen noch zurücktorkelte. Van unterbannt dieses Vorhaben durch eine Attacke seinerseits, woraufhin er jedoch in Bedrängnis geriet, aus der ihn wiederum Allen befreite, indem er die Aufmerksamkeit des Feindes auf sich zog. Im nächsten Moment erwiderte Van Allen diesen Gefallen. So ging es weiter, ein ständiges hin und her. Während einer sich verteidigte, griff der andere an, doch ihr Gegner schien gut damit zurechtzukommen.

Während er mit einem Konter ein weiteres Mal Allens Haut rettete, geriet Van fast in Panik, da ihm klar wurde, dass Allen und er selbst zu zweit gegen diesen Gegner keine Chance hatten. Momentan warteten beide Seiten darauf, dass die gegnerische einen Fehler machen würde. Doch der Soldat machte keine Fehler, war technisch perfekt und obendrein noch schneller und stärker als es ein Mensch je sein könnte. Zu allem Überfluss schien ihn der Kampf überhaupt nicht zu ermüden, während bei Allen und Van die Grenze immer näher rückte. Besonders Allen schien zusehends schwächer zu werden, wie Van wenig überrascht feststellte. Der Ritter aus Astoria brauchte immer mehr Zeit, um sich nach einer Attacke zu fangen. Zeit, in der Van irgendwie allein klarkommen musste. Der Tempel schien auch immer näher zu kommen, was Van zusätzlich Sorgen beriete. Ein Zuschauer würde wahrscheinlich denken, dass die beiden ihren Feind in die Enge trieben, der Tempelwand entgegen, doch Van und auch Allen begriffen sofort, dass ihr Feind sie dort haben wollte.

Wohl oder übel mussten sie ihm folgen, denn sie durften den Vorteil, von zwei entgegen gesetzten Seiten gleichzeitig angreifen zu können, nicht aufgeben. Also übte Van mehr Druck aus in der Hoffnung den Kampf entscheiden zu können, ehe der Feind seine Überraschung auspacken konnte, doch dem stämmigen Soldaten schien das wenig zu beeindrucken. Schließlich berührte dessen Rücken die Außenwand des Tempels. Selbstsicher grinste er Van und Allen an, während diese nach Sauerstoff rangen. Ihr einziger Vorteil hatte sich gerade in Luft aufgelöst.

„Und jetzt?“, fragte Van.

„Werdet ihr sterben!“, antwortete der Soldat an Allens Stelle. Plötzlich bekam Van das ungute Gefühl, als würde Dunkelheit über ihn hereinbrechen.

„Zurück!“, befahl er und machte einen Satz rückwärts. Allen tat es ihm nach ohne zu überlegen und riss vor Überraschung beide Augen auf. Dort, wo er eben noch gestanden hatte, befand sich ein Krater, in dessen Zentrum ein Junge mit seltsamer Kleidung kniete, dessen Schwert tief in den Boden steckte. Der Überraschung folgte ein Schock, als er Siri erkannte, wie sie vor Van stand und ihn mit ihrer Klinge bedrohte. Allen hatte in den letzten Tagen viel Zeit verwendet um sich eine angemessene Reaktion für gerade diesen Augenblick zu überlegen. Als seine Wünsche, sie wieder zu Vernunft zu bringen, all seine Worte, die er ihr sagen wollte, und seine ganze Entschlossenheit, sie mit allen Mitteln zu erlösen, falls alle Worte versagt hätten. All das brach in diesem Augenblick wie ein Kartenhaus über ihn zusammen.

„Siri, was…“

„Pass auf!“, warnte Van.

Plötzlich sah Allen den Jungen samt Schwert blitzschnell auf ihn zukommen. Ein Schritt zu Seite, ein Ellbogenschlag in das Genick des Knaben und der Junge ging bewusstlos zu Boden. Als sich Allen wieder Siri zuwandte, war diese in einem Duell mit Van verstrickt, der sichtlich Mühe hatte, ihren schnellen und kraftvollen Schwertstreichen standzuhalten. Allen wollte ihm gerade helfen, als eine große Hand ihn beim Kragen packte und zurückriss. Mehrere Meter torkelte er zurück, ehe sein geschwächter Körper den Schwung unter Kontrolle bekam.

„Wir sind noch nicht fertig miteinander!“, teilte der stämmige Mann Allen mit und baute sich drohend vor ihm auf. „Erst muss ich noch dein Blut kosten.“

„Ihr träumt!“, erwiderte er scheinbar von sich selbst überzeugt.

„Oh ja.“, antwortete der Soldat und stach nach Allens Bauch. Der machte wieder einen Schritt zur Seite und stürmte auf seinen Gegner zu. Dieser jedoch lies Allen ins Leere laufen, stieß mit dem Speer gegen seinen kraftlosen Beine, woraufhin Allen auf die Knie sank. Ehe er reagieren konnte, ruhte das kalte Metall der Speerspitze an seiner Halsschlagader.

„Jetzt stirbst du!“, drohte der Soldat. Allen wollte sich gerade mit seiner Niederlage abfinden als eine gleißend helle Lichtgestalt aus dem Tempel heraus direkt auf ihn zugeschossen kam. Plötzlich war er von oben bis unten mit Blut bespritzt und der haarlose Kopf des stämmigen Mannes rollte neben ihm auf dem Boden. Siri sah die Lichtgestalt gerade noch rechtzeitig kommen und schleuderte mit einem Tritt Van dem neuen Feind entgegen. Die Zeit, in der sich die beiden behinderten, nutzte sie um sich den bewusstlosen Körper Ryus über die Schulter zu werfen. Dann flüchtete sie in die Richtung, aus der die Lichtgestalt gekommen war. Diese wiederum stieß Van von sich und nahm die Verfolgung auf. Nach zehn Metern jedoch schien sie gegen eine unsichtbare Wand zu stoßen und wurde daraufhin von einem gelben Leuchten auf einer kugelförmigen Oberfläche umhüllt. Die Gestalt versuchte einen Schritt rückwärts, wurde jedoch wieder von dem Licht aufgehalten. Siri hingegen rannte in Rekord Zeit die Geröllwand hinauf und verschwand schließlich hinter ihr. In schier unbändiger Wut schlug die Gestalt gegen ihr Gefängnis. Erst nach ein paar Minuten löste sich die Kugel auf und wenig später kamen Hitomi und Sophia, welche beide die bewusstlose Merle stützten, aus dem Tempel.

„Dummes Weib! Warum hast du mich zurückgehalten?“, schrie die Gestalt Hitomi mit der Stimme eines jungen Mannes an.

„Niemals werde ich es zulassen, dass jemand meinen Bruder tötet.“, erwiderte diese mit eiskalter Entschlossenheit.

„Merle!“, schrie Van und würgte damit eine eventuelle Antwort der Lichtgestalt ab. So schnell er konnte, rannte er auf das Mädchentrio zu. Besorgt registrierte er Merles blasse Haut, die Ketten an ihren Handgelenken und die zerrissene Kleidung. Van wollte sie gerade an sich nehmen, als Hitomi ihn bestimmt zurückhielt.

„Du kümmerst dich um Allen! Er braucht ebenfalls Hilfe.“, wies sie ihn an und zeigte auf Allens zusammen gesagten Körper. „Wenn du ihn auf die Krankenstation gebracht hast, kannst du der Glühbirne etwas zum Anziehen geben.“

„Aber…“, stotterte Van, doch statt ihm zuzuhören, machte sich Hitomi zusammen mit Sophia und der bewusstlosen Merle auf dem Weg zur der ein paarhundert Meter entfernten Katzenpranke.

Vereinte Seelen

Zusammen trugen Hitomi und Sophia die bewusstlose Merle auf die Krankenstation der Katzenpranke. Siris Mutter, welche die Aufsicht über die zwei Pfleger und die fünf Betten der Station hatte, veranlasste sofort, dass Merle auf eine der schneeweißen Matratzen gelegt wurde und wollte dann ihre Retter aus der Station jagen, entschied sich jedoch nach einem Blick auf Hitomis linken Arm anders. Nur Sophia musste gehen, nachdem sie versichert hatte, dass ihr nichts fehlte.

Im Vorzimmer hielt Sophia schließlich inne und überlegte, was sie jetzt tun könne. Eigentlich, so dachte sie sich, wäre es jetzt angemessen hier zu warten bis es Neuigkeiten über die Verletzten gibt oder einer von ihnen die Station verlässt, doch genau darauf hatte Sophia keine Lust. Stattdessen beschloss sie, Van über die Geschehnisse im Tempel zu informieren. Vielleicht konnte er ihr erklären, was genau im Gang vorgefallen war. Die Stichflammen, die beschützende Kugel aus Licht, Hitomis Stimme in ihren Kopf, der große Zylinder und der geflügelte Junge, der darin gefangen war. Sophia hatte eine menge Fragen. Sofern Van sich an Hitomis Anweisung, die Lichtgestalt einzukleiden, hielt, sollte der Junge aus dem Tank bei ihm sein, was für Sophia einen zusätzlichen Bonus darstellte.

Eilig hastete sie durch die prunkvollen Gänge der Katzenpranke. Als sie schließlich die Tür von Koje vor Augen hatte, wollte sie, in der Hoffnung den Jungen noch einmal nackt sehen zu können, sofort reinstürmen, doch sie riss sich zusammen, zupfte ihren schwarzen Kampfanzug zurecht und strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, die für ihren Zopf zu kurz waren. Erst dann klopfte sie leise an und nahm gleichzeitig die aufrechte Haltung an, welche ihr während der Ausbildung zur Prinzessin eingetrichtert worden war.

Keine Reaktion.

Sophia klopfte noch mal, dieses Mal lauter, doch in Vans Unterkunft blieb es weiterhin still.

„Suchst du jemanden bestimmtes?“, flüsterte ihr jemand von hinten ins Ohr. Ein mächtiger Schrecken fuhr durch ihre Glieder und ließ sie mit dem Rücken voran gegen die Eingangstür krachen.

„Wie kannst du es wagen, dich von hinten anzuschleichen?“, klagte sie Van an, der sie schelmisch angrinste.

„Irgendwie muss ich dir doch beibringen aufmerksamer zu werden. Wir wollen doch nicht, dass ich dir ewig den Rücken freihalten muss.“, rechtfertigte er sich.

„Du willst das nicht. Ich hätte nichts dagegen.“, konterte Sophia, während sie lächelnd seinen Oberkörper begutachtete, der nur von einer feinen Staubschicht bedeckt war. Van lag schon eine schnippische Antwort auf der Zunge, doch er entschied sich lieber das Thema zu wechseln. Sanft drängte er sich an Sophia vorbei, schloss die Tür auf und ging in sein Zimmer.

„Komm rein!“, fordere er sie formlos auf, woraufhin Sophia ihre Körperhaltung entspannte und ebenfalls herein trat. Van schloss hinter sich die Tür und ging zum Tisch, auf den eine Schüssel mit Wasser stand. Gründlich wusch er seine Hände und Unterarme, ehe einen Schrank öffnete und frische Kleidung herausholte. Schweigend beobachtete Sophia ihn dabei, bis ihr die Ruhe zu schwer wurde.

„Solltest du dich nicht erst einmal richtig waschen, bevor du dich neu einkleidest?“, fragte sie.

„Keine Sorge, das werde ich. Im Moment jedoch besetzt dieser Fremde das Bad für die gehobenen Gäste. Der hat gestunken, als hätte seit Jahrhunderten kein Tropfen Wasser mehr seine Haut berührt.“

Van unterbrach seine Tätigkeit, beäugte Sophia und ließ sie mit seinem Blick wissen, dass auch ihre Kleidung und ihr Gesicht verdreckt waren.

„Wenn er fertig ist, kannst du gehen.“

„Wenn ich es mir recht überlege, überlasse ich dir den Vortritt.“, erwiderte Sophia hinterhältig. „Dann kann ich dich im Bad überraschen. Zusammen macht Baden sicherlich mehr Spaß.“

Wieder ließ sich Van nicht auf ihren Köder ein. Stattdessen schlug er vor: „Du kannst auch die Waschräume der Besatzung benutzen, falls du nicht warten willst.“

„Gerne, aber nur wenn du mitkommst.“, verlangte Sophia.

„Du bist unglaublich. Hitomi befindet sich auf demselben Schiff wie wir und du versuchst noch immer mich zu verführen.“, seufzte er.

„Nun, du selbst hast gesagt, dass eine Heirat undenkbar ist.“, konterte Sophia und bemerkte erst im nächsten Augenblick ihren Fehler. Van stütze sich am Kleiderschrank ab. Eine tonnenschwere Last schien plötzlich auf seinen Schultern zu ruhen.

„Entschuldige, das habe ich nicht so gemeint.“, beteuerte sie.

„Doch, hast du.“, meinte Van und suchte daraufhin weiter im Schrank nach passender Kleidung. „Und leider hast du recht.“

Außer sich vor Wut riss Van ganze Gewänder aus ihren Halterungen und schleudert sie hinter sich auf den Boden. Besorgt ging Sophia auf ihn zu. Vorsichtig schmiegte sie sich an seinen Rücken und übte mit ihren Händen sanften Druck auf seine Schultern aus.

„Warum gehst du nicht zu ihr? Ich wette, Hitomi wartet in der Krankenstation auf dich.“

Van hielt inne und stieß einen großen Seufzer aus.

„Du hast doch gesehen, wie sie mit mir umgesprungen ist. Sie hat mir noch immer nicht verziehen.“, begründete er sein Zögern.

„Ich hatte eher den Eindruck, dass sie sauer war, weil du ihr nicht die nötige Aufmerksamkeit hast zukommen lassen.“, widersprach Sophia. „Und du bist gerade dabei, deinen Fehler fortzuführen.“

Verwundert drehte er sich zu ihr um und starrte sie mit großen Augen an.

„Nun geh schon!“, ermutigte Sophia ihn. „Wir Frauen hassen es zu warten.“

Ohne eine weitere Sekunde zu verschwenden, verließ Van die Kabine im Laufschritt. Sophia indes torkelte zum Bett, ließ sich darauf nieder und vergrub ihr Gesicht in eines der Kissen.

Von der Liebe beflügelt, stürmte Van durch die Gänge geradewegs auf die Krankenstation zu. Als er in das Vorzimmer platzte, sah er Hitomi auf der einzigen Bank im Zimmer sitzen. Ihre Finger waren zu Fäusten geballt, ihr stechender Blick schien den Boden zu durchbohren und ihre Wut erfüllte den ganzen Raum bis in die kleinste Ritze. Sofort wurde er wieder unsicher und er wollte auf der Stelle kehrt machen, doch Hitomis Stimme hielt ihn zurück.

„Bitte bleib!“, flehte sie ihn mit verbitterter Stimme an. Van erstarrte. Noch immer war er sich nicht darüber im Klaren, was er tun sollte.

„Diese Schweine!“, klagte Hitomi. „Diese Schweine wollten Merle lebendig begraben! Sie haben sie eine Woche lang ohne Essen und Wasser in diese Kammer gesperrt! Nur weil es in der Kammer kühl und feucht war, konnte Merle solange durchhalten.“

In ihren Augen sammelten sich Tränen und sie fing an zu schluchzen. Langsam und bedächtig setzte sich Van neben Hitomi und drückte sie fest an sich.

„Aber damit nicht genug! Sie haben verhindert, dass ich ihr mit meinen Gedanken Kraft spenden konnte. Merle muss gedacht haben, ich hätte sie verraten!“

Sie weinte nun ohne Zurückhaltung. Sanft legte Van eine Hand auf ihren Schoss, die sie auch sogleich ergriff.

„Es ist vorbei, Hitomi.“, versuchte Van sie zu trösten.

„Für Merle war es erst nach einem Jahr vorbei. Diese Arschlöcher haben ihre Wahrnehmung der Zeit manipuliert.“

Langsam begriff Van, dass Worte nicht helfen würden, Hitomi von ihrer Ohnmacht aus Wut und Schuldgefühlen zu befreien. Jetzt half nur noch ein kaltes Bad. Vorsichtig drehte er sie zu sich und umarmte sie innig. Wie durch Zauberei löste sich die Welt um die beiden herum auf und wurde durch ein weites, strahlend blaues Meer ersetzt, welches am Horizont von einem wolkenlosen Himmel abgelöst wurde. Glitzernd spiegelte sich der helle Sonnenschein im Wasser. Einen Moment lang schwebte beide, Van und Hitomi, eng umschlungen ein paar Meter über dem grenzenlose Meer, bis schließlich die Schwerkraft sie packte und in die Tiefe riss. Hitomi traf das kalte Nass völlig unvorbereitet. Orientierungslos strampelte sie umher, doch Van zog sie mit hoch, bis beide auftauchten und keuchend nach Luft schnappten.

„Was soll das?“, fragte sie empört.

„Tut mir leid, aber mir viel kein anderes Mittel ein, um dich deine Wut vergessen zu lassen.“, entschuldigte sich Van.

„Oh, das ist dir gelungen. Die Vampire können mir gestohlen bleiben. Jetzt will ich nur noch dich umbringen.“, beschwerte sie sich.

„Gefällt es dir denn gar nicht?“, fragte er verunsichert.

„Was soll mir gefallen? Hier ist nichts außer Wasser.“

Erst war Van gekrängt, doch dann verstand er, worin möglicherweise das Problem lag. Mit einem tiefen Atemzug ließ er seine mächtigen Flügel wachsen und erhob sich mit Hitomi im Arm aus dem Meer. Schnell gewann er an Höhe und flog schließlich hundert Meter über dem Wasserspiegel.

„Gefällt es dir jetzt?“

Hitomi stockte der Atem und es dauerte einen Augeblick, bis sie antworten konnte.

„Es ist wunderschön!“, antwortete sie ihm. „Wo sind wir überhaupt?“

„In meinem Kopf.“, klärte Van sie auf. „Wusstest du nicht, dass du nach Meer duftest?“

„Nein, das wusste ich nicht. Es dürfte aber auch schwer sein, dies zu merken, wenn man ständig von diesem Duft umgeben ist.“

„Ich habe es zum ersten Mal gerochen, als ich auf deiner Welt gegen den Drachen gekämpft habe. Damals habe ich dem keine große Beachtung geschenkt, doch immer wenn ich mit dir zusammen war, lag dieser herrlich salzige Duft in der Luft. Erst als ich mit dir zusammen in Palas war, wusste ich, wonach du duftest.“

„Van, wie wäre es, wenn du irgendwann auch in meinem Kopf kommen würdest. Dort existiert ebenfalls ein Ort, der mich an dich erinnert.“, schlug Hitomi vor.

„Ich war bereits dort. Kannst du dich nicht erinnern? Ich brach vor etwa vier Tagen in deinem Kopf ein, um dich zu wecken.“, informierte Van sie.

„Es war kein Traum?“, wunderte sich Hitomi.

„Nein, wie kommst du darauf?“

„Nun, weil ich genau im falschen Moment wach geworden bin. Das passiert normalerweise nur in Träumen.“

Van lächelte.

„Ich weiß, was du meinst. Ich wäre gerne länger bei dir geblieben, doch Sophia hat meine Meditation unterbrochen.“

„Sophia? Heißt so das Mädchen, welches mir bei Merles Rettung geholfen hat?“

„Ja, das ist sie. Was hältst du von ihr?“

„Da ich sie nicht kenne, wäre es ihr gegenüber unfair sich jetzt schon eine Meinung über sie zu bilden.“

Als Van daraufhin erleichtert seufzte, entschloss sich Hitomi zu einem Test.

„Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass sie sehr hübsch ist, wenn sie nicht gerade Schmutz in ihrem Gesicht spazieren trägt.“

Er verzog daraufhin seine Mine. Sofort wusste Hitomi, dass etwas nicht stimmte.

„Entschuldige bitte, dass ich jetzt frage.“, bat er. „Aber ich würde gerne wissen wie es Merle geht.“

„Ihr Zustand ist kritisch, aber stabil, wie mir Siris Mutter mitteilte. Sie schläft und wird durch eine Infusion vor dem Austrocknen bewahrt.“

„Bitte verzeih die Frage. Ich weiß, sie war unpassend.“

„Du machst dir zu viele Gedanken, Van. Ich wäre früher oder später wütend geworden, hättest du mich nicht nach ihr gefragt.“

Wieder musste Van allen Mut für seine nächste Frage aufwenden.

„Wie wäre es, wenn wir dort weiter machen würden, wo wir aufgehört hatten?“

Er klang nervös.

„Was meinst du?“, wunderte sich Hitomi.

„Na, du weißt schon. Der falsche Augenblick…“, antwortete Van und neigt dabei sein Haupt ihr entgegen. Doch sie berührte sacht mit ihren Fingerspitzen seine Lippen.

„Bitte versteh mich nicht falsch, Van, aber meinen ersten Kuss möchte ich nicht nur mit meinem Geist, sondern auch mit meinem Körper erleben. In der Realität, verstehst du?“

„Ja, du hast Recht.“, gab er zu, wobei seine Enttäuschung unüberhörbar war. „Wie wäre es, wenn wir jetzt zurückkehren?“

Hitomi blickte noch einmal auf das glitzernde Meer.

„Vorher will ich etwas ausprobieren. Etwas, was ich in einem Film meines Bruders gesehen habe.“, bat sie.

„Und was wäre das?“

„Geh tiefer und halte mich bitte nur unter meinen Schultern fest.“

Van tat, wie ihm geheißen, so dass Hitomi dicht über der Meeresoberfläche hing, während unter ihr das Wasser vorbeirauschte. Hitomi wies Van an noch ein klein bisschen tiefer zu fliegen, bis ihre Füße das kalte Nass berührten. Nur dank ihrer kräftigen Beine konnte Hitomi dem Druck des Wassers und der Geschwindigkeit standhalten. Vergnügt glitt sie über die sich ständig ändernde Oberfläche hinweg. Das Wasser spritzte unter ihren Füßen hervor und verfing sich in ihrer dicken Fellkleidung, die somit immer schwerer wurde. Hitomi schrie vor Freude, bis der Druck zu groß wurde und ihre Beine nachgaben. So stark seine Arme auch zu waren, auf den plötzlichen Zug, der an Hitomi riss, war Van nicht vorbereitet und sie entglitt ihm. Quälend langsam sah sie die steinharte Wasseroberfläche auf sich zukommen. Gerade als ihr Gesicht drohte aufzuschlagen, fand sie sich von einem Moment auf den anderen im Vorzimmer der Krankenstation wieder. Van hielt sie noch immer umklammert, so dass sie seinen schnellen Atem an ihrem Ohr spürte und schließlich merkte, dass auch sie Mühe hatte Luft zu holen.

„Tut mir leid.“, wimmerte Van. „Es geschah alles so plötzlich.“

„Es war meine dumme Idee.“, beruhigte sie ihn und löste sich etwas aus seiner Umarmung. Warmherzig, wenn auch ein bisschen gespannt lächelte sie ihn an. Sofort verlor sie sich in seine kastanienbraunen Augen, während Vans Blick von zwei Smaragden gefesselt wurde. Die Luft schien zu knistern. Langsam, nervös und mit schier unendlicher Sehnsucht beugten sich beide nach vorne, bis ihre Lippen nur noch Millimeter voneinander entfernt waren.

„Ich liebe dich.“, hauchte Hitomi.

„Ich…“, flüsterte Van und drängte die letzten Moleküle zur Seite, die zwischen den Liebenden standen. Sie berührten sich. Zögerlich und doch voller Leidenschaft fühlten sie die Lippen des anderen auf ihren eigenen liegen. Dämme brachen, ein Orkan aus Zuneigung, Verlangen und grenzenlosem Vertrauen fegte die letzten Steine fort. Van spürte, wie ein Fluss aus seinem tiefsten Innern sich seinen Weg bahnte und auf Hitomi überschwappte. Der zügellose Strom trug alles mit sich, riss seine Stärken, seine Schwächen, seine Ängste und seine Hoffnungen mit sich fort und schwemmte dieses Treibgut an das Ufer von Hitomis Seele. Sie wusste jetzt alles über ihn, kannte ihn bis ins kleinste Detail, doch er fand in dieser Erkenntnis überraschend wenig Unbehagliches, dafür viel Berauschendes.

Als nach schier unendlichen vielen Augenblicken sich die Lippen wieder trennten, konnte Van in Hitomis Augen lesen wie in ein Buch. Jede Zurückhaltung war verloren und nachdem ein Herzschlag vergangen war, küssten sie sich die beiden mit wilder Leidenschaft…bis ein lautes Räuspern beide verwundert aufschauen lies. Vor ihnen stand Siris Mutter mit einem Gesichtsausdruck, der sich einerseits um eine gewisse Ernsthaftigkeit bemühte, sich andererseits ein Lächeln nicht verkneifen konnte.

„Verzeiht, Majestät, wenn ich störe, aber meine Patientin sagt, ihr hättet sie geweckt. Sie wünscht weiterschlafen zu können.“, sagte sie mit strengem Ton.

„So schlimm?“, kicherte Hitomi, während in Vans Wangen eine leichte Röte aufstieg.

„Ich habe nichts gehört, aber Merles Ohren scheinen sehr empfindlich zu sein.“, erwiderte die Ärztin.

„Können wir sie sehen?“, fragte Hitomi hoffnungsvoll.

„Dafür ist es noch zu früh. Morgen vielleicht.“

„Lass uns in mein Zimmer gehen.“, schlug Van vor, woraufhin Hitomi seine Hand ergriff und sie zusammen eilig das Wartezimmer verließen.

Im Bad der Gefühle

Schon von weitem hörte Sophia, wie sie kichernd, kreischend und lachend den Gang hinunter kamen und schließlich vor der Koje hielten. Mit einem kräftigen Ruck, der die Tür fasst aus ihren Angeln hob, fielen Hitomi und Van in dessen Zimmer ein und verstummten urplötzlich. Sophia, die zu schwach war um aufzustehen, spürte die mitleidigen Blicke des Paares, was nur dazu führte, dass sie sich noch schlechter fühlte. Als Hitomi Van schließlich vorschlug, dass die beiden sich ein anderes Zimmer nehmen könnten, platzte Sophia der Kragen und die aufkeimende Wut verlieh ihr die Kraft um sich vom Bett zu erheben. Noch immer torkelnd drängte sie sich an Van vorbei und trat in den Gang.

„Das Bad ist übrigens frei. Du kannst jetzt rein.“, rief ihr Hitomi hinterher.

Sophia blieb einen Augenblick lang stehen und rang mit sich selbst. Am liebsten wollte sie dieser aufgeblasenen Schlampe ihre geheuchelte Freundlichkeit mit gleicher Grausamkeit zurückzahlen, entschied sich jedoch dagegen. Stattdessen ging sie in ihr Zimmer und suchte sich frische Kleidung aus dem Schrank. Zwar waren diese Sachen nach dem Kontakt mit ihren Staub bedeckten Handschuhen nicht mehr so sauber, doch das kümmerte sie nicht. Das Bündel Kleidung eng an ihren schmutzigen Kampfanzug gepresst, verließ Sophia ihr Zimmer und preschte auf das Bad zu. Nie und nimmer würde sie zulassen, dass diese blöde Kuh vor ihr das Badezimmer benutzt konnte. Natürlich hatte Sophia nicht vor, das Bad in einem akzeptablen Zustand zu hinterlassen. Das feine Fräulein würde sich in Folge dessen wohl mit den Waschräumen des Schiffspersonals zufrieden geben müssen.
 

„Kannst du mir erklären, warum du sie gerade angelogen hast?“, fragte Van Hitomi, während er hinter ihr die Tür schloss.

„Ihr gehört der Kopf gewaschen, sonst würde sie ihre Trauer und Wut nie loslassen.“, begründete Hitomi ihre Entscheidung. „Du hast doch das Selbe auch mit mir gemacht. Glaub mir, der Anblick eines nackten Jungen ist für ein Mädchen ihres Alters befreiender als jede noch so kalte Dusche.“

„Ich glaube nicht, dass sie deine Lüge als Gefallen werten wird.“

„Warum nicht? Als sie ihn das erste Mal sah, war sie so fasziniert, dass sie dich glatt vergaß. Warum sollte das kein zweites Mal funktionieren?“

Ungläubig schüttelte Van den Kopf.

„So wie du Intrigen schmiedest, wirst du wunderbar in meine Welt hineinpassen.“, stellte er fest. „Wo habt ihr den Jungen überhaupt her?“

„Weißt du, Van, das würde gern erzählen, wenn alle zuhören. Die ganze Geschichte ist ein bisschen lang und ich denke, alle haben das Recht sie zu erfahren.“, erwiderte sie.

„Stimmt. Ich wüsste nur gerne, was hier vor sich geht. Vor allem interessiert mich, warum ein Mitglied meiner Leibgarde nach meinem Leben trachtet.“

„Siri ist…“, setzte Hitomi an, doch dann spürte sie einen Kloß im Hals und verstummte.

„Schon gut, du brauchst es mir nicht jetzt zu erzählen.“, beruhigte Van sie und schlang seine Arme um sie. „Am besten du schläfst erstmal eine Nacht darüber.“

„Ach ja?“, sagte sie und erwiderte seine Umarmung. „Und in welchem Zimmer soll ich schlafen?“, fragte sie, obwohl sie die Antwort schon in seinen Augen sah.

„Na hier, dachte ich.“, klärte er sie auf. „Das Zimmer des Schiffskommandanten hat Sophia bereits bekommen und bis auf diese Koje hier gibt es nichts, was dir sonst noch gerecht werden könnte.“

„Und wo schläfst du?“, erkundigte sie sich.

„Auch hier.“

„Ich denke nicht, dass der Boden für einen König angemessen wäre.“, scherzte Hitomi.

„Sehr witzig! Ich schlaf natürlich im Bett.“, erwiderte Van entrüstet.

„Soll ich etwa auf den Boden schlafen?“, fragte sie mit gespielter Fassungslosigkeit.

„Nein, natürlich nicht. Ich dachte,…du hättest nichts dagegen, wenn…“, stotterte er. Von seiner Unsicherheit sichtlich amüsiert, unterbrach sie ihn mit einem leidenschaftlichen Kuss. Nachdem beide sich von einander gelöst hatten, lächelte sie ihn warmherzig an.

„Nichts erregt mich mehr, als deine Wärme auf meine Haut zu spüren…“, flüsterte sie, woraufhin sich beide wieder küssten. „…aber du musst mir versprechen, dass wir heute Nacht nicht miteinander schlafen werden.“

„Sollen wir die ganze Nacht etwa wach bleiben?“, wunderte sich Van.

„DU!“, regte sich Hitomi auf und stieß Van von sich. „Du weißt ganz genau, was ich meine.“

„Ja, ich weiß.“, versuchte Van sie zu beschwichtigen. „Aber ich hoffe, du weißt, wie schwer es mir fällt zu warten.“

„Natürlich.“, erwiderte sie und zog ihn näher an sich heran. „Schließlich bist du auch nur ein Mann.“

Wieder verschmolzen ihre Lippen.

„Und du bist eine Frau.“, hauchte er und erfühlte mit seinen Händen die Kurven ihres Körpers.

„Und eine Frau hasst es, in abgenutzten Klamotten herumlaufen zu müssen.“, erwiderte Hitomi lächelnd.

„Ich kann dir gerne beim Ausziehen helfen.“, bot Van sich grinsend an.

„Ich wäre schon zufrieden, wenn du mir ein Satz frischer Kleidung besorgen könntest, damit ich endlich ins Bad gehen kann.“

„In den Schränken findest du alles, was du brauchst.“

„Ja, anscheinend hat sich auch schon jemand bedient.“, merkte sie mit einem Blick auf den von Gewändern bedeckten Boden an.

„Entschuldige, ich hatte vorhin etwas überreagiert.“, erklärte er und fing an die Gewänder auf die entsprechenden Bügel zu hängen. Hitomi indes öffnete einen andere Schranktür, sah sich nach einem Kleid in ihrer Größe um.

„Während ich hier mit Sachen raussuchen beschäftigt bin, kannst du mir ja mal erzählen, was zwischen dir und Sophia vorgefallen war.“, schlug sie vor.

Van schluckte.
 

Mit Karacho stampfte Sophia in die Umkleide, welche das Bad vom Flur trennte, und streifte ihren schwarzen Kampfanzug ab. Nur mit sich selbst und ihrer Rache beschäftigt übersah Sophia das Gewand, welches sorgfältig zusammengelegt auf der Holzbank lag. Nachdem sie sich ihrer Kleidung entledigt hatte, schob sie die Tür zum Bad zur Seite und erstarrte.

Direkt vor ihren Augen stand mit dem Rücken zur ihr derselbe Junge, den sie schon im Untergeschoß des Tempels der Fortuna ausgiebig betrachtet hatte. Wieder glitt ihr Blick an seinem athletischen, von glänzend nasser Haut bedeckten Körper hinunter. Der junge Mann, der sich gerade mit einem Handtuch seine langen, weißen Haare abtrocknete, drehte nur den Kopf zu ihr um und erfasste sie mit seinem kühlen Augenpaar.

„Siehst du nicht, dass das Bad besetzt ist?“, schnauzte er Sophia an. Diese erwachte aus ihrer Starre.

„Entschuldigung, man sagte mir, dass Bad sei frei.“, rechtfertigte sie ihr Eindringen. Daraufhin drehte sich der Mann vollends zur ihr um und legte das Handtuch über seine Schulter. Sophias Augen wurden groß, als sein Geschlecht in ihr Blickfeld rückte.

„Du hättest schon an dem Gewand im Vorzimmer erkennen müssen, dass es nicht so ist.“, warf er ihr vor.

„Es tut mir wirklich leid, …“, entschuldigte sie sich ein weiteres Mal. „…aber solltet ihr euch nicht erst einmal bedecken?“

„Ich habe nichts, was du nicht schon im Tempel gesehen hast. Warum also sollte ich mich verstecken? Außerdem scheint dir deine eigene Blöße auch nichts auszumachen.“, stellte er Schulter zuckend fest. Auf einmal kam es ihr in den Sinn, dass sie ebenfalls völlig nackt war. Panisch bedeckte sie mit einer Hand ihren Schritt und legte den anderen Unterarm über ihre zierlichen Brüste.

„Ich geh dann mal.“, verabschiedete sie sich und schlüpfte schnell zurück in die Umkleide. Kopfschüttelnd schloss der Junge hinter ihr die Tür. Sophia indes setzte sich zitternd auf die Holzbank und versuchte zu verarbeiten, was eben geschehen war.

Er hatte alles gesehen. Jedes noch so kleine Detail ihres jungen Körpers und das auch noch in Großformat. Noch nie zuvor hatte ein männliches Wesen sie derartig entblößt, Van eingeschlossen. So erschreckend diese Erkenntnis auch war, sie löste in ihrem Unterleib ein Kribbeln aus, welches beängstigend und aufregend zugleich war. Plötzlich erschien das Bild des Mannes in ihrem Kopf, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Störrisch versuchte Sophie sein Abbild aus ihrer Vorstellung zu verbannen, doch erst seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

„Kann ich rauskommen?“, fragte er durch die Tür hindurch.

„Einen Moment bitte.“, rief sie verlegen zurück. Hastig griff sie nach dem von ihr mitgebrachten Kleid und presste es an sich. Einen Moment fragte sie sich, ob sie sich die Zeit nehmen sollte und es anziehen sollte, doch überraschender Weise sträubte sich ihr Herz dagegen. Ihr Verstand jedoch bestand auf ein sittsames Auftreten ihrerseits und somit begann die Diskussion zwischen den beiden, die Sophia schließlich mit dem Argument beendete, welches ihr der Mann an den Kopf geworfen hatte.

„Du kannst jetzt rauskommen.“, sagte sie laut, woraufhin sich die Tür zum Bad öffnete. In dem festen Glauben, dass er noch immer nackt war, schloss sie ihre Augen.

„Du kannst ruhig gucken. Ich habe mir ein Handtuch umgebunden.“, beruhigte der Mann sie, während er an ihr vorbeiging. Mit einem kurzen Blinzeln überzeugte sich Sophia, dass er ihr die Wahrheit gesagt hatte, und sah dann zu ihm auf. Sein Unterkörper war zwar bedeckt, doch sein strammer Rücken reichte völlig aus um sie erröten zu lassen. Einen Moment lang war sie verärgert, weil der Mann ihr gegenüber ein solch maßloses Verhalten an den Tag legte, doch dann begriff sie, dass auch sie mehr zeigte, als sie sollte. Ihre Beine und die Seiten ihres gesamten Oberkörpers waren für ihn sichtbar und zur ihrer eigenen Überraschung störten die gelegentlichen Blicke, mit denen er sie musterte, sie nicht. Schließlich hatte der Mann sein Gewand übergestreift und machte sich auf die Umkleide in Richtung Flur zu verlassen.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Sophia aus dem Bauch heraus. Als der Mann an der Tür stehen blieb und schwieg, zweifelte sie an ihrer instinktiv getroffenen Entscheidung, begriff jedoch, dass sie nicht zurück konnte.

„Ich möchte es gerne wissen…ich meine, wo wir doch…“

„Antigonos.“, antwortete er und trat hinaus in den Flur. Während er den Gang hinunter schritt, steckte sie ihren Kopf durch die Tür und rief ihm nach: „Ich heiße Sophia.“

„Du machst deinem Namen nicht sehr viel Ehre.“, gab Antigonos zurück und verschwand aus ihrem Blickfeld.
 

Sophia saß im mit heißem Wasser gefüllten Becken des Badeszimmers und grübelte verärgert über Antigonos Kommentar bezüglich ihres Namens. Was hatte er damit gemeint? Wie konnte er es wagen, sie in irgendeiner Weise bezüglich ihres Namens zu kritisieren? Wie konnte er es wagen, sie überhaupt zu kritisieren?

Die Tür zum Bad öffnete sich und Sophia fuhr wutentbrannt herum. Was bildete sich dieser Antigonos eigentlich ein? Hatte es ihm nicht gereicht sie nackt zusehen? Wollte er ihr etwa jetzt auch noch beim Baden betrachten? Als sie jedoch Hitomi ohne ein Stück Kleidung auf der Haut im Türrahmen stehen sah, verrauchte ihre Wut so schnell wie sie gekommen war.

„Ihr seid es!“, stellte sie überrascht fest, während sie Hitomi in ihrer ganzen Pracht musterte. Jetzt begriff sie, warum Van sich für Hitomi entschieden hatte. Mit dem voll ausgewachsenen und mit perfekten Rundungen ausgestatteten Körper ihrer Rivalin konnte Sophia beim besten Willen nicht mithalten.

„Ja, ich bin es.“, bestätigte Hitomi. „Du kannst mich übrigens duzen.“

„Ich kann mich nicht daran erinnern, euch die Erlaubnis gegeben zu haben, mich zu duzen. Ich bin eine Prinzessin des Königreichs Chuzario und somit mit Eure Hoheit anzusprechen!“, verlangte Sophia hochnäsig, während sie sich von ihr abwendete. Hitomi indes schloss hinter sich die Tür trat auf das Becken zu.

„Nach allem, was Van mir über dich erzählt hat, dachte ich, du wärst mehr an echten Freundschaften als an dieses Hofgeplänkel interessiert.“, konterte sie und füllte eine Schüssel mit kalten Wasser, welche sie ohne zu zögern über sich ausschüttete.

„Wir beide lieben ein und denselben Mann. Wie könnten wir unter diesen Umständen Freundinnen werden?“, fragte Sophia misstrauisch.

„Konkurrenz belebt das Geschäft. Wusstest du das nicht?“, scherzte Hitomi, während sie zu der Prinzessin ins Becken stieg. Seufzend ließ sie sich ihre angespannte Haut von dem heißen Wasser verwöhnen. „Nur weil wir Rivalinnen sind, heißt das noch lange nicht, dass wir uns gegenseitig hassen müssen.“

„Du schreckst nicht einmal davor zurück mich mit jemand anderen zu verkuppeln, um Van für dich allein zu haben. Warum also sollte ich dir trauen?“, klagte Sophia sie an.

„Ich weiß nicht, was du meinst.“, behauptete Hitomi unschuldig, während ihre Zehen kleine Wellen über die ruhige Wasseroberfläche schickten.

„Du lügst! Du wusstest ganz genau, dass Antigonos noch im Bad war.“

„Gut, ich gebe es zu. Ich wusste, dass sich jemand noch hier drinnen befand. Aber was sollte ich denn machen. Heute war meine einzige Chance, dich anderweitig unterzubringen.“

„Bei diesem Perversen?“, beschwerte sich Sophia.

„Wieso pervers?“, wunderte sich Hitomi. „Er war vor dir im Bad, nicht umgekehrt.“

Damit ging Sophia ihre Argumente aus und sie verstummte, bis ihr etwas in den Sinn kam, was Hitomi zu ihr gesagt hatte.

„Du sagtest, heute wäre deine einzige Chance. Wieso?“, erkundigte sie sich.

„Ich werde nicht mit Van nach Farnelia zurückkehren. Schon morgen werden sich unsere Wege wieder trennen.“, klärte Hitomi sie auf.

„Weiß er es?“

„Sicherlich ahnt er es, aber ich habe es ihm noch nicht gesagt. Du siehst also, du hast massig Zeit Van einzuwickeln. Somit ist es doch in Ordnung, wenn ich mit drastischeren Mitteln versuche, dich als Konkurrentin auszuschalten?“, fragte sie traurig lächelnd.

Sophia zögerte einen Augenblick, ehe sie antwortete.

„Ja, wahrscheinlich hast du Recht.“, gab sie zu.

Beide schwiegen.

„Sophia, ich möchte dich um etwas bitten.“, verkündete Hitomi schließlich.

„Ich höre.“, verkündete Sophia neugierig.

„Ich möchte, dass du bei Van bleibst und ihm beistehst.“

„Das tue ich doch jetzt schon.“

„Und ich bitte dich, es weiterhin zu tun. Wie du sicherlich selber festgestellt hast, ist er nicht so stark, wie er wirkt. Ich habe Angst um ihn.“, bat Hitomi eindringlich.

„Keine Sorge.“, sagte Sophia und wischte sich eine Träne von ihrer Wange. „Ich bleibe bei ihm.“

„Im Gegenzug gestatte ich es dir auch, weiterhin im Kuppelzimmer zu wohnen. Aber gewöhn dich bnicht daran. Es ist eigentlich nur für Vans zukünftige Ehefrau bestimmt.“, warnte Hitomi sie.

Sophia, die deutlich den Schmerz hinter Hitomis Heiterkeit heraushörte, nickte entschlossen.

Schuldgefühle

Genüsslich kuschelte sich Hitomi an Vans warmer Brust, während die Strahlen der Morgensonne ihre Wange kitzelten. Van strich mit seiner Hand sanft durch ihr weiches Haar und wurde mit einem Lächeln belohnt. Nur ein dünnes Hemd, welches er Hitomi für die Nacht überlassen, trennte die beiden von einander, doch für ihn hätte es genauso gut eine Wand sein können. Er wollte ihre Haut auf seiner spüren, mit dem süßen Duft ihres Verlangens seine Sinne benebeln, sich an dem Anblick ihrer weiblichen Züge laben, den schmerzvollen Schrei ihrer Entjungferung mit einem Kuss ersticken und ihre salzigen Tränen in sich aufnehmen. Er wollte sie ganz…

„Van, hör bitte auf!“, flehte Hitomi leise und holte Van damit zurück in die Realität. Sein Gesicht lief vor Scham rot an, als er merkte, dass seine Hand, die eben noch ihren Kopf gestreichelt hatte, nun unter der Decke wie von selbst an ihren Rücken entlang glitt und dabei ihr Hemd hochzog.

„Entschuldige.“, bat Van gepresst und zog die Hand zurück.

„Bitte versteh mich doch…“

„Was soll ich verstehen? Dass wir beide nicht zusammen sein können? Dass wir für immer getrennt seine werden und du dich mir deshalb nicht zu sehr öffnen möchtest?“

„So etwas darfst du nicht einmal denken!“, mahnte sie ihn streng.

„Ach ja? Und wieso nicht? Es stimmt doch!“, widersprach er wütend.

„Gibst du auf?“ Hitomi hatte sich von seiner Brust gelöst und stützte sich auf einen ihrer Ellbogen. Mit ernstem Gesicht sah sie auf ihn herab. „Wenn du aufgibst, dann solltest du mich jetzt gehen lassen. Ich verschwinde in meine Welt und werde dir nie wieder Schwierigkeiten bereiten. Du kannst deine Prinzessin heiraten, deine Macht auf einen Schlag um ein vielfaches vergrößern und dein Volk in eine glorreiche Zukunft führen.“

„Wieso fragst du mich? Du kannst gehen, wann immer du willst. Meine Erlaubnis brauchst du jedenfalls nicht.“, erwiderte Van mürrisch.

„Wenn ich es könnte, hätte ich schon bei unserem Treffen im Kuppelzimmer eine Lichtsäule erschaffen. Ich kann es aber nicht. Nun rate mal, warum!“

„Woher soll ich das wissen?“

„Wegen dir, du Idiot! Du hältst unbewusst den Bann aufrecht, der mich an Gaia fesselt. Wenn du aufgeben willst, dann löse den Bann. Hier und jetzt!“, forderte sie ihn auf.

Van sah nachdenklich in das funkelnde Paar smaragdgrüner Augen, nach denen er sich die letzten drei Jahre so sehr gesehnt hatte. Sie hatte Recht. Ohne sie wäre sein Leben auf Gaia um einiges leichter, aber auf einer Welt, in der es sie nicht gab, wollte er nicht mehr leben. Es war ihm nicht möglich aufzugeben.

„Das kann ich nicht.“, gab er zu. Sie atmete erleichtert auf und legte ihren Kopf auf seine Schulter.

„Würdest du ihn zurückgelassen?“, fragte Van neugierig.

„Ich denke schon. Er ist zwar mein Bruder, aber ich fürchte, dass ich ihm nicht helfen kann.“

„Hast du ihn aufgegeben?“

„Nein, habe ich nicht.“, antwortete Hitomi entschieden. „Aber seine Erlösung ist nicht in meiner Macht und meine Eltern haben ihre beiden einzigen Kinder kurz hintereinander verloren. Sie brauchen mich ebenfalls. Außerdem sagt mir mein Gefühl, dass nur Siri seine Ketten lösen kann.“

„Was für Ketten meinst du? Und warum sollte nur Siri dazu in der Lage sein?“

„Es sind geistige Ketten, die durch ein Virus geschmiedet wurden, welches Siri meinem Bruder durch einen Biss eingeflößt hat. Das Virus hat ihn stärker gemacht, aber auch abhängig.“

„Das heißt, er nichts weiter als eine willenlose Marionette.“, stellte Van fest.

„Nein, er hat noch immer einen eigenen Willen, der jedoch durch eine große Loyalität zu Siri, seiner Meisterin, getrübt wird und bei Ungehorsam von ihr durch starke Schmerzen gebrochen werden kann.“, verbessert Hitomi ihn.

„Woher weißt du das alles?“, wunderte er sich.

„Ich habe es gespürt, als Ryu vor mir stand. Genauso wenig wie ich war er dazu in der Lage seine Gedanken abzuschirmen.“, erklärte sie.

„Das war aber nicht so, als er von oben auf mich runter sprang.“, gab Van zu bedenken.

„Er lernt schnell.“, bestätigte Hitomi.

„Dann steckt also Siri dahinter.“

„Nein, auch sie ist nur ein Opfer.“

„Wer…“

„Baron Trias.“

Geschockt fuhr Van hoch, wobei er sie unfreiwillig von sich stieß, woraufhin sie ihren Oberkörper ebenfalls aufrichtete.

„Aber das bedeutet ja…“

Hitomi unterbrach ihn sanft, indem sie zwei Finger auf seine Lippen legte und sie so versiegelte.

„Bitte, Van, können wir das nicht im Dasein aller besprechen?“

„Natürlich.“, meinte er. „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich kann jetzt nicht mehr schlafen.“

„Ich auch nicht. Lass uns frühstücken und dann nach Merle sehen.“, stimmte sie zu.

„Ich zieh mich erst kurz um und hol uns danach etwas zu essen. Währenddessen kannst du dich ja frisch machen.“, schlug Van vor, doch Hitomi hielt ihn zurück.

„Nein, ich ziehe mich zuerst um.“, stellte sie klar. „Dann kannst du mein Rücken begutachten.“

„Ich weiß aber nicht, ob ich dafür stark genug bin. Ich könnte ja schwach werden und von hinten über dich herfallen.“, spekulierte Van lächelnd.

„Untersteh dich!“, warnte sie. „Du würdest sowieso nur an meinem Schild abprallen.“

„Hat dir jemand schon mal gesagt, dass du grausam bist?“, fragte er trocken.

„Nein, du bist der Erste.“, kicherte Hitomi.
 

Das Herz schlug Hitomi bis zum Hals, als sie Hand in Hand mit Van auf die Krankenstation der Katzenpranke zusteuerte, und sie wusste beim besten Willen nicht, warum. Eigentlich gab es keinen Grund zur Besorgnis. Sie selbst hatte Merle gestern zur Station gebracht und die Ärztin hatte ihr berichtet, dass, seitdem ihre Freundin an einer Infusion angeschlossen war und schlafen konnte, keine Lebensgefahr mehr für sie bestand. Warum also machte sie sich Sorgen? Plötzlich wurde Hitomi klar, dass nicht sie es war, die sich den Kopf zerbrach, sondern Van. Das enge Band, was beide miteinander teilten, lies sie spüren, was in ihm vorging. Aufmerksam sah sie zu ihm hinauf. Sein Gesicht war gefasst, seine Augen konzentrierten sich auf den Gang vor ihnen und doch verriet ein kleines Zucken seiner Wange, dass er nervös war. Ermutigend drückte sie seine Hand, woraufhin er sie verwundert ansah.

„Mach dir keine Sorgen! Du hast nichts falsch gemacht.“, versicherte sie ihm.

Van lächelte verlegen.

„Das solltest du eigentlich gar nicht bekommen.“

„Unsere Gedanken sind unzertrennbar verbunden. Ich kann alles fühlen, was du fühlst.“, erinnerte sie ihn.

„Ich hätte es fühlen müssen. Ich hätte ihr Leid spüren und viel eher kommen müssen.“, warf er sich vor.

„Es war nicht dein Fehler. Du hattest gute Gründe dich abzuschotten.“

„Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.“

Entschlossen hielt Hitomi an, stellte sich auf ihre Zehenspitzen und küsste ihn innig. Van, dessen Verstand durch das Aufeinandertreffen der beiden Lippenpaare gereinigt wurde, erwiderte den Kuss nach kurzem Zögern.

„Denk nicht mehr drüber nach. Es ist Vergangenheit. Wir sind in der Gegenwart und uns erwartet die Zukunft. Schau nach vorn!“, ermunterte sie ihn.

„Stimmt.“, meinte Van und schlang seine Arme um Hitomi. „Das vergesse ich immer.“

„Dafür hast du ja mich.“, erwiderte sie lächelnd und nahm einen weiteren Kuss entgegen. Sanft löste sie sich von ihm. „Hör mal, Van, wenn wir alle fünf Sekunden anhalten um fünf Minuten lang zu knutschen, werden wir erst zum Mittagsessen bei Merle sein.“

„Auch wieder wahr.“, stimmte er zu. „Dennoch ist es schon schwer genug, auch nur eine Sekunde ohne deine Lippen auszukommen.“

„Wir können ja tauschen.“, scherzte Hitomi.

Van brauchte eine Sekunde, eher er begriff.

„Wir sollten zu Merle gehen.“, drängte er. „Ehe du noch mehr solcher Ideen hast.“

Schließlich schafften sie es und klopften an der Tür zur Krankenstation. Als ein Pfleger ihnen die Tür öffnete und sich ihnen in den Weg stellte, rechnete Hitomi schon damit, dass sie wieder abgewiesen wurden, doch der Pfleger trat zur Seite und machte eine einladende Geste. Respektvoll bat er Van einzutreten, welcher ihr den Vortritt lies. Sie rannte überglücklich auf die auf einem Bett liegende Merle zu, wobei sie fast ihren Brei verschütterte.

„Du siehst gut aus.“, freute sich Hitomi, während sie ihre Gefährtin fest umarmte.

„Was hast du anderes erwartet?“, erwiderte Merle und versuchte die Umarmung zu erwidern, konnte Hitomis Rücken jedoch nur streifen. Diese tat so, als hätte sie es nicht bemerkt, musste aber gegen ihre Tränen kämpfen. In der Hoffnung, dass es so aussah, als würde sie Platz für Van machen, trat sie zurück und drehte einen Augenblick lang ihren Kopf zur Seite, um die verräterische Nässe abzuwischen. Er kam nur sehr langsam auf Merles Bett zu und schloss das gebrechlich wirkende Katzenmädchen vorsichtig in seine Arme.

„Wenn du nicht gleich etwas fester zudrückst, schleudere ich dich eigenmächtig auf den Mond der Illusion.“, drohte sie, woraufhin Van kurz den Druck seiner Arme erhöhte und sofort wieder losließ.

„Wie geht es dir?“, fragte er unsicher.

„Besser als dir, wenn ich erst einmal mit dir fertig bin.“, schoss Merle zurück. „Was fällt dir eigentlich ein, Allen retten zu wollen und mir diese Amateurin auf den Hals zu schicken.“ Hitomi schüttelte ungläubig mit dem Kopf. „Bist du neuerdings schwul?“, forderte Merle Van heraus.

„Nein, ist er nicht.“, antwortete Hitomi an seiner Stelle. Wie zur Bestätigung zog sie seinen Kopf zu sich herab und schmiegte ihre Lippe an seine.

„Es ist wohl einiges passiert, während ich schlief.“, gluckste Merle. Mit großer Erleichterung registrierte Hitomi die ehrliche Freude in ihrer Stimme. Erst jetzt, wo sie und Van wieder von einander ließen, wurde ihr klar, dass Merle fortan als Konkurrentin ausschied. Was blieb war eine gute Freundin, der sie hundertprozentig vertrauen konnte.

„Tut mir leid, Merle, aber es ist so viel passiert, dass wir so schnell wie möglich zum Geschäftlichen kommen müssen. Van hat eine Versammlung einberufen. Da du dich nicht bewegen kannst, dachten wir beide, es wäre am besten, wenn wir alle uns hier treffen.“, klärte Hitomi sie auf.

„Wer sind „alle“?“, erkundigte sich die Kriegerin.

„Wir beide, Allen, Prinzessin Sophia von Chuzario und ein junger Mann, den wir aus dem Tempel der Fortuna gefischt haben. Sein Name ist Antigonos.“, zählte Hitomi auf.

„Dass Allen hier ist, ist schon seltsam genug, aber was macht eine Prinzessin aus Chuzario hier?“

„Sie ist…bei mir in der Lehre.“, antwortete Van.

„Glaubst du das wirklich?“

„Nein.“

„Bringt mich in den Konferenzraum! Wir werden die Besprechung dort abhalten.“, verlangte Merle. Van blickte zweifelnd zu Hitomi, welche mit ihren Schultern zuckte und ihrer Freundin daraufhin eine anbot.

Lagebesprechung

Hoch konzentriert und mit schnellen Schritten verließ Allen die Hebebühne des Crusadors und hielt auf die fünfzig Meter entfernte Eingangsrampe der Katzenpranke zu. Noch mehr als sonst bemühte er sich einen neutralen Gesichtsausdruck, da niemand ihm den unruhigen Schlaf letzter Nacht anmerken sollte. Siri war ihm einfach nicht aus dem Kopf gegangen. Fast die ganze Nacht hatte er wach gelegen, während Bilder von ihrer gemeinsamen Reise mit dem Konvoi, dem dreitägigen Training, dem Ball, dem Kampf in seiner Villa und schließlich von der heftigen Schlacht im Tempelhof immer wieder durch seinen Schädel spukten. In seinen Gedanken hatte sich das übliche Procedere abgespielt, wie es jedes Mal, nachdem er eine Beziehung beendet hatte, geschah. Er hatte daran denken müssen, wie er sie zu seinem Schüler gemachte, wie sie während der Ausbildung zur Lady wiederholt Annährungsversuche unternommen, wie er sie stets abgewiesen und ihr damit dutzende Male ein bisschen das Herz gebrochenen hatte. Eine Beziehung hatte er nicht gewollt, spätestens seit ihrem Kommentar über sein Alter. Warum also fühlte er sich schuldig? Die Tränen auf Siris Wange, während sie ihn mit ihrem Schwert bedroht hatte, waren nicht seine Schuld. Er hatte alles getan um ihr Fließen zu verhindern. Hatte er versagt?

Hatte er wieder einmal dem Verlangen nachgegeben, die Leere in seinem Innern zu füllen, welche Marlene zurückgelassen hatte? Oder hatte er nur ein schlechtes Gewissen, weil er einen weiteren Untergebenen verloren hatte?

Allens Gedanken fanden ein jähes Ende, als er Siris Mutter am Ende der Rampe stehen sah. Sie war der Grund dafür gewesen, dass er sich gestern geweigert hatte, die Katzenpranke zu betreten. Sie war der Grund, dass er Vans Einladung zur Lagebesprechung nur widerwillig folgte. Aufmerksam musterte er sie, während er näher kam. Ihr Gesicht selbst verriet keinerlei Emotionen, doch ein dunkles Feuer, welches in ihren Augen brannte, sagte alles über ihre Absichten aus. Das von einer Scheide verborgene Schwert stand im totalen Gegensatz zum Arztkittel, den sie trug. Nur noch wenige Meter war er von der Katzenpranke entfernt, als ihr Daumen die Klinge mit einem Klicken wenige Zentimeter aus der Scheide schob. Schweigend standen sich beide gegenüber.

„Vor nicht allzu langer Zeit wurde euch meine Tochter anvertraut. Sie sollte einen Konvoi begleiten, der unter eurem Befehl stand, Ritter Allen.“, sagte sie schließlich. „Seitdem hat sie sich von dem Einsatz nicht zurückgemeldet. Meinen Quellen zufolge habt ihr, Allen Shezar, ihr den Kopf verdreht, weswegen ich euch schon töten könnte. Viel schlimmer ist allerdings, dass ihr hier seid und sie nicht. Wo ist sie?“

„Wir sollten reingehen.“, schlug Allen vor. Ohne der kampfbereiten Ärztin einen Blick zu zuwerfen, trat er an sie vorbei. Siris Mutter hielt ihre Wut nun nicht mehr zurück und warf die Schiede weg. Das gezogene Schwert richtete sie auf seinen Rücken.

„Wehrt euch!“, schrie sie ihn an.

Allen blieb stehen, doch anstatt ihr zu antworten, löste er den Gürtel, an dem sein Schwert hing, woraufhin es klirrend auf den Metallboden aufschlug. Wehrlos streckte er seine Hände vom Körper weg. Einen Moment glaubte er, sie würde ihrem Zorn nachgeben, doch dann hörte er, wie sie sein Schwert aufhob, und spürte, wie sie ihn anstieß.

„Vorwärts!“, befahl sie.

Ein wenig überrascht registrierte Allen, dass sie ihn in den Konferenzraum trieb, der ihn als Treffpunkt beschrieben worden war. Kurz bevor sie beide eintraten, steckte Siris Mutter ihr Schwert weg. Hitomi empfing ihn mit einem warmherzigen Lächeln und einer festen Umarmung, die ihn nichts mehr von der Verlegenheit, die sie ihm vor drei Jahren stets entgegengebracht hatte, spüren ließ.

„Du bist erwachsen geworden…“, stellte Allen bewundernd fest, während er sie musterte. Ihr schlichtes Kleid unterstrich ihren Anspruch eine Frau zu sein. „…und du bist vergeben.“, fügte er hinzu, als er Vans Arm um ihre Hüfte liegen sah. Langsam sank allen auf seine Knie und gab ihr einen Handkuss. „Ich wünsche euch alles Gute, euer Hoheit.“, sagte er förmlich.

„Noch sind wir nicht verheiratet.“, verbesserte Hitomi ihn verlegen, woraufhin Allen triumphierend lächelte. Van hingegen begrüßte ihn gewohnt kühl und beließ es bei einem festen Händedruck. Dann viel ihm die Frau auf, die hinter Allen hereingekommen war und beide Hände hinter ihrem Rücken verschränkte.

„Ich kann mich nicht daran erinnern, euch eingeladen zu haben.“, erkundigte er sich streng.

„Die Einladung hat sie von mir.“, erklärte Allen schnell, ehe Siris Mutter antworten konnte. „Ich denke, sie hat ein Recht hier zu sein.“

Van wollte ihn gerade zurechtweißen, als Hitomi seine Hand nahm, sie sanft drückte und ihn anlächelte.

„Ich fürchte, man hat uns einander noch nicht vorgestellt.“, sagte sie zu der Frau. „Mein Name ist Kanzaki Hitomi.“

Die Ärztin horchte auf.

„Ich dachte, Hitomi wäre euer Vorname.“, wunderte sie sich.

„Dort, wo ich herkomme, sagt man den Familiennamen zuerst. Mein persönlicher Name lautet tatsächlich Hitomi.“, klärte Hitomi sie auf. „Wie heißt ihr?“

Die Frau warf ihr einen eiskalten Blick zu, doch Hitomi behielt ihr entwaffnendes Lächeln bei.

„Sana Riston.“, sagte die Frau schließlich. Ohne Hitomi einen weiteren Blick zu würdigen, ging sie auf den ovalen Konferenztisch zu und setzte sich. Respektvoll nickte sie Merle zu, die ihr gegenübersaß. Sowohl Van als auch Hitomi setzten sich neben das Katzenmädchen, welche angesichts dieser fürsorglichen Geste mürrisch ihre Mine verzog. Allen nahm den Platz zwischen Sana und Hitomi ein.

Schweigen.

Merle blickte ungeduldig in die Runde.

„Worauf warten wir?“, fragte sie.

„Sophia und Antigonos sind noch nicht hier. Es dauert aber nicht mehr…“, antwortete ihr Hitomi. Die Tür flog krachend auf.

„Entschuldigt bitte die Verspätung.“, hechelte Sophia, die durch die Tür stürmte und Antigonos dabei hinter sich her zog. „Ich musste Antigonos erst wecken.“

„Macht nichts.“, beruhigte Hitomi. „Wenigstens können wir anfangen.“

„Womit denn?“, fragte Sana barsch.

„Wir könnten damit beginnen, dass jeder dem anderen erzählt, warum er hier ist.“, schlug Hitomi geduldig vor.

„Ich bin auf der Katzenpranke stationiert und bin eigentlich nur hier, um zu erfahren, wie es meiner Tochter geht.“, kommentierte Sana.

„Van und ich kamen mit der Katzenpranke, um dich zu retten.“, führte Sophia weiter aus.

„Allen?“, erkundigte sich Hitomi.

„Meine Geschichte ist etwas länger.“, warnte Allen. „Es begann damit, dass Siri den Konvoi, der unter meinem Befehl stand, von Farnelia nach Palas begleitete. Ich merkte sofort, was für ein großes Potential dieses Mädchen hatte und da man in Farnelia offenbar der Meinung war, nichts mehr für ihre Entwicklung tun zu können, nahm ich mich ihrer an. Sie willigte ein, mein Schüler zu werden.“

„Wie kam es dann, dass ihr beide bei dem Ball als Paar aufgetreten seid?“, unterbrach Sana ihn.

„Siri wollte das Verschwinden von Hitomi aufklären und die Hinweise führten nach Palas. Mit der Einladung zu Ball ermöglichte ich ihr den Kontakt zu Personen, die sie für ihre Ermittlungen brauchen würde.“, erklärte Allen.

„Wenn sie eure Schülerin ist, warum ist sie dann nicht hier?“, hakte sie nach.

„Auf der Heimfahrt… wurden wir in meiner Kutsche überfallen. Der Angreifer schoss mit einem Bolzen den Kutscher nieder und besiegte mich in einem Duell.“

„Was?“, platzte es aus Sophia heraus. „Wer könnte euch besiegen?“

„Gestern sah es auch nicht gut für mich aus.“, erinnerte Allen sie.

„War es etwa der Glatzkopf?“, fragte sie neugierig.

„Nein, der Angreifer hatte eine viel elegantere Schwertführung, als dieser Soldat aus Fraid sie jemals haben könnte. Er schlug mich nieder und als ich aufwachte, fand ich Siri in der Kutsche liegend mit zwei Stichwunden zwischen Hals und Nacken. Ich brachte sie in meine Villa. Als sie eine Woche später aufwachte, sagte sie mir noch, dass sie den Angreifer kennen würde, bevor sie versuchte mich umzubringen. Ich konnte gegen sie bestehen, aber nur weil sie noch Schwächen in ihren Techniken hatte. Ansonsten hätte ich, wie gegen den Angreifer eine Woche zuvor, keine Chance gegen ihre übermenschliche Schnelligkeit und Stärke gehabt. Nachdem ich sie verletzen hatte, floh sie.“

Sana starrte schweigend auf den Tisch. Besorgt registrierte Hitomi das gelegentliche Zucken ihrer Wangen.

„Das erklärt immer noch nicht, warum du hier bist.“, drängte Van.

„Nachdem ich am nächsten Tag meinen Bericht bei Baron Trias abgab, traf ich Dryden. Nein, eigentlich traf er mich. Er drückte mir heimlich eine Notiz in die Hand, in der er behauptete, dass bei niedrigem Sonnenstand des Öfteren Hitzeflimmern über dem Tempelgelände gesehen wurde.“

Einen Augenblick lang wusste Hitomi nicht, worauf Allen hinaus wollte, bis Erinnerungen aus der Schlacht um Farnelia wieder hochkamen.

„Zaibacher Tarnumhänge!“, schlussfolgerte sie. Der Ritter nickte.

„Das war auch mein Gedanke. Ich hegte schon länger den Veracht, dass der Abrüstungsvertrag, welcher die totale Demontierung des Zaibacher Militärbestandes vorschreibt, nicht eingehalten worden war. Da ich nicht die Mittel hatte um Siri aufzuspüren, nahm ich mich stattdessen dieser Sache an. Dass ich ihr damit sogar folgte, ahnte ich nicht.“

„Hast du etwas gefunden?“, fragte Van.

„Nur ein Luftschiff, das von einem Tarnnetz umgeben ist. Meine Männer bewachen es. Offensichtlich verwendeten die Bauer dieses Schiffes Zaibacher Technologie, doch da es sich um eine Neuentwicklung handelt, fällt es nicht unter den Vertrag.“, sagte Allen enttäuscht.

„Das ist mein Schiff.“, klärte Merle Allen auf.

„Farnelia hat es entwickelt?“

„Nein, wir haben es von Astoria beschlagnahmt.“

„Der Vertrag wurde trotzdem gebrochen.“, offenbarte Hitomi. „Ich wurde von einem Zaibacher Guymelef entführt und Trias hat mir gegenüber zugegeben, dass seine Kopfgeldjäger diese Maschinen verwenden. Mir hat er gesagt, dass sie eine offizielle Erlaubnis dazu hätten.“

„Nun, wenn sie eine solche Erlaubnis haben, von wem auch immer, dann ist sie bestimmt nicht offiziell.“, warf Sophia ein. „Wenn die Allianz davon erfährt…“

„…würde das auch nichts ändern.“, würgte Van ab. „Die kleinen Mitglieder haben in der Allianz längst nichts mehr zu sagen. Jedenfalls nicht solange Vasram mit seiner Bombe prahlen kann. Ehrlich gesagt würde es mich wundern, wenn Chuzario und Vasram nicht auch ihre eigenen Zaibacher Maschinen haben. Selbst ein Paar der Fliegenden Festungen könnte dank eines stetigen Flusses aus Geld zu den Inspektoren übersehen worden sein. Was mich mehr interessiert, ist, wie du mit Trias reden konntest. Hat er etwa…?“

„Ja, er brach in meinem Kopf ein, aber das geschah in der Siedlung der Wolfsmenschen, lange bevor ich gefangen wurde. Unser Gespräch hingegen führten wir von Angesicht zu Angesicht. Er besuchte mich während meiner Gefangenschaft hier und versuchte mich auf seine Seite zu ziehen.“, entgegnete Hitomi.

„Kann er noch immer deine Gedanken spüren?“, fragte er besorgt.

„Er versucht es nicht mehr. Wozu auch? Er weiß sowieso schon alles, was ich weiß.“

„Und Siri gehorcht ihm?“, wollte Allen wissen.

„Sie hat ihn mir als ihren Meister vorgestellt.“, erwiderte Hitomi.

„Dann war also Baron Trias der Attentäter.“, schlussfolgerte er.

„Wahrscheinlich.“, stimmte sie zu. „Er hat sie mit einem Virus unter seiner Kontrolle gebracht, der sie an seinen Willen kettet, sie viel stärker macht und ihren Körper sehr schnell heilen lässt. Er behauptet, diesen Virus selbst kreiert zu haben.“

„Dann ist sie verloren?“, fragte Sana, während sie gegen ihre Tränen kämpfte.

„Nein. Sie hat noch immer einen Rest eigenen Willen.“, widersprach Allen. „Zumindest hatte sie ihn noch, als sie gegen mich kämpfte, aber Trias scheint diesen unterdrücken zu können.“

„Durch Schmerzen. Wenn sie ihm nicht gehorcht, quält er sie auf unmenschliche Art und Weise. Doch wenn Trias sterben oder sie gehen lassen würden, hätten wir wahrscheinlich die alte Siri wieder.“, ergänzte Hitomi.

„Aber das sind alles Vermutungen.“, stellte Sana fest. „Keiner hier weiß etwas Genaueres.“

„Um mehr zu wissen, müsste man den Virus selbst untersuchen.“, gab Hitomi zu.

„Wie kamst du und Merle überhaupt hier her?“, fragte Van.

„Nun, wie schon gesagt, flohen wir aus Farnelia erst einmal in die Höhle der Wolfsmenschen. Dort blieben wir einige Zeit lang, bis wir beschlossen, nach den Nachfahren des Volkes des Drachengottes zu suchen. Deshalb flogen wir beide mit dem beschlagnahmten Luftschiff hierher.“ Ihren Blick auf Antigonos gerichtet, sagte sie: „Einen haben wir sogar gefunden.“

„Haben wir?“, wunderte sich Merle.

„Natürlich.“, versicherte Hitomi. „Nicht wahr, Antigonos?“

„Wie kommst du darauf?“, knurrte Antigonos.

„Nun, die Falle war für Van bestimmt. Da sich Trias offenbar mit Gentechnologie auskennt, war er wohl auf Vans Erbinformationen aus. Und dir hatte Trias auch schon mal eine solche Falle gestellt, nicht wahr? Also bist auch du ein Nachkomme des Drachenvolkes.“, erläuterte Hitomi.

„Ich bin nicht nur einfach ein Nachkomme. Ich bin vom Drachenvolk!“, verkündete Antigonos stolz. „Genauso wie dieser Trias, wenn es stimmt, dass er das Virus erschaffen hat.“

„Was ist passiert?“, forderte ihn Hitomi sanft auf.

„Welches Datum haben wir?“

Hitomi sah Van fragend an, der Antigonos das Datum nannte.

„Dann muss es jetzt schon eine Ewigkeit her sein. Der Verlust von Atlantis lag erst ein paar Jahrhunderte zurück und trotzdem verblassten langsam unsere Erinnerungen. Es gab wieder einige, die sich wie Götter fühlten. Zu dieser Zeit lebten wir auf einem Luftschiff. Auch wenn unsere Ängste schwanden, war unser Gesetz unumstößlich. Jeder, der wieder mit seinen Willen die Welt beeinflussen wollte, wurde verbannt. So geschah es auch mit Trias. Er hielt die menschliche Rasse für schwach und wollte sie stärker machen, indem er sie mit Tieren kreuzte.“ Mit funkelnden Augen sah er Merle an. „Ja, auch du, Katzenmädchen, bist nur ein Produkt aus seinem Labor.“ Merle ballte vor lauter Wut ihr Faust, doch Hitomi hielt sie zurück. „Man dachte, mit der Verbannung wäre das Problem gelöst, doch Trias gelang es durch einen seiner Schüler Laborausrüstung aus unserem Luftschiff herauszuschmuggeln und weiterzumachen. Ich bekam zufällig mit, was mein Klassenkamerad tat und stellte ihn zur Rede.“, erzählte Antigonos weiter. „Trias jedoch hatte ihn mit seinem Wahnsinn vergiftet, so dass er mich angriff.“ Antigonos schluckte. „Der Rat der Ältesten lehnte meine Bitte ab, dem nachzugehen, also flog ich alleine los um Trias zu stellen, doch er nahm mich gefangen.“

„Ist es normal, dass jemand deines Volkes nicht altert?“, erkundigte sich Sana.

„Nein, wir haben eine Lebenserwartung von nur tausend Jahren, wobei es aber Ausnahmen gibt. Das Kühlmittel im Tank hat meinen Körper die ganze Zeit über konserviert. Schon zu meiner Zeit verfügte Trias über diese Technologie, um die Gewebeproben für seine Experimente möglichst lange frisch zu halten.“, erklärte er.

„Also haben wir hier es mit einem unsterblichen Irren zu tun, der über eine hohe gesellschaftliche Position und Biotechnologie verfügt, damit Supermenschen erschafft und sie versklavt. Jetzt stellt sich nur noch die Frage, wozu das ganze.“, fasste Allen zusammen.

„Außerdem verfügt er über Kontakte zur Erde.“, fügte Hitomi hinzu.

„Woher weißt du das?“, hakte Allen nach.

„Er weiß Dinge. Dinge, die er eigentlich nicht wissen sollte.“

„Könnte er sie nicht von dir haben?“, zweifelte Merle.

„Selbst wenn du Recht hast, erklärt das noch nicht die Falle im Gang, die aus Projektilwaffen und Lichtschranken gefertigt war.“, widersprach Hitomi.

„Licht…was?“, fragte Merle.

„Sofern der Bann, der ihn an Gaia fesselt, nicht aufgelöst worden ist, kann er die nicht selbst geholt haben.“, gab Antigonos zu bedenken.

„Wenn Siri die Wahrheit gesagt hat, ist der Bann noch immer wirksam. Bei seinen Sklaven ist das eine ganz andere Sache.“, sagte Hitomi und kämpfte mit ihren Tränen. „Siri holte meinen Bruder von der Erde und biss ihn vor meinen Augen.“

„Das heißt also, er könnte auch auf dem Mond seine Anhänger haben.“, äußerte Allen seine Vermutung.

„Es gibt nichts, was ihn daran hindern könnte.“, wimmerte Hitomi. Schnell stand Van auf und bot Hitomi an, sie nach draußen zu begleiten, doch sie entzog sich seinem sanften Griff.

„Nein, das hier ist wichtig.“, bekräftigte sie und schluckte ihren Kummer herunter.

„Aber warum tut er das? Was ist sein Ziel?“, wiederholte Allen seine Frage.

„Er wollte mich dazu überzeugen mit der Kraft meiner Gedanken einen Krieg von Zaum zu brechen, der alle Menschen töten sollte. Angeblich, um endlich einen totalen Frieden zu ermöglichen.“

„Das heißt, wir müssen dich verstecken. Damit er es nicht noch einmal versuchen kann.“, schlussfolgerte Van.

„Das wird er nicht. Ich habe ihm gesagt, dass ich da nicht mitspiele und jetzt weiß er es auch. Deswegen sollte auch Ryu…mein Bruder mich töten. Ich war wohl schon seit meinem Abschied von Gaia vor drei Jahren nur ein Ausweichplan, mit dem Trias die Ausrottung der Menschheit am schnellsten erreicht hätte. Inzwischen bin ich eine Belastung für ihn und seine Sklaven sind sein neuer Plan.“, erläuterte Hitomi. „Schließlich beißen sie nicht nur zu, um neue Sklaven zu erhalten, sondern auch um ihren Durst zu stillen. Sie bräuchten zwar das menschliche Blut nicht zum Überleben, dennoch stellt es für sie ein Leckerbissen dar, dem sie sich nur schwer entziehen können.“

„Trifft das auch auf seine anderen Schöpfungen zu?“, erkundigte sich Merle leise, während sie auf die Tischkante starrte.

„Nein.“, beruhigte Antigonos sie. „Meiner Klasse gegenüber hatte Trias noch gesagt, dass die Menschen in seinen Augen vor allem wegen ihrem großen Ego zu schwach sind. Sie könnten keine einheitliche Gemeinschaft bilden, die sich über ihren gesamten Lebensraum erstreckt. Deswegen wollte er sie mit anderen Tierrassen kreuzen, um Menschen mit einem größeren Bewusstsein für das Kollektiv zu erschaffen.“ Wieder sah er Merle an, als er hinzufügte: „Anscheinend hat er auch das Gegenteil versucht.“

Ein weiters Mal wollte Merle ihn an die Kehle springen, doch Van und Hitomi hielten sie gemeinsam zurück.

„Das reicht!“, entschied Allen. „Ich gehe nach Astoria und töte Trias. Dann hat der Spuk ein Ende.“

„Wie willst du das alleine schaffen?“, wunderte sich Van. „Du hast ihn schon einmal nicht besiegen können.“

„Außerdem bringt es nichts, ihn zu töten.“, gab Hitomi zu bedenken. „Seine Anhängerschaft ist schon längst ein Selbstläufer geworden. Auch ohne ihn werden sie sich vermehren.“

„Nicht nur das.“, stimmte Merle zu. „Sie wären ohne Oberhaupt und damit unkontrollierbar. Außerdem wissen wir nicht, wie viele es von ihnen gibt und wo sie sich befinden.“

„Wir müssen auf jeden Fall mehr Informationen beschaffen, bevor wir reagieren können.“, riet Van.

„Wir beide müssen nur eines, Van. Nach Hause fliegen.“, verbesserte ihn Sophia. „Wir sind schon viel zu lange weg.“

„Aber…“

„Sie hat Recht, Van, und du weißt es.“, sagte Hitomi. „Es wäre besser, wenn Allen und Merle gemeinsam die Infos besorgen, die wir brauchen.“

„Gemeinsam?“, fragten Merle und Allen im Einklang.

„Natürlich.“, sagte Hitomi und lächelte. „Allen ist von uns am ehesten dazu in der Lage sich in den offiziellen Kreisen von Astoria zu bewegen, während Merle keine Schwierigkeiten haben sollte, sich dort inoffiziell zu betätigen. Ihr ergänzt euch perfekt.“

Missmutig sah Merle Allen an, der seine gefühlsneutrale Mine beibehielt.

„Ich fürchte, ich muss ablehnen.“, verkündete er. „Sollte ich tatsächlich mal einen Einbrecher benötigen, wende ich mich an den Maulwurf.“

„Willst du etwa sagen, ich wäre schlechter als dieser Fettsack?“, brüllte Merle ihn an.

„Natürlich nicht.“, beschwichtigte Allen. „Aber im Gegensatz zu dir kann er auf seinen eigenen Füßen zu stehen.“

In Merles Augen standen in Flammen, als sie sich mit einem Arm auf den Tisch abstützte und mit dem anderen ihren Stuhl zurückschob. Dann stemmte sie mit beiden Armen ihren Körper empor und zog schließlich ihre Arme zurück. Wankend stand sie da und versuchte, die Schmerzen in ihren Gliedern durch ein Grinsen zu überdecken.

„Zufrieden?“, fragte sie.

„Ich nehme dich mit nach Palas, aber nur unter der Bedingung, dass du dich wieder hinsetzt.“, gab Allen nach. Langsam sankt Merle zurück in ihren Stuhl, während Hitomi und Van sie abstützten. „Als erstes werden wir zum Krankenhaus gehen.“

„So krank bin ich nicht!“, widersprach Merle.

„Nicht wegen dir.“, klärte Allen sie auf. „Die Offenlegung der Zaibacher Technologie hatte die Einrichtung eines Institutes ermöglicht, welches sich auf Gentechnik spezialisiert. Ich denke, wir sollten dort anfangen.“

„Kann man dem Personal vertrauen?“, fragte Hitomi.

„Ich nehme es an. Schließlich hat Milerna vor kurzem die Leitung des Krankenhauses übernommen.“, entgegnete Allen.

„Milerna? Dann durfte sie ihr Medizinstudium beenden?“, freute sich Hitomi.

„Sie durfte. Aber nur, weil sie in der Zeit zwischen Drydens Verschwinden und der Genesung König Astons die Amtsgeschäfte führte. Innerhalb dieser kurzen Zeit hatte sie so viel über die Politik gelernt, dass sie anfing auch danach ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, um den Opfern des Krieges zu helfen. Damit sie sich nicht mehr einmischt, hat ihr Vater etwas zu tun gegeben.“, erzählte Allen.

„Je mehr ich über dieses Schwein weiß, umso mehr schäm ich mich, einmal mit ihm in einen Raum gewesen zu sein.“, kommentierte Merle.

„Ich würde gerne ebenfalls mitkommen.“, meldete sich Sana zu Wort. „Wenn es ein Mittel gegen diesen Virus gibt, möchte ich helfen es zu entwickeln.“

„Einverstanden.“, sagte Allen und nickte ihr zu. „Wir werden den Crusador nehmen.“

„Warte! Was wird aus dem Kopfgeldjägerschiff? Ich bin der einzige, der es fliegen kann“, fragte Merle.

„Wie tragen es mit der Katzenpranke nach Farnelia.“, schlug Van vor.

„Fällt das nicht auf, wenn die Haken draußen sind, aber nichts dranhängt?“, gab Merle zu bedenken. Van zuckte mit den Schultern.

„Wir behaupten einfach, dass die entsprechenden Kontrollen kaputt sind.“

„Und was wird aus Hitomi und Antigonos?“, hakte Merle nach.

„Sie können mitkommen.“

„Van, das geht nicht. Du riskierst einen Krieg.“, widersprach Sophia.

„Niemand muss wissen, dass sie in Farnelia sind. Wir können sie in den Höhlen der Kopfgeldjäger unterbringen.“, konterte Van.

Merle schüttelte ungläubig ihren Kopf.

„Und du glaubst wirklich, dass die Kopfgeldjäger sie dort nicht finden werden?“

„Merle und Sophia haben Recht, Van.“, stimmte Hitomi zu. „Farnelia ist nicht sicher für mich.“

„Der Mond ist es aber auch nicht.“, sagte Merle. „Trias weiß, wo du wohnst.“

„Ich kann sowieso nicht dorthin gehen. Vans Bann hält mich noch immer zurück.“, erklärte Hitomi lächelnd. „Ich muss an einen Ort auf Gaia, an dem die Allianz keine Macht hat.“

„Du wirst keinen finden.“, erwiderte Allen. „Es sind zwar nicht alle Länder Mitglieder der Allianz, aber vor allem durch Vasrams Bombe konnte mit jedem Land ein Auslieferungsvertrag vereinbart werden.“

„Zumindest allen Ländern, die sie kennen. Aber Vans Mutter muss ja auch irgendwo gelebt haben, bevor sie seinen Vater traf. Vielleicht gibt es sogar noch das Luftschiff, von dem Antigonos gesprochen hat.“, mutmaßte Hitomi.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es noch da ist. Alles, was unser Volk erschafft, ist für die Ewigkeit gebaut.“, bestätigte Antigonos.

„Unmöglich! Ein Luftschiff, welches ein ganzes Volk beherbergt, kann sich nicht verstecken. Es müsste riesig sein.“, meinte Sana.

„Och, das Schiff der Isparno war auch nicht schlecht. Damals hätte ich nicht gedacht, dass eine Werkstatt so groß sein kann.“, widersprach Hitomi.

„Ihr habt die Isparno getroffen.“, staunte Antigonos.

„Sie reparierten meinen Guymelef.“, sagte Van.

„Die haben euch wirklich geholfen?“, hakte Antigonos nach.

„Nachdem Dryden ihnen seine ganze Handelsflotte überlassen hatte.“, antwortete Hitomi trocken. „Also, bringst du mich zu ihnen? Oder weißt du etwa nicht, wo sich das Luftschiff deiner Leute befindet.“

„Ich kann spüren, wo es ist.“, sagte er, wobei er sich fragte, warum niemand sich über seine Aussage zu wundern schien. „Allerdings darf niemand das Flugschiff betreten, der mechanische Mittel einsetzt, um dorthin zu gelangen.“

„Ich transportiere mich mit eine Lichtsäule auf das Schiff.“, schlug Hitomi vor.

„Auch das ist verboten.“

„Dann trag mich bitte.“

„So stark bin ich nicht. Das Schiff befindet sich tausende Meter über dem Meeresspiegel. In dieser Höhe brauche ich sämtliche Kraft für mich selbst. Es gibt jedoch ein anderes Wesen, welches die nötige Stärke besitzt, um dich so hoch zu tragen. Aber es wird nicht einfach sein, es zu überreden.“, erläuterte Antigonos.

„Das krieg ich schon hin.“, äußerte sich Hitomi optimistisch.

„Wir alle müssen uns noch vorbereiten. Packen wir es an!“, befahl Van.

Unbarmherzige Stimmen

„Er steht dir wirklich ausgezeichnet.“, sagte Merle. Hitomi, die sich in dem hautengen, schwarzen Overall nicht allzu wohl fühlte, betrachtete sich skeptisch im Spiegel.

„Du erwartest doch hoffentlich nicht, dass ich das jeden Tag trage?“, fragte sie.

„Nein, natürlich nicht. Nur wenn du flüchten musst und auch nur, wenn es dunkel ist.“

„Gut. Dieser Anzug überlässt nun wirklich nichts der Fantasie.“

„Ein Grund mehr für dich nicht gesehen zu werden.“, erwiderte Merle grinsend. „Komm! Ich hab noch ein bisschen mehr für dich.“

„Noch mehr?“

Seitdem sie aus dem Lagerraum der Katzenpranke zurückgekommen war, hatte sie für ihre Freundin allerlei kleine Überraschungen hervor gezaubert, wie auf Gaia übliche Alltagskleidung und eine kleine Gürteltasche, gefüllt mit medizinischer Grundausrüstung und einem Kompass.

„Erst einmal brauchst du etwas, um das ganze Zeug zu verstauen.“, meinte Merle und präsentierte Hitomi ihre Sporttasche.

„Meine Tasche? Oh, Merle, du bist super!“, rief Hitomi überglücklich.

„Bedank dich bei Van. Er hat sie mitgebracht.“, klärte Merle sie auf. Hektisch riss Hitomi den Verschluss auf und inspizierte den Inhalt. Ihre Schuluniform, ihre Sportsachen, ihr Pieper und ihr CD-Player, in dem sich noch immer die CD befand, die sie in Palas auf einen Markt gefunden hatte, alles war noch da…fast alles. Wenig überrascht registrierte sie, dass auf den Pieper dutzende Nachrichten eingegangen waren und dass die Salzstangen fehlten.

„Merle?“, fragte sie streng. Diese lächelte viel sagend zurück. Hitomi entschied, es dabei zu belassen, und wandte sich wieder ihre Tasche zu. Als sie den Grund ihrer Tasche durchsuchte, merkte sie, dass sich das Material ganz anders anfühlte, als sie es gewohnt war.

„Ich hab ein Stück Stoff über den Taschenboden nähen lassen. Darunter kannst du flache Gegenstände verstecken. Leider konnte ich kein Stoff finden, der dem Material deiner Tasche gleicht.“, offenbarte Merle ihr.

„Merle, was soll ich damit? Ich bin keine Geheimagentin.“, zweifelte Hitomi.

„Aber du bist auf der Flucht. Praktisch gesehen ist es ein und das Selbe.“, erwiderte Merle Schulter zuckend. „Du darfst niemandem vertrauen!“, warnte sie eindringlich. „Die offenherzige Art, mit der du selbst Falken begegnet bist, ist ab jetzt absolut tabu.“

„Das Volk des Drachengottes vertraut mir sosehr, dass ich auf ihr Schiff darf. Wie kann ich ihnen dann mit Misstrauen begegnen?“, fragte Hitomi entrüstet.

„Du musst!“, verlangte Merle. „Selbst auf dem Schiff…Gerade auf dem Schiff solltest du dir immer einen Fluchtweg offen halten. Ich meine, woher willst du wissen, dass sie dich wirklich beschützen und nicht gefangen nehmen wollen? Woher willst du wissen, dass sie dich überhaupt auf ihr Luftschiff lassen? Wir haben nur die Zusage von einem Mann, der wahrscheinlich tausende Jahre nicht dort war, geschweige denn mit ihnen geredet hat.“

„Oh, Antigonos hat mit ihnen geredet!“, bekräftigte Hitomi. „Ich deutlich gespürt, wie er seine Gedanken ausgesandt hat.“

„Weißt du auch, was er ihnen gesagt hat?“, hakte Merle nach.

„Nein, er schickt seine Gedanken zwar in alle Richtungen, doch scheint er deren Inhalt verschlüsseln zu können. Alles, was ich wahrgenommen habe, war unverständliches Gebrabbel. Allerdings waren es jedes Mal unterschiedliche Gedanken. Also muss ein Gespräch stattgefunden haben.“, erläuterte Hitomi.

„Das beruhigt mich jetzt nicht wirklich.“, entgegnete Merle trocken.

„Ich bin kein Kind mehr, Merle.“, belehrte Hitomi sie. „Ich kann selbst auf mich aufpassen.“

„Das gleiche dachte ich auch über Siri.“, sagte Merle traurig lächelnd. „Sie zeigte einen solchen Hang zur Selbstständigkeit, dass ich dachte, sie wäre bereit selbst ihre Erfahrungen zu machen. Ich dachte, nur so könnte sie noch etwas lernen. Stattdessen ließ sie sich von einem bekannten Frauenheld einwickeln und in eine Marionette verwandeln.“ Eine Träne kullerte über Merles rechte Wange. „Sie war noch nicht soweit! Ich hätte sie niemals gehen lassen dürfen. Sie hätte in Farnelia bleiben sollen.“ Sie fing an zu schluchzen. Langsam umarmte Hitomi das Katzenmädchen und drückte sie sanft an sich. „Ich frag mich, wie ihre Mutter mir ins Gesicht sehen konnte. Ich frag mich, wie ich ihr ins Gesicht sehen konnte. Ich frage mich wie du mir noch ins Gesicht sehen kannst. Es ist alles meine Schuld!“, schluchzte Merle.

„Sana weiß, dass du nichts falsch gemacht hast, genau wie ich. Für das, was mit Ryu und Siri geschehen, bist du nicht verantwortlich.“, tröstete Hitomi sie. „Ganz im Gegenteil. Wir beide haben großes Vertrauen in dich. Warum sonst hätten wir dir die Schlüsselrolle der Aufklärungsmission überlassen sollen.“

„Ich denke, ich soll mit Allen zusammenarbeiten.“, wunderte sich Merle, während sie sich aus der Umarmung löste.

„Natürlich!“, sagte Hitomi schief grinsend. „Aber ich denke, er wird sehr schnell feststellen, dass die direkte Art, mit der er und Van die Dinge anpacken, für die unauffällige Beschaffung von Information nicht sehr nützlich ist. Allen wird sich einiges von dir abschauen müssen.“

Ohne zu wissen, warum, atmete Merle erleichtert auf.

„Wie ist er eigentlich so?“

„Wer?“

„Na, Allen! Ihr beide wart doch mal in einander verliebt.“

Hitomi dachte einige Augenblicke nach, ehe sie antwortete.

„Weißt du, ich glaube nicht, dass wir wirklich verliebt waren. Ich weiß nicht, wie Allen das sieht, aber ich schwärmte eigentlich nur von ihm. Ich meine, im Vergleich zu Van war er sehr höflich, vorzeigbar, elegant und überaus fürsorglich. Er war wie ein Anker, der verhinderte, dass der Strom der Ereignisse mich fortriss. Außerdem erinnerte er mich an jemanden vom Mond der Illusionen, für den ich ebenfalls etwas empfand.“

„Wenn du damals nicht zum Mond der Illusionen zurückgekehrt wärst, hättest du dann seinen Heiratsantrag angenommen?“, fragte ihre Freundin neugierig.

„Ich weiß es nicht.“, antwortete Hitomi ehrlich. „Damals, als er mich fragte…ich war so durcheinander. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.“ Sie sah Merle lächelnd an. „Als ich zurück auf der Erde war, stellte ich fest, dass mein Schwarm eigentlich schon vergeben war…und dass meine Gefühle für ihn und Allen nicht echt waren. Bis ich merkte, dass ich Van wirklich und wahrhaftig liebe, verging noch mehr Zeit.“

„Aber du wusstest es bereits, als ihr beide Abschied nahmt. Wieso bist du nicht bei im geblieben?“, erkundigte sich Merle.

„Damals war ich erst vierzehn. In meiner Welt treffen Kinder in diesem Alter noch keine Entscheidungen, die ihr ganzes Leben bestimmen. Sie leben praktisch nur für die nächste Prüfung. Ich war noch nicht bereit, mich von diesem doch recht komfortablen Leben zu trennen.“

„Hier auf Gaia ist vierzehn für ein Mädchen ein normales Alter fürs Heiratet.“, merkte Merle an.

„So? Warum bist du noch nicht verheiratet? Du bist doch bestimmt schon fünfzehn.“, fragte ihre Gefährtin.

„Wer sagt, dass ich es nicht bin?“, erwiderte Merle. Hitomi glotzte sie an. „Das war nur ein Scherz. Für mich war einfach noch nicht der richtige dabei. Und da ich keine Eltern oder Verwandte habe, die mich vermitteln können, habe ich die Qual der Wahl.“ Sie hielt einen Moment lang inne und fuhr dann fort. „Eigentlich“, erzählte sie. „hatte ich bis jetzt überhaupt keine Wahl, denn es gab noch keine Anwärter.“

„Warum nicht?“

„Ich glaube, dass liegt an meinem Wesen. Tiermenschen sind nicht sonderlich beliebt, weißt du. Und dann ist da noch meine Arbeit…“

„Man hat dich doch immer sehr freundlich in Farnelia behandelt.“

„Ja, aber wenn es um die Erhaltung der Art geht, bleiben die Menschen gerne unter sich.“

„Und außer Van gibt es niemanden, der dir gefällt?“, erkundigte sich Hitomi.

„Nein.“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Merle fühlte, wie der wissender Blick ihrer Freundin auf sie lastete und beschloss das Thema zu wechseln. „Lass uns mal nachsehen, was ich noch für dich habe.“, drängte sie und holte rotes, mit goldenen Fäden geschmücktes Gewand aus einem der Schränke. Dazu zauberte sie ein Dokument hervor, welches das offizielle Siegel von Farnelia trug.

„Dies ist ein Gewand, wie es unsere wenigen Abgesandten bei diplomatischen Anlässen tragen. Das Dokument weißt dich ebenfalls als Diplomatin aus. Zeige es nur, wenn du sicher bist, dass die Allianz nichts davon erfährt!“

„Aber Farnelia hat mit dem Volk des Drachengottes doch noch nicht einmal diplomatische Beziehungen aufgenommen. Wie soll ich ohne entsprechende Verträge dort als Diplomatin anerkannt werden.“, fragte Hitomi verwundert.

„Indem du ordentlich auf den Putz haust.“, schlug Merle grinsend vor. „Versprüh einfach ein bisschen Autorität.“

„Du hast gut reden.“, beschwerte sich Hitomi. „ Als ob das so einfach wäre.“

„Als zukünftige Königin von Farnelia solltest du das können.“, hielt Merle dagegen, woraufhin Hitomis Augen feucht wurden. „Hey, was ist denn los?“, erkundige sich Merle besorgt.

„Ach, nichts. Ich hatte nur fast schon den Gedanken aufgegeben, dass Van und ich eines Tages gemeinsam in Farnelia leben könnten.“

„Mach jetzt nicht schlapp! Ihr seid soweit gekommen. Du darfst das nicht aufgeben!“

„Ja, ich weiß.“, sagte Hitomi und rieb sich die Tränen aus den Augen. Jemand klopfte an die Tür. Merle wusste schon anhand der Aura, wer es war, und rief: „Herein!“ Sofort, nachdem Van die Tür geöffnet hatte, fiel sein Blick auf Hitomi und ihrem nur von dem dünnen Overall bedeckten Körper. Er pfiff begeistert.

„Gefällt es dir?“, fragte sie und drehte sich langsam um ihre eigene Achse.

„Wäre ich doch nur einer der Häscher, die dich verfolgen.“, wünschte er sich gaffend.

„Dann müsste ich dich ja töten.“, scherzte Merle.

„Dieser Anblick ist es auf jeden Fall wert.“, bekräftigte er. Sanft schlang er seine Arme um Hitomis zarten Körper und küsste sie leidenschaftlich. Merle gluckste.

„Ich lass euch Turteltauben besser allein.“, verabschiedete sie sich und schloss hinter sich die Tür. Van und Hitomi beachteten sie nicht. Stattdessen überließen sie sich ganz dem Tanz ihrer Zungen und ihren forschenden Händen. Keiner von beiden wusste, wie viel Zeit vergangen war, als sich ihre Lippen voneinander trennten um Luft zu holen. Fasziniert sahen sie in die kristallklaren Augen des Gegenübers.

„Komm mit mir!“, bat Van leise.

„Ich kann nicht. Das Kopfgeld…“, erwiderte Hitomi traurig.

„Natürlich kannst du.“

„Nein, dann bringe ich alle in Gefahr. Dich, Merle, Farnelia…“

„Dann lass uns irgendwo hingehen, wo uns niemand kennt! Wo es nur uns beide gibt.“, forderte er eindringlich, doch sie schüttelte mit dem Kopf.

„Wenn ich das tue, gebe ich der Stimme nach, die mir rät, nur an mich selbst zu denken. Außerdem…“, widersprach sie.

„Na und?“, sagte er. „Ständig sorgst du dich nur um andere. Du sollest jetzt mal an nur dich und mich denken.“

Entschlossen schob Hitomi Van von sich weg.

„Das darf ich nicht. Ich würde der Stimme nachgeben. Ich würde dem Verlangen nachgeben, alle anderen Stimmen zum Schweigen zu bringen.“

„Was meinst du damit?“, fragte er verwirrt.

„Ich kann sie hören! Die Gedanken der Menschen auf Gaia. Ich kann hören, wie sie leiden und vor Schmerzen schreien. Sie klagen mich an, rauben mir den Schlaf und lassen mich nicht zu Ruhe kommen.“, sagte Hitomi verzweifelt.

„Dann schirm dich doch ab! Ich kann dir zeigen, wie das geht.“, schlug Van vor.

„Du verstehst mich nicht. Trias hatte Recht. Ich könnte mit der Kraft meiner Gedanken einen Krieg heraufbeschwören, der alles Leben vernichtet. Jedes Mal, wenn ich mich abwende, wenn ich mir selbst sage, dass mich das Schicksal der Menschen von Gaia nicht interessiert, komme ich diesem letzten Schritt immer näher. Deshalb kann ich nicht mit dir kommen.“

„Aber du kannst dich auf dieses Luftschiff verdrücken.“, konterte er wütend.

„Alles, was ich weiß, ist, wie ich Leben zerstören könnte. Von deinem Volk möchte ich lernen, wie ich mit der Kraft meiner Gedanken den Menschen helfen kann. Wenn ich das weiß, kehre ich auch wieder zu dir zurück.“, begründete sie ihre Entscheidung. Van ergriff die Hand, mit der Hitomi über seine Wange strich und presste sie an sich.

„Ich weiß nicht, ob ich ohne dich zu Recht komme. Wenn du nicht bei mir bist…“

„Ich werde immer bei dir sein.“, erschallte Hitomis Stimme in seinem Kopf, obwohl sich ihre Lippen gar nicht bewegten. „Keine Macht und keine noch so große Distanz könnte uns jetzt noch voneinander trennen.“

„Hilfst du mir packen?“, fragte sie heiter.

Ein neuer Gefährte

Wie sehr sie ihre Schuluniform vermisst hatte, merkte Hitomi erst, als sie diese wieder trug. Merle hatte ihr davon abgeraten, da sie fürchtete, dass sie mit ihrer Uniform selbst beim Drachenvolk zu viel Aufmerksamkeit erregen würde, doch sie hatte es mit der Begründung, dass sie aus ihrer Herkunft vom Mond der Illusionen kein Geheimnis machen wolle, abgelehnt Alltagskleidung zu tragen. Mit ihrer Sporttasche, die fast aus allen Nähten platzte, stand Hitomi auf dem Hof des Tempels der Fortuna und verabschiede sich von ihren Freunden, während Antigonos nur mit Schuhen und einer Hose bekleidet geduldig auf sie wartete.

Sie und Merle, welche noch immer ein wenig wackelig auf ihren Beinen stand, fanden sich in einer innigen Umarmung wieder, die das feste Band ihrer Freundschaft widerspiegelte. Allen hingegen ließ es sich nicht nehmen, Hitomi wieder mal ein verlegenes Lächeln zu entlocken, indem er sich vor ihr hinkniete, ihr die Hand küsste und sie mit einem ganzen Schwall von Lobeshymnen über ihre vollkommene Schönheit überhäufte. Wie immer war sie verwirrt und langsam begann sie sich zu fragen, ob er es wirklich ernst meinte. Ein Seitenblick zu Van lies sie schließlich wissen, dass Allen ihm nur eins auswischen wollte und sie nur ein Mittel zum Zweck war.

„Weißt du, Allen,…“, unterbrach sie ihn verärgert. „…wenn du genauso viel Zeit in das Training wie in das Brechen von Frauenherzen investieren würdest, könntest du Van auch schlagen.“

Äußerlich ließen sich beide nichts anmerken, doch durch Allens staunende und Vans kurzzeitig heitere Gedanken konnte sie sich sicher sein ins Schwarze getroffen zu haben. Sie lies Allen einfach stehen und wandte sich Sophia zu, deren heimliche Aufmerksamkeit jedoch Antigonos galt. Sie war wohl auch nur wegen ihm hier draußen, mutmaßte Hitomi zufrieden. Etwas zurückhaltend streckte Sophia ihr ihre Hand entgegen, während sie sich mühsam ein Lächeln abrang. Hitomi jedoch ignorierte die Hand und umarmte Sophia ebenfalls.

„Wenn du ihm etwas sagen willst, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.“, flüsterte sie der Prinzessin ins Ohr, woraufhin Sophia erst rot und dann wütend wurde. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, war Hitomi auch schon bei Van. Für ein paar Sekunden sahen sich beide einfach nur an, bis Van endlich die Kraft fand zu sprechen. Fest hatte er sich vorgenommen, ihr seine Liebe nun auch durch Worte zu gestehen, aber jetzt, als sie vor ihm stand, brachte er nur ein gequältes: „Pass auf dich auf!“ heraus. „Mach ich.“, sicherte sie ihm zu und presste kurz ihre feurigen Lippen auf die seinen, ehe sie zu Antigonos ging und sich neben ihn stellte.

Zuvor hatte er ihr den Zielort in ihren Gedanken gezeigt, so dass sich nur noch auf den Stein an ihrer Kette konzentrieren musste. Ihr letzter Blick, untermalt von einem Lächeln, galt Van, der nur mühsam seine Gefühle kontrollieren konnte, als eine Lichtsäule Hitomi und Antigonos verschlang und sie beide emporhob.

Statt auf kargem Gestein und rauem Sand fand sich Hitomi schließlich auf weichem Schnee wieder. Ein eisiger Wind zerrte an ihrer Kleidung und lies sie frösteln. Langsam rappelte sie sich auf und sah sich um. Es bot sich ihr ein Atem beraubender Anblick. Sie stand auf einen kleinen Felsvorsprung an einem steilen Berghang und schaute auf ein ebenes Fels aus weißen Wolken, die ein paar hundert Meter unter ihr schwebten. Eine kalte Sonne schien aus dem hellblauen Himmelzelt herab, und ließ die Wolken und den Schnee um Hitomi herum leuchten, so dass sie nirgendwo hin ihr Gesicht wenden konnte, ohne geblendet zu sein.

„Du bist gut.“, lobte Antigonos sie. „Wir sind nur ein paar hundert Meter vom Zielpunkt entfernt.“

„Ein paar hundert?“, schrie Hitomi fassungslos. „Das schaff ich nicht. Die Luft ist viel zu dünn und die Kälte friert meine Glieder ein. Überhaupt ist meine Kleidung nicht für diese Umgebung gemacht.“

„Das kurze Stück kann ich dich tragen. Steig auf!“, schlug Antigonos vor, streckte seine Flügel aus und bot ihr seinen Rücken an. Er nahm sie huckepack und stieß sich vom Fels ab. Nach ein paar Sekunden fingen seine Flügel den freien Fall ab und er segelte elegant an der Bergkette entlang. Schließlich machte Hitomi, während sie gegen den Wind anblinzelte, einen großen Vorsprung aus, der sich direkt vor einer riesigen Höhle, deren Wände von schwarzen Narben gezeichnet waren, erstreckte. Mit ein paar kräftigen Flügelschlägen bremste Antigonos seinen Flug ab und landete sanft in dem Meter dicken Schnee. Erleichtert stieg sie ab. Vielleicht hatte es an der Höhe gelegen, dass sie sich während dem Flug so unwohl gefühlt hatte, dennoch konnte sein Rücken einfach nicht mit Vans starken Händen mithalten.

„Das Wesen, welches du um Hilfe ersuchen musst, ist da drin. Ich habe dich hierher gebracht, der Rest liegt nun bei dir.“, sagte er, der sich kurz daraufhin in die Lüft erheben wollte.

„Warte, Antigonos!“, bat Hitomi. „Ich würde dich gern noch etwas fragen.“

„Was ist?“, erkundigte sich er mürrisch.

„Wie heißt du wirklich?“

„Du hast meinen Namen doch eben selbst gesagt.“

„Antigonos heiß wörtlich übersetzt ‚gegen die Vorfahren’. Ich glaube, er ist nicht dein Name, sondern ein Titel. Wie ist dein wirklicher Name?“, hielt Hitomi dagegen. Ein kurzes Aufflackern seelischer Schmerzen huschte über sein Gesicht, eher er antwortete: „Ich hab keinen Namen mehr. Auch wenn Antigonos kein ehrenhafter Titel ist, so ist er doch alles, was mir geblieben ist. Also bitte nenn mich auch so!“

Mit diesen Worten hob er ab und wirbelte dabei den lockeren Schnee um sich herum auf. Ehe Hitomi wieder etwas sehen konnte, war er verschwunden. Einen Moment suchte sie den Himmel nach ihm ab und wandte sich dann der Höhle zu. Tatsächlich spürte sie, dass die tiefe Dunkelheit Leben beherbergte. Dennoch war sie verwundert, denn sie fühlte nur die Aura eines einzelnen Wesens, dessen Gedankenstränge jedoch so komplex waren, dass es sich um eine intelligente Lebensform handeln musste. Welches Wesen mit Verstand sucht sich einen derart einsamen und kalten Platz zum Leben aus?

Sie entschloss sich, noch mehr über das Lebewesen zu erfahren, bevor sie sich ihm nähern würde. Sie nahm ihre Kette ab und hielt sie gestreckt vor sich. Mit geschlossenen Augen bündelte sie ihre Gedanken auf die Kette und sandte sie in die Höhle hinein. Wenige Augenblicke später sah sie, wie ein großes, von Schuppen umgebenes Augen sie anstarrte. Panisch öffnete Hitomi ihre Augen und verdrängte so das Bild aus ihrem Bewusstsein.

In der Höhle befand sich ein Drache!

Schnell zwang sie sich ruhiger zu werden, da sie das Tier nicht mit ihrer Angst aufstacheln wollte. Das Tier? Nein, der Drache war kein Tier, wie sie nochmals anhand dessen Gedankenströme feststellte. Es war wahrscheinlich sogar fähig mit Worten zu denken und es war ein Er. Vielleicht konnte man sich sogar mit ihm unterhalten?

„Natürlich kann man das!“, donnerte es in ihren Kopf. „Genauso, wie mit jedem anderen meiner Art.“

Plötzlich erzitterte die Erde, die weiße Pracht an der steilen Felswand bröckelte und stürzte in die Tiefe hinab. In der Dunkelheit der Höhle erschienen erst nur zwei funkelnde Augen, dann schob sich gewaltiger, schneeweißer Echsenkopf aus dem Schatten heraus ins Tageslicht. Hitomi konnte ihre Furcht nicht mehr länger kontrollieren und wich zurück, bis sie gerade noch rechtzeitig feststellte, dass es hinter ihr nicht mehr weiter ging.

„Schwaches Menschesweib! Willst du sterben?“, dröhnte die Stimme des Drachens durch ihre Gedanken. Ehe sie den Sinn dieser Worte begreifen konnte, spürte sie, wie Van sie aufforderte auszuhalten. Er sei bereits auf dem Weg. Nein, geh nicht, forderte sie. Um Van zu beruhigen sammelte sie ihren ganzen Mut, so wie sie es vor jedem Start eines Hundertmeterlaufs machte, und schaute dem Drachen direkt in die Augen.

„Ich bin gekommen, um euch um einen Gefallen zu bitten.“, verkündete sie.

„Du brauchst nicht zu schreien. Ich versteh dich auch so. Oder bist du nur so laut, um deine Angst zu verbergen?“, giftete der Drache sie an. Noch einmal rief sich Falkens Ratschläge über Drachen in ihr Bewusstsein. Mit seiner Hilfe hatte sie damals im zerstörten Farnelia ihre Angst überwinden können. Doch Falken war nicht hier, ebenso wenig wie Van, Allen oder Merle. Es war an ihr, sich ihrer Furcht zu stellen.

„Ich habe keine Angst.“, erwiderte Hitomi wahrheitsgemäß.

„Du stinkst am ganzen Körper danach.“, entgegnete der Drachekopf.

„Der Geruch ist nur ein Echo, nichts weiter.“, konterte sie. Einen Moment schien es ihr, als ob der Drache lachen würde.

„Wie wahr. Die Gefühle von euch Menschen ändern sich so schnell, dass eure Schweißdrüsen einfach nicht hinterher kommen. Wenn du nicht sterben willst, was willst du dann?“

„Ich muss auf das Luftschiff des Drachenvolkes und brauche jemanden, der mich hinfliegt.“, informierte Hitomi ihn.

„Warum?“

„Weil ich von dem Drachenvolk lernen möchte, meine Kräfte zu nutzen und zu kontrollieren. Außerdem brauche ich einen Ort um mich zu…“

„Nein, ich meine, warum sollte ich derjenige sein, der dich dort hin bringt. Es gibt auch noch andere Drachen, die dir helfen können.“, erläuterte der Drache. Sie biss sich auf die Lippen.

„Von denen ist aber keiner hier.“, hielt sie dagegen. „Ihr seid meine letzte Hoffnung und ich werde diesen Ort nicht verlassen, es sei denn, ihr tragt mich.“

„Es gibt immer andere Hoffnungen. Schließt sich eine Tür, geht woanders eine auf. Gerade ihr Menschen solltet das wissen.“

„Ich habe keine andere Hoffnung. Wenn ihr mir nicht schon helfen wollt, dann tötet mich wenigstens.“

Hitomi hörte Vans Widersprüche so deutlich, als würde er neben ihr stehen. Entschlossen antwortete sie ihm, dass es so am besten für alle wäre, selbst für ihn. Sofort bekräftigte er, ohne sie könne er nicht leben, doch sie war fest davon überzeugt, dass er es kann, es nur noch nicht wusste.

„Also willst du doch sterben.“, stellte der Drache grimmig fest, doch Hitomi lies sich davon nicht einschüchtern. Stattdessen kniete sie sich vor ihm hin, ohne Kontakt zu seinen Augen auch nur einen Moment zu verlieren.

„Mein Leben befindet sich in eurer Kralle!“, rief sie ihm zu.

„So sei es.“, schallte es in ihrem Kopf. Langsam und träge bewegte sich der Drache aus seiner Höhle heraus. Ihr viel gleich auf, dass dieser Vertreter schlanker als seine Artgenossen aus Farnelia war. Auch waren seine beiden hinteren Gliedmaßen noch nicht so weit zurückgebildet, dass er sie nicht mehr zum Laufen verwenden konnte. Seine Vordergliedmaßen hingegen endeten nicht bei den Krallen, sondern waren noch um einen Knochen erweitert, den er wie ein Flugsaurier beim Gehen einklappte. Somit hatte auch seine Flughaut, die zwischen den Vorderbeinen, dem stromlinienförmigen Körper und den kurzen Hinterbeinen eingespannt war, eine sehr viel größere Weite. Van hatte die Drachen, die in den niedrigen Lagen lebten, als Erddrachen bezeichnet. Folgte man dieser Logik, dann musste dieses von oben bis unten total weiße Geschöpf ein Himmelsdrache sein.

Wie es Hitomi schien, hatte der Drache mit seinem Imposanten Auftritt ihr nochmals Angst machen wollen, als er aber sah, dass die nicht funktionierte, schnappte er nach ihr. Sie blinzelte nicht einmal als das riesige Maul auf sie zukam und sich öffnete. Innerlich hatte sie schon mit dem Leben abgeschlossen, so dass selbst der Anblick seiner spitzen Zähne sie nicht mehr schocken konnte. Widerstandslos lies sie es zu, dass sich die riesige Zunge um sie wickelte und sie hinein zog. Sie sendete Van noch einen letzten Gruß,…

bevor sie sich wunderte, dass es nicht weiterging. Eigentlich hätte sie schon längst in winzige Stücke zerkleinert im Magen des riesigen Geschöpfes landen soll, stattdessen lag sie auf seiner weichen Zunge. Um sie herum erkannte sie die in einem dunkelblauen Licht getauchte Mundhöhle. Einen Moment lange fragte sie sich, woher das Licht stammte, mit dem sie ihre Umgebung wahrnahm, bis sie feststellte, dass sie selbst die Quelle war. Ein leuchtender Bannkreis, der perfekt an ihrem Körper angepasst war und auch ihre Bewegungen mitmachte, schützte sie vor dem Speichel und filterte für sie die Luft, wie Hitomi mit einem Blick auf die verfaulenden Fleischreste in den Zahnzwischenräumen feststellte. Sie war es nicht, die den Bannkreis aufrecht hielt.

„Nein, ich schütze dich.“, fuhr die nun sanfte Stimme des Drachens durch ihre Gedanken. „Normalerweise haben die Menschen Angst und verstecken sich vor mir, doch du hast mich gesucht. Wenn sie mich suchten, dann nur um mich zu töten, doch du hast dich meiner Gnade ergeben. Du bist nicht wie die anderen Menschen. Ich werde dich zum Drachenvolk bringen, wenn ich dafür auch einen Gefallen von dir einfordern darf.“

„Natürlich.“, sendete Hitomi ebenso freundlich zurück. „Was soll ich tun.“

„Ich habe genug der Einsamkeit, die mich über Jahrtausende begleitete. Nur alle zwanzig Jahre ein Drachenweibchen zu beglücken und dann wieder aus der Höhle geworfen zu werden, macht das Leben einfach nicht lebenswert.“, beklagte sich der Drache. „Ich will wieder in Gemeinschaft leben. Sei es auch nur ein Mensch und sein es auch nur für ein Menschenleben lang. Wenn du versprichst mich nicht zu verstoßen, will ich dir versprechen dir bis zu deinem Lebensende zu folgen. Wenn du dazu jedoch nicht bereit bist, gewähr ich dir deinen anderen Wunsch und schenke dir einen schnellen Tod.“

Zu ihrer eigenen Überraschung musste Hitomi über das Angebot nachdenken. Schließlich hatte der Drache ihr die Möglichkeit in Aussicht gestellt, alles Leid, welches die Zukunft ohne Zweifel über sie bringen würde, zu entgehen. Erst die scharfen Proteste Vans ließen sie in ihrer Entscheidung sicher sein.

„Ich nehme dein Gefolgschaft an.“, verkündete sie und spürte auch sogleich, wie der Drache und Van frohlockten. „Wie ist dein Name?“

„Tetsuya.“

„Ein schöner Name. Ich glaube, wir werden eine schöne Zeit miteinander haben.“, äußerte sie sich zuversichtlich.

„Es fällt mir schwer etwas anderes zu glauben.“, antwortete Tetsuya, woraufhin ein kräftiger Ruck Hitomi wissen lies, dass sie gestartet waren. Die folgenden Stunden über erkannte Hitomi, dass ihr Drache seinen Namen zu Recht trug. Sie lernte viel im Gespräch mit ihm, welches sich ausschließlich in ihren Gedanken vollzog, und begann sich zu fragen, wie ein Wesen, dass die ganze Zeit über nur alleine war, so viel über das Leben wissen konnte. Das Gespräch und der Bannkreis machten die Reise für sie doch sehr angenehm, jedenfalls mehr, als sie es sich je hätte erträumen können. Als er schließlich sein Mund öffnete, stand auch ihr Mund sperrangelweit offen. Einige Kilometer von ihr entfernt erschien eine gewaltige Plattform, die zwischen zwei ebenso großen, schwebenden Felsen befestigt war, wie aus dem nichts. Die gesamte Fläche war mit hunderten Wolkenkratzern bestückt, von denen jeder in einer Glaskuppel endete, unter der das leuchtende Grün eines Parks oder eines Gewächshauses zu erkennen war. Tausende kleine Flugobjekte bewegten sich zwischen den riesigen Türmen hin und her.

„Das ist sie also.“, staunte Hitomi. „Die Stadt der Engel.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (70)
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Von:  Lexischlumpf183
2016-08-13T10:51:02+00:00 13.08.2016 12:51
Schöne Story um die Geschichte von Van und Hitomi weiter zu erzählen, hat mich gleich in ihren Bann gezogen. Werde jetzt die Fortsetzungen lesen und bin auf das Ende gespannt, hoffe auf ein happy End 😃😁
Von:  ARiARt
2014-04-13T15:32:07+00:00 13.04.2014 17:32
Ich habe nach einer guten Fanfic gesucht, die aus dem etwas laschen Ende von "The Vision of Escaflowne" noch etwas schönes zaubert. Ich habe tatsächlich gleich beim ersten Suchlauf diese Fanfic gefunden. Und ich bin wirklich begeistert.
Ich finde es echt toll, was du aus den Charakteren gezaubert hast. Auch die neuen Figuren gefallen mir sehr gut. Obwohl ich bei den nicht so typischen Gaia-Namen schmunzeln musste. ;)

Manchmal stört es mich nur, dass du ein paar Worte vergisst und die Rechtschreibung nicht immer passt. Vielleicht sollte immer nochmal wer Korrektur lesen. ;)

Ich lese aber auf jeden Fall weiter...
Von:  ARiARt
2014-04-13T15:16:26+00:00 13.04.2014 17:16
Ich habe nach einer guten Fanfic gesucht, die aus dem etwas laschen Ende von "The Vision of Escaflowne" noch etwas schönes zaubert. Ich habe tatsächlich gleich beim ersten Suchlauf diese Fanfic gefunden. Und ich bin wirklich begeistert.
Ich finde es echt toll, was du aus den Charakteren gezaubert hast. Auch die neuen Figuren gefallen mir sehr gut. Obwohl ich bei den nicht so typischen Gaia-Namen schmunzeln musste. ;)

Manchmal stört es mich nur, dass du ein paar Worte vergisst und die Rechtschreibung nicht immer passt. Vielleicht sollte immer nochmal wer Korrektur lesen. ;)

Ich lese aber auf jeden Fall weiter...
Von:  ARiARt
2014-04-13T15:16:19+00:00 13.04.2014 17:16
Ich habe nach einer guten Fanfic gesucht, die aus dem etwas laschen Ende von "The Vision of Escaflowne" noch etwas schönes zaubert. Ich habe tatsächlich gleich beim ersten Suchlauf diese Fanfic gefunden. Und ich bin wirklich begeistert.
Ich finde es echt toll, was du aus den Charakteren gezaubert hast. Auch die neuen Figuren gefallen mir sehr gut. Obwohl ich bei den nicht so typischen Gaia-Namen schmunzeln musste. ;)

Manchmal stört es mich nur, dass du ein paar Worte vergisst und die Rechtschreibung nicht immer passt. Vielleicht sollte immer nochmal wer Korrektur lesen. ;)

Ich lese aber auf jeden Fall weiter...
Von:  MaeFaia
2013-05-25T10:24:11+00:00 25.05.2013 12:24
Ich habe gestern mit dieser FF angefangen und finde sie richtig toll! *-* Bin leider erst bis zu Hitomis und Vans erstem Treffen gekommen... Ich muss unbedingt weiterlesen!! :D
Von:  CatariaNigra
2012-11-13T13:49:02+00:00 13.11.2012 14:49
Ich habe deine Escaflowne-Fanfics gestern nacht bis halb 5 gelesen, weil die Story so spannend war^^° nachdem ich den ersten fertig gelesen hatte, habe ich in Band 2 in ganz viele Kapitel reingespinkst - ich hoffe wirklich, dass es bald weitergeht!

Die einzige Kritik, die ich anbringen könnte, ist formaler Natur: manchmal stimmt die Rechtschreibung nicht, es fehlen Worte oder sie stehen an anderer Stelle, oft sind auch noch eigentlich verworfene Teilsätze zu erkennen. Aber du hast es echt drauf, einen Spannungsbogen aufzubauen vom Allerfeinsten, und ich finde es toll, dass das hier keine, wie du es nennst, "HitomihatVanganzfurchtbarliebundumgekehrtgenause"-Geschichte ist. Finde es auch total furchtbar, dass in vielen Geschichten Hitomi zu einem richtigen Emo mutiert, weil ihr geliebter Van nicht in der Nähe ist...

Eine gesunde Mischung aus Action, Humor, Drama und Romantik! Nur Allen und Merle kann ich mir noch nicht ganz so als Paar vorstellen, mal sehen, wie es beim Lesen des Interludes und des zweiten Bandes wird...

Hentaikapitel wären eine gute Abrundung ;)
Von:  CatariaNigra
2012-10-19T09:08:27+00:00 19.10.2012 11:08
Dieses Kapitel habe ich noch angefangen, bisher aber eine tolle Fanfic! Find gut, dass die Story nicht so kitschig ist, dennoch hoffe ich, dass Van und Hitomi sich am Ende kriegen >__< Achja, ich finde Vans Frisur blöd...aber ist ja Geschmackssache.
Von:  fahnm
2012-02-19T22:13:34+00:00 19.02.2012 23:13
Hammer Kapi^^
Freue mich aufs nächste kapi^^
Von:  fahnm
2011-05-30T19:56:31+00:00 30.05.2011 21:56
Klasse Kapi^^
freue mich schon aufs nächste kapi^^
Von:  Doena
2010-11-29T18:50:53+00:00 29.11.2010 19:50
tetsuya ?
ist das nicht ein sehr stumpfer name für einen drachen?
egal ^^
ich freue mcih auf alle fälle das ich es geschafft habe die storx zu ende zu lesen
un dich bin schon aif die nächste gespannt XD


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