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Der Bulle und der König

von

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Neuer Mut

Seit Opa Higes Tod hatte Takashi kein Wort gesprochen. Es war so plötzlich geschehen. Im einen Moment saß er noch neben ihm und aß zu Abend, im nächsten stand er ganz normal auf, ging ganz normal aus der Kantine... So banal, so ohne Abschied, so undramatisch sollte dieser gute Mensch also sterben? War seine Existenz so unwichtig? Er hatte mit Takashi nie über seine „Tat“ geredet, hat sie weder gestanden, noch geleugnet, doch irgendetwas passte nicht: Opa Hige hatte einfach nichts von einem Mörder. Hatte er den wahren Täter gedeckt? Oder gefiel es ihm hier tatsächlich? Nun sollte Takashi es nie erfahren. Doch es war nicht nur der Verlust dieses liebenswerten alten Mannes, der ihm solch angenehme Gesellschaft geleistet hatte. Es weckte erneut diese schreckliche Angst in ihm, die Angst vor der Ungewissheit: morgen, in einer Stunde, nein, genau in diesem Moment, konnte die Tür aufgehen und ein Wärter würde vor ihm stehen um ihn zum Galgen zu führen. Er konnte noch sechzig Jahre vor sich haben, es konnte aber auch eine halbe Minute sein.
 

Trübselig blickte Takashi auf das Notizbuch in seinen Händen. Er hatte es, genau wie das Buch, von Opa Hige geerbt. Es war so ungerecht: es waren kaum zehn Tage vergangen und schon sprach keiner mehr über ihn. Opa Hige hatte es nie gegeben, so schien es. Dabei hatte er vor zehn Tagen noch mit ihnen allen zu Abend gegessen. Dafür hatte er ihnen, die sie ihm nichts zu sagen hatten, nicht den kleinsten Nachruf, ein ganzes Buch hinterlassen. Ein Buch voller Haikus, so sinnlos sie teils auch sein mochten. Dieser fünfhundert Seiten dicke orangene Block erzählte dreiundzwanzig Jahre seines Lebens, nicht nur in Worten, auch in Schweigen, denn jedes Haiku war mit einem Datum versehen und es gab Monate, in denen ihm nichts eingefallen war. Erst kurz nachdem Takashi gekommen war, fing er an, wirklich häufig zu schreiben. Erst wöchentlich, dann irgendwann täglich, sogar mehrmals täglich.

Schlaffe Hände blätterten ziellos durch den Block, da fiel ihm ein ungewöhnlich direktes Haiku auf, das keinerlei Metaphern zu verwenden und explizit an Takashi gerichtet schien:
 

Der traurige Clown,

Die Augen röter wie der Mund,

Ach, es zerreißt mir das Herz.


 

Auch Takashis Herz schmerzte. Nicht vor Selbstmitleid. Schon damals hatte der alte Hige ihn also bemerkt, schon damals hatte er gesehen, wie es in Takashis Innerem Aussah. Er biss die Zähne zusammen, unterdrückte die Tränen, als er den Block an seine Brust drückte. Wie hatte er das Kokain und die daraus entstandene Prostitution gehasst, immer wieder sich selbst und jeden einzelnen „Freier“ verflucht. Doch so absurd es ihm auch vorkam, dafür, dass er so dazu kam, diesem guten Menschen ein wenig Gesellschaft leisten und ihm „die Sonne“ in die Zelle scheinen lassen zu können, war er irgendwie fast dankbar. Er blätterte noch ein wenig in dem Block vor und zurück, bis ihm eine am Pappboden des Blöckchens festgeklebte Seite auffiel. Ganz schwach konnte Takashi auf der Rückseite normale, nicht Haiku-formatierte Schrift feststellen, größtenteils sogar Hiragana. Vorsichtig versuchte er, die Seite zu lösen. Irgendwann verlor er die Geduld. Seine abgekauten Nägel waren hierfür einfach nicht geschaffen. Er riss die Seite einfach an der Leimung heraus. Und wieder zog sich in ihm alles zusammen, denn wieder schienen sich Opa Higes Worte an ihn zu richten.
 

„Takashi, Junge, hör mir zu. Wenn du diesen Brief findest, heißt das wohl, dass ich nicht mehr hier sein kann um ihn dir selbst vorzulesen.

Um dir gleich eine Frage zu beantworten, die ich dir von den Augen ablesen konnte: ich habe meine Schwägerin nicht getötet. Mein Enkelsohn, an den du mich nur vom Alter und der fürchterlichen Frisur her erinnerst, muss es getan haben, denn er schob alles mit viel Gebrüll und Hysterie auf mich. Es war so erbärmlich, ihn so zu erleben, dass ich ihn nie wieder sehen wollte und hier, im Gefängnis, bin ich wohl am weitesten von ihm getrennt. Aber genug davon. Du bist der Enkelsohn, den ich in dem anderen undankbaren Balg nie hatte und dank dir, konnte ich mich wenigstens für kurze Zeit wie ein echter „Opa“ fühlen, der seinen Enkel mit seinem schrulligen Geschwätz langweilt, ihm Geschichten erzählt und ihm auch mal was hinter die Löffel gibt. Du musst in einem sehr liebevollen (wenn auch etwas verschrobenem) Umfeld aufgewachsen sein, du bist ein guter Junge und es ist mir unbegreiflich, wie du hier landen konntest.

Versprich mir: befreie dich von diesen schrecklichen Drogen. Du siehst aus wie ein Dickschädel, du kannst, wenn du nur willst! Ich will in Frieden ruhen und mir keine Sorgen um dich machen müssen. Und ich bin ein geduldiger Mensch, ich will lange, sehr lange, auf dich warten. Mindestens noch einmal fünfundsechzig Jahre!
 

Und jetzt, genug geschwallt. Ich weiß ja, du kannst nicht stillsitzen, brauchst Aufregung. Vielleicht interessiert dich das: dieses Gefängnis hat ein Rauchmeldesystem, das mindestens so alt sein muss, wie ich. Ist dir aufgefallen, dass die Wärter hier nicht rauchen? Auch die Küche scheint in einem anderen Gebäude oder einem Anbau zu sein. Vor fünfzehn Jahren hat sich hier mal ein Wärter eine Zigarette angesteckt und schon gingen die Sirenen los. Weil wir hier doch noch einen ganz kleinen Schritt von den deutschen KZs entfernt sind, will man uns nun aber nicht verbrennen oder ersticken lassen, also öffnet sich nach 120 Sekunden Feueralarm automatisch alles. Die Zellen, der Haupteingang; nur das Tor bleibt zu. Aber du siehst ganz sportlich aus und wenn du vom Kokain wegkommst, kommst du bestimmt wieder in Form und müsstest problemlos über den Zaun kommen. Alles, was wir jetzt noch brauchen, ist ein Feuerchen, aber dir fällt bestimmt was ein. Tja, ich kenne dieses Gefängnis so gut wie meine Westentasche, immerhin hatte ich viel Zeit, die ich irgendwie rumkriegen musste. Beobachten, das macht Spaß und inspiriert. Hohoho...
 

Und jetzt sieh zu, dass du diesen Brief verschwinden lässt und dich in Brandstiftung übst. Nüchtern.
 

Mach’s gut, Junge

Eikichi Nishijima, dein Opa Hige
 

PS Der junge Polizist verdient eine neue Chance.“


 

Eine Träne kullerte seine Nase entlang und tropfte von der Nasenspitze auf den Betonboden, über dem er, wie ein Futon in der Mitte gefaltet, kniete und den Brief mit Händen und Zähnen festhielt, als hinge sein Leben daran. Das tat es auch in gewissermaßen und er dankte Opa Hige von ganzem Herzen für diesen neuen Lebensmut.
 

Es war fast fünf und Yamai musste jeden Moment mit der Arbeit im Wäschelager fertig werden. Takashi hatte schon einen Plan, wie er an Feuer kommen konnte. Ein Streichholz genügte, denn es gab durchaus beheizte Räume im Gefängnis und wo eine Heizung war, da war auch Gas...



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Lothiril
2007-07-11T16:34:42+00:00 11.07.2007 18:34
... ich nehme mir mal die Zeit, auch ein Kommentar zu schreiben. =)
Speziell zu diesem Kapitel, weil es mir gut gefallen hat. ^^ Muss an Hige liegen - da hast du einen sehr schönen Charakter in die Story gebracht.
Und die Idee mit den Haiku finde ich sehr schön - aber ist es nicht so, dass Haikus nur eine bestimmte Anzahl von Silben haben dürfen (5-7-5)? Oder irre ich mich da nun gewahltig (oder ich kann nicht mehr zählen...)?
Sehr gut beschrieben fand ich auch Higes Tod, bzw. das Nichtbeachtetwerden dieses Todes und die Einfachheit.
Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich nicht zu jedem Kapitel ein Kommi schreibe - aber meistens ist mir das zu düster. ._. Und ich seh Takashi etwas anders, drum... naja^^
Aber dieses Kapi hatte auf alle Fälle ein Kommi verdient.
Lg,
Lothy


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