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Wolf - Lover

von

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Anam Cara - Seelenfreunde (zensiert)

Warnung: Keine. Alles ist nahezu klinisch rein. :)
 


 

Ein Niesen und missmutiges Raunen erklang zwischen ein paar gefüllten Leinensäcken hervor, die an der morschen Holzwand der Scheune lehnten.

Das kleine Mädchen, das über den Boden des nach Tieren und Heu riechenden Raumes krabbelte, hielt kurz inne, entfernte die Spinnenweben aus seinen dunklen Haaren und kroch gleich darauf wieder weiter über den knarrenden Dielenboden.

"Was tust du denn da, Melva?" Bedana, die auf der Suche nach ihrer Tochter auch in dem ehemaligen Stall nachgesehen hatte, hob ihre kleine Tochter von der staubigen Erde und zupfte ihr ein paar Strohhalme aus dem verwuschelten Haar.

Ungehalten wich Melva mit dem Kopf den geschäftigen Händen ihrer Mutter aus und blickte stur zu Boden.

"Willst du mir denn keine Antwort geben?" Bedana legte ihre Hand unter Melvas Kinn und hob es etwas in die Höhe, bis Melva die Augen endlich für wenige Sekunden vom Boden abwandte und sich ihre Blicke mit denen ihrer Mutter trafen. "Warum kriechst du hier in diesem alten Bretterverschlag herum?"

Melvas Lippen bildeten zwei dünne Striche, als sie sie fest aufeinander presste. Mit einer ihrer kleinen Fäuste wischte sie sich über die schmutzigen Wangen und versteckte ihre andere Hand hinter ihrem Rücken. Als hätte sie die Frage ihrer Mutter nicht verstanden, schwieg das Mädchen beharrlich.

"Du wirst noch die ganzen Mäuse verjagen, wenn du hier herum stöberst", versuchte Bedana ihre schweigende Tochter aufzuheitern, deren konzentrierte Blicke bereits wieder suchend über den Stallboden huschten. Doch Melva ignorierte ihre Mutter auch weiterhin völlig.

Jetzt erkannte Bedana die Ernsthaftigkeit hinter dem Tun des Mädchens. Es war wohl kein Spiel, das Melva hier in den alten Schober geführt hatte. "Suchst du etwas? Ich helfe dir, ja?", schlug Bedana versöhnlich vor und sah sich nun ihrerseits in dem düsteren Stall um.

Melva schüttelte nur verneinend ihren Kopf. Sie streckte ihre kleine Hand Bedana entgegen und öffnete sie. Ungefähr zehn Glasperlen kullerten über die schmutzige Handinnenfläche des Mädchens und kamen in deren Mitte zum Liegen.

"Es sind keine mehr da!", stieß Melva mit eisiger Stimme hervor. "Ferlan hat die anderen. Und..." Melvas Augen schimmerten wässrig und sie schniefte kurz, ehe sie weiter reden konnte. "Und... und... er hat vergessen, sie mir wieder zu geben..."
 


 

In der kommenden Nacht saß Bedana im Wohnraum ihrer kleinen Hütte auf einem Stuhl vor dem Kamin. Schlafen wollte sie nicht und das Nachdenken über das Geschehene war zu zermürbend. Um alldem zu entgehen, hatte es sich die junge Frau vor der Feuerstelle gemütlich gemacht und arbeitete im angenehm golden schimmernden Licht der prasselnden Glut.

Irgendwann weckte Bedanas Schaffen auch Tyrnas Interesse. Er verließ seinen eigenen Sitzplatz und ging hinüber zu seiner Frau. Tyrna beugte seinen Oberkörper etwas nach vorne, um Bedana über die Schulter schauen zu können.

"Du nähst?", wollte Tyrna wissen. "Was wird es denn?"

Bedana zog den Faden, mit dem sie gerade die letzte Glasperle befestigt hatte, glatt und riss den überflüssigen Teil davon ab. Dann gab sie ihr Werk an Tyrna weiter.

Tyrna nahm den kleinen Lederschlauch von seiner Frau entgegen und blickte ratlos auf das wirre Muster der vielfarbigen Fäden. Selbst nach genauem Hinsehen konnte er in den ungeordneten Fadenschlingen kein richtiges Motiv erkennen.

"Du musst es erst wieder auf Rechts drehen", erklärte Bedana.

Der Mann nickte und befolgte die Anweisung seiner Frau. Tyrna wendete das momentane Innenleben der Tierhaut nach Außen, strich das kunstvoll bearbeitete Leder etwas glatt und besah sich Bedanas Werk von der richtigen Seite aus.

Es war eine Hülle - eine Schwerthülle, wie sie die erwachsenen Krieger am Gürtel trugen, nur war diese hier ein erhebliches Stück kleiner und schmäler, als die, für die normalgroßen Schwerter.

Tyrna staunte nicht schlecht, als er die Vorderseite der Schwerthülle sah. Bedana hatte mit bunten Fäden einen springenden Hirsch darauf gestickt. Den Kopf mit dem siebenendigen Geweih hielt das Tier stolz in die Höhe gereckt und blickte den Betrachter mit seinen kleinen honigfarbenen Bernsteinaugen furchtlos an.

Alles wurde von einem knappen Dutzend erbsengroßer Glasperlen eingerahmt, den Glasperlen eben jener Kette, die Ferlan Melva geschenkt hatte und mit deren Suche das kleine Mädchen den vergangenen Vormittag zugebracht hatte.

"Für Melvas Holzschwert", flüsterte Bedana erstickt. Sie hätte Tyrna gerne den wahren Hintergrund dafür erklärt, dass Ferlan es für wichtig gehalten hatte, dass Melva ebenso kundig im Schwertkampf wurde, wie es für den männlichen Nachwuchs in ihrer Siedlung schon selbstverständlich war, aber Bedana brachte kein Wort mehr hervor.

Jetzt, nach dem Überfall auf ihre Siedlung, wusste Bedana nur zu gut, was ihr Bruder damit gemeint hatte. Melva durfte später nicht auch irgendwo hilflos im Wald hocken, wenn ihr Dorf angegriffen wurde - nicht so, wie sie, Bedana, es damals hatte tun müssen.

Niemals dürfe ihre kleine Tochter sich ebenso ohnmächtig fühlen, wenn man ihre Familie, ihre Freunde, ihre Herkunft und ihre Zukunft bedrohte.

Nie!

Nie wieder...
 

Die Konturen des tänzelnden Hirsches verschwammen und die bunten Farben mischten sich miteinander. Die Tränen, die Bedana die ganze Zeit so mühsam zurückgehalten hatte, strömten nun ungehemmt aus ihren Augen und tropften auf die Lederhülle hinab.

Tyrna zog Bedana in seine Arme und tröstete seine weinende Frau. Er wartete kurz und sagt dann: "Der Hirsch ist wirklich wunderschön. Melva wird sicher genauso aufrecht und weise handeln, so wie er." Tyrna strich Bedana beruhigend über das Haar, deren Weinkrampf unter den sanft streichelnden Händen ihres Mannes bald wieder abebbte.

"Aber etwas ist noch falsch", warf Tyrna plötzlich leise ein. "Kann man die Schwerthülle ein wenig vergrößern?"

Bedanas Tränen versiegten bei den unerwarteten Worten ihres Mannes und sie sah ihn entgeistert an. Wie konnte er jetzt so etwas sagen?!

Tyrna zeigte auf die Lederhülle, die noch auf Bedanas Schoß lag. "Geht das?", fragte er nach, als er außer einem fragenden Blick von seiner Frau, nichts als Antwort bekam. "Sie ist zu klein."

"Wieso zu klein?" Bedana konnte mit der Kritik ihres Mannes nicht viel anfangen. "Ich habe sie genau abgemessen. Mehrmals sogar", rechtfertigte sie sich. Bedana wollte aufstehen und das Holzschwert nehmen, um ihrem Mann zu beweisen, dass sie sich nicht in der Größe geirrt hatte, aber Tyrna zog Bedana wieder zurück auf ihren Sitzplatz.

Tyrna lächelte wissend und verunsicherte Bedana damit noch mehr.

Seit man Tyrna vor einigen Tagen mit einer Platzwunde an der Stirn schlafend im großen Heuschober vom alten Rhojar gefunden hatte, verhielt sich der Stammesführer ungewöhnlich still, im Gegensatz zu früher. Er hatte kein Wort darüber verloren, was in jener Nacht vor sich gegangen oder wie er in den Stall gekommen war, aber dahinter verbarg sich ohne Zweifel mehr, als Tyrna vor den anderen zugeben wollte.
 

"Ich habe bei Cal ein kleines Übungsschwert für Melva in Auftrag gegeben", verriet Tyrna nun sein gut gehütetes Geheimnis. Freudig sah er zu, wie sich Bedanas gerunzelte Stirn entspannte und die Frau das erste Mal seit langer Zeit nicht mehr so traurig vor sich hin blickte.

Und Tyrna hatte noch mehr auf Lager. "Du und Melva könnt hingehen, wann ihr wollt und aussuchen, wie das Schwert werden soll. Cal wartet so lange", platzte es schließlich aus ihm heraus.

Bedana schlug sich die Hände vor den Mund, um den Freudenschrei zu unterdrücken und damit nicht Melva aufzuwecken, die nebenan schlief. "Woher nimmt Cal das Material?", flüsterte Bedana und rückte dabei näher zu ihrem Mann. "Ich dachte, es gäbe im Moment nichts mehr, was man zu Waffen verarbeiten könnte?"

"Das Meiste stammt von Resten, die Cals Vater noch in der Schmiede hatte und von den Kriegern hat auch jeder etwas dazu gegeben", gestand Tyrna und musste sich im gleichen Augenblick an der Stuhllehne festhalten, um nicht von Bedana zu Boden geworfen zu werden, die ihm stürmisch um den Hals fiel.

"Das kann nicht sein! Wirklich?!", rief Bedana überglücklich. "Und wer wird Melva unterrichten? Du?"

"Das wäre nicht gut", verneinte Tyrna und lächelte schief. "Ich verstehe wohl nicht sonderlich viel davon, meine Schüler zu motivieren..."

"Wer dann?", wollte Bedana aufgeregt wissen.

"Aredh", antwortete Tyrna. "Ich dachte, dass er das vielleicht übernehmen könnte. Er ist sicher der Richtige dafür. Er hat Geduld und genug Erfahrung."

Bedana sah ihren Mann kopfschüttelnd an. Für sie klang das Gesagte eher nach einem Scherz. "Aber was ist mit der Initialisierung? Wollte Aredh dieses Jahr nicht dabei sein?"

Tyrna zuckte resigniert mit den Schultern. "Aredh hat schon abgelehnt. Er will nicht am Ritus teilnehmen. In diesem Jahr nicht und später auch nicht..."

"Oh", hauchte Bedana überrascht. Durch die jahrelange Freundschaft ihres Bruders zu Aredh hatte sie von Anfang an mitbekommen, wie sich Beide auf diesen Ritus, der sie auch offiziell endgültig in die Erwachsenenwelt einführen sollte, gefreut hatten. Umso weniger verstand Bedana jetzt Aredhs Abweisung. "Warum nicht?"

"Ich weiß es nicht", Tyrna hob bedauernd die Achseln. "Er hätte den Ritus ohne Probleme geschafft, alle Aufträge und Übungen hat er mit Leichtigkeit bestanden." Tyrna machte eine kleine Pause, bevor er mit Erzählen fortfuhr. "Aredh hat zur Zeit einfach keine Lust, sich an irgendwelchen Dingen zu beteiligen, fürchte ich. Er weiß wohl nicht so recht, wohin er soll und ehe er noch auf die Idee kommt, das Dorf ganz zu verlassen, muss er beschäftigt werden."

Bedana nickte verstehend. "Der Verlust wäre groß - für uns alle."

"Eben", stimmte Tyrna leise zu. Jedes weitere Mitglied, das ihren Stamm verließ, fehlte an mindestens zwei Stellen, die in Krisenzeiten wie jetzt ausgefüllt werden mussten. Die ganze Siedlung wäre gefährdet; ihr Schutz, ihr Fortbestand. "Deswegen dachte ich auch, dass er Melvas Ausbildung in die Hand nehmen könnte. Nur, wenn du einverstanden bist."

"Sicher bin ich einverstanden!", betonte Bedana noch einmal. "Hast du Aredh schon gefragt?"

Tyrna verneinte mit einem knappen Kopfschütteln. "Noch nicht. Ich wollte erst wissen, was du davon hältst."

"Vielleicht bekommt Aredh durch die Arbeit mit Melvas Ausbildung selbst irgendwann wieder Interesse an den Kriegern", sinnierte Bedana.

"Das gleiche dachte ich mir auch schon, aber wir sollten noch abwarten, ehe wir uns darüber Gedanken machen und uns vorschnell freuen", seufzte Tyrna. "Aredh ist momentan schwer einzuschätzen."
 


 

Endlich war es soweit und Melva bekam ihr Schwert. Sie und Tyrna kamen gerade von der Schmiede und waren nun auf dem Heimweg.

Mit vor Stolz geröteten Wangen trug Melva die Übungswaffe auf dem Arm und ihre grauen Augen glitzerten mit der auf Hochglanz polierten Klinge um die Wette.

Es war ein wirklich kleines Schwert, etwa so lang wie der Unterarm eines Erwachsenen gemessen vom Ellenbogen bis zum Handgelenk, und das Material der Waffe war auch nicht ganz so rein, wie üblich, doch das kleine Schwert mit den ungeschliffenen Kanten erfüllte seinen Zweck zur Genüge. Mehr als die richtige Haltung und die Handhabung zum Angriff und zur Abwehr, musste Melva noch nicht beherrschen.

So vorsichtig, als handele es sich um etwas Zerbrechliches, hielt Melva den gefurchten Schwertgriff in ihren kleinen Kinderhänden.

Die Ornamente, die den oberen Teil des Hefts schmückten, zeigten wieder den Hirschgott mit dem siebenendigen Geweih, der auch schon die Schwerthülle zierte. Er thronte inmitten einer Vielzahl anderer Waldbewohner, die sich rund um die schlanken Beine des Tieres tummelten und zu ihm aufschauten.

"Ist es dir zu schwer?", befragte Tyrna seine Tochter, die sich sichtlich mit dem ungewohnten Gewicht ihrer neuen Errungenschaft abmühte.

"Nein", erwiderte Melva. Sie straffte die Schultern und lächelte ihren Vater tapfer an. "Ich packe es."

Tyrna musste über den Eifer des kleinen Mädchens schmunzeln. "Gut."

"Ich zeige es Mami!", rief Melva tatendurstig und rannte zu ihrem Haus.

"Nein, Melva!" Tyrna setzte flink seiner Tochter nach. Kurz vor der Eingangstür hatte er die davonstürmende Melva eingefangen. "Lass Mami ein wenig in Ruhe", ermahnte er seine störrische Tochter und nahm dem Mädchen die Übungswaffe aus der Hand.

"Aber sie hat das Schwert doch noch gar nicht gesehen!", protestierte Melva und wollte sich aus dem Griff ihres Vaters befreien.

Doch Tyrna gab nicht nach und hielt die sich sträubende Melva fest auf dem Arm. "Mami ist müde. Du kannst später immer noch zu ihr gehen."

Melva verschränkte die Arme vor ihrer Brust und verzog ihren kleinen Mund zu einer trotzigen Schnute.

"Soll ich dir zeigen, wie man mit dem Schwert pariert?", versuchte Tyrna seine Tochter umzustimmen.

Melva vergaß gleich ihren Ärger. Ihre Augen wurden groß wie Wagenräder und sie begann, auf dem Arm ihres Vaters zu zappeln. "Jetzt? Sofort?", krähte sie unternehmungslustig.

"Natürlich jetzt." Tyrna ließ die vor Vorfreude strampelnde Melva zu Boden. "Wenn Aredh morgen kommt, dann weißt du auch schon, wie man das Schwert richtig hält."
 


 

"Tyrna..."

Nur ungern unterbrach Tyrna die vorgezogene Lehrstunde in Schwertführung, die er seiner Tochter gerade beizubringen versuchte und sah den hinzugekommenen jungen Mann dementsprechend mürrisch an.

"Aredh?! Wir haben dich erst morgen erwartet", wandte sich Tyrna an den jungen Mann, der am Rande des kleinen Hofes stehen blieb, ohne näher zu kommen. "Du solltest doch beim Aussichtspunkt sein."

"Ich weiß." Aredh schaute zu Melva, die noch mit dem Bestaunen der Schwertklinge beschäftigt war, und gab Tyrna schnell ein Zeichen, zu ihm hinüber zu kommen. Aredh wartete, bis der Stammesführer bei ihm war und berichtete, weswegen er störte. "Ich komme gerade vom Tal und es wäre gut, wenn du mitkommst und es dir auch ansiehst."

"Sag, was los ist und hör auf, um alles drumherum zu reden, als wäre ich ein Kind!", rief Tyrna verärgert.

"Wir bekommen Besuch."

"Wer ist es?" Tyrnas Augen verdunkelten sich. "Wieder Fremde? Krieger etwa?", zischte er Aredh zu.

Aredh schüttelte den Kopf. "Es ist Uisvan. Er ist mit einigen seiner Leute auf dem Weg hierher und er hat -"

"Sind sie bewaffnet?", unterbrach Tyrna Aredh alarmiert.

"Nein, so weit wir das gesehen haben, nicht." Aredhs angestrengte Mimik veränderte sich ins Gegenteil. "Sie haben Tiere dabei."

Der alleine gelassenen Melva wurde es zu langweilig. Sie schlenderte zu den beiden redenden Männern, denn dort schien es bei weitem interessanter zu sein. Möglichst unauffällig drängte sie sich zwischen ihren Vater und Aredh und versuchte, etwas von deren Gespräch aufzuschnappen.

Aus Rücksicht auf die allzu wissbegierigen Kinderohren, die der Unterhaltung der beiden Männer aufmerksam folgten, senkte Tyrna seine Stimme. "Gut, Aredh, dann geh schon mal zum Dorfausgang vor und sieh zu, dass du ein paar andere Männer erwischst, die mitkommen. Nimm aber höchstens noch zwei oder drei weitere mit, die anderen sollen hier in der Siedlung bleiben!"

Aredh nickte Tyrna schnell zu und rannte wieder los.
 

"Melva", Tyrna beugte sich zu seiner kleinen Tochter hinab, die neben den beiden Männern gestanden und alles mitangehört hatte. "Geh rein zu Mami und bleib dort. Ich bin bald wieder da."

Nur widerwillig ließ sich Melva von ihrem Vater zu ihrer Hütte schieben. "Ich möchte mitkommen, ich habe ein Schwert!" Wie um ihrem Vater zu demonstrieren, was sie konnte, schwang Melva ihr kleines Schwert, doch Tyrna achtete nicht mehr weiter auf das kleine Mädchen, das missgelaunt hinter ihm her tappte. "Bitte!", quengelte Melva.

"Bedana", rief Tyrna seiner Frau von der Haustür aus zu. Die junge Frau sah erschöpfter aus als sonst und ihre bleichen Wangen schienen noch einen Ton mehr an Farbe zu verlieren, als sie ihren Mann in der Tür stehen sah. Seine ausdruckslose Mimik sollte wohl über seine tatsächlichen Sorgen hinweg täuschen, aber Bedana kannte Tyrna zu lange, um den wahren Grund dahinter zu bemerken.

Tyrna gab Bedana Melva an die Hand. "Ich muss mit Aredh zum Tal. Es dauert nicht lange", versuchte er Bedana zu beruhigen, obwohl er selbst nicht wusste, was ihn genau erwartete.

"Was ist los?", hakte Bedana besorgt nach. "Wieder irgendwelche Fremden?"

Tyrna verneinte. "Es sind Uisvan und sein Gefolge. Sie bringen Tiere mit. Ich sage Selia, dass sie zu euch beiden kommen soll, solange ich weg bin, ja?", Tyrna drückte seine Frau fest an sich und küsste sie liebevoll. "Mach dir keine Sorgen. Uisvan hat sicher nur seine Geschäfte im Kopf, statt selbst Streit anzufangen."

"Sei trotzdem vorsichtig." Bedana lächelte und sah ihrem Mann nach, der ihr ein letztes Mal zuwinkte und dann Richtung Dorfausgang davon ging.
 


 

Der Einmarsch der Calahar in die kleine Siedlung hätte nicht feierlicher ablaufen können, als es gerade vor den ungläubigen Augen der angelockten Dorfbewohner geschah. So einen Anblick bekam man nicht jeden Tag geboten.

Auf stattlichen Pferden ritt man ein. Das Zaumzeug der Reittiere war mit flatternden Stoffstreifen prächtig verziert, bunte Glasplättchen blinkten auf dem bestickten Stirnschmuck der Pferde und bei jedem Schritt bimmelten kleine Glöckchen im Takt der eisenbeschlagenen Hufen mit.

Vor der Einzäunung zur Siedlung stoppte der farbenfrohe Treck.

Uisvan, ein hochgewachsener hagerer Mann mit strohblondem Haar und wettergegerbtem Gesicht, stieg mit Schwung von seinem Pferd herab und gab einem anderen Mann die Zügel des Tieres in die Hand.

"Es freut mich sehr, euch gesund anzutreffen", begrüßte Uisvan Alinor und Tyrna. Er stützte seine Hände seitlich in die Hüften und sah sich in der Siedlung um. "Ihr seid schwer beschäftigt?", fragte er, als ihm die teilweise noch zerstörten und im Wiederaufbau befindlichen Häuser auffielen.

Die Bewohner des Dorfes, die anwesend waren, sahen sich verhalten an. Uisvan war der Überfall anscheinend noch nicht zu Ohren gekommen.

"Ja, es war nötig", drückte sich Alinor um eine genaue Antwort, weshalb die Häuser renoviert werden mussten.

"Recht habt ihr, man muss öfter bereit für Neues sein, oder?!" Uisvan lachte herzlich auf. Offensichtlich freute er sich tatsächlich über den Aufbau der Siedlung, von dessen weniger rühmlichen Vorgeschichte er nichts ahnte.

"Wir hatten mehr Neues, als uns lieb war...", murmelte Alinor.

"Dann habt ihr sicher nichts dagegen, wenn wir das fortsetzen?!" Der Führer der Calahar wartete nicht auf die Antwort. Er pfiff kurz und acht Männer mit beladenen Pferden kamen nach vorne. "Hier ist noch etwas für euch."
 

Nach und nach beförderte man Leinensäcke und tönerne Gefäße aus den riesigen Satteltaschen, von denen immer mindestens zwei seitlich an jedem Pferd hingen.

Bald türmten sich Waren um Waren auf dem Boden. Große Stücke geräucherten Fleisches lagen neben Töpfen mit eingelegten Früchten und auch die mitgebrachten lebenden Tiere hatte man vorgeführt.

Eine Weile sah Alinor noch dem Entladen der Pferde zu, dann hielt sie es für nötig, den Elan des Calahars zu bremsen. "Wir haben leider nichts, was wir gegen eure Sachen tauschen könnten, Uisvan", lehnte Alinor die gut gemeinten Angebote freundlich ab.

Uisvan stellte einen Tontopf zu Boden. "Nichts? Auch keine Waffen oder Saatgut?"

Alinor schüttelte langsam ihren Kopf. "Nichts, was wir entbehren könnten. Das, was Tyrna beim letzten Mal mit euch getauscht hat, war alles, was wir hatten."

"Nun", begann Uisvan nach einer Weile. "Dass wir gekommen sind, um mit euch Geschäfte zu machen, lässt sich nicht verleugnen und dass wir nichts zu verschenken haben, auch nicht."

"Wir möchten nichts geschenkt, Uisvan", antwortete Alinor kurz und bündig. "Es tut uns sehr leid, dass ihr den Weg zu uns umsonst gemacht habt, aber wir können euch nichts anbieten, so gerne wir auch wollten."

"Konntet ihr wenigstens etwas mit den Tieren und Waren anfangen, die wir Tyrna mitgegeben haben?", erkundigte sich der Anführer der Calahar.

"Wir haben fast nichts mehr davon."

Uisvan war keineswegs überrascht. "Ihr habt es mit anderen Händlern weiter getauscht?!", stellte er fest.

"Nein, so weit kam es zu unserem Bedauern nicht." Alinor verneinte gelassen, ohne dabei ihre stets gewahrte Würde einzubüßen. Erzählen, wie schlecht es wirklich um ihre Siedlung stand, war äußerst unangenehm, doch verschweigen konnte man es genauso wenig. Falscher Stolz war ebenso gefährlich, wie Blauäugigkeit gegenüber Dritten. "Wir wurden vor einigen Wochen überfallen. Sie nahmen die meisten Tiere mit, sofern sie sie nicht auf der Stelle töteten. Aber der persönliche Verlust, den sie uns bescherten, lässt sich damit nicht vergleichen", endete Alinor.

Uisvans Augen vergrößerten sich, als ihm das Ausmaß der Neuigkeit bewusst wurde. "Barneagh?"

Die Stammesälteste bestätigte. "Ja, ihn auch."

"Verstehe. Darum war er auch noch nicht hier, um uns zu begrüßen." Uisvan pausierte kurz und dachte nach. Er winkte ein paar seiner Männer zu sich und unterhielt sich eine Weile ausführlich mit ihnen. Nach einiger Zeit war die gestenreiche Diskussion abgeschlossen und Uisvan wandte sich wieder Alinor und den anderen wartenden Dorfbewohnern zu.

"Vermutlich war unser Weg doch nicht ganz umsonst und es könnte sich für euch lohnen, was wir außer den Waren noch anzubieten haben", begann Uisvan. "Allerdings lässt sich darüber nur schlecht mitten auf der Straße sprechen."

Tyrna und Alinor wechselten ein paar schnelle Blicke, ehe die ältere Frau ihren Gast fragte: "Und was willst du tun, Uisvan?"

Der Mann gab sich weiterhin geheimnisvoll. "Wäre es möglich, eine Beratung aller Einwohner einzuberufen?"

"Sicherlich", antwortete Alinor ohne lange nachzudenken. Ihre Sorge lag woanders. "Wenn ihr bleibt, dann solltet ihr aber auch wissen, dass unser Platz und die Vorräte nur begrenzt verfügbar sind. Und wie man sieht, seid ihr einige, die man unterbringen und verpflegen müsste."

"Das ist nicht nötig", lehnte der Calahar dankend ab. "Wir haben alles bei uns, was wir brauchen. Das einzige, das uns noch fehlt, ist ein Fleckchen, an dem wir uns niederlassen können."

"Vor der Siedlung findet ihr so viel Platz, wie ihr benötigt."

"Sehr gut." Uisvan gab Alinor die Hand und schüttelte sie verabschiedend. "Wir sehen uns heute Abend."
 


 

Noch während man in der Siedlung emsig damit beschäftigt war, alles für die abendliche Versammlung vorzubereiten, hatte sich die Wiese vor den Zäunen des Dorfes in eine bunte Zeltstadt verwandelt.

In kurzer Zeit hatten die Calahar sechs Unterkünfte aus knapp Hausgroßen zusammengenähten Lederteilen aufgestellt. Auch für die mitgebrachten Tiere gab es ein behelfsmäßiges Gatter aus herbei geschleppten Ästen, in dessen Mitte nun Ziegen, Ferkel und Hühner standen und von den Kindern des Dorfes gefüttert wurden.

Das Geschäftsmäßige Treiben zog sich durch die schmalen Gänge der Aufbauten. Die fremden Männer saßen zwischen den einzelnen Zelten, kümmerten sich um die Verpflegung ihrer Pferde, nahmen ihnen die schweren Sättel ab, reinigten die Hufe und das Zaumzeug ihrer Reittiere und unterhielten sich dabei angeregt miteinander.

Einige der Calahar hockten rund um ein prasselndes Lagerfeuer, über dem ein Kupferkessel hing. Wohlduftende Rauchkringel stiegen aus der Kesselöffnung und wanden sich in den sich rötlich verfärbenden Abendhimmel. Andere aus der Gruppe führten außerhalb der Zeltunterkünfte ein paar Pferde über die Wiese, auf deren Rücken laut lachende Kinder saßen. Pferde gab es in ihrem Stamm keine und die Begeisterung der Kinder war angesichts der unbekannten Tiere grenzenlos.
 

Skeptisch beobachtete Tyrna das Tun vor dem Dorf. Er hatte sich neben dem Eingang zur Siedlung postiert und besah sich die befremdliche Szene, die sich ihm unweit seines Standortes bot.

Dass die Calahar sicher nicht ganz uneigennützig gekommen waren, sah man an den Tieren und Waren, die sie zum Tauschen mitgebracht hatten. Doch warum man noch unbedingt bleiben wollte, obwohl Alinor ausdrücklich betont hatte, man habe nichts, was man zum Gegentausch anbieten könnte, war Tyrna nach wie vor ein Rätsel.

Es sah auch nicht aus, als ob die Calahar bald zu einem anderen Stamm weiterziehen wollten, sondern eher so, als würde man sich hier für einen längeren Aufenthalt einrichten.

Die Calahar waren friedlich - ohne Zweifel. Die meisten ihrer Reichtümer hatten sie durch Handel mit anderen Dörfern und fremdländischen Völkern angesammelt. Kriege führten sie keine mehr, der reine Verkauf von Waffen hatte sich als lohnender herausgestellt, und ihre Gebiete erweiterten sie durch gewaltfreie Zusammenschlüsse mit anderen Stämmen. Dennoch beunruhigte Tyrna das nicht absehbare Verhalten der Fremden. Und Vorsichtsmaßnahmen waren für alle Fälle schon getroffen.

Unauffällig, damit ihre Gäste sich nicht bedroht fühlten, hatte Tyrna die Männer ihrer Siedlung angewiesen, die Besucher nicht aus den Augen zu lassen.

So lange nicht klar war, aus welchen Gründen man blieb, war alle Achtsamkeit von Nöten.
 


 

Die Versammlung verlief zu Anfang recht beschaulich. Man begann damit, den Gästen ein schnell zusammen getragenes Mahl zuzubereiten und stellte alles auf den Tisch, der im Zentrum des Gemeindehauses stand.

Bis auf die kleinsten Bewohner der Siedlung, die zu dieser späten Stunde schon selig schliefen, waren fast alle anwesend. Die Jüngeren hatten sich ein eigenes Eckchen, abseits der Erwachsenen, in dem großen Raum reserviert und waren in ihre eigenen Gespräche vertieft, die Älteren hockten nahe am Kamin.

Aufmerksam wurden alle erst so richtig, als Uisvan mit seinem Gefolge das Haus betrat. Still setzten sich die Calahar auf die noch freien Plätze.

Uisvan, der von Alinor an den mittig im Zimmer stehenden Tisch gebeten wurde, nahm zwischen der Älteren Frau und Tyrna Platz. Uisvan wirkte zufrieden, gelassen und seiner Sache sicher. Die Nervosität, die unter den Dorfbewohnern herrschte, schien ihn und seine Männer nicht zu berühren.

Nach einer kurzen Begrüßung der Gäste, der Bitte, sich von den Speisen und Getränken zu nehmen, was man möchte, gab Alinor die Führung des Gesprächs an Uisvan weiter, der sich von seinem Platz erhob und den Bewohnern zuwandte.

Die flüsternden Stimmen verstummten auf der Stelle.

"Schön, dass ihr uns einen so herzlichen Empfang bereitet", fing Uisvan an. "Einige, der bekannten Gesichter, die wir erwartet hatten, können zu unserem tiefsten Bedauern nicht anwesend sein. Und auch, wenn es nicht unbedingt so beabsichtigt war, ist dies vielleicht ein Grund mehr, der uns bestätigt, dass wir keinen besseren Zeitpunkt für einen Besuch hätten wählen können." Uisvan schwieg einen Moment. Selbst die jüngeren Bewohner konzentrierten sich auf die Worte des Weitgereisten, doch der hatte es nicht eilig, wie es schien. "Ob sich diese Tragödie hätte verhindern lassen, wenn die Entfernung von eurem Stamm zu unserem geringer wäre, kann niemand sagen, von Vorteil wäre es allerdings sicher gewesen, Beistand zu haben. Nun", Uisvan machte wiederholt eine geschickte Pause, ehe er fortfuhr. "Dies ließe sich für die Zukunft eventuell verhindern."

Die Leute, die sich gegen Ende der Rede Aufklärung über die Versammlung erhofft hatten, sahen sich so verwundert an wie zu Beginn des Treffens.

"Und was soll das bedeuten?", fasste jemand die Frage in Worte, die sich jeder mittlerweile stellte. "Gibt es dann ein Bündnis, das den Handel zwischen eurem Stamm und unserem erleichtert?"

Uisvan schüttelte den Kopf. "Etwas mehr", antwortete er. "Hier fehlt es an allem. Kaum ein Haus ist unbeschädigt, es gibt keine Grundlage an Tieren mehr, die euren Nahrungsfortbestand sichern und mit dem Getreide steht es wahrscheinlich nicht besser. Auch Waffen könnt ihr keine mehr herstellen. Bei einem erneuten Angriff seid ihr so wehrlos wie frischgeschlüpfte Vogelkinder."

Alinor blieb kritisch. "Du sprichst in Rätseln, Uisvan. Ein Bündnis mit euch ist schön und gut, aber was bringt es uns, wenn wir Tagelang voneinander entfernt wohnen? Wir können in Notzeiten nicht immer jemanden zu euch schicken, wenn es an etwas fehlt."

"Du greifst mir mit deinen Bedenken schon weit in meiner Rede vor, Alinor. Man sieht, dass euer Stamm vor allem dank deiner klugen Entscheidungen so lange bestehen konnte", Uisvan lächelte der älteren Frau anerkennend zu. "Unser Angebot besteht darin, dass wir gerne unsere bisherige Freundschaft fortsetzen und intensivieren wollen. Nicht nur was den Handel betrifft, sondern auch räumlich."
 

Die Ankündigung war wie ein Schock für die Versammelten. Die Hoffnung, die Uisvan ihnen zu machen versuchte, weckte in Alinors Stamm eher Misstrauen. Alles saß stumm da und starrte den Führer der Calahar entsetzt an. Auch Alinor wusste nichts darauf zu erwidern.

Tyrna fasste sich als erster. "Wie ist das gemeint?", hakte er nach.

"Dass wir die Stämme zusammen legen", erklärte Uisvan.

"Auf keinen Fall!", brauste Tyrna empört auf. "Wir lassen uns von euch doch nicht unterwerfen!"

"Unterstellt ihr uns, dass wir Landräuber und Sklavenhändler sind?!", schrie einer der Calahar in gleicher Lautstärke zurück.

"Weit davon entfernt seid ihr mit diesem törichten Vorschlag jedenfalls nicht! Habt ihr nichts besseres zu tun, als durch unser Gebiet zu schleichen und alles an euch zu reißen, was ihr seht?!" Tyrna sprach so überheblich daher, dass es einige der Calahar zur Weißglut trieb.

"Ihr könnt froh sein, dass sich jemand für eure stinkende Siedlung interessiert!", tönte es aus den Reihen der Calahar zurück.

Einer der Calahar baute sich nun drohend eine Handbreit vor Tyrna auf und grinste hämisch auf den dunkelhaarigen Mann hinab. "Vielleicht sollten wir auch nur bis nächsten Sommer warten, bis ihr alle von selbst krepiert seid, dann könnten wir wenigstens in Ruhe eure verlausten Hütten plündern!", spottete er.

Gelächter der fremden Gäste erscholl und provozierte damit wiederum Tyrnas Stamm.

"Ihr seid doch das Parasitenpack!", brüllte Tyrna zornig. Er fuhr von seinem Platz auf und gab dem Calahar, der vor ihm stand einen so heftigen Stoß gegen die Brust, dass dieser nach hinten taumelte und dabei einen seiner Stammesbrüder von dessen Sitzplatz riss.

Nun brach das völlige Chaos aus, das man eigentlich hatte vermeiden wollen. Stühle fielen krachend um, als ihre Besitzer aufsprangen, und Becher und Teller flogen samt Inhalt zu Boden. Der ruhigere Teil der Zuhörer wich dem Handgemenge aus, das sich in der Mitte des Zimmers abspielte und brachte sich vor den tieffliegenden Geschossen in Sicherheit, die durch die Luft segelten.

Würde man nicht schon im Vorfeld peinlichst genau darauf achten, dass ein jeder seine Waffen ablegte, bevor er den Gemeinschaftsraum betrat, so hätte man in brenzligen Situationen wie dieser, wohl schon längst zu den Schwertern gegriffen und die Unstimmigkeiten mit blitzender Klinge geregelt. Und dann würde es am Ende nicht bei ein paar blauen Augen und aufgeplatzten Lippen bleiben...

Aber so war es wieder einmal Alinor, die ihre Stimme erhob und die streitenden Parteien ermahnte, die wie die Kampfhähne voreinander standen und sich gegenseitig mit geballten Fäusten und wüsten Beschimpfungen drohten.

"Setz dich bitte wieder, Tyrna, und belass es dabei." Die alte Frau redete dem Stammesführer so ruhig wie möglich zu. "Mit deinem Gebrüll bestätigst du ihre Vorhaltungen doch nur."

"Sie können sich doch nicht einfach so in unser Leben hier einmischen und verlangen, dass wir das so hinnehmen!", tobte Tyrna weiter. "Sie sind fünfmal so viele wie wir und werden uns mit Sicherheit jedes mal überstimmen, wenn es etwas zu entscheiden gilt!"

Uisvan erhob sich und stellte sich demonstrativ neben die Stammesälteste. "Niemand hat vor, euch eure Rechte abzusprechen", lenkte er beschwichtigend ein. "Ich denke, nahezu alles ist miteinander vereinbar. Wir wollen schließlich nicht die Völker spalten, sondern so viele wie möglich vereinen. Bisher hat das auch immer sehr gut funktioniert."

Tyrna hatte es schwer, das Gesagte so zu akzeptieren. Mühsam schluckte er die Worte hinunter, die ihm noch in der Kehle steckten und darauf brannten, gesagt zu werden. Doch eine Einhalt fordernde Geste Alinors genügte, den Stammesführer sofort verstummen zu lassen.

Tyrna bedachte die Calahar, die sich auf Uisvans Weisung hin auch wieder zurücknahmen, noch mit einem letzten verächtlichen Blick und setzte sich, wenn auch widerstrebend, auf seinen Platz.
 

"Als Teil unseres Stammes könntet ihr auch profitieren", sagte Uisvan in die eingekehrte Ruhe hinein. "Das einzige, das es euch kosten würde, ist euer jetziger Landbesitz."

Alinor haderte mit sich selbst und Uisvans Vorschlag. Sie sah in die Runde, als erhoffe sie sich eine Antwort der Betroffenen, doch diese schauten die Stammesälteste ebenso ratlos an. Kein Wort fiel. Das Entsetzen war in stille Angst um die eigene Existenz umgeschlagen und man schwieg mittlerweile bedrückt und versuchte das Vorgeschlagene zu verdauen.

Alinor ahnte, was gerade in den Köpfen ihrer Stammesbrüder und -schwestern vorging. Dort wurden Kämpfe ausgefochten, wie sie real nicht hätten schlimmer sein können.

Die Chance auf einen Neuanfang nutzen oder sollte man wieder von selbst auf die Beine kommen? Ungewisse Zukunft in einem fremden Land oder ungewisse Zukunft in bekannter Umgebung?

Wie man es auch wendete und betrachtete, es gab keine befriedigende Antwort.

"Wir wissen euer Angebot sehr zu schätzen, aber wir benötigen dennoch etwas Bedenkzeit, Uisvan", gab die alte Frau nach kurzem Überlegen gefasst zurück. "Das wirst du sicher verstehen."

Uisvan lächelte zuversichtlich. "Natürlich, die gestehen wir euch selbstverständlich gerne zu. Bedenkt bitte auch, dass wir nicht vorhaben, euren Leuten etwas wegzunehmen. Es geht vor allem darum, die Fähigkeiten unserer beider Stämme auszuschöpfen, so dass jeder von uns etwas davon hat", bemühte sich der Mann die Zweifel zu zerstreuen.

"Ich habe es auch nicht anders verstanden, aber aus Rücksicht auf unseren Stamm, können Tyrna und ich das nicht einfach so bestimmen", entgegnete Alinor. Sie wollte diese Entscheidung nicht alleine fällen müssen. Viel zu viel würde davon beeinflusst werden. "Wir werden uns wohl erneut zu einer Versammlung treffen. Betrachtet euch bitte so lange als unsere Gäste, bis wir euch unsere endgültige Entscheidung mitteilen."

"Vielen Dank, Alinor." Uisvan bedeutete seinen Leuten, sich für den Aufbruch zu richten.

Alinors Worte hielten Uisvan jedoch noch auf. "Denkt aber auch daran, dass die Gastfreundschaft irgendwann ihre Grenzen erreicht hat und dies geschieht dann, wenn du deine Männer nicht zu zügeln weißt, Uisvan.", ermahnte die ältere Frau den jüngeren Mann mit forschem Tonfall. "Noch mehr Streit können wir nicht gebrauchen."

"Ich werde sie zu mehr Beherrschung aufrufen", versprach der Führer der Calahar. Er beugte leicht das Haupt vor der Respektgebietenden älteren Frau und verließ zusammen mit seinen Männern, den Gemeinderaum.

"Wir vertagen die Besprechung wegen der Zusammenlegung", wandte sich Alinor an die Wartenden ihrer eigenen Siedlung. "Heute Abend habe ich kein Verlangen mehr danach, mir weiter über diese Sache den Kopf zu zerbrechen. Ihr sicher auch nicht, oder?"

Zustimmendes Gemurmel setzte ein.

"Gut, dann treffen wir uns in den nächsten Tagen und sehen weiter." Bevor Alinor endgültig das Gemeindehaus verließ, gab es auch an ihre Stammesmitglieder eine Mahnung. "Für euch gilt das gleiche, wie für unsere Gäste. Wer nicht weiß, wie er sich anderen gegenüber zu verhalten hat, der schadet damit nicht nur sich selbst, sondern dem ganzen Dorf!"

Diejenigen, die sich angesprochen fühlten, senkten schuldbewusst die Köpfe.

"Gute Nacht", verabschiedete sich die Stammesälteste und ging, gefolgt von ein paar ihrer engsten Vertrauten.
 


 

Tyrna drängte sich durch die diskutierende Menschenmenge hindurch und rannte hinter Alinor her, die gerade aus der Tür des Gemeindehauses verschwand.

"Alinor", mit wenigen Schritten hatte Tyrna die grauhaarige Frau eingeholt und kam neben ihr zu stehen.

Die Stammesälteste wandte sich dem hünenhaften Mann zu. "Was ist, Tyrna?"

"Ich möchte mit dir über etwas reden", begann Tyrna sein Anliegen zu erörtern, doch Alinor schnitt ihm sofort das Wort ab.

"Wenn es um Uisvans Angebot geht, muss ich dir sagen, dass wir alle das zu entscheiden haben und wir erst wieder eine Sitzung abhalten müssen. Und bis dahin werde ich mich auch nicht umstimmen lassen. Was du dazu zu sagen hast, kannst du auf der nächsten Sitzung tun, Tyrna."

Alinor wollte wieder ihres ursprünglichen Weges gehen, aber Tyrna folgte ihr hartnäckig.

"Entschuldige, Alinor, lass mich bitte erst erklären", bat Tyrna. Er sah es nicht für angebracht, die alte Frau am Arm festzuhalten und lief deswegen ein wenig vor ihr her, bis sie stehen blieb. "Es geht schon um den Umzug, aber ich - oder besser gesagt, Bedana hat Gründe, ihn derzeit abzulehnen", fuhr Tyrna fort, als er sich der Aufmerksamkeit der Älteren sicher war.

Alinor stand nun still da und sah den dunkelhaarigen Stammesführer prüfend an. "Ich hoffe für dich, dass diese Gründe auch für alle anderen einsehbar sind."

"Das werden sie sein", versicherte Tyrna der alten Frau eifrig. "Ich möchte Bedana die lange Reise im Moment nicht zutrauen. Es wäre zu beschwerlich für sie. Wenn ihr euch wirklich für die Umsiedlung entscheidet, dann werden Bedana, Melva und ich hier bleiben. Vorläufig."

Alinor nickte geduldig. "Schön, Tyrna, aber wenn ich das all den anderen aus dem Stamm sagen soll, musst du mir auch erst genau erläutern, weshalb die Reise zu schwer für Bedana ist und ihr lieber in der alten Siedlung bleiben wollt."

"Mit Uisvan hat es nichts zu schaffen. Es ist eine Angelegenheit, die nur Bedana und mich betrifft. Und Melva." Tyrna hielt inne und suchte nach einer Erklärung. "Wir könnten frühestens im nächsten Spätsommer folgen. Zu Viert."

Die Falten auf Alinors Stirn glätteten sich ein wenig und ein gütiges Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie Tyrna verstand. "Ich bin sicher, es reicht, wenn wir alle erst im nächsten Frühjahr zu planen beginnen, falls wir uns für die Umsiedlung entscheiden."

"Danke, Alinor!" Tyrnas braune Augen strahlten glücklich. Er packte Alinors schmale Schultern und war kurz davor, der Stammesältesten einen Kuss auf die Wange zu drücken, besann sich aber ihrer hohen Stellung und umarmte die ältere Frau nur schnell, bevor er davon stürmte.

"Tyrna!"

Der Angesprochene stoppte seine schnellen Schritte und wandte sich zu der Rufenden um.

"Grüß Bedana und Melva von mir. Und sag deiner Frau, dass ich in den nächsten Tagen bei euch vorbei komme, um sie mir anzusehen", rief Alinor dem Mann nach. "Pass gut auf die Drei auf, ja?!"

Tyrna nickte und eilte weiter.

Nachdenklich sah Alinor Tyrna hinterher. Nur selten bekam man als Außenstehender von dem sonst so ernsthaft wirkenden Stammesführer solche Gefühlsausbrüche zu sehen, wie gerade eben.
 

~ * ~
 

Bis in den kleinsten Muskel erschöpft, ließ sich Ferlan auf einem moosigen Stein am Fuße einer Quelle nieder. Er streckte seine Beine zur Entspannung aus, schloss kurz seine Augen und lauschte dem leise murmelnden Wasser, das zwischen ein paar Steinen aus einem Felsen entsprang.

Tage- und Nächtelang war Ferlan ohne Unterbrechung durch die Wälder gelaufen, hatte die Zeit und die durchreisten Orte vergessen, bis er die ihm bekannte Umgebung endgültig hinter sich gelassen hatte.

Jetzt war er in der Fremde angekommen. Es sah hier zwar nicht viel anders aus, als zu Hause, aber dennoch ungewohnt.

Ferlan vermisste die vertrauten Geräusche und Gerüche seiner Siedlung. Das Hahnengeschrei, die dumpfen Rufe der Rinder, der helle rhythmische Klang der Schmiedehämmer, wenn sie das Metall bearbeiteten, der würzige Rauch, der aus der Esse drang - und seine Freunde und Familie, die ihn begrüßten. Letzteres fehlte Ferlan am meisten.

Sein erster richtiger Halt, bei dem er nicht das andauernde Bedürfnis hatte, sofort wieder weiterziehen zu müssen, hatte Ferlan an einen gemächlich vor sich hinplätschernden kleinen Fluss gebracht, wo er nun saß und ratlos den Wellen des Wassers nachsah.

Wenn er hier bleiben wollte, musste er sich erst genau erkundigen, wo es ihn hin verschlagen hatte. Und vor allem, ob er hier überhaupt eine Möglichkeit hatte, zu überleben.

Wasser war genügend da. Fehlten noch das Essen und ein ruhiger Platz, um sich einen vorläufigen Unterschlupf zu bauen.

Aber das Essen war wichtiger, fand Ferlan und wie zur Bestätigung knurrte sein leerer Magen.
 

Ferlan entknotete sein Bündel, das neben ihm auf dem Boden lag und besah sich den abnehmenden Inhalt. Ein kleines Stück Heimat, das langsam mit der Entfernung, die Ferlan zu ihr zurücklegte, ebenfalls mitschwand, dachte er sehnsüchtig.

Nur noch wenig gepökeltes Fleisch war da, das Obst war auch bis auf einen einzigen runzeligen Apfel schon längst gegessen und das klägliche Tröpfchen Wasser, das aus dem Lederschlauch rann, war nicht der Rede wert.

Im Vorübergehen hatte Ferlan so viele essbare Beeren gesammelt, wie er nur konnte. Die weicheren hatte er sofort aufgegessen und die Festfleischigen eingepackt, um sie zu trocknen und später verzehren zu können. Aber er konnte sich schlecht nur ausschließlich von Beeren ernähren. Und sonst sah es ja nicht gerade hervorragend mit Nahrungsmitteln aus.

Für den Winter musste er Vorsorge treffen, welche Pilze er etwa ohne Gefahr verzehren konnte. Vorräte müsste er sich auch anlegen, am besten jetzt schon, nicht, dass er völlig überrumpelt wurde, wenn der Winter vorzeitig einbrach.

Zuerst würde er Wasser holen. Oder er versuchte gleich, etwas zu erlegen. Wenn er Glück hatte, erwischte er sogar einen Hasen, den er dann zubereiten konnte. Aber wie erlegte man nur mit einem kurzen Dolch bewaffnet ein Tier? Kein Hase ließ einen Menschen freiwillig so nahe an sich heran, dass er ihn mit einem kleinen Dolch töten könnte...

Ferlans Eifer war so schnell verschwunden, wie er gekommen war.

Dann zuerst einmal das Wasser holen, erwog er die Dringlichkeit der benötigten Sachen und die Möglichkeit ihrer Beschaffung.

Ferlan nahm das längliche Stück Tierhaut und hielt es mit der Öffnung in das fließende Wasser. Raschelndes Laub und knackende Äste ließen ihn in seinem Tun aufsehen.

'Nicht schon wieder!', dachte Ferlan, der das Auftauchen eines unliebsamen Gastes befürchtete, verbittert. Er hatte sich so darum bemüht, sämtliche Siedlungen an denen er vorbei gekommen war, weiträumig zu umgehen und jetzt sollte es doch nichts genutzt haben?!

Ferlan war drauf und dran sein Bündel zusammen zu raffen und sich auf schnellstem Wege davon zu machen, als die Gestalten, die aus dem beinahe undurchdringlichen Gehölz kamen, ihn augenblicklich wieder zu Boden sinken ließen.
 

Das dichtgewachsene Gestrüpp auf der gegenüberliegenden Seite des Ufers teilte seine grünen Arme und heraus traten mit geschmeidigen Bewegungen die schönsten Geschöpfe, die Ferlan je auf diese kurze Distanz zu Gesicht bekommen hatte.

Wie versteinert saß Ferlan auf seinem Platz und beobachtete die Wesen, die zum Wasser gingen und ihre Köpfe dem Wasserspiegel entgegen neigten: Es war ein Rudel Wölfe und umfasste ungefähr Fünfzehn Tiere.

Ferlan sah erstaunt zu, wie sich einer der Wölfe, ein großer Rüde mit graumeliertem Fell, von der Gruppe absonderte und einen Baumstumpf erklomm, auf dem er sich niederließ. Geduldig beaufsichtigte er seine Meute, die nun das klare Quellwasser zu trinken begann.

Der wachehaltende Wolf auf dem Stumpf, saß derweil fast reglos da, als wäre er selbst ein Teil des Baumes, auf dem er Platz genommen hatte. Das Sonnenlicht, das durch das grüne Laubdach blitzte, ließ helle Flecken über sein glänzendes Fell tänzeln.

Keine Spur von Nervosität war dem Grauen anzumerken. Er hatte die Lefzen hochgezogen und entblößte die starken Kiefer mit den langen Reißzähnen, machte im Allgemeinen aber einen entspannten Eindruck. Alleine seine Ohren, die sich ständig lauschend in alle Richtungen drehten, sondierten die Gegend und nur wenn es im Unterholz knackte oder ein Vogel über das trockene Laub hüpfte, drehte er seinen Kopf in die entsprechende Richtung, schnüffelte prüfend und suchte mit seinen gelben Augen den Wald nach dem Störenfried ab.

Ferlan jedoch, der im gegenüberliegenden Ufergras lag, traute sich kaum zu atmen, um die Tiere nicht zu verscheuchen. Ob sie ihn schon gewittert hatten? Ferlan duckte sich noch etwas weiter zu Boden und hielt abrupt inne, als das Gras verräterisch unter ihm raschelte.

Doch die Wölfe, die auch während des Trinkens stets ihre Augen aufmerksam auf ihre Umgebung gerichtet hatten, schienen den jungen Mann glücklicherweise nicht zu bemerken und so konnte Ferlan den Anblick der Tiere auch weiterhin genießen.
 

Als die Wölfe fertig getrunken hatten, machten sie sich so elegant wie sie gekommen waren, wieder auf den Rückweg.

Ferlan zögerte keinen Moment und beschloss, den Tieren zu folgen.

So faszinierend diese erhaben wirkende Tiere auch waren, hatten sie für den jungen Mann noch einen ganz anderen Nutzen. Wo so ein großes Rudel überlebte und satt wurde, musste es genug Wild geben, wovon auch er profitieren würde, dachte Ferlan erfreut.

Hastig knotete Ferlan die Ecken seines Stoffbündels zusammen und warf es sich über die Schulter.

Ferlan hatte gerade den an dieser Stelle niedrigen Fluss durchquert und war im Begriff das Waldstück zu betreten, in dem die Tiere verschwunden waren, als er unfreiwillig aufgehalten wurde.

Ein Regen aus Steinen, kleinen Ästen und Erde kam auf Ferlan zugeflogen und er musste sich schleunigst ducken, um dem Dreck auszuweichen, der auf ihn niederprasselte. Nur knapp entging er dabei ernsthaften Verletzungen durch die doch recht großen, umher fliegenden Gegenstände.

Als der Hagel endlich nachließ, konnte Ferlan die Arme herunter nehmen, die er schutzsuchend vor sein Gesicht gehalten hatte. Er wischte sich den Schmutz aus den Augen, hob den Saum seines Leinenhemdes an und schüttelte den Unrat, der ihm oben in den Kragen hinein gefallen war, raus.

Verwirrt sah sich Ferlan um.

Es konnte unmöglich sein, dass es hier Steinschläge gab! Weder Felsen noch andere Quellen dafür waren in unmittelbarer Nähe.

Ferlans Frage blieb unbeantwortet, aber dafür erklang erneut ein leises konstantes Sirren vor ihm. Vorsorglich brachte sich Ferlan vor dem nichts Gutes verheißenden Geräusch hinter dem nächststehenden Baum in Sicherheit und wagte einen zögerlichen Blick Richtung Waldweg.

Kaum, dass Ferlans Kopf wieder hinter dem Baum erschien, wurde das Sirren schneller und lauter. Von einem bedrohlich sausenden Luftzug begleitet flog der nächste Stein dicht an Ferlans Kopf vorbei und schlug Sekunden später in dem Baumstamm ein, hinter dem Ferlan sich verborgen hielt.

Ferlan keuchte erschrocken auf. Irgendjemand wollte anscheinend nicht, dass er auch nur einen Schritt weiter in diesen Teil des Waldes machte. Und derjenige meinte es mehr als ernst!

Schockiert besah sich Ferlan das Einschlagsloch des Steines im Stamm. Die Rinde war zerfetzt und eine kleine Delle zierte das Holz dort, wo der Stein den Baum getroffen hatte. Das hätte genauso gut auch sein Kopf sein können, dachte Ferlan erschüttert. Der junge Mann verdrängte den ersten Schock des Angriffs. Jetzt wollte er wissen, wer ihn grundlos mit Steinen bewarf!

Ferlan zückte seinen Dolch und sprang hinter seinem Versteck hervor. Blitzschnell huschte er zu einem dichten Gebüsch und ging dort in Deckung.

Durch das Astwerk des Busches hindurch suchte Ferlan den Waldweg vor sich nach dem Steinewerfer ab. Nicht weit von sich selbst entdeckte Ferlan ihn auch.

Dem Fremden war, wie es aussah, die Munition ausgegangen und er hatte sich ebenfalls hinter eine dichtstehende Baumgruppe geflüchtet. Alleine ein dünner, schmutziger Arm war zu sehen, der hektisch den Boden vor sich nach Steinen abtastete. Doch bis zu einem erfolgreichen Fund wollte Ferlan es nicht kommen lassen. So lange der andere praktisch unbewaffnet war, hatte Ferlan selbst die besseren Chancen, ihn gefahrlos stellen zu können.

Ferlan sprang auf und sprintete Richtung Baumgruppe.
 

Der Steinewerfer hatte mit so etwas wohl schon gerechnet und rannte nun seinerseits ebenfalls los.

"Warte!", schrie Ferlan dem Flüchtenden nach, der durch das Baum-Labyrinth davon lief und dabei Haken wie ein Hase schlug.

Ferlan biss die Zähne zusammen und beschleunigte seine Schritte. Das Stechen in seiner Rippengegend wurde immer heftiger, aber er wollte diese Person um jeden Preis zur Rede stellen. Er hatte ihm nichts getan und erwartete eine Erklärung, weshalb er dennoch angegriffen wurde!

Der Unbekannte unterdessen rannte unbeirrt weiter, als ahne er, dass er nichts Gutes von seinem Verfolger zu erwarten hatte. Auch Ferlans Rufe, er würde ihm nichts tun, hielten ihn nicht auf. Mit einer unglaublichen Geschicklichkeit sprang er über Baumstümpfe und eilte fliegenden Schrittes über den Waldboden, ohne auch nur einmal ins Straucheln zu geraten.

Ganz im Gegensatz zu Ferlan, der in dem unwegsamen Waldstück aufpassen musste, wo er seinen Fuß hinsetzte und gleichzeitig den Fremden nicht aus den Augen verlieren durfte. Doch schon bald hatte er dank seiner guten Kondition dessen Vorsprung nahezu aufgeholt. Immer näher kam Ferlan dem Fliehenden, der vor ihm her durch das Laub hastete.

Der Fremde erkannte auch, dass Ferlan sich nicht so leicht abschütteln ließ. Im Rennen drehte er sich zu Ferlan um und warf diesem in letzter Verzweiflung den Gegenstand entgegen, mit dem er ihn zuvor bedroht hatte.

Ferlan verhedderte sich in der langen Schnur, die er in die Beine geworfen bekam und stolperte. Glücklicherweise fing er sich aber wieder, schaffte es sogar, das Seil um seine Füße abzustreifen und jagte dem anderen nach. Hielt er noch ein wenig durch, würde er den anderen bald zu fassen kriegen! So weit war er dem anderen schon gefolgt, dass er jetzt nicht mehr aufgeben wollte.

Er war tatsächlich sehr weit gerannt. Weiter, als er sollte.

Ferlans ausholende Schritte wurden langsamer.

Hoffentlich fand er nachher den Weg auch wieder zurück, fiel es Ferlan plötzlich ein. Sein Bündel hatte er hinter dem Baum liegen lassen, wo er dem jungen Mann das erste mal begegnet war. Wenn er den Weg nicht mehr fand, dann waren seine restlichen Essensvorräte auch dahin, ohne dass er Neue hatte.

Ferlan gab auf. Er stoppte seine Schritte ganz und sah dem Unbekannten nach, der ihm einen letzten gehetzten Blick zuwarf, ehe er endgültig zwischen den Bäumen verschwand.

Verärgert machte sich Ferlan auf den Heimweg.
 

Auf dem Rückweg hatte Ferlan Zeit, sich zu fragen, weshalb er dem Fremden hinterher gelaufen war. Alleine wegen des zur-Rede-stellens sicherlich nicht. War sein Verlangen, sich mit irgendeinem Menschen zu unterhalten schon so groß, dass er es sogar mit demjenigen tun würde, der ihn angegriffen hatte - obwohl er sämtlichen Menschen bisher erfolgreich ausgewichen war und ihre Abwesenheit bisher kein Stück bedauert hatte?!

Ferlan musste über sich selbst lachen. Arme, bedauernswerte Kreatur, verspottete er sich, was wurde in Zukunft nur aus ihm, wenn er sich schon nach nicht einmal einem Monat ohne Gesellschaft eben nach dieser sehnte? Na ja, jetzt war der Fremde ohnehin spurlos verschwunden, als wäre er nie da gewesen. Die Fragen erübrigten sich also.

Noch im selben Augenblick widerrief Ferlan diesen Gedanken wieder. Ganz ohne einen Hinweis auf den Fremden war er doch nicht! Das Teil, das er von seinem Angreifer vor die Füße geschleudert bekam, hätte er fast vergessen. Es musste noch irgendwo sein!

Die Blicke vor sich auf den Boden gerichtet, suchte Ferlan die nahe Umgebung ab. An einer großen Wurzel, die zum Teil über der Erde lag, fand er den Gegenstand endlich. Ferlan bückte sich. Er entwirrte die Schnur, die sich um den Baum schlang und besah sich das Fundstück.

Es war ein kleiner Lederbeutel, der an zwei armlangen geflochtenen Riemen befestigt war. Ferlan bog die Seitenkanten des Beutels auseinander und betrachtete sich dessen abgenutzt aussehendes Inneres. Damit hatte der Unbekannte die Steine geworfen?!

Es musste funktionieren, sagte sich Ferlan. Andere Waffen hatte der Geflüchtete immerhin nicht benutzt.

Ferlan sah auf den Beutel, der an der langen Schnur hin und her baumelte.

Der junge Mann wollte es nun selbst ausprobieren und legte einen Stein in die Mitte des stark abgegriffenen Beutels. Dann erhob er sich aus der Hocke, hielt die Enden der Lederschnüre fest in der Hand und begann damit, seinen Arm gleichmäßig kreisen zu lassen.

Das gleiche helle Sirren, das Ferlan noch lebhaft in Erinnerung geblieben war, ertönte, als der Lederbeutel mit dem Stein in einem immer weiter ausholenderen Radius schräg über Ferlans Kopf rotierte.

Jetzt musste nur noch der Stein aus dem Beutel befördert werden.

Ferlan gab sich Mühe, den Halteriemen, sobald diese sich nahezu waagerecht vor ihm befanden, einen kurzen Ruck zu geben und so den Stein aus dem Lederbeutel zu schleudern.

Er schaffte es auch fast.

Fast.

Ferlan verpasste den besten Moment und zog die Schnur zu spät zurück, so dass der Stein nicht auf dem zu Ferlans Körper entferntesten Punkt herausgeschleudert, sondern mitsamt seines ledernen Behälters noch ein Stück hoch in die Luft gewirbelt wurde und dem jungen Mann beim Herunterfallen auf die Schulter fiel.

Ferlan fluchte und presste die Hand auf die schmerzende Stelle seines Schlüsselbeins. Dieses verflixte Teil zu kontrollieren war schwerer, als er gedacht hatte. Aber mit etwas Übung wurde aus diesem simplen Lederbeutel eine gefährliche Waffe, wie Ferlan selbst hatte feststellen müssen. Und wenn er sie zu beherrschen lernte, konnte er damit selbst auf Jagd gehen.

Ferlan nahm den Stein aus dem Lederbeutel und band diesen sicher an seinem Gürtel fest. Dieses ärgerliche Zusammentreffen hatte sich dann doch als lohnend heraus gestellt, auch, wenn es zu spät war, seinem unfreiwilligen Spender dafür zu danken.
 


 

Schnell hatte Ferlan den rätselhaften jungen Mann und die Wölfe vergessen. Das Revier der Wölfe umfasste anscheinend ein sehr weitläufiges Gebiet und der Fluss war wohl nicht ihre einzige Wasserstelle, die sie aufsuchten. Ferlan hatte die Tiere seit dem Treffen an der Quelle jedenfalls nicht mehr zu Gesicht bekommen und sich anderen Dingen zugewendet.

Mittlerweile war es ihm gelungen, eine kleine Höhle auszumachen, in der er vorübergehend Unterschlupf finden konnte. Zufrieden war Ferlan aber nur bedingt, denn groß war die Höhle nicht. Wenn Ferlan auf dem Boden lag, schaffte er es sage und schreibe vier Mal um seine eigene Achse zu rollen, bevor er an der gegenüberliegenden Wand anstieß. Obendrein war es unangenehm feucht, was vor allem nachts sehr störte und Ferlan bald einen lästigen Schnupfen bescherte.

Ein Feuer ließ sich in dem winzigen Raum zudem auch keines machen. Ferlans erster Versuch, eben dies zu bewerkstelligen, hatte ihn, zwecks mangelnden Rauchabzugs durch den engen Ausgang, nach kurzer Zeit wieder ins Freie getrieben. Erst nach einem halben Tag war es ihm unter Zuhilfenahme von Blätterbewachsenen Ästen und seines Umhangs gelungen, den giftigen Rauch aus der Höhle zu entfernen, um wieder darin schlafen zu können.

Gut, das Feuer war sowieso unnötig. Wofür auch? Zum Schlafen in der schimmligen Höhle, wo er das Feuer nicht gebrauchen konnte, wenn er nicht ersticken wollte? Um seine Mahlzeit, eine Handvoll Pilze, zu rösten, die die einzige Ausbeute seiner 'Jagdversuche' darstellten und die er trotz ihrer Ungenießbarkeit gegessen hatte? Die heftigen Magenschmerzen hatten den Aufwand nicht gelohnt.

Auch Ferlans spartanische Einrichtung beschränkte sich nach etlichen Tagen seines Einzugs noch immer auf ein riesiges klebriges Spinnennetz, das fast die ganze Decke überzog und einen großen glatten Stein, den er mühevoll in seine Unterkunft geschoben hatte, damit er nicht auf dem nassen Boden sitzen musste.

Diese jämmerliche Behausung eignete sich allenfalls als Notquartier, dachte Ferlan zerknirscht, selbst Füchse lebten in größeren. Für den Herbst würde er sich dringend etwas anderes suchen müssen, wenn er die Kälte überstehen wollte.

Und da war auch schon die nächste Hürde.

Da eine Höhle ohne warme Kleidung ebenfalls unnötig war, hatte Ferlan in der Zwischenzeit sein untätiges Selbstmitleid aufgegeben müssen und hatte sich lieber daran gemacht, etwas zu organisieren, das ihm einen qualvollen Erfrierungstod ersparte. Und am besten eigneten sich dafür Tiere.

Das Fleisch würde er kochen oder für später trocknen, aus den Knochen ließen sich Nadeln schnitzen und mit den getrockneten Sehnen der Tiere konnte er die Felle zu wärmender Kleidung vernähen.

Wenn er dann noch genügend Felle übrig hatte, wäre es sogar möglich, sie in einer nahen Siedlung zu verkaufen und so an weitere wichtige Dinge, wie etwa Salz zum Haltbarmachen des Fleischs zu kommen.

Ferlans neu aufflammender Eifer wuchs und er beeilte sich, sein Vorhaben umzusetzen. Fallenbauen war das einzige, das ihm keinerlei Mühe bereitete, da er das als Kind, zusammen mit Aredh, genügend hatte tun müssen. Auch jetzt ging ihm die Arbeit relativ leicht von der Hand. Drei Stück hatte Ferlan fertig und er würde wohl auch bald zum aufstellen kommen.

Ferlan bog die dünnen Äste der vierten Falle so, dass sie mit Rindenflechten umwickelt, wie kleine Häuser aussahen - mit dem Unterschied, dass sie keine schützenden Wände besaßen, sondern solche, die ein Entkommen unmöglich machten. Sobald im hinteren Teil durch Berührung einer unscheinbaren Stelle, ein Mechanismus ausgelöst wurde, wurde eine Klappe betätigt, die dann den Eingang verschloss.

Simpel, aber zweckmäßig und wirkungsvoll.
 

Tage später hatte Ferlan es tatsächlich geschafft, Vier kleine, aber doch recht ansehnliche Fallen fertig zu bauen, die er nun nur noch aufstellen musste. Und eben zu diesem Zweck war er den ganzen Morgen über von einer Stelle im Wald zur anderen gelaufen und hatte nach dem bestmöglichsten Platz gesucht.

Die bekannten Wege, die Händler und andere Leute benutzten, hatte er verlassen und befand sich nun in einem Teil des Waldes, den er bisher kaum erforscht hatte.

Ferlan sah sich um und suchte den besten Platz, um seine Falle aufzustellen. An dieser Stelle war der Wald von einigen Lichtungen durchsetzt und vielleicht gab es in dem besonders hügeligen Gebiet ja den ein oder anderen Hasen, der hier seinen Bau hatte.

Wie lange es wohl dauern würde, bis ein Tier in die Falle tappte? Heute noch?

Ferlan betrachtete zweifelnd das schlabberige Ampferbüschel, das er als Köder in die hintere Ecke der Falle gelegt hatte. Vielleicht ließ sich ja doch ein Häschen dazu herab, wenigstens etwas von dem Grünzeug zu kosten?!

Es musste ja noch nicht einmal ein Hase sein, dachte Ferlan. Wählerisch war er schon lange nicht mehr, das hatte ihm der dumpf rumorende Hunger schnell ausgetrieben, der ihn so sehr plagte. Er würde alles essen, was er fing, selbst Mäuse, wenn es sein musste!

Das Erlernen, mit Hilfe der Steinschleuder zu jagen, war der größte Reinfall bisher. Viel erfolgreicher, als würde er die Tiere von Hand fangen, war Ferlan damit auch nicht. Er schaffte es nicht, das Ziel zu treffen, das er anvisierte und vertrieb ständig sämtliches Jagdtier mit seinen unbeholfenen Versuchen. Jetzt, mit den Fallen, würde es hoffentlich besser werden.

Der junge Mann stieg voller Vorfreude auf einen etwaigen Fang eine kleine Erhebung hinauf und blieb abrupt stehen, kaum dass er oben angekommen war.

Der Wald, der sich vor ihm auftat - war kein Wald mehr, wie er ihn kannte.
 

Alles war rot.

Der Wald war ein einziges Schlachtfeld. So weit man sehen konnte, herrschte nur sinnlose Zerstörung.

Der Boden, die Baumstämme, die Blätter der blühenden Büsche waren übersäht mit roten Spritzern - Blut.

Es sah aus, als hätte es das Blut geregnet.

Ferlans Atem stockte. Er hatte schon öfter zugesehen, wenn in seiner Siedlung das Vieh geschlachtet wurde, aber das hier war vollkommen anders; wütender, zerstörender.

Niedrighängende Äste der umstehenden Bäume lagen nun abgebrochen auf dem Boden. Die Erde in der übersehbaren Umgebung war aufgewühlt, als wäre eine Rinderherde darüber hinweg getrampelt und hätte alles mit ihren Hufen umgepflügt.

Rosige Flecken stachen aus den üblichen Grün- und Brauntönen des Waldes hervor.

Still und ohne Fell lagen mehr als ein Dutzend Tiere verstreut im grünen Farn.

Um welche Tiere es sich handelte, konnte Ferlan auf die Entfernung hin nicht genau sagen, da man ihnen die Köpfe abgetrennt hatte.

Ferlan ließ den Baumstamm los, an dem er sich unbewusst mit einer Hand abgestützt hatte. Die kaltgewordenen Finger des jungen Mannes schlossen sich fester um den langen Stock, den er stets bei sich trug, wenn er im Wald unterwegs war. Schleppend langsam setzte sich Ferlan in Bewegung.
 

Es kostete Ferlan Mühe und Überwindung, den ersten Schritt den Hügel hinunter zu machen und sich dem Grauen zu nähern, das sich ihm dort offenbarte.

So gerne er wieder gegangen wäre, ahnte Ferlan, dass er sowieso keine Ruhe finden würde, ehe er nicht wusste, was mit diesen geschändeten Tieren vorgegangen war.

Ferlan hob eine Ecke seines Umhanges hoch und bedeckte damit Mund und Nase. Die aufsteigende Übelkeit unterdrückend wanderte er zwischen den reglosen Tierleichen hindurch.

Der Anblick der verunstalteten Tiere ließ Ferlan nicht los, wie magisch angezogen konnte er sich der Szene nicht entziehen und starrte die abgeschlachteten Kreaturen fassungslos an.

Ferlans Blicke glitten über die dahingestreckten Tiere, denen man gewaltsam die Felle geraubt hatte. Ihre Statur glich der von Wölfen. Für Füchse waren sie zu groß und für Rotwild zu klein. Und sonst gab es hier keine Tiere, die der Größe entsprachen.

Waren es die Wölfe, die Ferlan beim Trinken beobachtet hatte? Diese friedvollen Wesen, deren Lebens- und Reisewege er gerne weiterhin verfolgt hätte?

Schnell zählte Ferlan jedes einzelne tote Tier, das er sah. Die Anzahl kam in etwa mit dem des Rudels vom Fluss hin. Sie waren es also wirklich.

Ferlan schien es bei dieser Erkenntnis, als hätte man ihm selbst die Wunden zugefügt und nicht den toten Wölfen.

Die Tiere, die er vor wenigen Tagen noch am Ufer des Flusses bewundert hatte, jetzt so unnötig dahingemetzelt ansehen zu müssen schmerzte ihn tief.
 

Was war hier nur geschehen? Hatten die Wölfe eine Siedlung angegriffen? Ferlan verwarf den Gedanken sofort.

Das hier war kein Werk von Bauern, die ihre Herden vor den Wölfen beschützen wollten. Nein, die Täter wussten vom ersten Augenblick an, als sie ihr Vorhaben planten, bis hin zur Ausführung, was sie wollten: die Felle! Und um diese zu bekommen, hatte man alles in Kauf genommen.

Bilder von Treibern und Jägern, die einen laut rufend hinter der Meute her hetzend, die anderen still im Unterholz auf ihre Opfer wartend, formten sich in Ferlans Gedanken.

Die Jäger mussten in der Überzahl gewesen sein, und sie hatten Zeit gehabt. Mehr als genug. So weit draußen im Wald, hatten sie ungestört ihr Werk verrichten können.

Wahrscheinlich hatte man schon Tage oder gar Wochen zuvor genau ausgekundschaftet, wie die Gewohnheiten des Rudels waren, um sie dann in einem geeigneten Moment zu überrumpeln, zusammen zu treiben und schließlich einfach abzuschlachten.

Man hatte die Wölfe gezielt getötet. Fleischwunden waren kaum vorhanden, wohl um zu vermeiden, dass die wertvollen Felle unnötig beschädigt wurden. Die tiefen Schnitte kamen anscheinend erst später hinzu, als man den Tieren die Felle abzog.
 

Mit seinem Stock stieß Ferlan einen der Körper an und wich dem schwarzen Fliegenschwarm aus, der sich, empört über die Störung, laut summend von dem Tier erhob und davonflog.

Ihrem elenden Zustand nach zu urteilen, lagen die Wölfe sicher schon einige Zeit hier.

Der intensive Geruch der toten Tiere übertünchte den frischen frühsommerlichen Duft der blühenden Bäume und Pflanzen. Selbst durch den Stoff, den sich Ferlan vor seine Nase presste, konnte er alles riechen.

Was er nicht konnte, war etwas außer den Trittgeräuschen seiner eigenen Schritte zu hören, denn es war absolut still.

Es war so still, wie Ferlan es noch in keinem Wald erlebt hatte. Er hatte das Gefühl, den Kopf unter Wasser zu tauchen, so ruhig war es. Und es war eine unerträgliche Stille, die der junge Mann in den Ohren, die Geräusche erwarteten, als äußerst unangenehm empfand.

Die Tiere schienen sich aus dem Teil des Waldes zurückgezogen zu haben. Der Tod hatte sich hier wohl schnell herum gesprochen.

Kein einziger Vogel zwitscherte, nirgendwo lugte eine Maus neugierig aus ihrem kleinen Erdloch heraus, und außer den unzählbaren Fliegen, die die Tierleichen bevölkerten, war kein Insekt zu sehen.
 

Ferlan konnte dem Drang, zu flüchten, kaum noch widerstehen. Keine Minute länger wollte er mehr hier bleiben.

Statt den Weg zu nehmen, den er gekommen war, machte Ferlan einen ausreichend großen Bogen, um auf anderem, aber dennoch schnellstmöglichen Wege zu seiner Höhle zu gelangen. Er hatte lange genug den Anblick der toten Tiere ertragen und die Strecke wieder zurück, an all den Kadavern vorbei, würde er nicht mehr durchstehen.

Nicht mehr der Hunger, sondern eine nie gekannte Angst, ließen Ferlan die Schritte beschleunigen.

Der junge Mann achtete nicht mehr darauf, wohin er trat. Nur nicht mehr zu Boden blicken, keine blutigen Spuren mehr sehen müssen!

Mit jedem gelaufenen Meter schwand bei Ferlan der tranceähnliche Zustand, der ihn, seit er die abgeschlachteten Wölfe gefunden hatte, im festen, gedankenlähmenden Griff gehalten hatte. Auch Ferlans Ekel vor dem Gesehenen wich einen kurzen Augenblick, als ihm dämmerte, dass er wahrscheinlich mehr über das Vorgefallene wusste, als ihm lieb war.

Ob der Unbekannte, der Ferlan mit Dreck und Steinen beschmissen hatte, als er den Wölfen vom Fluss aus in den Wald folgen wollte, etwas damit zu tun hatte? War er einer der Wilderer und hatte sich durch Ferlans Interesse an den Tieren gestört gefühlt?

Die Wut in Ferlan wuchs. Hätte er sich doch nur nicht vertreiben lassen! Dann wären die Wilderer womöglich verschwunden - und später wieder zurückgekehrt...

Bei dem Gedanken erschauerte Ferlan. Wer wusste schon, zu was diese Berserker noch alles fähig waren, wenn ihnen schon das Leben eines Tieres nichts außer dem Geld für deren Felle wert waren?!

Ganz untätig wollte Ferlan nicht bleiben. Ob er es nur wegen den Tieren oder auch sich selbst und seinem schuldbeladenen Gewissen zuliebe tat, wusste er nicht, aber er wollte diesen Personen keine weitere Chance mehr gönnen, so etwas wie dieses Abschlachten erneut veranstalten zu können! Und das wenige Wissen, das ihm blieb, musste reichen. Mehr Anhaltspunkte zum Aussehen der Wilderer, außer dem bisschen, das er an dem Fremden mit der Steinschleuder erkannt hatte, besaß Ferlan nicht. Bis auf die hellen Augen, die aus dem schmutzigen Gesicht gut hervorstachen, konnte sich Ferlan an kaum etwas von dem Verdächtigen erinnern. Der Rest setzte sich nur aus Schemen und Umrissen zusammen.

Vielleicht reichte es ja, um wenigstens diesen Unbekannten irgendwann ausfindig zu machen und für dieses sinnlose Massaker zur Rechenschaft zu ziehen?

Ferlan kletterte über einen felsigen Hügel. Nicht mehr lange und er war am Fluss, in bekanntem Gebiet.

Auf der anderen Seite des kleinen Felsen sprang Ferlan behende hinab. Unten wollte er den Sprung abfedern, aber die Erde unter Ferlans Füßen gab unerwartet nach. Ferlan sackte plötzlich ein und steckte kurz darauf bis zu den Knien im Waldboden.
 


 

Ferlan schrie erschrocken auf und fluchte im nächsten Moment, als er seine missliche Lage sah. Er setzte sich, um nicht noch weiter einzubrechen und bewegte probeweise sein fest im Boden steckendes linkes Bein.

Sein Stock lag zerbrochen neben im, aber wenigstens hatte er sich selbst nicht verletzt, dachte Ferlan erleichtert, als er keinen Schmerz spüren konnte.

Ferlan sah sich um. Es schien, als wäre er auf einen alten Kaninchenbau oder Ähnliches getreten. Jetzt wusste er zumindest, dass es hier Kaninchen gab...

Ferlan begann, den Boden um seinen unfreiwilligen Sitzplatz herum abzutasten. Die Erde war fest. Alleine die Stelle im näheren Umkreis, an der er eingesackt war, war lockerer als der Rest. Er konnte es also riskieren, sein Bein gefahrlos zu befreien und aufzustehen, ohne noch mehr Schaden anzurichten.

Ferlan stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab und zog mit einem kräftigen Ruck sein Bein aus der Falle hervor.

Der lehmige Waldboden um das von Ferlan eingetretene Loch fiel etwas in sich zusammen und eine kleine Lawine aus Laub und Grund rutschte ins Erdinnere.

Ein kaum hörbarer Laut, so leise, wie das Piepsen eines Vogels, erklang, doch bei der Stille aber war er gerade laut genug, um von Ferlan bemerkt zu werden.

Der junge Mann stutzte und horchte.

Sekunden später folgte ein weiterer Ton - ein unterdrücktes Winseln.

Ferlan legte den Kopf schief, um die Lage genauer auszumachen, aus der das Winseln kam.

Unter ihm, ganz klar. Das leise Jaulen kam unmittelbar aus dem Bereich, auf dem er saß!

Ferlan wollte aufspringen, besann sich allerdings.

Wenn sich der Verursacher der klagenden Laute unter ihm und dem brüchigen Erdboden befand, dann musste er auf jede Bewegung achten, die er tat, damit der noch feste Grund nicht ebenfalls nachgab.

Vorsichtig rutschte Ferlan nach hinten, weg von dem Loch im Boden. Er kniete sich hin und beugte seinen Kopf lauschend etwas weiter zur Erde hin.

Das Winseln, das er zu hören geglaubt hatte, war verstummt. Nur das leise raschelnde Laub unter seinem Körper war zu vernehmen.

Sollte er sich doch getäuscht haben?

Ferlan kroch auf allen Vieren um das Erdloch herum. Als unter seinen Knien ein kleiner Ast knackend zerbrach, ertönte zeitgleich wieder das das Winseln.

Etwas war da unten in der Erde und es wollte offensichtlich nicht dort sein!

Nun kam Leben in Ferlan. Er legte sich bäuchlings auf den Boden, robbte durch das Laub und folgte dem unterirdischen Winseln, bis er an eine Stelle kam, an der die weinerlichen Geräusche am lautesten waren.

Ferlan stieß seine Hände in die modrige Erde und begann zu graben.
 

Ferlan grub weiter und mit jedem freigelegten Stück des Bodens tauchten immer mehr kleine Fellbündel in dem höhlenartigen Bau auf, in dem Ferlan eingebrochen war. Der junge Mann schaufelte weiter Erde aus dem Loch, bis endlich fünf kleine leblos wirkende Fellbündel, Wolfswelpen, vor ihm im Laub lagen. Nach ein paar Zentimetern kam auch noch der Kopf eines größeren Wolfes zu Tage - die Mutter der Kleinen, und augenscheinlich tot.

Ferlan hob eines der kleinen Wesen hoch und kontrollierte es auf Lebenszeichen. Doch es regte sich nichts. Schlaff hingen die Beinchen des kleines Wolfs herab und der Kopf baumelte haltlos zur Seite.

Wie es aussah waren alle erstickt. Die Wilderer hatten bei ihrer Hatz wohl den Bau der Wölfin und ihrer Welpen übersehen und waren darüber hinweg getrampelt.

Und er selbst auch.

Ferlan legte den toten Welpen neben die anderen. Er war zu spät gekommen und hatte zu viel Zeit mit graben verbraucht. Ferlan wollte die toten Tiere wieder zurück in ihren zerstörten Bau legen, als die Pfote eines der kleinen Wolfsjungen zuckte. Nur ein letzter Reflex der Nerven? Ferlan fasste den Welpen unter den Vorderbeinchen und hielt ihn sich vors Gesicht. Der junge Mann presste sein Ohr gegen die fellige Brust des Tieres und horchte. Ein leises Pochen war zu hören. Ferlan schloss die Augen und bemühte sich, das Geräusch seines eigenen Pulses von dem des leblos scheinenden Wolfs zu trennen. Und es gelang.

Es war tatsächlich nicht nur sein eigenes Blut, das Ferlan rauschen hörte, sondern ein sehr leises unregelmäßiges Klopfen kam aus dem Rumpf des Tieres.

Hastig bettete Ferlan den kleinen Wolf auf seinem Schoß. Er öffnete das Maul des Welpen und sah hinein. Der hintere Teil des Rachens war mit Dreckklumpen verstopft. Ferlan schob die winzige Zunge des Welpen zur Seite, steckte zwei Finger in das kleine Maul und befreite alles sorgfältig von dem Dreck.

Nachdem seine Luftröhre frei war, erklang plötzlich ein Würgen und Husten, und kurz darauf erbrach der Welpe die letzten Erdbrocken.

Auch bei den anderen Welpen verfuhr Ferlan so.

Bei Dreien hatten Ferlans verzweifelte Bemühungen schließlich Erfolg und nach einigen kräftigen Niesern, die die kleinen schwarzglänzenden Schnauzen von den letzten Erdklumpen erlösten, tapsten die drei kleinen Wolfsjunge auf wackeligen Beinen um Ferlan herum und begutachteten noch etwas desorientiert ihren Retter, der vor ihnen auf dem Boden saß und glücklich die fortschreitende Erholung seiner neuen kleinen Bekannten beobachtete.

Eine grau-braune Wölfin mit dunklen strubbeligen Haaren auf dem Kopf, ein kleiner Rüde und eine Wölfin mit schwarzem Fell waren die einzigen Überlebenden. Die einzigen von ehemals zwanzig Rudelmitgliedern...
 

Noch etwas distanziert und ein wenig misstrauisch gegenüber Ferlan, schlichen die kleinen Wölfe wenige Meter um den jungen Mann herum. Doch die welpenhafte Neugier ließ sich bald nicht mehr auf Dauer zügeln und ihre zaghaften Kreise um Ferlan herum begannen sich zu verkleinern.

Ihre Scheu überwindend, krochen die drei Wölfchen, die unablässig schnuppernden Schnauzen dicht an den Boden gedrückt, näher auf Ferlan zu. Mit jedem unerwarteten Laut zuckten sie ängstlich zusammen und duckten sich.

Ferlan sah gebannt zu, wie sich die drei Welpen abwartend umschauten, sich dann aber wieder ihrem Retter zu nähern begannen. Statt seiner eigenen Neugierde auf die kleinen Wesen nachzugeben blieb Ferlan sitzen und rührte sich nicht. Die Kleinen mussten selbst wissen, wann sie ihm so weit vertrauten, dass sie sich anfassen ließen.

Das kleine Strubbelköpfchen schien das Mutigste unter den Geschwistern zu sein. Es erreichte Ferlan als erstes, hob eine Pfote und legte sie auf dessen Bein. Wenige Augenblicke später folgte die zweite Pfote und nach kurzem Zögern, in dem das Wölfchen Ferlan keine Sekunde unbeobachtet ließ, machte es einen mutigen Satz und sprang gänzlich auf den Schoß des Mannes.

Herausfordernd wurde Ferlan aus knopfgroßen Augen angeschaut. Als von der Seite des Mannes jedoch nichts Außergewöhnliches geschah, tapste der Welpe offensichtlich mächtig stolz darauf, das wohl größte Wagnis seines jungen Wolfslebens erfolgreich hinter sich gebracht zu haben, triumphierend über seinen neuen Besitz. Er sprang von dem eroberten Schoß herunter und wetzte einer großen Hummel hinterher, die ihm vor die Schnauze flog.

Auch die beiden anderen Wölfchen folgten nun dem Beispiel des Ersten. Eines umrundete Ferlan, betrachtete sich den Fremden von allen Seiten und der andere probierte frech, was passierte, wenn man dem großen Mann in den Stiefel biss.

Ferlan lachte auf. Er entzog dem kleinen Frechdachs den Schuh und hielt ihm ersatzweise seine Hand hin.

Die beiden auf der Erde herumwuselnden Wölfe hielten auf ihrer Erkundungsreise rund um Ferlan inne und beschnupperten wissbegierig der Hand, die sich ihnen entgegen streckte. Einige prüfende Nasenstüber später, ließen sie sich bereitwillig von Ferlan berühren.

"Und du bist das Anhänglichste, oder?", sagte Ferlan zu dem Strubbelköpfchen, das jetzt wieder auf seinem Schoß saß und sich von dem jungen Mann unter dem Kinn kraulen ließ. Immer näher rückte der Welpe zur streichelnden Hand hin und reckte den Kopf höher und höher, bis er irgendwann das Gleichgewicht verlor und von Ferlans Bein purzelte.

Erschrocken rappelte sich das Wölfchen vom Boden auf, wo es zu liegen gekommen war. Empört über dieses kleine Missgeschick, schüttelte es kurz den Kopf, so dass seine Ohren wie zwei Flügel hin und herflatterten und sprang wieder auf Ferlans Schoß. Mit einem ungeduldigen Kläffer in Richtung des lauthals lachenden Ferlans, verlangte es nach mehr Streicheleinheiten.
 

Der Winzling mit der piepsigen Stimme kam wohl zu dem Schluss, dass es einen Grund geben musste, weshalb seine Schwester nicht mehr von der Seite des großen Menschen wich, und erklomm nun seinerseits unbeholfen Ferlans Schoß.

Er stellte sich auf seine kleinen Hinterbeinchen, legte die Vorderpfoten auf die Brust des Mannes und machte einen raschen Sprung Richtung Ferlan, um diesem mit seiner rosigen Zunge über das Kinn zu lecken.

Ferlan wischte sich über die nasse Stelle an seinem Kinn. "Das war aber eine nette Begrüßung", lachte er und wuschelte dem Kleinen durch das Fell. Das Wölfchen wedelte freudig mit dem Schwanz und wollte eine erneute Aktion starten, wurde aber von seiner Schwester daran gehindert.

Das Strubbelköpfchen sah sich vernachlässigt. Gewichtig schob es sich zwischen den Mann und sein Brüderchen und drängelte den Störenfried kurzerhand von Ferlans Schoß.

Der Winzling setzte sich auf und kläffte seine rücksichtslose Schwester an.

Die kleine graue Wölfin sprang nun ebenfalls vom Schoß des Mannes und wetzte zu ihrem Bruder, der, das wackelnde Hinterteil in die Höhe gereckt, auf dem Boden kauerte und, sobald seine Schwester sich ihm näherte, aus seiner Lauerstellung auffuhr und nach der Wölfin schnappte.

Ein paar mal ging dieses Spiel noch so, bis es der Wölfin zu bunt wurde. Sie rang ihren bissigen Bruder blitzschnell nieder, bis der erschrocken fiepte und von seiner stärkeren Schwester abließ.

Mit hängenden Ohren trollte sich der Kleine und suchte sich eine andere Beschäftigung.
 

Die schwarze Wölfin mit dem Knick am Ende ihrer Rute hatte sich zwischenzeitlich auf Jagd begeben.

Amüsiert sah Ferlan zu, wie der Welpe seiner Beute, einem blau-glänzenden Käfer, durch das Unterholz folgte.

Der Käfer, dem die für seine kleinen Verhältnisse riesige Wolfsschnauze wohl unheimlich vorkam, flüchtete sich geschwind unter einen Haufen Blätter. Doch die kleine Wölfin gab sich nicht geschlagen. Sie presste ihre Schnauze tief zu Boden und durchwühlte damit das Laub, unter dem der Käfer untergetaucht war. Aber das winzige Tier blieb spurlos verschwunden.

Ein letztes enttäuschtes Schnauben der Wölfin, das die Blätter vor ihrer Schnauze aufwirbelte, ertönte, dann widmete sie sich wieder ihren Geschwisterchen, die nicht weit von ihr entfernt herum tollten und Blätter von niedrigen Sträucher abrissen, um sie nach kurzem Kauen wieder auszuspucken.

Ferlan lehnte sich gegen einen Baumstamm und verschränkte die Arme vor der Brust.

Müde vom Spielen krabbelten die drei Wölfchen gegen Abend auf Ferlans Schoß, rollten sich, jedes dicht an das andere gekuschelt, zusammen und schlossen die Augen.
 

Nachdem die kleinen Wölfe eingeschlafen waren, blieb Ferlan noch eine Weile sitzen. Als aber ein immer stärker werdendes Kribbeln durch seine angewinkelten Beine zog, wurde er unruhig und versuchte, durch abwechselndes Positionieren, seine Beine besser zu durchbluten. Eigentlich müsste er sich aus dieser unbequemen Lage befreien, doch die leise schnaufenden Welpen auf seinem Schoß ließen Ferlan seinen Plan vergessen.

Ratlos sah der junge Mann auf die drei Fellknäuel hinab.

Was sollte er jetzt mit ihnen tun? Sie einfach hier lassen und auf ihren angeborenen Instinkt vertrauen, der sie eventuell am Leben lassen würde?

Ferlan reckte die Hand nach den Wölfen aus und streichelte ihnen über das wollig-weiche Fell. Das Strubbelköpfchen drehte sich auf den Rücken und streckte seine vier Beinchen von sich, schlief aber selig weiter.

Ferlan griff nach einer im Schlaf zuckenden Pfote und klaubte ein paar Blätter aus den Zehenzwischenräumen, die sich darin verfangen hatten. Die kleinen ledrigen Hautballen an der Unterseite der Tatze fühlten sich warm an, voller Leben, das er unmöglich so leichtfertig riskieren könnte, indem er die Wölfchen alleine im Wald zurück ließ, dachte Ferlan.

Die Hand des jungen Mannes strich über den sich regelmäßig hebenden Brustkorb bis hinauf zur leicht geöffneten Wolfsschnauze. Prompt öffnete sich das kleine Mäulchen unter der Berührung noch weiter und schnappte mit den kleinen nadelspitzen Zähnen nach Ferlans Fingern.

Die Kleinen würden Hunger haben, wenn sie wach wurden.

Nein, er könnte sie nicht einfach hier zurück lassen. Auch wenn sie nicht mehr nur ausschließlich auf Muttermilch angewiesen zu sein schienen, waren sie doch noch zu klein, um auf eigene Faust im Wald zu überleben. Irgendjemand musste bei ihnen bleiben, bis sie selbständiger waren und von alleine jagen konnten. Eine Mutter oder eine restliche Familie, die diese Aufgaben normalerweise übernahmen, gab es nicht mehr.

Nur wie sollte er diese Aufgabe bewältigen? Er brachte ja nicht einmal selbst etwas Anständiges zur Strecke, von dem er sich ausreichend ernähren konnte, wie sollte er da drei kleine Wolfswelpen durchbringen?

Ferlan seufzte auf. Er hatte sich entschieden.
 


 

Sachte, damit sie nicht erschraken, nahm Ferlan einen der Wölfe nach dem anderen von seinem Schoß und legte sie auf dem weichen Moosteppich ab, auf dem er saß.

Die Kleine mit dem Knick in der Rute war sofort wach. Aufmerksam spitzte sie die Ohren und folgte Ferlan mit ihren Blicken, der nun aufstand und seine eingeschlafenen Beine ausschüttelte, um wieder Leben in sie zu bringen.

Ferlan legte einen Finger auf seine Lippen und bedeutete der Kleinen, die leise vor sich hin fiepte, still zu sein. Er bückte sich zu ihr hinab und strich ihr über das eifrig gereckte Köpfchen.

Aufgeschreckt durch ihr winselndes Geschwisterchen wurden auch die anderen beiden Wölfe hellwach. Flink waren sie auf den Beinchen und rannten so schnell sie konnten hinter Ferlan her.

Das Strubbelköpfchen biss sich in einem schmalen Lederriemen fest, der an der Seite von Ferlans Stiefel herab hing und wurde von dem Gehenden mitgeschleift. Der Winzling und die schwarze Wölfin sprangen neben Ferlan her und kläfften ihn an, als wüssten sie genau, dass der Mann sie alleine lassen wollte.

"Ihr könnt erst einmal mitkommen", erklärte Ferlan seinen kleinen hartnäckigen Verfolgern. "Vorerst!", fügte er streng hinzu, als wolle er sich selbst eine weitere Möglichkeit offen halten, wenn das Zusammenleben nicht funktionieren sollte.

Die drei Welpen achteten nicht auf die bestätigenden Worte. Für sie war Ferlan schon längst etwas Lohnendes, dem man unbedingt hinterher rennen musste und das man auf keinen Fall entwischen lassen durfte. Sie strichen dem Mann schmeichelnd um die Beine, der sich durch diese Geste endgültig erweichen ließ.

Sie waren einfach noch Babys, die Fürsorge brauchten.

"Es wird schon gehen", murmelte Ferlan.

Doch ehe er mit seinen neuen Mitbewohnern zu seinem Unterschlupf gehen konnte, musste noch etwas anderes erledigt werden.
 

Ferlan ging, gefolgt von den Wölfchen, zum wenige Meter entfernten eingestürzten Bau. Je näher sie eben diesem kamen, umso aufgeregter wurden die kleinen Wölfe. Sie hatten den vertrauten Geruch ihres ehemaligen Zuhauses anscheinend bereits gewittert, noch ehe es in Sicht war und stromerten suchend um ihren alten Bau herum.

Ferlan nahm die kleinen schlaffen Körper der Welpen, die nicht überlebt hatten, und legte sie zu ihrer Mutter in das teilweise freigegrabene Erdloch.

Danach schob Ferlan den Bau mit genügend Grund zu und verteilte Laub und Äste darauf, bis er absolut sicher war, dass niemand, erst recht nicht die Wilderer, die zum Grab gewordene Kinderstube entdecken würde.

Wenigstens im Tode sollten sie ihre Ruhe haben, wenn schon nicht in ihrem zu kurzen Leben.
 

Ferlan wandte sich den drei wartenden Wölfchen zu, die auf der Stelle zu ihm gerannt kamen und sich an ihn drängten.

Die restlichen toten Tiere fielen Ferlan wieder schmerzhaft ein. Was war mit ihnen? Wieder dorthin wollte er nicht. Er konnte ihren Anblick kaum aushalten. Und Begraben ging schon gar nicht.

Blieb nur zu hoffen, dass sich die Natur der geschändeten Tiere selber annahm...

"Bereit?", wollte Ferlan von seinen kleinen Gefährten wissen. Er nahm die Wölfe auf den Arm und erhob sich. "Morgen überlegen wir uns ein paar Namen für euch, in Ordnung?!"
 


 

Vor seiner kleinen Höhle setzte Ferlan die Wölfchen ab. Augenblicklich wurde das Gebiet von den drei neuen Bewohnern ausgekundschaftet und in Beschlag genommen.

Ferlan indessen sammelte weiche Mooskissen, die er von Steinen und vom Boden aufklaubte, trug sie in seine Höhle und legte alles vor der hinteren Wand auf einen kleinen Haufen. Das würde als Bett für die Welpen reichen.

"Gefällt es euch?", wandte sich Ferlan an die Wölfe, die hinter ihm in die Höhle getapst kamen. Die Drei schnüffelten in allen Ecken, betrachteten sich auch das Moosbett und machten es sich schließlich auf Ferlans Umhang bequem, den der junge Mann zusammengefaltet neben dem großen Stein liegen hatte.

"So etwas fangen wir erst gar nicht an." Ferlan hob seine drei Untermieter von seinen Kleidern und legte die protestierenden Wölfe auf den selbsterrichteten Schlafplatz an der Wand. "Das ist euer Bereich", sagte er streng und setzte die Wölfchen, die immer wieder aufstanden und zu dem wärmenden Stoffstück zu gelangen versuchten, hartnäckig zurück auf ihren vorgesehenen Platz.

Nach einigen Kämpfen gaben die Welpen schließlich nach. Zu groß war die Müdigkeit. Sie legten sich auf dem Moosbett nieder, krabbelten noch ein wenig umher, bis ihnen ihre Lage gefiel und schliefen kurz darauf ein. Auch Ferlan, der sich auf dem Stoffstück, in dem er seine Habseligkeiten transportiert hatte, niederlegte, schlief irgendwann ein.
 

Die Nacht schritt voran. Es war schon weit nach Mitternacht, da wurde Ferlan wach. Eine seltsame Unruhe hatte ihn aus seinem tiefen Schlaf gerissen. Die kleinen Wölfchen hatten wohl Heimweh und sich zu dem jungen Mann gelegt. Ferlan wollte sich erheben, um die Welpen notfalls zu trösten, spürte aber plötzlich etwas in seinem Nacken, das ihn wieder zu Boden presste.

Ein erschrockener Laut kam Ferlan über die Lippen. Der Griff um seinen Hals wurde verstärkt und ein Gewicht verlagerte sich auf seinen Rücken. Etwas Kaltes drückte ihm gegen die Kehle und bei Ferlan sträubten sich alle Nackenhaare. Die Situation war nicht neu.

"Tyrna?", wisperte Ferlan.

Es folgte keine Antwort.

Ferlan musste kurz die Augen schließen. "Ich bin nicht bewaffnet, Tyrna, wenn du also wieder gekommen bist, um mich zu töten, dann tu es doch endlich!", stieß Ferlan mühselig hervor. Er wartete, aber noch immer bekam er keine Antwort. Nur der Druck auf seinen Hals wurde nahezu unerträglich. Wie eiserne Schlingen klammerten sich die kalten Finger seines Hintermanns um Ferlans Kehle und würgten ihn, bis ihm schwindelig wurde.

Ferlan unterdrückte die hochkommende Panik und versuchte an den kleinen Dolch an seinem Gürtel zu kommen, den er auch im Schlaf nicht mehr ablegte. Doch er griff ins Leere. Das Messer war nicht mehr da!

Unbewaffnet, die Gefahr sprichwörtlich im Nacken, lag er bäuchlings auf dem Boden und wusste noch nicht einmal, wem er das zu verdanken hatte.

"Tyrna?", fragte Ferlan unsicher nach. Hatte sein Schwager das Sprechen verlernt oder weshalb sagte er nichts? Ferlan hob vorsichtig seine Hand und zuckte gleich darauf schmerzerfüllt zurück. Ein kleiner Schnitt, aus dem Blut hervor quoll, klaffte auf seinem Handrücken.

"Du", erklang nun eine heisere Stimme hinter Ferlan, die dem jungen Mann kalte Schauer über den Rücken laufen ließ.

Die Hand an Ferlans Hals lockerte sich für einen Sekundenbruchteil und Ferlan nutzte diesen kurzen Augenblick der Freiheit. Er stieß den Angreifer mit dem Ellenbogen von sich und rollte sich rasch auf den Rücken. Die Beine endlich wieder frei habend rückte Ferlan ein Stück weit nach hinten weg und starrte ins Dunkel vor sich.

Zu seiner Überraschung sah Ferlan sich jedoch nicht wie schon befürchtet seinem Schwager gegenüber. Der Fremde, der ihn am Fluss daran gehindert hatte, den Wölfen zu folgen, hockte vor Ferlan auf dem Boden und streckte ihm drohend den kleinen Dolch entgegen, den Ferlan schon vermisst hatte.

Das Gesicht des unbekannten jungen Mannes hob sich bleich gegen die dunklere Umgebung ab. Schlecht verheilte, rote Kratzer zogen sich von einer Wange über den Mund bis zum gegenüberliegenden Unterkiefer hinunter. Er hatte die Augen aufgerissen und starrte Ferlan wütend an. Das Schwarz seiner erweiterten Pupillen verdrängten die hellen Iriden fast vollständig. Er öffnete den Mund, sagte aber nichts mehr. Nur sein keuchender Atem war zu hören.

Ferlan wollte noch etwas weiter von dem Fremden wegrücken, hielt jedoch abrupt inne und hob beschwichtigend die Hände, als dieser wieder mit dem Messer auf ihn einstechen wollte. Ferlan blieb nun lieber ruhig liegen und wartete ab. Der andere war nicht einzuschätzen und immerhin hatte er es fertig gebracht, lautlos in Ferlans Höhle einzudringen und diesen zu entwaffnen, ohne dass er etwas davon bemerkt hatte.

Der Unbekannte hob nun erneut seine eisige Stimme an und jedes Wort, das er sprach, ließ Ferlan mehr und mehr erbleichen. "Du hast die Wölfe getötet, jetzt wirst du dein Leben für ihres geben müssen!"

Ehe Ferlan auch nur ein Wort erwidern konnte, machte sein Gegenüber einen Satz nach vorne und der Dolch blinkte auf, als seine Hand auf Ferlan nieder fuhr.
 

~ Ende - Kapitel 8 (9) ~



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  hamfre
2005-06-16T17:53:39+00:00 16.06.2005 19:53
Hallo!
Hab mir gerade deine Story durchgelesen und finde sie sehr schön!!! Ich würde mich freuen wenn es bald weiter geht!!!

cu
Von:  Kasandra
2005-02-28T20:19:18+00:00 28.02.2005 21:19
Hy
Ich habe gerade deine Geschichte entdeckt und finde sie klasse.
ich würde gerne wissen welcher Unterschied zwischen dem Adult und dem zensirtem teil ist könntest du mir den adult Teil schicken?
Bitte!!!
Ich hoffe du schreibst bald weiter.
Kasandra
Von: abgemeldet
2004-11-13T03:41:38+00:00 13.11.2004 04:41
Salve!
ÄRSCHTA x3~

Wah~ ich liebe Wolf-Lover (°_°) Voll genial, irgendwie - niemand sonst schreibt geschichtliche Fics und dann auch noch so tolle mit Wölfen. (^_^) Mit jedem Kapitel, das du schreibst, wird's toller ... Bitte schreib schnell das nächste :3

Nyarr. Ich fand die Szenen mit Tyrna und Bedana toll, aber irgendwie fehlte da das Feuer. Die beiden sind doch verheiratet und alles, die müssen sich lieben, oder? Ich meine jetzt nicht, dass du hingehen solltest und heiße Sexszenen schreiben, aber ich weiß auch nicht, ein bisschen mehr Liebe? Wäh, ich weiß auch nicht, wie ich das jetzt sagen soll. Kennst du die Bücher von Diana Gabaldon um die Frau, die durch den Steinkreis ins Schottland von vor zweihundert Jahren zurückreist und da ihre große Liebe trifft? Das klingt jetzt kitschig, aber die sind absolut genial und tasuendmal so unterhaltend und die Charaktere und wah~, lies es xD Was ich sagen wollte ... Ich mag in diesen Büchern die Beziehung zwischen Claire (dem Steinkreistouri *lol*) und Jamie (der Schotte aller Schotten und nebenbei Claires Mann und absolut toll °_°), die beiden lieben sich von ganzem Herzen und das kommt halt auch rüber mit Feuer und allem. Das ist es, was mir etwas zwischen Tyrna und Bedana fehlt.
Melva ist süüüß~ =3

Die Entwicklung der Geschichte gefällt mir. Du erzählst von beiden Seiten gleichermaßen - von Ferlan und auch von Tyrna und den anderen Dorfleuten. Das macht die Story interessant, sie wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, von gleichermaßen interessanten Charakteren. Die Idee, die beiden Stämme zusammenzulegen, finde ich gut, das bringt ein bisschen "politischen" Wind in die Sache ... Nur, ich finde, die Situation auf der Versammlung eskaliert zu schnell. Kaum sagt Tyrna ein Sterbenswörtchen, gehen die Calahar an die Decke wie ein Faß Dynamit. Ih meine, ich an Uisvars Stelle hätte meinen Leuten vorher klargemacht, was ich will, und das gehört ja wohl nicht dazu. Uisvar kommt mir auch nicht gerade vor wie der Mann, der seine Männer nicht unter Kontrolle hat. Diese Szene kam mir etwas zu gekünstelt vor. ^^°

Die Beschreibung von Ferlans Leben in der Wildnis ist dir interessant gelungen, wie er mit seinen Problemen kämpft, wie er sie zu lösen versucht und alles ... Ich fand das mit der Höhle lustig xD
Die Beschreibung des Waldstückes mit den Tierleichen ist auch so eindrucksvoll genug, danke, dass du die detailiertere Darstellung den älteren unter uns überlassen hast *hüstel*

Das macht für mich keinen Sinn: Ferlan weiß, dass es eine große Truppe war, und will nur diese eine Person daraus finden? Gut, er "kennt" ja auch nur die eine Person, aber dass er sie dann stellvertretend für alle zur Rechenschaft ziehen will, ist irgendwie kindisch, das hätte ich von ihm nicht erwartet ...

Awww, awwwwwwwwwww, awwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwww, Wolfswelpen *schmelz* Großartig, genial, einzigartig, süß, fantastisch, faszinierend, super, toll, eine Fic mit Wölfen (°_°) Ich liebe sie ... Escht mal ... WOLFSWELPEN ... Ich meine, WOLFSWELPEN ... Waaaaaah *anbet* Die Beschreibung, wie sie spielen, ist ja so~ niedlich! Zum Knutschen! Das konnte ich richtig vor meinen Augen sehen x3~
Ich finde, Ferlan sollte den Wölfen Namen geben - das macht sie für den Leser individueller. Und du kannst dir die aufwendigen Beschreibungen (Knick in der Rute, Strubbelköpfchen, Wasweißich ...) sparen. :)

Manchmal sind deine Sätze etwas unübersichtlich, ich finde darin zu viele Verbindungen mit "und" - entweder setz Kommas zur besseren Übersicht oder mach gleich neue Sätze draus, das erleichtert das Leseverständnis. :)

Jetzt nich ein bisschen Kleinkram:

>>Aber so war es einmal wieder Alinor
wieder einmal. Das ist so ein hinterlistig versteckter Anglizismus, "once more", und selbst dann müsste es noch "einmal mehr" heißen - was aber genauso dumm klingt wie es ist. ;)

>>Verärgert machte sich Ferlan auf den Heimweg.
Heimweg is' *lol* Wie wär's stattdessen mit Rückweg?

>>der Ferlan mit Dreck und Steinen beschmissen
BEWORFEN. Bitte. BITTE (;_;) "beschmissen" klingt so dämlich.

Alles in allem hat's mir gefallen, und du bist eine Sadistin, immer an den spannendsten Stellen aufzuhören. xD~
ich sag nur:

*sabbbaÜ +gaifa* *lächts* SCHREIB WEIDÄ DA SIST VOL COOL!!!!!!!11111!!!!!!!!!!11

xDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDD

~ Milu


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