Der Neue
Ohne vor der Türschwelle anzuhalten, ohne sich in der Klasse umzusehen, spazierte ein junger Mann herein. Das schwarze, glatte Haar verdeckte fast seine rechte Gesichtshälfte, von der man dank einer schwarzen Ray-Ban Sonnenbrille ohnehin nicht viel sah. Der Nietengürtel passte zu seinem Nietenarmband und dem schwarzen Halstuch mit einem weißen Totenkopf in der Mitte. Er trug ein enges, schwarzes Muskelshirt mit einem "Avenged Sevenfold" Aufdruck und schwarze Jeans. Ein Apple i-Pod hing um seinen Hals und seine Schultasche trug er lässig über der Schulter. In der einen Hand hatte er einen Coffee-to-Go. So cool kam noch keiner zu spät, dachte Alex und beobachtete, wie er sich an den freien Eckplatz in der letzten Reihe setzte. Dort hatte er keine Tischnachbarn, nur Alicia und Steffi saßen drei Plätze weiter. Alle Augen waren auf ihn gerichtet.
"Jonathan Beck, schön dass sie sich auch noch entschieden haben, zu kommen." sagte Herr Schmidt nüchtern.
Der Angesprochene nahm die Ohrhörer seines i-Pods heraus und sagte Kaugummi kauend "kein Ding", sah dabei kurz auf, stellte den Kaffeebecher auf den Tisch und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Alex beobachtete, wie Alicia mit leuchtenden Augen zu Jonathan herüber sah. Seine übertriebene Coolness und die fast schon unnahbare Art von Arroganz war genau das, was Alicia gefiel. An solche Typen konnte sie sich wochenlang heranwerfen und alle Tricks ausprobieren. Darin ging sie auf. Alex' Meinung nach war das auch das einzige Talent, das sie besaß.
"Herr Beck -" begann Schmidt, wurde aber unterbrochen. "Johnny, please." fiel ihm Jonathan knapp ins Wort. Ein paar Mitschüler kicherten.
Johnny verzog keine Miene. Er strahlte kühle Souveränität und absolutes Selbstvertrauen aus. Alex wusste nicht, was er davon halten sollte. War das echt, oder nur eine Masche? Wenn ja, schien sie recht gut zu funktionieren, denn alle waren, zumindest kurzweilig, polarisiert. An sich verständlich, dachte sich Alex, wenn man bedenkt, dass dieser Kerl trotz seines eigenwilligen Auftretens doch äußerst attraktiv war. Es war ihm nicht entgangen, dass auch Leni mit gewisser, wenn auch verhaltener, Faszination zu Johnny herüber sah.
Herr Schmidt holte tief Luft und war bemüht, nicht genervt zu klingen.
"Wie auch immer." Er sprach zur Klasse. "Herr Beck wiederholt diese Klassenstufe und wurde in unsere Klasse eingeteilt. Von nun an sind wir also 22 Schüler. Jonathan, am besten stellen sie sich kurz einmal der Klasse vor."
Johnny holte Luft, doch bevor er etwas sagen konnte, ergänzte Schmidt in rauhem Ton: "Sonnenbrille ab und Kaugummi raus". Alex sah gespannt auf den Neuzugang und behielt dabei Leni und Alicia im Auge. Normalerweise interessierte er sich nicht großartig für die Geschehnisse innerhalb der Klasse, er beobachtete auch niemanden oder wollte immer wissen was so passierte.
Aber solch eine Situation, direkt am Anfang des Schuljahres, war schon ein Hingucker und er fand die ganze Sache äußerst interessant. Denn wenn selbst die schwer zu beeindruckende Leni schon seit Minuten zu diesem Johnny herüber sah, dann muss das einiges heißen. Als Leni Alex' Blick bemerkte, wandte sie schnell den Kopf von Johnny ab und sah zu Herr Schmidt nach vorn. Sie schluckte und versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
Während Alex die Situation von seinem Platz aus betrachtete, und die anderen schon gruppenweise angefangen hatten über den Neuen zu tuscheln, fragte er sich, wieso er diesen Kerl noch nie zuvor gesehen hatte. Als unauffällig konnte man ihn ja nicht gerade bezeichnen.
Johnny spuckte den Kaugummi in den leeren Kaffeebecher. Er nahm die Sonnenbrille ab, und sah mit hell schimmernden blauen Augen geradeaus zu Herr Schmidt, ohne sich um die Blicke oder das Getuschel seiner neuen Klassenkameraden zu kümmern. Er grinste. Es war eines dieser aufsässigen, "du-kannst-mir-gar-nichts" Grinsen, dass die Schüler den Lehrern gegenüber perfektioniert haben. Erst jetzt, als er zu sprechen begann, sah er sich in der Klasse um. Er lächelte, und mit diesem breiten Lächeln wich eine freundliche Ausstrahlung der übertriebenen Coolness und Arroganz.
"Hi, ich bin der Johnny, bin 19 und wohn in Merzhausen." Alle Schüler sahen zu ihm herüber. Die Mädchen mit gespannt neugierigem Blick, die Jungen eher verhalten. Da hatten einige wohl schon ihre Konkurrenz erkannt, dachte Alex, und ihm gefiel der Gedanke, dass in Zukunft nicht mehr Arno derjenige wäre, der in der Klasse den Ton angibt. Bei dieser Überlegung musste Alex unkontrolliert lächeln, und hatte vergessen, dass er immer noch in Johnnys Richtung schaute. Dieser blickte nun direkt zu Alex. Als er aus seiner Träumerei wieder zu sich kam, bemerkte er, dass es so aussehen musste als lächle er Johnny an. Schnell sah er zur Seite und wurde rot. Aus der hinteren Reihe hörte er Gekicher, das zu einer weiblichen Stimme gehörte, und er verfluchte sich, dass Alicia diese peinliche Situation mitbekommen hatte. Obwohl sie ihn größtenteils in Ruhe ließ, ließ sie es sich nicht nehmen, ihn hin und wieder mit einem geschickt plazierten Kichern oder einem abschätzigen Lächeln zu schikanieren.
Da Johnny nicht mehr als seinen Namen, sein Alter und seinen Wohnort nannte, übernahm Herr Schmidt.
"Herr Beck wiederholt das Jahr gegebenermaßen freiwillig. Da er fast das ganze letzte Schuljahr in den USA verbracht hat und dort die Highschool besucht hat, unterschied sich der Lehrplan zu sehr von unserem, um problemlos in die nächste Stufe zu wechseln." Wieder ging ein Raunen durch die Klasse. Johnny lächelte und nickte. Damit war die erste Aufregung auch schon vorbei.
Schmidt fuhr mit ein paar Formalitäten fort, wie die Aktualisierung der Telefonliste, die niemand nutzte, oder die Vorstellung der AG-Angebote, die niemanden interessierte.
Als er damit fertig war, läutete auch schon die Schulglocke, und fast alle standen auf und verließen das Zimmer um zu Rauchen, oder sich am Kiosk etwas zu essen zu holen. Johnny war genauso schnell weg, wie er gekommen war.
Alex blieb sitzen und holte einen Block hervor, auf dem er immer herumkritzelte, wenn ihm langweilig war. Leni stand auf und warf ein Stück Papier in den Mülleimer. Auf dem Rückweg hielt sie vor Alex' Tisch und sagte "Na?". Sie lächelte ihn an, und er lächelte zurück. Sie sprachen mit gedämpfter Stimme.
"Was, na?"
"Na..." sie nickte mit dem Kopf in die Richtung von Johnnys leerem Eckplatz. Alex zuckte mit den Schultern.
"Keine Ahnung, bisschen affig." log er.
"Ja... aber hat schon was, das muss man ihm lassen." Sie grinste.
"Hm." meinte Alex knapp, und fing an, auf seinem Block herumzukritzeln. Ihm war die Unterhaltung irgendwie unangenehm, und er wollte nicht zugeben, dass auch er diesen Johnny ziemlich interessant fand. Vielleicht weil er sich gern gegen den Trend stellte.
"Nuja, ich geh dann mal wieder..." sagte Leni munter, machte kehrt und ging an ihren Platz.
Obwohl Alex sich auf seine Zeichnerei konzentrierte, konnte er Alicias und Steffis hohe Stimmen und ihr lautes Gelache nicht ausblenden. Genervt drückte er den Bleistift fester aufs Papier. Er hörte heraus, wie Alicia etwas im Sinne von "der ist geil" und "da wüsste ich schon was ich mache", gefolgt von einem schmutzigen Lachen, von sich gab. Verächtlich sah er zu ihr herüber, und ihm wurde mit einem ebenso verachtenden Blick geantwortet.