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Am Rande der Nacht

von

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Klartraum

{Kommentar}

An die Freischalter: Ich hoffe, das hier geht noch als U18 durch. Das Ende ist ziemlich makkaber, aber ich habe mich auf Andeutungen beschränkt, sodass ich's einfach mal als U18 versuche.

An meine geneigten Leser (Haaach!). Den eigentlichen Kommi zum Kapitel findet ihr, wenn ihr selbst einen schreibt *fg*

{/Kommentar}
 

Dunkelheit, so allumfassend, dass ich glaube, sie berühren zu können. Noch einen Augenblick zuvor war die Stadt hell erleuchtet, doch nun kann ich die eigene Hand nicht vor Augen sehen. Ein Stromausfall? Wie blind taumele ich durch die Straße. Ich bin auf dem Weg nach Hause, denn inzwischen habe ich wieder ein eigenes Heim. Nur finde ich es nicht. Bin ich betrunken? Das würde auch erklären, warum mein T-Shirt weg ist. Wieder irgendeine Frauengeschichte? Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. Verdammt, ich seh nichts! Wo ist der Mond, wenn man ihn mal braucht?

Wie auf ein Stichwort Kinderlachen aus der Schule um die Ecke. Jetzt? Um diese Zeit? Mitten in der Nacht?
 

Im Fenster steht kein Mondeslicht

Des Mondes grau umwölkt Gesicht

In jeder Nacht ein O es spricht
 

Weil traurig ist, was er hier sieht,

Er hinter Wolken sich verzieht

Wie ist die Welt voll Menschenmassen

Die freudlos man alleingelassen
 

Du findest dich am Rande der Nacht,

Du, der du sprachst so unbedacht.
 

Du sagtest, dass du sie magst

Du sagtest, dass du ihr vertraust.

Du sagtest, dass du sie nicht verlieren willst.
 

Und dann

Verschlug es dir plötzlich die Sprache
 

Sie singen und lachen und scheinen keine Angst zu kennen, trotz des skurrilen Kinderliedes, das dort aus ihren Mündern erklingt. Irgendwo zwischen den hellen Stimmen vernehme ich Geigenspiel. Die Töne sind leise und nicht ganz sauber, jedoch auf eine bizarre Weise schön, die perfekt zu dem befremdlichen Gesang passt.

Ich laufe weiter. Langsam erkenne ich Schemen in der Dunkelheit. Häuser. Straßenlaternen. Die Bank am Rande des winzig kleinen Parks, direkt gegenüber meiner Haustür. Meine Haustür! Endlich! Ich wühle nach dem Schlüssel in meiner Tasche, taste nach dem Schloss, doch meine Finger berühren Beton, dort wo eigentlich die Tür hätte sein sollen. Wo verdammt nochmal ist mein Zuhause?

Plötzlich Schritte in der Dunkelheit, die schnell näher kommen und mir dennoch weit weniger bedrohlich scheinen als die singenden Kinder. Licht. Licht, das lebt. Eine kleine, lebendige Flamme, die Wasser zu trinken scheint, aus der Hand der schlanken, fast dünnen Gestalt, zu der die Schritte gehören. Ich kann das stetige Tropfen des Wassers vernehmen, wenn es durch das undichte Gefäß der Handfläche entweicht und auf den Boden klatscht. Ich kenne den Jungen, der in seiner Hand zwei so grundverschiedene Elemente in friedlicher Symbiose miteinander verbindet. Wir haben uns erst gestern hier gesehen.

„Wirst du mir nun wieder die Tür öffnen?“, frage ich, froh darüber, nicht ratlos hier draußen stehen zu müssen.

„Die hast du beim letzten Mal selbst aufgeschlossen. Ich zeige dir nur, wo sie ist“, erwidert er und leiht sich wieder Marcos Stimme aus, die fremd und doch vertraut in meinem Kopf widerhallt.

Das letzte Mal als wir uns hier trafen hat er gelächelt, heute jedoch ist er todernst. In den wasserblauen Augen liegt ein trauriger Ausdruck, belagert sie wie eine düstere Vorahnung, die auf mich übergreift. Ich fühle mich unwohl. Dabei weiß ich, dass gerade seine Gegenwart auf mich sonst immer den gegenteiligen Effekt hatte. Was ist anders? Wo ist die altvertraute Geborgenheit hin, die ich mit ihm verbinde?

Wortlos hält er das kleine Feuer an die Tür. Ich kann sehen, wie sie sich, von der Flamme ausgehend, auf der Betonwand ausbreitet, als hätte sie jemand frisch hineingezimmert. Fragend schaue ich ihn an. Er nickt und ich schließe auf.

Mit einem leisen Klicken öffnet sich das Schloss. Ich stemme mich gegen die Tür, will sie aufdrücken, doch sie bewegt sich keinen Millimeter. „Du hast das Gebäude in Fluchtrichtung verlassen“, erinnert er mich in einem Ton, der weder freundlich noch unhöflich ist. Er ist schlichtweg... gar nichts und damit unangenehmer, als jeder Tadel, den ich kenne.

Fluchtrichtung also. Ich ziehe die Tür nach außen auf und nun weiß ich auch, warum ich aus dem Gebäude geflüchtet bin. Dort, wo mein Hausflur, ein eckiges, anonymes Treppenhaus, sein sollte, ist eine Wendeltreppe, die, um den Irrsinn komplett zu machen, auch noch nach unten führt, obwohl ich doch ganz oben wohne. Das Geländer ist kunstvoll verziert, jedoch genau wie die Stufen morsch. An einigen Stellen klaffen Löcher, schwarzen Abgründen gleich, die ich auf keinen Fall ergründen will. Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Das Bild kenne ich noch. Damals, als ich eine Psychologin bat, meine Erinnerungen zu versiegeln, verwendete sie das Bild einer Wendeltreppe. Nur war sie wesentlich besser erhalten als diese.

„Gehen wir?“, fragt er.

Nein, will ich ihn anschreien, doch das Wort bleibt mir im Halse stecken. „Müssen wir denn?“, frage ich stattdessen und kenne die Antwort bereits. Auch für ihn ist die Frage rhetorisch. „Ich kann vorgehen, wenn du möchtest“, bietet er mir an, „aber die Türen musst du öffnen, du hast den Schlüssel.“ Die Türen. Die Türen sind doch genau der Grund, aus dem ich da nicht rein will! „Was passiert, wenn ich’s nicht tue?“, versuche ich ein letztes Mal, dem Unausweichlichen zu entgehen.

„Ich schätze, dann finden wir den Ausgang nicht und du kommst nicht nach Hause“, versetzt er nüchtern, hält das Feuer am gestreckten Arm vor sich und macht den ersten Schritt. Weil ich die Stufen nicht sehen will, fixiere ich meinen Blick auf die beruhigende Flamme. Wenn ich lang genug hineinschaue, kann ich in ihr menschliche Konturen ausmachen. Den Kopf nach unten, zu dem Wasser in der Handfläche unter sich geneigt, schwebt das kaum erkennbare Wesen dort und scheint sich für nichts anderes zu interessieren als das kühle Nass. Als Hand und Feuer sich mit einem Mal von mir fort bewegen, folge ich ganz automatisch, steige die erste Stufe hinab, die unter unserem Gewicht leise ächzt.

Stufe für Stufe gehen wir um den ersten Bogen, immer begleitet von gedämpftem Knarren, bis wir die erste der Türen erreichen, von denen er gesprochen hat. Sie ist, wie die, die ihr folgen werden, direkt in die Wand eingelassen. In immer gleichen Abständen kehren Sie am Rand der Treppe wieder. Türen aus modrigem Holz, hier und da noch mit den Resten abblätternder Farbe. Kann man dieses unzähligen Schichten aus Grau und Grau überhaupt noch Farbe nennen?

Wir passieren eines dieser schlafenden Monster aus Holz und rostigen Scharnieren. Dann ein zweites. Ein drittes. Bei der vierten Tür bleibt er stehen, verlagert prüfend sein Gewicht auf der Stufe, um zu sehen, ob sie ihn hält und wirft mir dann einen fragenden Blick zu. „Was hältst du von dieser hier?“, gebärdet er, statt sich wieder der geliehenen Stimme zu bedienen. Ich muss zugeben, dass ich mir dabei wesentlich wohler ist, als wenn er spricht.

„Ist wohl so gut wie jede andere“, entgegne ich matt. Unwillig schließe ich auf, während meine Nackenhaare sich bis auf das letzte aufrichten. Alles in mir sträubt sich dagegen, dieses graue Ding vor mir zu öffnen. Genau das tue ich jedoch, getrieben von der Gewissheit, dass ich diesen Ort sonst nicht verlassen kann. Quietschend weicht das Holz zurück und entblößt ein Kinderzimmer.

Gerade noch kann ich dem Spielzeugroboter ausweichen, der mir entgegen fliegt. Meinen Begleiter streift er kurz am Arm, doch er verzieht keine Miene, sondern schaut neugierig ins Innere. Ein kleiner Junge sitzt auf dem Boden,

(Was macht der hier? Das ist doch meine Tür!)

vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Er hat einen Verband um den Kopf, aus dem rote, wirre Haare hervorschauen. Der Ausdruck in seinen Augen ist in höchstem Maße irritierend. Zu reif, zu erfahren für ein Kind, steht er in krassem Gegensatz zu dem geworfenen Roboter, einer Geste, die kindlicher nicht sein könnte. „Kisho, was soll denn das“, seufzt hinter uns eine junge Frau in diesem Stell-dich-doch-nicht-so-an-Tonfall, der mich grundsätzlich rasend macht. Bei ihm scheint das ähnlich zu sein. Wir müssen dem nächsten Spielzeug ausweichen. „Entschuldigung, gestatten Sie?“, fragt die Frau gleich darauf und drängt sich an uns vorbei ins Zimmer. „Du musst doch nichts weiter tun, als kurz Hallo zu sagen. Vielleicht darfst du ihm sogar was vorspielen? Das wäre doch was“, schmeichelt sie sich bei ihrem Sohn ein, „Komm nur kurz runter.“

„Nein, Yami sagt, er ist böse.“

Sie stöhnt auf, als hätte sie jemand geschlagen. „Nicht schon wieder Yami! Mir reicht es langsam! Es gibt ihn nicht!“

„Gibt es wohl!“

Sie besinnt sich auf das, was sie über Kindererziehung gelernt hat und versucht es freundlicher. „Es ist ja in Ordnung, wenn du Fantasiefreunde hast, aber wenn du es damit übertreibst, denken die anderen, du bist verrückt. Willst du das?“, droht sie ihm sanft.

„Ich BIN verrückt. Deswegen hab ich doch den Verband um meinen Kopf gewickelt. Dann kann jeder sehen, dass ich krank im Kopf bin. Das willst du mir doch damit sagen, oder?“

„N-nein!“, versichert sie erschrocken.

„Natürlich nicht“, erwidert er so sarkastisch wie ein waschechter Erwachsener. Ich zucke zusammen und seine Mutter tut es mir gleich. Mein Fackelträger sieht mich verwirrt an, fragt aber nicht weiter nach. Hinter uns kommen weitere Menschen die Treppe hinauf. „Was ist denn los?“, will Tanaka wissen, „Was dauert denn da so lange?“

„Er will einfach nicht aus seinem Zimmer kommen“, erklärt Kishos Mutter.

„Das ist aber sehr unhöflich“, versucht Tanaka, ihn zu erziehen, doch sein Gast nimmt ihm den Wind aus den Segeln. „Ist schon gut“, sagt er, bemüht, die Situation zu entschärfen. Ganz der alte Diplomat. Ronga lugt interessiert ins Zimmer. Ich habe Mühe, mich nicht allzu sehr darüber zu erschrecken, dass ausgerechnet er der Besuch ist, den der Kleine begrüßen soll. Die Tatsache, dass wir wieder mit Spielzeug beworfen werden, macht es mir nicht unbedingt leichter. „Kisho!“, donnert Tanaka.

„Es tut mir außerordentlich leid, Herr Kodansha“, stammelt seine Frau. Kodansha heißt er also auch, nicht nur Darey. Sieh an, Ronga hat also die Firma gehört, in der ich arbeite. Der alte Wolf ist doch immer wieder für eine Überraschung gut. Ich muss lächeln und auch Ronga lacht. „Nicht doch, nicht doch. Das ist schon in Ordnung“, beschwichtigt er.

Kisho wühlt indes in einer Kiste, zerrt eine kleine Kindergeige heraus, die dem großen Exemplar, das ich noch am Abend im Wachleben gesehen habe, erstaunlich ähnlich sieht, und hält drohend den Bogen daran. „Wag es nicht, auch nur einen Schritt über die Schwelle zu machen!“, keift er Ronga an, „Komm ja nicht näher.“

„Sie müssen wirklich ent-“

„Sei still, Mama! Lasst euch nicht von ihm um den Finger wickeln! Er ist kein Mensch!“, kreischt er und zieht den Bogen über die Saite, dass das Instrument aufschreit wie eine Katze, der man auf den Schwanz getreten hat. Wir halten uns alle die Ohren zu. Nur der Taubstumme neben mir steht gelassen da und beobachtet das Schauspiel teilnahmslos, ja fast traurig darüber, dass er an dem Katzenjammer nicht teilhaben kann.

Rongas Gestalt beginnt plötzlich zusammenzusinken. Seine Fingernägel verlängern sich und seiner Kehle entweicht ein animalisches Knurren. Es ist Tag hier drinnen, obwohl es draußen Nacht ist, und seine menschliche Gestalt kostet ihn viel seiner magischen Kraft. Eigentlich ist er am Tage ein Wolf. Der schräge Ton, der einfach nicht abreißen will und in seinen empfindlichen Ohren einem Kanonenschuss gleichkommen muss, macht es ihm unmöglich, den Schein aufrecht zu erhalten. Ich kann sehen, wie sein Oberkörper nach einer gebückten Haltung strebt, wie alles an ihm wieder auf vier Beinen gehen will. „Gavan“, knurrt er jedoch mit letzter Kraft und der Junge erstarrt. Ebenso seine Eltern. Die Stille, die einkehrt, jetzt wo der Kleine nicht mehr mit dem Bogen über die Saiten streichen kann, ist geradezu paradiesisch.

Mein alter Mentor legt zwei Finger an je eine Schläfe des Elternpaares, murmelt ein paar Worte, schiebt uns dann aus dem Raum und schließt die Tür mit einem lauten Knall. Sie zerspringt in tausend Teile. Um uns herum breitet sich eine Wolke aus Staub und splitterndem Holz aus, sodass wir unsere Gesichter schützen müssen. Das Feuer in der Hand des Taubstummen erlischt. „Ronga!“, rufe ich, „Was war das?! Ronga! Was macht der in meinen Erinnerungen?!“

Die Flamme flackert wieder auf, als mein Begleiter erneut Wasser in seiner Hand sammelt. Mein Lehrer jedoch ist fort und mit ihm ist auch die Tür verschwunden. Wir starren auf ein glattes, weißes Rechteck, das sich von der schimmligen Wand ringsherum abhebt.

„Lass uns hier verschwinden. Ich will hier raus. Je schneller wir den Ausgang finden, desto besser“, bittet mein Begleiter furchtsam. Ich bin ganz seiner Meinung.

Wir steigen die Treppe hinab, immer tiefer hinein in die Dunkelheit, ohne eine weitere Tür zu öffnen. Irgendwoher weiß ich, dass wir viel weiter hinunter müssen, um zum Ausgang zu gelangen. Es kommt mir vor, als gingen wir Stunden.

Nach und nach beginnt sich unsere Umgebung zu verändern. Das Geländer hat weniger Lücken. Die Trittfläche ist nicht mehr so morsch. Hier und da schimmert an den Türen ein Rest frischer Farbe durch. Wir sind bald da, das spüre ich deutlich. Warum nur macht mir der Gedanke Angst?

Das Feuer fängt plötzlich an zu flackern. Löst sich von dem Teich in der Handfläche und fliegt einfach davon. Er greift noch danach, erwischt es aber nicht mehr. „Verdammt“, flucht er mit Marcos Stimme. „Dann müssen wir wohl im Dunkeln weiter.“

„Nicht unbedingt“, murmle ich, speie mir eine Fackel aus eigener Produktion in die Hand und grinse. „Ich kann den Trick auch.“

„Mit dem Feuer können wir die Türen nicht sehen“, wendet er betrübt ein.

Er hat recht. Die Wände sind plötzlich glatt und leer, nicht mal mehr schimmelig. Ich mache die Flamme wieder aus. „Und jetzt?“, frage ich.

„Wir könnten es mit dieser Tür hier versuchen“, schlägt er vor und klopft auf Holz, „Das war die letzte, die ich gesehen habe.“ Warum auch nicht. Ich öffne sie und staune nicht schlecht, als wir einen altvertrauten Laden betreten, in dem es Nudelsuppen gibt. Mein Begleiter nimmt ein weißes Hemd von der Garderobe und reicht es mir, damit ich meinen Oberkörper bedecken kann. Mir erscheint das völlig logisch. Alles hier macht so unglaublich viel Sinn, wirkt so nah, so echt, dass ich das Gefühl habe, gerade aufgewacht zu sein und wieder durch mein richtiges Leben zu wandeln. Beide wissen wir genau, an welchen Tisch wir uns setzen werden. Auf meinem Stuhl liegt meine Tüte mit dem gestohlenen Wörterbuch.

Wir reden. Es ist wie Theaterspielen. Wir haben den Text schon auswendig gelernt, spielen unsere Rollen bis zur Perfektion. Er schreibt die Rechnung unseres Vorgängers voll, als er mich durch die Speisekarte lotst. Ich frage ihn, warum er nicht einfach wo er geht und steht einen Block mitnimmt, statt immer darauf zu hoffen, irgendwo Papier und Stift zu finden. Er lacht, greift in seine Jackentasche und zieht ein zerknülltes, mit unappetitlichen Tee- und Essensflecken übersätes Knäuel heraus, das in seinem früheren Leben mal ein Notizblock gewesen ist. „Ich bin hoffnungslos tollpatschig. Wenn ich meine Blöcke nicht misshandle, verliere ich sie“, schreibt er auf die Rechnung, die damit entgültig keinen weiteren Buchstaben mehr aufnehmen kann. Er sieht sich auf den Nachbartischen nach einer neuen Schreibgelegenheit um, während ich das Wörterbuch auf den Tisch wuchte, es aufklappe und ihm vor die Nase schiebe. Die Innenseite des Einbands ist leer. Die perfekte Schreibunterlage. „Sicher?“, fragt sein Mienenspiel. „Das ist ein Buch für Wörter zum schreiben, oder?“, stottere ich zusammen und nicke ihm aufmunternd zu. „Warum hast du ein Buch über Musik gekauft?“, frage ich bei der Gelegenheit. „Komponisten“, verbessert er sich, indem er das japanische Wort und die englische Übersetzung in das Buch schreibt, „Ich möchte wissen, warum sie Musik geschrieben haben. Vielleicht finde ich dann heraus, warum so viele Leute Musik hören und das fast immer und überall.“ Er mustert mich, als warte er auf einen Angriff.

Ich überlege. Ja, warum eigentlich? „Vielleicht, weil wir damit was Kontakt aufnehmen“, antworte ich, was bedeuten soll, dass wir etwas damit verbinden. „Memories oder einfach ein Gefühl.“ Seine Mandelaugen werden so groß, dass er einen Moment lang fast wie ein Europäer aussieht. „Du bist der Erste, der mich dafür nicht auslacht“, schreibt er. Dann kritzelt er noch etwas darunter, von dem ich nicht alles lesen kann, weil es zu viele unbekannte Wörter enthält. Als ich ihn bitte, es zu übersetzen oder zu erklären, schreibt er, ich solle es selbst tun, wenn mein Japanisch besser geworden ist.

Die Tatsache, dass er annimmt ich könne diese verteufelte Sprache lernen, lässt mich in schallendes Gelächter ausbrechen. Ich greife nach der weißen Tischdecke, ziehe sie mir, immer noch kichernd, über den Kopf und lege mich darunter schlafen. Die Szene kippt auf die Seite. Leute laufen von oben nach unten und von unten nach oben durch mein Sichtfeld, an Tischen wird seitwärts gegessen und die Suppe tropft der Zimmerdecke entgegen. Das Bild rückt immer weiter in die Ferne und ich falle auf mein Bett.

Neben mir liegt mein taubstummer Freund und schläft friedlich. Ich fühle mich, als hätte ich eine ganze Nacht tief und fest geschlafen. Lächelnd lasse ich mich in die Kissen fallen, lege entspannt meinen Arm um seinen Bauch und gehe mit der Hand den untersten, vom Brustbein zusammengehaltenen Rippenbogen entlang, weil ich weiß, wie herrlich kitzelig er dort ist. Ich greife in etwas Nasses.

Ich schrecke auf, sitze von einer Sekunde auf die andere aufrecht im Bett. Die Hand vor meinen Augen trieft dunkelrot. Erst jetzt fällt mir die Blutspur auf, die unter unserer weißen Decke hervorbricht. Ein etwa handbreiter, roter Graben, der durch das endlos lange Zimmer führt, das vorhin noch meines war. In etwa sieben Metern Entfernung sitzt Lavande auf einem Stuhl. Die Blutspur endet zu ihren Füßen. Hinter ihr steht Ronga, die Arme um ihre Schultern geschlungen.

„Ich möchte zu Protokoll geben, dass ich ihn nicht umgebracht habe“, verkündet sie trotzig.

„Natürlich nicht“, lacht Ronga und streicht ihr zärtlich durch das goldene Haar. „Das war er.“

„Das ist nicht wahr!“, kreische ich hysterisch, „Du warst es! Ich hätte mir denken können, dass du ihn dir holst. Die anderen hast du schließlich auch...!“ Meine Stimme ertrinkt. Ich muss abbrechen, weil ich heule, wie ein Schlosshund. Die beiden schütteln unbarmherzig den Kopf, synchron wie zwei aufgezogene Spielzeugroboter. „Nein, nein, mein Bester. Dieses Mal war ich’s nicht.“, beharrt Luv, „Das mit seinem Herzen warst ganz allein du. Dieses Mal brauche ich dich nicht zu manipulieren. Aber keine Sorge, ich gehe auch nicht mit weißer Weste.“

Ronga gibt ein angewidertes Glucksen von sich, wendet sich von ihr ab und geht nach hinten davon. Seine Gemahlin kommt, den Rücken zu ihm, auf mich zu. „Bleib wo du bist!“, brülle ich. Sie lacht schrill und beschleunigt ihre Schritte.

Plötzlich höre ich Geigenspiel direkt in meinem linken Ohr. „Shhht, nicht weinen. Ist nur ein Alptraum. Wach auf“, flüstert eine Männerstimme in das andere. Dann höre ich die Musik in Stereo.

Als ich aufwache, hält jemand mein Gesicht in seinen Händen und in meinen Ohren stecken Kopfhörer. „Denk lieber an was Schönes“, sagt der Rotschopf aus Tanakas Büro über die leisen Töne hinweg. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als er die Lautstärke aufdreht.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Nochnoi
2007-11-29T17:14:46+00:00 29.11.2007 18:14
Endlich hab ich mal was Zeit gefunden, dein neues Kapitel zu lesen ^.^

Und ich muss sagen: Wow!!
Dein Schreibstil ist wie immer fesselnd und der Inhalt so herrlich verwirrend, dass man gar nicht so recht sagen kann, was Wahrheit und was Traum ist. Irgendwie scheint sich alles um den merkwürdigen Taubstummen, diesen Rotschopf und Musik zu drehen, aber wie das alles nun genau im Zusammenhang steht, kann ich echt noch nicht entziffern o.ô Aber das ist auch sehr gut so, so steigt die Spannung von Mal zu Mal ^___^
Ich freu mich schon sehr aufs nächste Kapitel, in dem vielleicht ein paar Antworten oder einfach nur noch mehr Fragen auftauchen XDD Ich lass mich auf jeden Fall überraschen! ^.^

Liebe Grüße
Nochnoi


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