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Himmel und Erde

Schatten und Licht, Interlude 1
von

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Allens Geheimnis

Wie gebannt starrte Merle auf das Meer aus Blättern, das sich vor ihren Augen erstreckte. Eigentlich sollten sie in einem kräftigen, leuchtenden Grün erscheinen, doch selbst das Licht des Mondes der Illusionen konnte sie nicht vor der Finsternis der Nacht bewahren.

Ein letztes Mal lies Merle ihren Blick schweifen, dann wandte sie sich von dem kleinen Fenster ab, zupfte nervös an ihrem königsblauen Kleid und betrachtete den kleinen Tisch, den man in ihre Koje der Katzenpranke gebracht hatte. Auf einer kunstvoll bestickten Tischdecke lag ein Silbertablett, belegt mit dem Besten, was die Bordküche zu bieten hatte. Es war zwar nur ein informelles Essen, dennoch sah Merle dem angeblich zwanglosen Treffen mit gemischten Gefühlen entgegen.

Noch vor ein paar Wochen hätte sich Merle nur mit ihrem weißen Schlafgewand bekleidet zu Allen an den Tisch gesetzt, doch seitdem er wieder ununterbrochen seine elegante Uniform trug, kam ihr diese Art der Bekleidung unpassend vor. Sie seufzte. Während der Jagd durch das Grenzland Astorias hatte der Wald den Verhaltenskodex vorgegeben, selbst während der Gefangenschaft in Orio hatte Etikette keine Rolle gespielt, da beide auf engen Raum zusammengepfercht worden waren. Jetzt jedoch hatten sie eigene Zimmer, waren von Personal umgeben und flogen in einem Schiff des Königreiches Farnelia. Es gab keine Entschuldigung mehr, die Etikette Fallen zu lassen, und allen Grund, sie wieder aufzunehmen.

Ein leises Klopfen holte Merle aus ihren Überlegungen. Ein erster Check der Aura des Besuchers identifizierte ihn als Allen. Ein zweiter sagte ihr, dass etwas nicht stimmte. Seine Aura pulsierte unregelmäßig. Aus irgendeinem Grund schien er sehr aufgeregt zu sein. Erst wollte sie den Himmelsritter mit einem Hinweis auf die unverschlossene Tür herein bitten, überlegte es sich jedoch anders. Schließlich war es einem Mann verboten, die Tür zum Schlafzimmer einer Dame zu öffnen. Ihre Neugier trieb sie zur Eile. Mit ein Paar schnellen Schritten ging sie zur Tür und zog diese zu sich heran.

Äußerlich wirkte Allen wie immer. Sein Gesichtsausdruck war ernst und beherrscht. Doch in seinem Innern brach in dem Moment, als er sie sah, Chaos aus. Seine Muskeln bebten vor Spannung, um die aristokratische Körperhaltung zu bewahren.

„Was ist los?“, platzte es Merle heraus, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen. Allens Unruhe stieg um ein Vielfaches an.

„Komme ich ungelegen? Man sagte mir, du wärst bereit.“, wunderte er sich.

„Nein, es ist nur…Komm rein!“

Sie trat beiseite. Zu ihrer Überraschung zögerte Allen, ehe er ihrer Bitte nachkam. Merle schloss hinter sich die Tür und ging zum Tisch. Doch anstatt ihr zu folgen und einen Stühle zurückzuschieben, damit sie sich setzen konnte, blieb Allen wie angewurzelt stehen. Zwar hatte der Himmelsritter ein informelles Essen vorgeschlagen, dennoch störte es Merle, dass er sie nicht wie eine Dame behandelte. Sie wollte ihn gerade auf die übelste Weise zurechtstutzen, die ihr einfiel, als er zu sprechen begann.

„Bevor wir essen, wollte ich dir noch etwas sagen. Es ist ein Geheimnis, von dem nur wenige wissen und eigentlich niemand wissen sollte.“ Merles Verstimmung löste sich in Wissensdurst auf. Geheimnisse hatten sie schon immer fasziniert. „Es ist nun schon über ein Jahrzehnt her, als die älteste der Prinzessinnen von Astoria, Prinzessin Marlene, aufbrach, um in Fraid mit dem Herzog verheiratet zu werden.“ Allen legte eine kurze Pause ein, die Merle schier den Nerv raubte. „Jedoch waren Prinzessin Marlene und ich ineinander verliebt.“ Plötzlich endete ihre Neugier in einen Schock. „Noch bevor sie nach Fraid aufbrach, um ihren Pflichten als Prinzessin nachzukommen, verbrachten wir eine Nacht miteinander.“ Aus dem Schock entstand Schmerz. „In dieser Nacht wurde ein Kind gezeugt.“ Der Schmerz verwandelte sich in kalte Wut. „Und der Name dieses Kindes ist Herzog Cid von Fraid.“

Unzählige Fragen geisterten durch Merles Kopf. Warum hatte er es ihr erzählt? Warum hatte er es ihr so lange verschwiegen? Wie konnte er es wagen, sich einen Ruf als Frauenheld aufzubauen und insgeheim zu übertreffen? Wie konnte er es wagen, sie mit diesem Geheimnis zu belasten? Wie konnte er es wagen…

„Raus!“, befahl Merle. Tränen verschleierten ihre Sicht, trotzdem erkannte sie, dass Allen sich kein Stück bewegte. Hielt er sie für naiv? Amüsierte ihr Anblick ihn? Lachte er über sie? „Raus!“, schrie sie ihn an, woraufhin er langsam den Raum verließ. Merle, deren Geduld am Ende war, schob ihn durch die Tür und schlug diese hinter ihm zu. Heulend sackte sie auf den Boden und presste die Hände an ihr Gesicht. Selbst ihr Oberkörper war aller Kraft beraubt und glitt auf den weichen Teppich. Wie konnte er es wagen? Wie?

„Warum weinst du?“

Merle, die plötzlich eine sanfte Frauenstimme vernahm, riss schlagartig die Augen auf. Auf einmal spürte sie auf die Hand, die sanft über ihr Fell fuhr. Erschrocken blickte sie auf und traute ihren Augen nicht.

„Hitomi?“, fragte sie ungläubig. Ihr Blick fiel auf das weiche Bett, auf dem sie lag, auf den Schoß, auf dem noch eben ihr Kopf geruht hatte, auf das Meer und dem Sternenhimmel, der durch das große Fenster des dunklen Zimmers hindurch sichtbar wurde. „Wo bin ich?“

„In einem Raum, den ich erschaffen habe.“

„Aber…dieses Zimmer…“

„Du erinnerst dich.“, stellte Hitomi fest. „Hier hast du dich mir das erste Mal anvertraut.“ Ihr Blick folgte dem von Merle und registrierte das grelle, gigantische Leuchten am Horizont. „Auch ich wäre damals fast vor Angst gestorben, doch deinetwegen konnte ich meine Furcht zu überwinden. Danke!“

Merle musterte ihre Freundin mit großen Augen. Sie sah noch genauso aus, wie vor drei Jahren.

„Warum zeigst du dich mir nicht in deiner wahren Gestalt?“

„Tut mir Leid. Ich bin gerade dabei mich zu verändern. In welche Richtung jedoch soll eine Überraschung bleiben, vor allem für Van.“

„Van ist nicht hier.“

„Aber er schaut zu, genauso wie Trias und ein paar andere, meist männliche Waschweiber, die nicht wissen, wann man die Privatsphäre anderer zu respektieren hat.“, klärte Hitomi sie auf und sandte dabei einen heftigen Impuls von Gedankenenergie in alle Richtung hinaus.

„Können sie auch verstehen, was wir sag…ich meine, was wir denken?“

„Nur was du laut aussprichst. Deine geheimen Gedanken kannst du für dich behalten, wenn du aufpasst. Die Grenze zwischen lauten und lautlosen Gedanken muss du jedoch selbst finden.“

„Können wir uns privat unterhalten?“ Merle hielt einen Moment inne. „Ich brauch deinen Rat.“, gab sie dann kleinlaut zu, woraufhin Hitomi sie eindringlich anstarrte.

„Wir können eine sichere Verbindung aufbauen, doch du musst mir bedingungslos vertrauen. Es könnte sonst sein, dass die Abwehrreaktion deines Unterbewusstseins uns beide umbringt.“

„Ich vertraue dir.“, entschied sie. „Wie machen wir es?“

„So.“, erwiderte Hitomi und legte beide Hände auf Merles Wangen. Ehe das Katzenmädchen wusste, wie ihr geschah, drückte ihre beste Freundin ihr einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen. Merles Augen weiteten sich. Erschrocken drückte sie Hitomi von sich weg.

„Du musst den Kuss erwidern, sonst geht es nicht.“, belehrte Hitomi sie, woraufhin Merle quiekte. „Was muss ich? Hast du überhaupt eine Ahnung, was wir hier machen?“

„Unsere Auren müssen sich für einen Augenblick berühren und sich füreinander öffnen. Um die Entfernung zu überbrücken, müssen wir sie für einen Moment vergessen. Nun ja…eine intime Handlung ist das einzige, die beide Vorraussetzungen sehr schnell erfüllt. Wir könnten auch tagelang meditieren, wenn dir das lieber ist.“

Merle seufzte. Allens und Cids Gesicht tauchten vor ihrem inneren Auge auf.

„Nein, ich muss jetzt mit dir reden.“

Langsam beugte sich Merle nach vorn und Hitomi tat es ihr nach. Erst zögerlich berührten sich ihre Lippen, dann wurden sie immer kühner, bis schließlich alle Zurückhaltung zum Mond ging. Der Sturm von Hitomis Gedanken, der nur für einen Bruchteil einer Sekunde auf ihren Verstand einprasselte, versetzte Merle schier in Ekstase. Behutsam löste sich Hitomi von ihrer Freundin und setzte ein dezentes Lächeln auf.

„Ich habe den Kontakt so kurz wie möglich gehalten. Wie geht es dir?“

Einen Moment lang wusste Merle nicht, wo oben und unten war.

„Krass! Passiert das jedes Mal, wenn man sich küsst?“

„Nur wenn man sich dem Partner ganz und gar überlässt. Fehlendes Vertrauen, Scham, aber auch Gewohnheit können Barrieren aufrechterhalten, die das Erlebnis trüben. Aber das wirst du noch selbst herausfinden. Über was wolltest du mit mir reden?“

„Sind wir jetzt unter uns?“, erkundigte sich Merle sicherheitshalber.

„Ich habe in dein Unterbewusstsein einen Schlüssel platziert, der deine Gedanken codiert, sobald du bewusst mit mir redest. Ich habe den gleichen Schlüssel. Die anderen empfangen jetzt nur noch unverständliche Signale.“, versicherte Hitomi.

„Wie viele dieser Schlüssle hast du?“

„Ich habe einen für Van, sonst keinen. Ach ja, Trias hatte ebenfalls einen Schlüssel bei mir platziert, als er bei mir eingebrochen ist. Ich habe den Code weggeworfen, sobald man ihn mir gezeigt hatte.“

„Du veränderst dich wirklich. Früher hättest du ihn behalten, um weiter versuchen zu können, Trias von seinen Handlungen abzubringen.“, merkte Merle an.

„Das wollte ich auch.“, gab Hitomi zu. „Aber meine Gastgeber befürchteten, ich könnte den Schlüssel aus Versehen benutzen und Trias so weitere Geheimnisse verraten. Erst muss ich lernen, wie ich meine Gedanken kontrollieren kann, ehe ich ein solches Risiko eingehen kann. Ich fürchte, diese Lektion ist teuer erkauft, zu teuer.“

„Warum?“, wollte Merle wissen. „Weil du von einem Geheimnis wusstest? Einem Geheimnis mit staatstragender Bedeutung?“

Hitomi runzelte die Stirn.

„Worauf willst du hinaus?“

„Allen hat mir von Cid erzählt.“

„Verstehe. Dann gehörst du jetzt auch zum Kreis der Eingeweihten.“

„Wie viele wissen davon?“

„Allen, Milerna, du, ich und leider auch Trias. Cid selbst hat keine Ahnung.“

„Wie vielen Leuten Trias diese Neuigkeit schon überbracht hat, können wir nicht abschätzen. Du bist dir schon darüber im Klaren, dass dies kein Geheimnis bleiben wird, jetzt da wir ein unkontrollierbares Leck haben.“

„Ja, bin ich. Aber ohne einen Beweis wird selbst Trias nichts ausrichten können. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen gibt, außer Trias lässt heimlich einen Vaterschaftstest durchführen.“, entgegnete Hitomi.

„Selbst Gerüchte können gefährlich sein. Außerdem kann man jede Information beweisen, selbst wenn sie falsch ist.“, konterte Merle.

„Wolltest du mit mir über Politik sprechen?“, fragte Hitomi leicht verstimmt.

„Nein, ich…als Allen es mir erzählt hat, na ja, da hab ich…etwas überreagiert. Du hast mich ja gesehen.“

„Hat er dir von sich aus sein Geheimnis verraten?“

„Ja, ich…hatte vorher keine Ahnung.“

„Komm her!“, bat Hitomi und schloss Merle in ihre Arme. „Du bist etwas ganz besonderes für ihn, sonst hätte er nicht das Gefühl gehabt, dass du es wissen musst. Und er vertraut dir, sonst hätte er es dir wohl kaum verraten. Weißt du, nachdem er es mir gesagt hatte, war ich ganz durcheinander. Dass er mir nur wenige Augenblicke nach seiner Beichte einen Heiratsantrag machte, war auch nicht gerade hilfreich.“

„Echt jetzt?“, stutzte Merle.

„Ja, er kann sehr stürmisch sein.“, kicherte Hitomi. „Am darauf folgenden Tag hab ich ebenfalls um Rat gesucht, damals bei Milerna. Sie sagte mir, dass, bevor sich zwei Menschen treffen, jeder schon sein eigenes Leben gehabt hat, egal, wie sehr man sich dagegen wehrt. Wenn man einen Menschen annimmt, dann gilt das auch für dessen Vergangenheit. Sie ist ein Teil von uns und lässt sich nicht einfach ausradieren.“ Plötzlich grinste Hitomi über beide Ohren. „Dies ist ein Problem, das alle Liebenden betrifft.“

Merle traute ihren Ohren nicht und befreite sich aus Hitomis Armen.

„Hey! Wer hat behauptet, dass ich Allen liebe?“, fragte sie aufgebracht.

„Niemand, aber wie ich schon sagte, du bist etwas ganz besonderes für ihn. Bis er dir die eine Frage stellt, solltest du die Antwort finden. Meinst du nicht auch?“, riet Hitomi vergnügt und winkte zum Abschied. „Tschau!“

„Warte!“

Das Zimmer um Merle herum löste sich in Dunkelheit auf. Langsam schlug sie die Augen auf und fand sich in ihrer Koje auf der Katzenpranke wieder. Gemächlich rappelte sie sich auf und sah sich um. Mit großer Enttäuschung stellte sie fest, dass das Essen kalt geworden war.



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