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Brüder

das letzte Kapitel ist da
von

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Prolog

Es war eine angenehm warme Nacht. Der Spielplatz, auf dem tagsüber die Kinder getobt hatten, lag wie ausgestorben da. Ein leichter Wind wehte und ließ die Schaukeln leicht schwanken. Sogar das Karussell drehte sich leicht, es quietschte. Irgendwo bellte ein Hund, eine Katze huschte über die Straße – möglicherweise durch das Kläffen aufgeschreckt. Tsubasa stand am geöffneten Fenster der kleinen 2-Zimmer-Wohnung und starrte nach draußen. Die Zeiger seiner Uhr standen auf halb drei, aber er konnte nicht schlafen. Nicht mehr. Gedankenverloren beobachtete er, wie erneut ein Schatten über die Straße huschte. Noch eine Katze? Oder irgendein anderes Tier? Er hatte keine Ahnung, aber eigentlich war es ja auch egal. Tsubasa wandte sich um und lehnte sich an den Fensterrahmen, während er den Blick über das Zimmer schweifen ließ. Der Mond tauchte alles in ein dämmriges Licht, so dass er die Umrisse der Einrichtung gut sehen konnte. Der Schreibtisch, das Bücherregal, die Couch....alles wirkte vertraut. Eigentlich verrückt, wie schnell man sich an eine neue Umgebung gewöhnte. Erst knapp 3 Jahre war er hier in Brasilien, und er hatte Mühe, sich an sein Zimmer zuhause in Japan zu erinnern. Nun ja, genau genommen hatte er in Nankatsu ja nicht viel länger gewohnt, aber trotzdem..... Sein Blick fiel auf die gepackten Koffer, die in einer anderen Ecke des Zimmers standen. Morgen wurde er 19, und morgen ging es auch zum ersten Mal endlich wieder nach Hause. Zunächst für ein paar Wochen, aber möglicherweise blieb er auch länger – vielleicht sogar für immer. Er wandte sich wieder zum Fenster um und atmete die Nachtluft tief ein. Wahrscheinlich würde er auch das hier nach einer Weile vermissen......

Tsubasa war nicht sonderlich überrascht, als er plötzlich Schritte hinter sich hörte. In der nächsten Sekunde schlangen sich zwei Arme von hinte num seinen Oberkörper.

„Kannst du schon wieder nicht schlafen?“, wollte Sanae leise wissen, während sie sich an seinen Rücken schmiegte. „Hast du schlecht geträumt?“

Tsubasa schüttelte den Kopf und lächelte leicht. „Nein....ich meine, ja, ich kann nicht schlafen, aber nein, ich habe nicht schlecht geträumt.“

„Warum bist du dann wach?“

„Ich schätze, ich bin aufgeregt wegen morgen, das ist alles.“

Sanae lächelte ebenfalls. „Ich auch. Es wird sicher schön, alle wieder zu sehen.“

„Bereust du es eigentlich?“

„Was?“

„Dass du mitgekommen bist.“

„Nein. Und du? Wärst du doch lieber in Japan geblieben?“

„Ich glaube, ich hätte es bereut, wenn ich nicht gegangen wäre.“

Sanaes Griff um ihn verstärkte sich etwas. „Komm wieder ins Bett, morgen wird ein anstrengender Tag.“

Tsubasa nickte, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. Morgen ging es endlich wieder nach Hause......

Überraschungen

Sanae lehnte sich entspannt in ihrem Sitz zurück und blickte nach draußen. Fliegen war herrlich, besonders wenn der Himmel so blau war wie jetzt. Die Wolken bildeten einen einzigen weißen Teppich. Es war das erste Mal, dass sie die Aussicht so unbeschwert genießen konnte. Als sie Japan vor drei Jahren gemeinsam mit Tsubasa verlassen hatte, war sie so angespannt gewesen, dass sie von ihrer Umgebung kaum etwas mitbekommen hatte. Und knapp eineinhalb Jahre später, als sie für drei Tage alleine nach Hause geflogen war, hatte sie die meiste Zeit geschlafen. So wie Tsubasa jetzt. Unwillkürlich blickte Sanae zu ihm hinüber. Wie erwartet hatte er die Augen geschlossen und rührte sich nicht. Sanae lächelte leicht. Kein Wunder, dass er so müde war. Immerhin hatte er fast die ganze Nacht wach gelegen, und die letzten Wochen hatte er auch nicht gerade viel Schlaf bekommen. Es hatte nicht lange gedauert, bis ihm im Flugzeug die Augen zugefallen waren, und obwohl es schade war, dass er die Aussicht verpasste, war Sanae erleichtert, dass er sich endlich ausruhen konnte. Einen Haken hatte die Sache jedoch: ihr war mittlerweile langweilig. Wolken hin oder her, die Flugzeit wurde einem verdammt lang, wenn man sich nicht mal unterhalten konnte. Unwillkürlich fiel Sanaes Blick auf die Fußballzeitschrift, in der Tsubasa gelesen hatte, bevor er eingeschlafen war. Sie lächelte wieder, bevor sie sie in die Hand nahm und darin herum blätterte. In mancher Hinsicht hatte er sich wirklich überhaupt nicht verändert....und trotzdem war so vieles anders geworden. Sanae wurde ernst und legte die Zeitschrift wieder zurück, bevor sie sich wieder dem Fenster zu wandte. Es war damals bei weitem keine leichte Entscheidung gewesen, nach Brasilien zu gehen – weder für sie, noch für Tsubasa. Er war nicht wie ursprünglich geplant nach der Mittelschule geflogen, sondern hatte noch eine Zeit lang mit den Anderen die Oberschule besucht. Natürlich hatte es auch daran gelegen, dass er sich nicht mehr sicher gewesen war, was er wirklich wollte, aber es hatte auch praktische Gründe gehabt. Die Ermittlungen gegen Kenji – demjenigen, dem Tsubasa eine Gehirnerschütterung und drei Tage ohne Wasser im eigenen Keller zu verdanken hatte – hatten sich ewig hingezogen und bis es zum Prozess gekommen war, war Tsubasa mehr oder weniger freiwillig in Japan geblieben. Sanae konnte sich an die Gerichtsverhandlung nur zu gut erinnern, sie hatte damals ebenfalls als Zeugin aussagen müssen, genauso wie Kojiro, Yukari, Ryo und Izawa. Die ganze Sache hatte in Nankatsu für ziemlichen Wirbel gesorgt, schon allein deshalb, weil fast jeder Tsubasa kannte. Kenji war trotz Minderjährigkeit zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden und saß dort hoffentlich immer noch. Sanae bekam eine Gänsehaut, als sie sich an die Zeit erinnerte, und zog fröstelnd die Schultern hoch. Sogar beim Prozess noch war Kenji voller Hass gewesen.... Wieder blickte sie zu Tsubasa hinüber, der immer noch tief und fest schlief. Es war wirklich vieles anders geworden seitdem. Wer Tsubasa nicht gut kannte, gewann den Eindruck, dass er wieder ganz der Alte geworden war, aber das stimmte nicht. Physisch hatte er sich zwar vollständig von der ganzen Sache erholt und auch die Gedächtnislücke war wieder verschwunden, aber er litt immer noch unter einer Art Klaustrophobie und vermied enge geschlossene Räume, wo es nur möglich war. Was die Albträume betraf, so kam es auch immer noch vor, dass er nachts wach wurde und es dann lange dauerte, bis er wieder einschlafen konnte – vor allem, wenn er tagsüber eh viel Stress hatte. Darüber hinaus gab es immer wieder Momente, wo er stiller und ernster war als früher. Und trotzdem – und bei diesem Gedanken musste Sanae doch wieder lächeln – ohne diese ganze Sache wäre sie vermutlich nicht hier. Als Tsubasa die Entscheidung nicht mehr länger hatte aufschieben können, war für sie plötzlich klar geworden, dass sie mitkommen musste und wollte. Monatelang hatte sie mit ihren Eltern diskutiert, bis die schließlich nachgegeben hatten und sogar über verschiedene Kontakte eine kleine Wohnung und einen Ausbildungsplatz ergattert hatten. Es waren keine leichten drei Jahre gewesen, die sie zusammen gelebt hatten, aber trotzdem wusste sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Tsubasa hatte es nie deutlich gesagt, aber Sanae spürte trotzdem, dass er ohne sie nicht gegangen wäre. Sie streckte sich erneut und lehnte sich in ihrem Sitz zurück, bevor sie die Augen schloss. Nur noch zwei Stunden, und dann waren sie endlich wieder Zuhause.... Tsubasas Mutter wollte sie beide vom Flughafen abholen, ihre Eltern mussten leider arbeiten. Was wohl die Anderen gerade anstellten? Sie hatte alle so ewig nicht mehr gesehen, und Tsubasa war ja noch länger weg gewesen....

„Sanae? Sanae, wach auf!“

„Hm?“ Sanae schrak verwirrt hoch, als sie eine Hand auf ihrem Arm spürte. Verwirrt blickte sie Tsubasa an. „Was ist los?“

Er lächelte. „Wir landen.“

„Hä?“ Sanae blickte aus dem Fenster. In der Tat waren unter ihr die ersten Häuser zu sehen, offensichtlich befanden sie sich im Landeanflug. Sie musste wohl ebenfalls eingeschlafen sein....

„Warum hast du mich nicht geweckt?“, wollte sie leicht vorwurfsvoll wissen, während sie sich anschnallte.

„Hab ich doch gerade.“

„Jaaaa, ich meinte aber früher! Als du wach geworden bist!“

„Erstens hab ich bis vor ner Viertelstunde selber noch geschlafen, und zweitens: warum hätte ich das tun sollen?“

„Damit wir vielleicht wenigstens die Viertelstunde zusammen wach gewesen wären?“

Tsubasa lachte. „Ich merk's mir für das nächste Mal, in Ordnung?“
 

***
 

Eine halbe Stunde später hatten sie sich durch die Schlange am Gepäckband gekämpft und bahnten sich mit ihren Gepäckstücken ihren Weg ins Freie.

„Wo holt uns deine Mutter denn ab?“, wollte Sanae leicht außer Atem wissen, während sie mit ihrer Reisetasche kämpfte.

„Draußen, bei den Taxiständen.“ Tsubasa nahm ihr die Tasche kommentarlos ab. „Da finden wir uns leichter als in dem Gedränge hier drinnen.“

„Allerdings. Danke....“ Sanae seufzte und rieb sich ihre Schulter, bevor sie ihren Weg fortsetzte, den Trolly hinter sich her ziehend. „Warum hast du eigentlich so wenig Gepäck und ich so viel?“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich hättest du nicht so viel einpacken sollen.“

„Hey!“

Tsubasa lachte. „Sorry, aber was hast du für eine Antwort erwartet?“

„Keine Ahnung, eine andere eben!“

„Dann hättest du eine andere Frage stellen sollen.“

Sanae setzte zu einer Erwiderung an, aber just in diesem Moment ertönte ein Quietschen.

„Sanae!!!!“

Verdattert blieben sie stehen und wandten sich um. In der nächsten Sekunde fiel Yukari Sanae bereits so stürmisch um den Hals, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.

„Du treulose Tomate!! Sagst kein Sterbenswörtchen dass du heute schon ankommst!“

„Yukari? Was machst du denn hier?“

„Na was wohl, dich abholen!“ Yukari löste sich von ihrer Freundin und blickte sie mit einem leichten Schmollmund an. „Wenn ich nicht zufällig deine Mutter getroffen hätte wüßte ich immer noch von nichts.“

„Ja....aber....“ Sanae war immer noch völlig verdattert und wußte nicht, ob sie lachen oder über die Geschwätzigkeit ihrer Mutter sauer sein sollte. „Du hättest doch nicht extra herkommen müssen....“

„Na hör mal, meine beste Freundin kommt endlich wieder nach Hause und ich soll sie nicht abholen? Träum weiter!“ Yukari umarmte sie erneut. „Tut unheimlich gut, dich zu sehen, weißt du das?“

Jetzt musste Sanae doch lachen. „Du hast mir auch gefehlt.“

Yukari strahlte und ließ sie los, bevor sie auch Tsubasa kurz umarmte, der bisher alles amüsiert beobachtet hatte.

„Willkommen zurück. Wie war die Reise?“

„Ruhig, danke. Hast du sonst noch jemandem erzählt dass wir heute schon ankommen?“

„Nein, ich hab mir schon gedacht dass ihr erst mal durchatmen wollt wenn ihr wieder da seid. Aber ich musste einfach herkommen, anders gings nicht.“ Yukari lächelte. „Wie kommt ihr nach Hause? Ich bin extra mit dem Auto da, damit ihr euch das Taxi sparen könnt.“

„Ähm....“ Sanae blickte unsicher zu Tsubasa hinüber. „Eigentlich werden wir schon abgeholt....“

Zu ihrer Überraschung lächelte Tsubasa nur und schüttelte den Kopf. „Geh ruhig mit, ihr habt euch sicher viel zu erzählen. Meine Mutter hat sicher nichts dagegen, wenn sie nur mich heimfahren muss.“

„Und es macht dir sicher nichts aus?“

„Quatsch, hau schon ab.“

Sanae lächelte. „Okay, danke.“ Sie küsste ihn kurz. „Wir sehen uns dann nachher, ja?“

„In Ordnung. Viel Spaß.“

„Den werden wir haben.“, zwinkerte Yukari, bevor sie Tsubasa Sanaes Reisetasche abnahm und davon marschierte. „Du meine Güte, was hast du denn da reingepackt? Wackersteine?“

„Hey, warte auf mich. Und was meinst du mit Wackersteinen?! Da ist nur das nötigste drin....“

„Von wegen nur das nötigste, ich wußte gar nicht dass man in Brasilien so gut Klamotten einkaufen kann.“

„Hör auf damit, Yukari, das meiste sind nur Bücher....“

Der Rest der Unterhaltung ging im allgemeinen Stimmengewirr unter. Tsubasa schüttelte lächelnd den Kopf, bevor er seinen eigenen -wesentlich leichteren - Rucksack wieder schulterte und mit seinem Koffer Richtung Seitenausgang ging. Die Taxistände waren zum Glück um diese Uhrzeit nicht ganz so überlaufen wie sonst, aber trotzdem kam Tsubasa der Gedanke, dass der Treffpunkt hier doch nicht so günstig gewählt war, was die Menschenmengen anging. Suchend blickte er sich um. Bis er unter dem Getümmel seine Mutter gefunden hatte, konnte wohl noch dauern..... In diesem Moment legte sich eine Hand auf seine Schulter.

„Na, gut gelandet?“

Erschrocken fuhr er herum. „Wa...?! Papa?“

In der Tat stand sein Vater vor ihm und lächelte ihn an. „Hatte dein Flugzeug Verspätung? Ich warte schon eine halbe Stunde.“

„Kann sein.....was machst du hier?! Ich dachte du bist in....“ Tsubasa runzelte leicht die Stirn. „Indien? Oder Indonesien?“

„Nicht ganz, aber die Richtung stimmt.“ Herr Ozora lächelte wieder. „Ich habe mir extra ein paar Tage Landurlaub genommen, als ich gehört habe, dass du wieder nach Hause kommst. Es sollte eine Überraschung werden.“

Tsubasa sah ihn immer noch perplex an, so dass sein Vater schließlich zu lachen begann.

„Besonders begeistert siehst du nicht aus. Soll ich wieder gehen?“

Anstelle einer Antwort ließ Tsubasa seinen Rucksack achtlos fallen und schlang die Arme um ihn.

Sein Vater blinzelte überrascht, dann lächelte er und drückte ihn kurz an sich, bevor er sich wieder von ihm löste und ihn prüfend von oben bis unten musterte.

„Du bist ziemlich gewachsen. Wie immer, wenn ich nach Hause komme...“

„Nur kommen wir dieses Mal beide nach Hause.“

„Ja, damit hast du wohl recht.“ Herr Ozora lächelte wieder, und dieses Mal wirkte er leicht wehmütig. Dann riß er sich zusammen und griff nach Tsubasas Koffer.

„Komm, deine Mutter wartet schon auf uns. Wo hast du eigentlich Sanae gelassen?“

„Yukari hat sie abgeholt.“ Tsubasa hob seinen Rucksack vom Boden auf und folgte ihm zum Wagen. „Ihre Mutter hat sich verplappert.“

„So so, ich verstehe.“ Sein Vater schmunzelte. „Nun ja, uns ist es auch nicht leicht gefallen, das für uns zu behalten.“

„Wie lange kannst du bleiben?“

„Nicht lange, leider. Ende der Woche muss ich wieder auf dem Schiff sein. Aber ich....“ Er brach ab, und Tsubasa blickte ihn aufmerksam an.

„Was?“

„Das besprechen wir besser in Ruhe zuhause.“ Sie hatten das Auto erreicht, und Herr Ozora öffnete den Kofferraum. „Viel dabei hast du ja anscheinend nicht.“; stellte er fest, während er den Koffer hinein wuchtete. „Der wiegt ja kaum was.“

„Die meisten Sachen werden mir von Roberto hinterher geschickt.“

„Ich verstehe. Na, dann mal ab nach Hause....“
 

***
 

Auf der Heimfahrt wurde nicht viel gesprochen. Tsubasa spürte, dass sein Vater jede Menge Fragen auf der Zunge hatte, und er war dankbar, dass er sich zurückhielt und schwieg. Obwohl ihm selber ebenfalls genug Fragen im Kopf herum schwirrten, genoß er die Stille – und die Möglichkeit, die Landschaft zu beobachten. Mit jedem Kilometer, den sie zurück legten, wurde die Umgebung wieder vertrauter, und ihm wurde immer mehr bewußt, dass er wirklich wieder zu Hause war. Als sie 45 Minuten später vor dem Haus hielten, fühlte er sich gleichzeitig erleichtert und erschöpft. Sein Vater lächelte. „Die Reise war lang, hm?“

„Viel zu lang. Obwohl ich die meiste Zeit geschlafen habe....“

„Trotzdem.... Glaub mir, ich kenne das Gefühl.“ Herr Ozora zwinkerte ihm zu, während er ausstieg. „Mit langen Reisen kenne ich mich bestens aus.“

Tsubasa musste lachen. „Da hast du wohl recht.“ Er folgte dem Beispiel seines Vaters, der währenddessen bereits den Koffer aus dem Wagen holte.

„Jetzt kannst du dich ja erst mal ausruhen. Und deine Mutter wird auch schnell dafür sorgen, dass du wieder zu Kräften kommst.“

„Ja, das befürchte ich auch.“

Herr Ozora lachte und trug den Koffer zur Haustür, Tsubasa folgte ihm mit dem Rucksack über der Schulter. Noch während sein Vater nach dem Hausschlüssel suchte, wurde die Tür aufgerissen und seine Mutter stürmte nach draußen. In der nächsten Sekunde wurde Tsubasa so heftig umarmt, dass ihm die Luft weg blieb.

„Tsubasa!!! Na endlich, ich habe schon auf euch gewartet! Hatte dein Flugzeug Verspätung? Wie war die Reise? Geht’s dir gut? Du siehst blass aus.“

„Was daran liegen könnte, dass du ihm keine Luft zum Atmen lässt.“, schmunzelte Herr Ozora. „Du erdrückst ihn ja.“

„Oh.“ Seine Mutter lockerte ihren Griff etwas, und Tsubasa war dankbar dafür. Zum einen hatte er tatsächlich das Gefühl, von ihr erdrückt zu werden, zum anderen erinnerte ihn das alles an eine andere Situation – nach seiner Entführung damals hatte sie ihn genauso stürmisch begrüßt, als sie nach Hause gekommen war. Keine angenehmer Anlass – nicht so angenehm wie heute.

„Komm rein.“ Frau Ozora strahlte immer noch über das ganze Gesicht, während sie Tsubasa den Rucksack abnahm und ihn dann sanft, aber bestimmt ins Haus schob. „Hattest du eine gute Reise? Habt ihr Sanae daheim abgesetzt?“

„Ja, und nein – Yukari hat sie abgeholt.“

„Du bist sicher müde. Ich habe das Abendessen schon fast fertig. Ich hoffe, du hast Hunger?“

Fragen über Fragen. Er war keine fünf Minuten zuhause und schon schwirrte ihm der Kopf. Und paradoxerweise war das ein gutes Gefühl. Seine Mutter dirigierte ihn mittlerweile ins Wohnzimmer und plapperte dabei unentwegt weiter. Er kam gar nicht dazu, irgendwie richtig zu antworten. Und dann kam der Punkt, an dem er sie plötzlich nicht mehr hörte. Im Wohnzimmer hatte sich definitiv etwas verändert. Perplex starrte er den kleinen Jungen an, der auf dem Teppich saß und spielte. Der Redefluss seiner Mutter war verstummt.

„Äh – Mama? Bist du unter die Babysitter gegangen?“

„Nein, ganz und gar nicht.“ Frau Ozora lächelte und hob den Jungen empor, bevor sie zu Tsubasa zurück kam. „Aber ich würde dir gerne jemanden vorstellen.“ Damit drückte sie ihm das Kind in die Arme. „Deinen Bruder.“

„Mein....WAS?!“ Entgeistert starrte Tsubasa den Jungen an, der ihn genauso verdutzt anblinzelte.

„Er heißt Daichi.“, meinte sein Vater hinter ihm lächelnd.

„A....aber....“ Tsubasa brach ab. Daichi sah ihn immer noch mit Kulleraugen, dann begann er zu strahlen und kuschelte sich an ihn. Jetzt fühlte er sich erst recht hilflos.

„Wie....wann...?“

„Er ist gerade zwei geworden.“ Frau Ozora strich Daichi liebevoll ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Wir wollten es dir eigentlich erzählen, aber wir haben nicht gewusst, wie wir so etwas in einen Brief oder ein Telefonat packen sollen, und irgendwann haben wir beschlossen, dass wir dich genauso gut überraschen können, wenn du wieder kommst.“

Tsubasa sah sie immer noch sprachlos an. Seine Mutter lächelte, dann umarmte sie ihn schließlich mitsamt Kind.

„Alles Gute zum Geburtstag. Und willkommen zurück.“

Neuigkeiten

Im Gegensatz zu Tsubasas verlief Sanaes Heimfahrt alles andere als schweigend, ganz im Gegenteil. Yukari plapperte ununterbrochen, sie wollte alles über das Leben in Brasilien wissen – und Sanae ihrerseits löcherte sie unentwegt, was es neues in Nankatsu gab. Sie waren so in das Gespräch vertieft, dass Sanae es nicht mal merkte, dass Yukari eine andere Strecke fuhr. Erst, als ihre Freundin den Wagen auf einen Parkplatz lenkte, wurde sie aufmerksam.

„Hey, wo fährst du denn hin?“

Yukari schmunzelte und stellte den Motor ab. „Sieh dich doch mal um.“

Sanae tat es – und lächelte. „Hier war ich wirklich schon ewig nicht mehr....“

„Eben. Du hast ja noch ein bisschen Zeit, oder?“

„Klar. Meine Eltern sind ja leider erst ab fünf zuhause, und ein leeres Haus ist nicht gerade verlockend.“

„Dachte ich mir.“

„Du kennst mich wie immer viel zu gut.“

„Ich weiß.“

Sanae musste lachen, dann stieg sie aus und ließ den Blick schweifen.

„Na?“ Yukari schloss das Auto ab und hakte sich bei ihrer Freundin unter.

Sanae atmete die Luft tief ein und ließ den Blick dann über den kleinen Fußballplatz schleifen. „Hier hat sich nicht viel verändert.“

„Was sollte sich schon verändert haben?“ Yukari schmunzelte. „Ein Fußballplatz ist ein Fußballplatz, nicht? Rasen, 2 Tore. Alles beim alten....“

„Stimmt.“ Sanae deutete auf die kleinen Kinder, die sich gerade aus voller Kehle schreiend auf dem Platz verausgabten. „Wenn man von den Spielern absieht.“

„Ja ja, die Zeit vergeht. Hier war das legendäre Spiel, oder?“

„Allerdings. Das erste Duell zwischen Tsubasa und Genzo.... und hier hab ich ihn auch zum ersten Mal spielen sehen.“

„Und schon war's um dich geschehen.“ Yukari knuffte sie leicht in die Seite. „Hattest du gleich Herzchen in den Augen, ja?“

„Yukari, lass das!“ Sanae konnte nicht verhindern, dass sie leicht rot wurde. „Von wegen Herzchen!“

„Sorry.“ Ihre Freundin lachte. „Aber ich konnte nicht widerstehen. Und ehrlich gesagt, hätte ich das damals gerne gesehen.“

„Was? Das Duell oder meine Herzchen?“

„Beides.“ Yukari grinste. „Also hattest du doch welche!“

„Hä?“

„Gerade hast du's zugegeben!“

„Stimmt doch gar nicht.“

„Stimmt wohl.“

„Nein!! Sag mal, warst du früher auch so frech oder hab ich's da nur nicht bemerkt?“

„Du hast es nicht gemerkt.“

Sanae prustete los und umarmte Yukari kurzerhand. „Es tut so gut, dich wiederzusehen, weißt du das?“

„Klar.“ Yukari zwinkerte ihr zu. „Und was das Frech-Sein angeht, ich tue nur meinen Job als beste Freundin.“

„Den machst du verdammt gut.“

„Dann bin ich ja beruhigt.“

In diesem Moment piepte Sanaes Handy. Sie runzelte die Stirn und zog es aus der Tasche, nachdem sie Yukari losgelassen hatte.

„Von Tsubasa?“

Sanae nickte nur. Dann weiteten sich ihre Augen ungläubig.

„Das gibt’s ja nicht.“ Sie blickte Yukari an. „Wusstest du, dass Tsubasa kein Einzelkind mehr ist?“

„Klar. Ich hab den Kleinen auch schon persönlich kennen gelernt. Süßer Fratz. Ich glaube, er müsste jetzt zwei Jahre alt sein.“

„Aber....warum wissen wir das noch nicht? Besser gesagt, warum wusste Tsubasa das bis jetzt nicht?“, meinte Sanae fassungslos. „Ich meine.....ein Bruder!!!“

„Keine Ahnung, das musst du schon seine Eltern fragen. Ich weiß nur, dass sie uns alle gebeten haben, es für uns zu behalten, damit er es nicht so erfährt. Sie wollten es ihm selber sagen.“

„Klar, aber....“ Sanae brach ab.

„Heute abend lernst du den Kleinen ja auch kennen. Du wirst ihn sicher mögen. Er heißt übrigens Daichi.“

Sanae zögerte, dann begann sie, eine Antwort-SMS zu tippen.

„Was schreibst du?“ Yukari lugte ihr neugierig über die Schulter.

„Ich sage ab.“

„Was?! Warum das denn? Ich dachte du gehst um sieben gemütlich zu ihm rüber und dann feiert ihr sozusagen seinen Geburtstag und das Wiedersehen und überhaupt....das hast du doch vorhin noch erzählt.“

„Ja. Aber da haben wir beide auch noch nicht gewußt, dass er plötzlich nen kleinen Bruder hat.“

„Und?“

„Ich will, dass er das erst Mal in Ruhe verdauen und den Kleinen auch kennenlernen kann. Ich glaube, da wäre ich heute fehl am Platz. Und meine Eltern waren eh nicht begeistert davon, dass ich gerade mal zwei Stunden zuhause bin und dann schon wieder abhaue.“

„Na hör mal, die sollen gefälligst nicht meckern! Immerhin sind sie nicht zuhause, wenn du nach drei Jahren wieder richtig heim kommst, da haben sie kein Recht sich zu beschweren, wenn du abends weg bist.“ Yukari lächelte. „Aber dass du Tsubasa Zeit geben willst, kann ich nachvollziehen. Wie hat er denn reagiert, hat er das geschrieben?“

Sanae zögerte, dann klickte sie auf Senden und rief Tsubasas SMS erneut auf, bevor sie ihrer Freundin das Handy hinhielt.

„Oh.“ Yukari runzelte die Stirn. „Na ja, kurz und sachlich. In Begeisterungsstürme ist er anscheinend nicht ausgebrochen.“

„Kann ich verstehen. Oder hättest du gerne plötzlich einen Bruder vor der Nase, den du nicht kennst?“

„Nein. Aber wie ich Tsubasa kenne, wird er Daichi sicher bald ins Herz schließen.“ Yukari lächelte und hakte sich wieder bei ihrer Freundin unter. „Wirst sehen, alles kein Problem.“
 

***
 

Tsubasa seufzte und legte das Handy auf den Schreibtisch. Sanae kam also nicht. Irgendwie hatte er so was fast befürchtet, aber er hatte trotzdem insgeheim auf ihre Unterstützung gehofft. Natürlich konnte er sie verstehen – aber der Gedanke, jetzt den ganzen Abend irgendwie alleine hinter sich bringen zu müssen, gefiel ihm nicht. Ein Bruder!!! Tsubasa blickte sich um. Wenigstens sein Zimmer war unverändert. Er hatte schon Angst gehabt, dass seine Eltern es zum Kinderzimmer für Daichi umfunktioniert hatten, aber die Wahl war dann doch auf das Gästezimmer gefallen. Zum Glück. Er wußte nicht, ob er das sonst auch so ruhig hingenommen hätte, zumindest nach außen.

Innerlich fühlte er sich alles andere als ruhig.

„Tsubasa? Das Essen ist dann fertig. Kommst du?“, erklang die Stimme seiner Mutter von unten.

„Ja, gleich.“

Tsubasa blickte sich ein letztes Mal in seinem Zimmer um, dann ging er die Treppe nach unten. Langsam. Besonders eilig hatte er es nicht im Moment. Er wußte, was seine Eltern von ihm erwarteten, aber dieses Kind – Daichi – war völlig fremd. Warum zum Teufel hatten sie ihm nicht wenigstens früher schon Bescheid gesagt? Ein Brief mit einem Foto, oder ein Telefonat – gut, besonders viel telefoniert hatten sie nicht in den drei Jahren, Ferngespräche nach Brasilien waren nicht gerade billig, aber das wäre doch ein triftiger Grund gewesen. Einfach irgendetwas, damit er jetzt nicht hier stand und plötzlich mit einem 2jährigen....

„Huch!“

Als Tsubasa die Küche betreten wollte, hing plötzlich ein Gewicht an seinem Bein. Verdutzt blickte er nach unten. Daichi klammerte sich weiter an ihm fest und sah strahlend zu ihm auf.

„Basa!“

„Äh...“

„Basa!“, wiederholte Daichi mit Nachdruck, während er eine Hand nach oben ausstreckte. Langsam dämmerte Tsubasa, was er wollte.

„Mama....könntest du vielleicht....?“

Seine Mutter, die die ganze Zeit über am Herd gestanden hatte, wandte sich um und musste lächeln. „Er will auf den Arm genommen werden. Kein Grund zur Panik.“

Als Tsubasa immer noch keine Anstalten machte, dem Wunsch seines kleinen Bruders nachzukommen, seufzte sie leicht und ging zu den Beiden hinüber.

„Na komm, Spatz.“ Sie löste Daichis Griff und hob ihn hoch, was ihm absolut nicht gefiel. Er begann zu weinen, und Frau Ozora redete sanft auf ihn ein, während sie zum Herd zurück ging.

Tsubasa wandte sich um und verließ die Küche Richtung Wohnzimmer. Und das jetzt noch einen ganzen Abend lang.....und dann morgen, und übermorgen, und.... Tsubasa verdrängte den Gedanken daran. Erstmal musste er irgendwie durch die nächsten Stunden. Daichis Gebrüll aus der Küche verebbte, anscheinend hatte seine Mutter geschafft, ihn irgendwie zu beruhigen. Wenigstens etwas.

Als Tsubasa das Wohnzimmer betrat, wandte sein Vater den Kopf, der bisher auf der Couch gesessen und ferngesehen hatte.

„Und? Wie fühlst du dich in deinem alten Zimmer?“

„Gut. Hat sich ja nicht viel veändert.“ Tsubasa setzte sich neben ihn und blickte zum Fernseher hinüber. Die Nachrichten liefen gerade. „Irgendwas spannendes passiert?“

„Nein, nur das übliche.“ Herr Ozora schaltete das Fernsehen aus und schien kurz zu zögern, bevor er weiterredete. „Die Situation ist im Moment nicht einfach für dich, oder?“

Tsubasas Miene verschloss sich, er zuckte mit den Schultern. „Wäre sie für dich einfach?“

„Nein, ich denke nicht.“ Sein Vater seufzte. „Hör zu, ich wollte noch etwas mit dir besprechen. Ich weiß zwar nicht, ob das der günstigste Augenblick ist, aber.....“

Er wurde unterbrochen, als seine Frau erneut zum Essen rief. „Kommt ihr bitte?“

Tsubasa blickte erst zur Küche und dann seinen Vater an. Er war verwirrt – und misstrauisch. „Worum geht’s denn?“

Herr Ozora zögerte wieder, dann lächelte er und stand auf. „Wir reden besser nach dem Essen darüber. Deine Mutter wartet nicht gern, und Daichi noch weniger.“

Er ging Richtung Küche, und Tsubasa folgte ihm nach ein paar Sekunden.
 

***
 

Als sie gemeinsam in der Küche saßen, drehte sich das Gespräch zu Tsubasas Erleichterung nicht um Daichi. Es gelang ihm sogar, die Anwesenheit seines Bruders für ein paar Minuten zu vergessen, obwohl seine Mutter mit füttern beschäftigt war. Wenn der Kleine zufrieden war, konnte er erstaunlich ruhig sein. Herr Ozora wollte alles über Tsubasas Zeit in Brasilien wissen.

„Bist du gut zurecht gekommen? Und wie geht’s Roberto?“

„Am Anfang war es nicht ganz einfach, aber es war dann okay. Und Roberto geht’s gut, seit er den Trainerjob hat machen ihm auch seine Augen keine Probleme mehr.“

„Was hat er denn dazu gesagt dass du wieder zurück geflogen bist?“, mischte sich Frau Ozora ein, während sie Daichi einen neuen Löffel voll Reis in den Mund schob.

Tsubasa musste lächeln. „Es war überhaupt erst seine Idee.“

„Was? Wieso?“

„Er hat gemeint, dass mir eine Auszeit ganz gut tut.“, wich Tsubasa aus. „Und die nächste Zeit ist es ziemlich ruhig vom Fußball her, da braucht er mich nicht unbedingt.“

„Und wie lange kannst du bleiben?“

Tsubasa zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung – so lange ich will, glaube ich. Er hat gemeint, ich soll mir so viel Zeit nehmen wie ich brauche.“

Der Blick seiner Mutter wurde besorgt. „Warum Zeit brauchen? Ist irgendwas nicht in Ordnung?“

„Nein, es ist alles bestens. Ich muss mich nur langsam entscheiden, was ich aus meinem Leben machen will.“

„Ich dachte, das weißt du. Oder hat es dir in Brasilien nicht gefallen?“

„Doch, schon. Aber....“ Tsubasa stockte. „Na ja, ich bin halt in Japan zuhause. Und hier kann ich ja genauso Fußball spielen, oder nicht?“

Seine Eltern musterten ihn nachdenklich und kurze Zeit herrschte Stille. So lange, bis Daichi protestierend mit den Händen auf den kleinen Tisch seines Hochstuhls schlug und zu strampeln begann. Offensichtlich hatte er immer noch Hunger und der letzte Löffel Reis war immerhin schon ganze 2 Minuten her. Frau Ozora lächelte entschuldigend und fuhr damit fort, ihn zu füttern. Tsubasa war für die Gelegenheit zum Themenwechsel ganz dankbar. Er blickte seinen Vater an.

„Und du musst Ende der Woche schon wieder weg?“

Herr Ozora nickte. „Ja, leider.“

„Wann bist du denn angekommen?“

„Vor zwei Tagen schon. Anders ging es leider nicht....“

„Klar. Ich bin froh, dass du überhaupt da bist.“

Wieder sagte kurze Zeit niemand etwas, und dieses Mal schien das Thema seinen Eltern unangenehm zu werden. Er blickte von seinem Vater zu seiner Mutter und wieder zurück.

„Was ist los?“

Herr Ozora räusperte sich. „Na ja, eigentlich wollte ich nachher mit dir darüber reden, aber eigentlich können wir es auch gleich jetzt machen.“ Er holte tief Luft. „Ich lasse mich in den Innendienst versetzen. Die nächste Reise wird auch die letzte.“

Tsubasa starrte ihn fassungslos an. „Was? Aber....warum? Du hast doch immer gesagt, dass du deinen Beruf als Kapitän nicht aufgeben willst, warum jetzt auf einmal?“

Herr Ozora sagte nichts, aber er blickte zu Daichi hinüber, der selig einen neuen Löffel voll Reis futterte, und das war Antwort genug. Tsubasa fühlte sich plötzlich eiskalt, seine Hände ballten sich unbemerkt zu Fäusten. Dann stand er abrupt auf und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.

„Tsubasa! Tsubasa, wo willst du denn hin?“

Keine Antwort. Statt dessen fiel die Haustür ins Schloß. Tsubasa war weg.

Daichi

„Tsubasa!!“ Geschockt starrte Frau Ozora ihrem Sohn nach. Dann erst blickte sie hilflos zu ihrem Mann hinüber. „Wo will er denn hin?“

„Kannst du dir das nicht denken? Zu Sanae natürlich.“ Herr Ozora erhob sich ebenfalls. „Ich gehe ihm besser nach und rede noch mal mit ihm....wenn ich mich beeile, erwische ich ihn noch.“ Er verließ die Küche.

„Aber....“ Frau Ozora brach ab, dann hob sie Daichi auf den Arm und folgte ihm hastig. Der Kleine begann sofort wieder zu quengeln, er hatte immer noch Hunger, aber sie ignorierte es. „Wäre es nicht besser, wenn ich mitkomme?“

Ihr Mann schüttelte den Kopf. Er hatte eine Hand bereits auf der Türklinke. „Nein, ich glaube ich sollte alleine mit ihm reden. Immerhin ist es meine Schuld....“ Er brach ab, dann brachte er ein schwaches Lächeln zustande und gab Frau Ozora einen sanften Kuss auf die Wange. „Ich hoffe, es dauert nicht lange. Bis gleich!“

Er wuschelte dem immer noch quengelnden Daichi durch die Haare, dann verließ er ebenfalls das Haus. Seine Frau blickte ihm bekümmert hinterher, bevor sie niedergeschlagen in die Küche zurück ging.
 

***
 

Zu seiner Erleichterung musste Herr Ozora nicht allzu lange rennen, bis er Tsubasa einholte. Er begann nach seinem Sohn zu rufen, und Tsubasa zuckte leicht zusammen und wandte sich halb um. Ein paar Sekunden schien er unschlüssig zu sein, aber dann blieb er tatsächlich stehen und blickte seinem Vater entgegen. Die Erleichterung, die Herrn Ozora durchflutete, verschwand jedoch sofort, als er Tsubasa ins Gesicht sehen konnte. So hatte er ihn noch nie erlebt..... Er ließ sich nichts anmerken, als er atemlos vor ihm stehen blieb.

„Ein Glück, dass ich dich gefunden habe! Ich hatte wohl recht mit der Annahme, dass du auf dem Weg zu Sanae bist, hm?“

Tsubasa blickte ihn nur stumm an, dann wandte er sich um und wollte weiter, aber sein Vater faßte ihn schnell am Arm und hielt ihn zurück.

„Warte bitte, Tsubasa! Ich würde gerne mit dir reden, in Ordnung? Nur ein paar Minuten. Danach kannst du zu Sanae, wenn du immer noch willst. Einverstanden?“

Tsubasa erwiderte immer noch nichts, aber er machte auch keine Anstalten, sich aus dem Griff seines Vaters zu befreien. Hoffentlich ein gutes Zeichen. Herr Ozora blickte sich um und entdeckte schließlich eine Bank ganz in der Nähe.

„Wollen wir uns da hinsetzen?“

Wieder keine Antwort, und er wertete das als Zustimmung. In der Tat wehrte sich Tsubasa nicht, als sein Vater ihn sanft, aber bestimmt, Richtung Bank zog. Als sie nebeneinander saßen, atmete Herr Ozora erst einmal tief durch. Er war immer noch fertig von dem kurzen Sprint hierher.

„Ich glaube, ich sollte mir ein Beispiel an deiner Kondition nehmen.....“

Tsubasa reagierte immer noch nicht, und als sein Vater ihn von der Seite ansah, musste er feststellen, dass er den Blick starr geradeaus gerichtet hielt, beide Hände fest zu Fäusten geballt. Er seufzte.

„Ich kann verstehen, was in dir vorgeht, glaub mir. Ich weiß, das klingt abgedroschen, aber es ist wirklich so.....wenn ich..... ich meine, wenn wir ein bisschen mehr nachgedacht hätten, hätte uns klar sein müssen, dass wir dir heute abend ein bisschen viel zumuten. Erst ein Bruder plötzlich aus dem Nichts, und dann auch noch das......“ Er brach ab, dann redete er weiter. „Aber leicht ist mir die Entscheidung auch nicht gefallen.....ich habe auch mehrmals überlegt, dich anzurufen, um mit dir darüber zu reden, ich war sogar schon kurz davor nach Brasilien zu fliegen, vielleicht sogar mit Daichi, aber....“ Er stockte erneut.

„Und warum hast du's nicht?“ Tsubasa sah ihn nach wie vor nicht an. „Hast du Angst gehabt, dass du das Kind überforderst damit?“

„Ich....“

„Hättest du ihn dann auch mit einem Telefonat überfordert? Oder mit einem Brief? Um mir vielleicht mal überhaupt zu erzählen, dass er existiert? Wahrscheinlich weiß schon ganz Nankatsu Bescheid außer mir, oder?“

Herr Ozora seufzte. „Das haben wir dir ja versucht zu erklären. Wir wussten beim besten Willen nicht, wie wir so etwas per Telefon oder Brief erzählen.....darum wollten wir dich überraschen. Natürlich war das keine gute Idee, aber wir haben trotzdem gehofft, dass du dich freust. Daichi jedenfalls konnte es kaum abwarten, dich kennenzulernen, wir haben ihm ständig von dir erzählt, und....“

„Klar, du hattest ja auch jede Menge Zeit zuhause! Warst du überhaupt noch auf irgendeiner Reise? Oder hast du gelogen, als du gesagt hast, dass du erst vor ein paar Tagen angekommen bist? Würde mich nicht wundern!“

„Tsubasa....“

„Die paar Minuten sind um.“

Tsubasa machte Anstalten, aufzustehen, aber sein Vater faßte ihn wieder am Arm – und zuckte erschrocken zurück, als er seine Hand kurzerhand zur Seite schlug.

„Fass mich nicht an!!!“ Er hatte beinahe geschrieen, und kurze Zeit herrschte Stille. Dann ließ sich Tsubasa wieder auf die Bank zurück fallen und vergrub das Gesicht in den Händen.

„Warum lasst ihr mich jetzt wenigstens nicht in Ruhe?!“

Er klang nicht mehr wütend, nur noch resigniert. Sein Vater schluckte, dann legte er ihm nach kurzem Zögern den Arm um die Schultern. Zu seiner Erleichterung ließ er es dieses Mal geschehen.

„Komm wieder mit nach Hause, Tsubasa. Ich weiß, dass ist jetzt alles ein bisschen viel – du bist sicher auch noch müde von der Reise, aber weglaufen bringt uns alle nicht weiter. Das müsstest du doch am besten wissen, hm? Wo ist dein Kampfgeist geblieben?“

Tsubasa reagierte nicht sofort. „Warum bleibst du für ihn zuhause?“, meinte er dann dumpf, ohne aufzublicken oder auf seinen Vater einzugehen. „Warum bleibst du für ihn zuhause und für mich nicht? Es war immer okay dass du nicht da warst, ich habe dich nur ein einziges Mal gefragt, warum du immer unterwegs bist, und danach nie wieder......ich bin klar gekommen alleine mit Mama. Aber warum bleibst du jetzt plötzlich einfach so zuhause?!“

„Ich bleibe nicht nur für Daichi zuhause, sondern auch deinetwegen.“

„Toll. Die Ausrede klingt super, funktioniert nur leider nicht. Als ich zuhause war, war ich die Mühe nicht wert, und jetzt wo ich so gut wie weg bin, bleibst du plötzlich meinetwegen da? Das macht es nicht wirklich besser.“; antwortete Tsubasa bitter, und sein Vater lächelte traurig.

„Ich weiß, das klingt seltsam, aber es ist trotzdem so. Glaub mir, ich habe im Laufe der Jahre ständig überlegt, ob ich nicht besser in den Innendienst gehen sollte, aber ich habe mich nie dazu durchringen können. Als dann die Sache mit Kenji passiert ist....der Anruf von der Polizei....sie haben uns zwar gesagt, dass es dir den Umständen entsprechend gut geht, aber wir hatten keine ruhige Minute mehr bis wir wieder zurück waren. Ich hatte nur einen einzigen Gedanken: dass das möglicherweise nicht passiert wäre, wenn ich nicht schon wieder im Ausland gewesen wäre und du nicht allein im Haus gewesen wärst. Danach habe ich immer stärker darüber nachgedacht, den Kapitänsdienst zu quittieren, und als Daichi dann kam....“ Herr Ozora stockte. „Ich will denselben Fehler nicht noch mal machen, und ich weiß, dass du denkst, dass mir dein Bruder wichtiger ist als du, aber das stimmt nicht. Wirklich ausschlaggebend war der Gedanke, dass ich dich im Prinzip gar nicht mehr zu Gesicht bekomme, wenn du auch mehr oder weniger im Ausland bleibst. Wie groß wäre die Wahrscheinlichkeit gewesen, dass wir beide in Nankatsu sind?“

Tsubasa schwieg, und sein Vater seufzte.

„Ich erwarte nicht, dass du das sofort verstehst, aber denk wenigstens eine Weile drüber nach. Wenn du danach immer noch sauer auf mich bist, in Ordnung – aber bis dahin komm wieder mit nach Hause. Dann gewöhnst du dich bestimmt auch schnell an Daichi. Du musst ihn nur ein bisschen besser kennen lernen.....“

„Und was, wenn ich ihn nicht kennen lernen will?“

Sein Vater lächelte leicht. „Dafür kenne ich dich zu gut.“ Er drückte ihn leicht an sich. „Wir beide sind gar nicht so verschieden. Also, kommst du mit nach Hause?“

Tsubasa antwortete nicht sofort, dann seufzte er schließlich. „Aber bitte keine Überraschungen mehr.“

Herr Ozora musste lachen. „Nein, keine Überraschungen mehr. Versprochen!“
 

***
 

Es klopfte leise, dann wurde die Tür geöffnete. Frau Ozora linste in den Raum, Daichi auf dem Arm. Die Vorhänge waren zugezogen, es herrschte Dämmerlicht. Tsubasa lag noch im Bett, tief unter der Bettdecke vergraben. Seine Mutter lächelte leicht und betrat das Zimmer ganz.

„Tsubasa?“ Sie berührte ihn mit der freien Hand an der Schulter, und Tsubasa zuckte leicht zusammen.

„Mhm?“

„Schläfst du noch?“

„Mhm.“

„Dein Vater und ich müssen in die Stadt, ein paar Sachen erledigen. Kannst du ein paar Stunden auf Daichi aufpassen?“

„Mhm.“

Frau Ozora lächelte. „Gut. Es wird nicht allzu lange dauern, denke ich, und wenn er Hunger bekommt hab ich schon was zu essen vorbereitet, dass musst du nur warm machen.Bis nachher!“ Sie setzte Daichi auf den Boden vor das Bett und blickte sich ein letztes Mal im Zimmer um, um sicher zu gehen, dass keine potentiell gefährlichen Dinge in Kindeshöhe lagen. Dann verließ sie den Raum wieder und schloss die Tür hinter sich. Ihr Mann erwartete sie bereits vor der Haustür.

„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“

Frau Ozora lächelte. „Ja, ganz sicher. Gehen wir?“

„Wie du meinst....“

Als sie das Haus verlassen hatten, wurde es wieder still. Daichi blickte sich mit großen Augen in dem Zimmer um und nuckelte an seinem Schnuller. Nach ein paar Sekunden sah er zum Bett auf. Tsubasa rührte sich immer noch nicht. Daichi packte die Bettkante und zog sich daran auf die Beine. Neugierig blickte er seinen großen Bruder an – und patschte ihm schließlich seine kleine Hand gegen die Nase. Tsubasa fuhr erschrocken im Bett hoch.

„Was zum.....?“ Verwirrt und noch etwas verschlafen blickte er sich um – und entdeckte schließlich Daichi, der sich immer noch am Bettrand festhielt und ihn anstrahlte.

„Basa!!“

„Na toll.....was machst du denn hier?!“

Natürlich kam keine Antwot. Daichi musterte ihn weiterhin mit offener Neugier, eifrig an seinem Schnuller nuckelnd. Tsubasa seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Augen, bevor er einen Blick auf die Uhr warf. Halb elf – so spät schon. Na ja, kein Wunder – der gestrige Tag war alles andere als leicht gewesen. Und genau genommen hatte er ja auch Urlaub. Ein dumpfes Plumpsen lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen kleinen Bruder, der mittlerweile eine Erkundungstour durch das Zimmer begonnen und versucht hatte, Tsubasas Rucksack unter dem Schreibtisch hervor zu ziehen. Das Ergebnis war, dass er jetzt auf dem Boden saß, den Träger nach wie vor in der Hand, und anscheinend nicht so recht wußte, was passiert war.

„Wehe, du fängst jetzt an zu weinen.“ Tsubasa schlug die Bettdecke zurück und stand auf. „Selber schuld, wenn du meine Sachen nicht in Ruhe lässt. Wie kommst du überhaupt hier rein?“

Wieder keine Antwort. Daichi blickte ihn mit Kulleraugen an. Tsubasa seufzte. Was tat er hier eigentlich? Dass es zwecklos war, einem Zweijährigen solche Fragen zu stellen, lag ja auf der Hand. Wie kam sein Bruder überhaupt hier ins Zimmer? Und warum war es im restlichen Haus so ruhig?

„Komm schon, raus hier. Wir sorgen dafür dass Mama sich wieder um dich kümmert.“

Er öffnete die Tür, und Daichi rappelte sich in der Tat auf und wuselte an ihm vorbei – erstaunlich schnell für sein Alter. Als er jedoch in genau demselben Tempo Richtung Treppe wackelte, wurde Tsubasa doch etwas mulmig zumute.

„Halt!“

Er erwischte Daichi gerade noch vor der ersten Treppenstufe und faßte ihn widerwillig unter den Armen. Der Kleine wog weniger als erwartet, und es schien ihm zu gefallen. Er kicherte, und als er am unteren Ende der Treppe wieder auf den Boden gesetzt wurde, streckte er bettelnd die Hände nach seinem großen Bruder aus.

„Vergiß es, du hast selber Beine. Komm jetzt.“

Er ging voraus Richtung Küche, und Daichi folgte ihm.Das Haus war immer noch still. Tsubasa bekam langsam ein ungutes Gefühl. Eine Erinnerung blitzte in seinem Kopf auf – war seine Mutter in seinem Zimmer gewesen und hatte irgendetwas von Babysitten gesagt? Er hatte das eigentlich für einen Traum gehalten, aber jetzt......

„Mama? Hallo? Jemand zuhause?“

Offensichtlich nicht. Also kein Traum.....Albtraum wohl eher. Was sollte er jetzt den ganzen Vormittag mit dem Kleinen anfangen? Er hatte absolut keine Ahnung von Kindern.....

„Hey!!!“

Daichi hatte sich mit einem freudigen Quietschen in der Tischdecke festgekrallt und verlor gerade das Gleichgewicht, als Tsubasa ihn packte und wegriss – just in dem Moment, als die Vase, die auf dem Tisch gestanden hatte, mitsamt der Decke auf dem Fußboden aufschlug, wo Daichi gerade eben noch gewesen war.Die Vase zerschlug in tausend Scherben, und der Kleine begann zu weinen.

„Na toll......“ Tsubasa seufzte. Was jetzt? Den ganzen Vormittag mit einer Heulboje zu verbringen, war keine rosige Aussicht – und Daichi stellte gerade eindrucksvoll unter Beweis, dass er die Lautstärke von gestern abend locker überbieten konnte. Nach kurzem Zögern trug er den Kleinen kurzerhand in das ehemalige Gästezimmer und setzte ihn in das Gitterbett. Dann beeilte er sich, nach oben in sein Zimmer zu kommen, wo immer noch das Handy auf dem Schreibtisch lag. Die Nummer war schnell gewählt.

„Sanae? Hast du Zeit? Ich glaube, ich könnte hier Hilfe gebrauchen.....“

Annäherung

Sanae brauchte fast eine Stunde. Eine Stunde, die für Tsubasa zur nervlichen Zerreißprobe wurde, denn sein kleiner Bruder dachte gar nicht daran, mit dem Weinen wieder aufzuhören. Als Sanae endlich klingelte, wünschte er sich schon fast, in Brasilien geblieben zu sein.

„Wo warst du denn so lange?“

„Keine Panik.“ Sanae schob sich an ihm vorbei. „Ich hab auf dem Weg hierher nur noch eine Kleinigkeit besorgt.“

„Du warst noch EINKAUFEN?“

Sanae verkniff sich ein Lächeln. „Wo ist der Kleine denn?“

„Gästezimmer. Immer dem Lärm nach.“

„Kommst du nicht mit?“

„Keine zehn Pferde kriegen mich wieder da rein! Meine Ohren sind schon genug strapaziert....“

Sanae rollte nur mit den Augen, dann ging sie beherzt Richtung Kinderzimmer, ihre Handtasche unter dem Arm. Als sie die Tür öffnete, wurde Daichis bisher gedämpftes Gebrüll um einiges lauter – und verstummte wenige Sekunden später. Tsubasa traute seinen Ohren kaum. Als es weiterhin ruhig blieb, näherte er sich dem Raum mit gebotener Vorsicht. Sanae lächelte ihn triumphierend an. Sie hatte Daichi auf dem Arm, der mit leuchtenden Augen mit einem kleinen Knautsch-Fußball spielte. Keine Spur mehr von Quengeln, Brüllen und Weinen.

„Wie hast du das denn gemacht?“, wollte Tsubasa verdattert wissen.

„Was meinst du, was ich eingekauft habe?“ Sanae deutete mit dem Kopf auf dem Knautsch-Ball.

„Und woher wusstest du....?“

„Ich wusste gar nichts. Ich habe mir nur überlegt, wie man dich als Kind in so einer Situation am besten ruhig bekommen hätte.“

Tsubasa starrte sie jetzt so entgeistert an, dass Sanae lachen musste.

„Jetzt schau nicht so! Ist die Vorstellung so abwegig?“

„Nein, dass ist es ja gerade.....“

Sanae kicherte. „Tja, anscheinend seid ihr beide euch doch ähnlicher, als du denkst.“ Sie blickte zwischen Tsubasa und Daichi hin und her. „Optisch auf alle Fälle.“

„Wie bitte?!“

„Stimmt doch. Dieselben Augen und dieselbe Nase, eindeutig.“

Tsubasa gewann nur mit Mühe seine Fassung wieder. „Hör auf damit....“

Sanae schmunzelte und setzte Daichi auf den Fußboden, der sich nicht darum kümmerte und weiter mit seinem neuen Spielzeug spielte.

„Also, ich weiß nicht wie’s dir geht, aber ich hab Hunger – und wie ich dich kenne, hast du bei dem ganzen Streß hier auch noch nichts gefrühstückt. Ich mach uns was zu essen, ja?“ Sie gab ihm im Vorbei gehen einen Kuss und war im nächsten Moment in der Küche verschwunden. Tsubasa sah ihr immer noch perplex hinterher und zuckte zusammen, als etwas seinen Fuß berührte. Der Knautsch-Ball. Daichi hatte die Kontrolle darüber verloren und blickte jetzt erst mit großen Augen auf das Spielzeug und dann zu seinem großen Bruder. Tsubasa zögerte, dann gab er dem Ball schließlich einen kleinen Stups, so dass er zu Daichi zurück kullerte. Der Kleine quietschte begeistert und stürzte sich sofort darauf, mit dem Ergebnis, dass der Fußball unter seinen Händen wegrutschte und durch das Zimmer hüpfte. Daichi machte so ein verdutztes Gesicht, dass Tsubasa wider Willen lachen musste.

„So funktioniert das nicht.“, meinte er mit einem leichten Grinsen und ging in die Hocke. „Das musst du noch üben. Aber in deinem Alter habe ich mich wahrscheinlich auch nicht wesentlich geschickter angestellt.“

Daichi blickte ihn mit großen Augen an, dann machte er sich daran, den Ball zu verfolgen. Hartnäckig war er jedenfalls...... Es dauerte mehrere Minuten, bis er es geschafft hatte, den Fußball wieder mit seinen Händen zu greifen. Zufrieden ließ er sich damit auf den Hintern fallen und strahlte seinen Bruder stolz an.

„Na ja.“ Tsubasa verkniff sich ein Lachen. „Handspiel, aber ansonsten ganz in Ordnung.“ Er richtete sich wieder auf. Ob er es riskieren konnte, Daichi hier alleine sitzen zu lassen? Eigentlich würde er lieber in die Küche zu Sanae, aber nach dem Desaster heute morgen....? Daichi nahm ihm die Entscheidung ab. Er rappelte sich auf, ließ den Ball achtlos liegen, bevor er zu Tsubasa hinüber wackelte und sich an seinem Bein fest klammerte.

„Hey! Was soll das denn werden, wenn’s fertig ist?“

„Basa nicht weg! Basa spielen!“

„Du kannst gut alleine spielen, das hast du gerade gezeigt! Also mach nicht so ein Theater.....“

Daichi zog einen Schmollmund und bekam verdächtig feuchte Augen. Oh oh....alles, nur nicht wieder dieses Gebrüll.

„Okay, okay, schon gut. Hol den Ball und komm mit. Aber du läufst selber, verstanden?“

Daichi hatte anscheinend nur zu gut verstanden. Er begann sofort wieder zu strahlen und wuselte zurück, um den kleinen Ball zu holen. Tsubasa bekam den Verdacht, dass der Kleine es faustdick hinter den Ohren hatte und genau wusste, wie er seinen Willen bekam. Nun ja, jetzt war es nicht mehr zu ändern. Immerhin war Daichi so brav, dass er wirklich ohne weiteres Quengeln vor Tsubasa her in die Küche lief. Sanae war anscheinend gerade damit fertig geworden, etwas zu essen zu machen, sie stellte eine Schüssel Reis auf den Tisch und blickte auf, als die Beiden den Raum betraten.

„Und? Ist er jetzt brav?“, wollte sie lächelnd wissen.

„Mehr oder weniger. Er hat mich erpresst. Aber von deinem Geschenk ist er sehr begeistert.“

„Dachte ich mir.“

„Was? Das er begeistert ist, oder dass er mich erpresst hat?“

„Beides.“

„Hey!“

Sanae kicherte, dann wurde sie ernst. „Du bist mir doch hoffentlich nicht böse, dass ich gestern abgesagt habe, oder?“

Tsubasa schüttelte den Kopf. „Unsinn. Ich habe es vorher schon geahnt....aber du hättest das nicht tun müssen.“ Er wurde abgelenkt, als Daichi ungeduldig an ihm hoch hüpfte um seine Hand fassen zu können.

Sanae musste lachen. „Daichi hat dich auf alle Fälle schon ins Herz geschlossen.“

„Ja, ich merk’s. Ich weiß nur noch nicht so wirklich ob mir das gefällt.“

Daichi begann wieder zu quengeln und hüpfte immer noch ungeduldig auf der Stelle, so dass Tsubasa ihn schließlich mehr oder weniger freiwillig hoch hob und in den Kinderhochstuhl setzte, den Sanae bereits an den Tisch gestellt hatte. Das gefiel dem Kleinen natürlich noch weniger, er begann erneut zu weinen.

„Nicht schon wieder....“

„Nur keine Panik. Hat deine Mutter irgendwas zu essen für ihn vorbereitet?“

„Ja, es müsste im Kühlschrank sein. Glaube ich....“

„Wo sind deine Eltern denn überhaupt?“, wollte Sanae wissen, während sie die Kühlschranktür öffnete.

Tsubasa zuckte mit den Schultern und drückte Daichi wieder den kleinen Knautschball in die Hand, was dieses Mal allerdings nicht viel half. „Keine Ahnung. Ich glaube, in die Stadt irgendwas besorgen.....“

„Haben sie dir nicht Bescheid gesagt?“

„Doch, aber meine Mutter hat sich nicht darum gekümmert, ob ich wach bin oder nicht, als sie mir das alles gesagt hat. Ansonsten hätte ich sicher nicht den Babysitter gespielt....“

Sanae lächelte nur und stellte Daichis Essen in die Mikrowelle. „Holst du schon mal Teller?“

„Du bist sicher dass essen hilft?“

„Uns auf alle Fälle.“

Tsubasa musste lachen. „Das meinte ich nicht.“

„Ich weiß. Vertrau mir, Daichi hat sicher auch Hunger. Es ist schließlich Mittagszeit.“

“Wenn du meinst.....“

Sanae behielt recht. Als sie sich wenige Minuten später mit dem warm gemachten Essen neben Daichi setzte und ihm den ersten gefüllten Löffel hin hielt, schien er noch kurz zu zögern, entschied sich dann aber, das Weinen bis auf ein letztes Schniefen einzustellen und sich statt dessen dem Reis zu widmen. Zum Glück....

„Siehst du.“ Sanae lächelte Tsubasa triumphierend an. „So schwer ist das gar nicht. Willst du ihn füttern?“

„Warum, du machst das doch super.“

Sanae rollte mit den Augen, beließ es aber dabei. „Wann sind deine Eltern wieder zurück?“

„Ich hoffe bald....ich habe keine Lust, den ganzen Tag hier babysitten zu müssen. Ich denke es wird sich auch bald rum sprechen, dass wir wieder da sind, und ich würde die anderen gerne vorher treffen – bevor sie es von irgendwelchen Leuten hören.“

Sanae nickte. „Meinst du, sie trainieren heute Mittag wie immer?“

„Ja, ich denke schon – Ryo hat das in den Briefen zumindest erzählt. Wenn sie Zeit haben, spielen sie immer noch auf dem alten Fußballplatz.“

„Yukari hat mich gestern übrigens noch dahin gefahren.“ Sanae lächelte. „Viel verändert hat sich nicht wirklich.“

„Was sollte sich an einem Fußballplatz schon großartig verändern?“

„Genau das hat Yukari auch gesagt. Aber es war ein komisches Gefühl, die kleinen Kinder zu sehen, die da gespielt haben. Ich glaube, sie waren jünger als ihr damals. Du erinnerst dich noch an das Spiel gegen Genzo, oder?“

„Klar, wie könnte ich das vergessen? Ohne dieses Spiel wäre ich auf der Shutetsu-Schule gelandet.“

„Und einer unserer Erzfeinde geworden.“

„Sozusagen.“ Tsubasa lächelte. „Wobei sich die ganze Fehde ja dann schließlich aufgelöst hat, als die Mannschaften zusammen gelegt worden sind.“

„Zum Glück. Hast du eigentlich wieder mal was von Genzo gehört?“

Tsubasa schüttelte den Kopf. „Nein, und von Taro auch nicht die letzten Monate.“

„Ich würde die beiden gerne wiedersehen.“

„Nicht nur du. Hast du mit Yukari noch was unternommen gestern? Abgesehen von dem Kurzausflug zum Fußballplatz, meine ich......“

„Nichts großartiges, wir sind noch zusammen gesessen bis meine Eltern wieder daheim waren, mehr nicht.“ Sanae wurde ernst. „Tsubasa, noch mal wegen gestern....“

„Ich weiß schon, vergiß es. Ich nehme dir nicht übel dass du abgesagt hast. Natürlich wäre es schön gewesen, wenn du da gewesen wärst, aber ich kann dich verstehen.“

„Wie bist du denn zurecht gekommen?“

„Es ging. Die Situation war eben – ungewohnt. Und ich finde es immer noch nicht lustig, dass sie mir plötzlich aus dem Nichts einen Bruder vor die Nase setzen.....“

„Sie haben es sicher nicht böse gemeint.“

„Nein, das glaube ich auch nicht, aber....“ Tsubasas brach ab, und Sanae musterte ihn aufmerksam, ohne mit dem Füttern aufzuhören.

„Was?“

Tsubasa zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich weiß nicht wie ich das erklären soll. Es ist auf alle Fälle kein besonders tolles Gefühl. Besonders als mein Vater mir eröffnet hat, dass er ab jetzt im Innendienst arbeiten will.“

Sanae blickte ihn ungläubig an. „Wie bitte? Warum?“

„Rate mal.“

Nach ein paar Sekunden richtete Sanae ihren Blick auf Daichi. „Wegen....?“

„Exakt. Er hat mir zwar noch lang und breit erklärt dass es ihm eher darum geht mich noch ab und zu zu Gesicht zu kriegen, aber ausschlaggebend war das sicher nicht.“

Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann stellte Sanae den halb leeren Teller auf dem Tisch ab, ging zu Tsubasa hinüber und nahm ihn ohne ein weiteres Wort in den Arm. Es dauerte nicht lange, bis er die Umarmung erwiderte.

Scherben

Wieder einmal war es Daichi, der sie beide hochschrecken ließ, und wieder einmal beschwerte er sich darüber ,dass die nächste Reis-Ladung so lange auf sich warten ließ. Er quengelte lautstark und setzte gerade dazu an, seinen kleinen Kinderstuhl-Tisch erneut zu einer Trommel zu machen.

„Schon gut.“ Sanae ließ sich – dieses Mal leicht widerstrebend – wieder auf ihrem Platz nieder und fuhr damit fort, ihn zu füttern. Tsubasa beobachtete sie stumm.

„Er hat auf alle Fälle einen gesunden Appetit.“, stellte Sanae schließlich nach mehreren Minuten schweigen fest, in denen sich Daichi zufrieden Löffel um Löffel in den Mund schieben ließ.

„Ja, das sieht man. Hoffentlich wird er nach dem Essen wenigstens müde und schläft.“

„Dazu wird es wohl noch etwas zu früh sein. Aber vielleicht sind deine Eltern ja auch bald wieder da. Ich denke, wenn wir uns noch ein bisschen Zeit nehmen und mit ihm spielen, geht die Zeit sicher schnell vorbei.“

Tsubasa nickte nur und zog es erneut vor, zu schweigen. Unwillkürlich blieb sein Blick auf dem kleinen Knautschfußball hängen, der mittlerweile achtlos auf dem Boden lag. Mit Daichi spielen.....

Endlich hatte sein kleiner Bruder genug. Er verweigerte den nächsten Löffel und blickte sich mit neuer Energie in der Küche um. Schließlich kam, was kommen mußte: Er streckte die Hände nach Tsubasa aus.

„Basa!“

Sanae schmunzelte. „Tja, du wirst wohl nicht drum herum kommen.....“ Sie stellte den fast leeren Teller beiseite.

Tsubasa seufzte, dann faßte er Daichi mehr oder weniger freiwillig unter den Armen und hob ihn hoch. Als er ihn jedoch wieder auf den Boden stellen wollte, begann der Kleine augenblicklich zu schreien, so dass er ihn gezwungermaßen auf dem Arm behielt.

„Und jetzt?“

Sanae lächelte wieder. „Jetzt hast du ihn auf dem Arm.“

„Ja, das sehe ich – aber wie werde ich ihn wieder los?“

„Das solltest du Daichi fragen, nicht mich.“

Tsubasa blickte ratlos auf seinen kleinen Bruder hinab, der sich mittlerweile zufrieden an ihn kuschelte. Seine Chancen sanken rapide. Sanae dachte wohl dasselbe und lächelte immer noch.

„Gegenwehr ist zwecklos, wenn ich mir Daichi so ansehe.“

Tsubasa verkniff sich einen Kommentar, statt dessen setzte er sich und behielt den Kleinen auf dem Schoss. Daichi machte es sich dort sofort bequem und strahlte jetzt bis über beide Ohren. Na ja, wenigstens einer war zufrieden – zwei, wenn man Sanae mitzählte. Wenigstens gab sein Bruder jetzt Ruhe, und sie hatten jetzt selber Zeit zum Essen.

„Willst du die Anderen eigentlich beim Fußballplatz abpassen?“, griff Sanae den früheren Gesprächsfaden wieder auf.

„Ja, ich denke das ist am einfachsten, da dürften fast alle da sein.“

„Ich freu mich schon auf ihre Gesichter.“

„Nicht nur du....“
 

Mit Sanaes Unterstützung wurde das Babysitten um einiges einfacher, als Tsubasa es sich vorgestellt hatte. Daichi beschäftigte sich die meiste Zeit auf dem Wohnzimmerboden mit seinem neuen Knautschfußball und war anscheinend rundum zufrieden, solange Tsubasa in der Nähe war. Also konnte er es sich mit Sanae auf dem Sofa gemütlich machen und sich die Zeit mit einem guten Film vertreiben. Gegen zwei schlief Daichi schließlich auf dem Fußboden ein, und zu Tsubasas Erleichterung übernahm es Sanae, den Kleinen in sein Bett zu bringen. Er folgte in sicherem Abstand. Gerade, als sie wieder zurück kamen, wurde die Haustür aufgeschlossen. Seine Eltern kamen nach Hause. Beide waren mit Einkaufstüten bepackt und zumindest seine Mutter wirkte gut gelaunt.

„So, da sind wir wieder. Oh, hallo Sanae! Schön dich zu sehen, wie geht’s dir?“

„Gut, danke.“

„Bist du gut zurecht gekommen?, wandte sich Herr Ozora indessen an seinen Sohn. „Wo ist Daichi?“

„Er schläft. Und ja, ich bin gut zurecht gekommen, dank Sanae. Aber wenn ich das nächste Mal babysitten soll – was hoffentlich nicht so bald sein wird – wäre ich euch dankbar, wenn ihr mir das sagen könnt, wenn ich wach bin!“

„Versprochen.“, versicherte seine Mutter lächelnd und ging an ihm vorbei, um nach ihrem Jüngsten zu sehen.

„Habt ihr schon was gegessen?“ Herr Ozora lud die Einkaufstüten auf dem Küchentisch ab.

„Ja, aber nicht allzu viel.“

„Wir haben Kuchen mitgebracht.“, mischte sich seine Frau ein, die gerade aus dem Kinderzimmer zurück kam. „Wenn ihr wollt, können wir uns noch gemütlich zusammen setzen.“

„Na ja....“ Tsubasa blickte Sanae zögernd an. „Eigentlich wollten wir bald los Richtung Fußballplatz....“

„Da ist noch niemand, wir sind gerade dran vorbei gefahren. Es ist auch noch etwas früh, ich glaube die meisten kommen erst so gegen drei.“

Sanae lächelte. „Dann hätte ich persönlich nichts gegen ein Stück Kuchen.“

Frau Ozora begann zu strahlen. „Wunderbar! Dann decke ich mal den Tisch im Wohnzimmer.“ Und schon war sie verschwunden.

„Ich schau mal, ob ich helfen kann.“ Sanae gab Tsubasa einen flüchtigen Kuss, bevor sie sich ebenfalls auf den Weg machte.

„Wann bist du heute abend zurück?“, wandte sich Herr Ozora an seinen Sohn.

Tsubasa zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Warum?“

„Würde es dir etwas ausmachen, so um sieben hier zu sein?“

„Um sieben?“ Tsubasa runzelte verwundert die Stirn. „Wieso das denn?“

„Das wirst du dann schon sehen.“

Jetzt wurde Tsubasa misstrauisch. „Hey, du erinnerst dich doch noch an die Abmachung von gestern, oder? Keine Überraschungen mehr!“

Sein Vater musste lachen. „Keine Sorge, die hier wird dir gefallen. Also um sieben?“

Tsubasa seufzte ergeben. „Meinetwegen.....ich versuch's. Aber wehe, ihr setzt mir noch mehr Kleinkinder vor die Nase.“

„Da kannst du völlig unbesorgt sein.“

In diesem Moment klirrte es, und seine Mutter quietschte erschrocken auf. „Oh, verdammt! So was dummes aber auch.....“

Tsubasa und Herr Ozora tauschten einen erschrockenen Blick, dann liefen sie ins Wohnzimmer hinüber. Dort erwartete sie ein beinahe komisches Bild: seine Mutter kniete gemeinsam mit Sanae auf dem Boden, und beide waren damit beschäftigt, die Scherben der Kaffeekanne aufzulesen.

„Was ist denn hier passiert?“

„Nichts besonderes.“ Frau Ozora seufzte. „Mir ist die Kanne abgerutscht – zum Glück war sie noch leer. Wir müssen nur aufpassen, dass wir alle Scherben erwischen – nachher krabbelt Daichi wieder hier rum. Tsubasa, könntest du kurz den Handsauger holen?“

„Ja, klar.“

Tsubasa wandte sich um und ging in die Küche zurück, während sein Vater beim Aufsammeln der Scherben half. Das ging ja auch wieder gut los – aber wenigstens war Daichi nicht wach geworden von dem Lärm. Er öffnete den Schrank – und stutzte. Hier war der Handsauger früher immer gewesen, aber anscheinend hatte seine Mutter umgeräumt. Etwas ratlos blickte er sich um, dann öffnete er schließlich eine Schranktür nach der anderen, ohne Erfolg. Kein Handsauger. Als ihm bewußt wurde, was jetzt als einziges noch übrig blieb, erstarrte er leicht. Langsam wandte er sich um, und sein Blick blieb an der Kelletür hängen. Seit er direkt nach seiner Entlassnung aus dem Krankenhaus noch einmal von Kenji hier im Haus überrascht und eingesperrt worden war, war er nicht mehr da unten gewesen.

„Tsubasa? Wo bleibst du denn?“

Sein Vater betrat die Küche. Als er den Gesichtsausdruck seines Sohnes sah und bemerkte, worauf sein Blick gerichtet war, verschloss sich seine Miene ebenfalls. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie kurz.

„Entschuldige.“

Ohne ein weiteres Wort ging er an Tsubasa vorbei, öffnete die Kellertür und stieg die Treppe nach unten. Tsubasas Hände ballten sich zu Fäusten, dann wandte er sich um. Sanae und seine Mutter hatten gerade die letzten großen Scherben aufgesammelt.

„Papa holt den Handsauger.“

Etwas am Klang seiner Stimme ließ Sanae aufblicken, und auf Frau Ozora hob den Kopf. In dem Moment, als sie ihn ansah, schien ihr bewußt zu werden, um was sie Tsubasa gebeten hatte, und ihre Miene wurde schuldbewußt. Aber sie sagte nichts, und dafür war er ihr dankbar. Stumm hob sie die Scherben auf und trug sie in den Müll. Auch Sanae erhob sich.

„Alles in Ordnung?“, wollte sie gedämpft wissen, damit seine Eltern nichts mitbekamen.

„Ja.“

Mehr sagte Tsubasa nicht, und auch als Herr und Frau Ozora wieder aus der Küche zurück kamen und sie kurze Zeit später gemeinsam am Wohnzimmertisch saßen, wurde das Thema nicht mehr angesprochen. Keiner von ihnen bemerkte den Schatten, der am Fenster vorbei huschte.

Eigentor

Als sie eine Stunde später auf dem Weg zum Fußballplatz waren, gelang es Tsubasa, den Anblick der Kellertür fast wieder zu vergessen, auch wenn sie noch als blasses Abbild in seinem Kopf herum spukte. Die Sonne schien, es war angenehm warm, und erst in diesem Moment fühlte er sich zum ersten Mal seit gestern abend wieder richtig zuhause. Sogar die Luft roch danach.

„Und?“, riss ihn Sanaes Stimme aus seinen Gedanken, während sie seine Hand fasste. „Hab ich zuviel versprochen? Alles beim Alten.“

„Ja, das kann man wohl sagen. Tut gut, wieder hier zu sein.“

Sanae blickte ihn aus den Augenwinkeln an. „Weißt du eigentlich schon, wie lange du bleiben willst? Urlaub hast du ja ziemlich lange.“

„Nein, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Wir sind ja gerade erst angekommen, und....“ Er brach ab.

Sanae grinste. „Und jetzt ist Daichi da, richtig? Wußte ich doch, dass du den Kleinen schon ins Herz geschlossen hast.“

„Davon habe ich kein Wort gesagt!“

„Aber du hast es gedacht!“

„Habe ich nicht!“

„Oh doch!“

„Sanae, lass das!“

„Schon gut.“ Sanae blickte unschuldig in eine andere Richtung, und ein paar Sekunden herrschte Schweigen.

„Na ja, er kann schließlich nichts für die ganze Sache....“, musste Tsubasa dann schließlich zugeben. „Aber das heißt nicht, dass ihn ins Herz geschlossen habe!“

„Schon klar. Aber ich denke, du glaubst, dass er eine Chance verdient, oder?“

Tsubasa schwieg, und für Sanae war das Antwort genug. Sie schmunzelte und schwieg ebenfalls.

Als sie den Fußballplatz erreichten, war nach wie vor niemand da. Das Feld lag still und verlassen vor ihnen.

„Die Anderen lassen sich Zeit.“, stellte Sanae fest. „Hoffentlich spielen sie hier wirklich noch – gegen Abend scheinen ja immer Kinder da zu sein.“

„Warten wir einfach eine Weile, wir werden sie schon finden.“

Tsubasa ließ ihre Hand los und ging den kleinen Hügel hinunter auf den Rasen. Hier hatte sich wirklich absolut nichts verändert – nicht mal die Tore waren neu gestrichen worden. Hier hatte alles angefangen. Er strich mit der Hand über den Torpfosten. Kaum zu glauben, dass die Begegnung mit seinen Freunden schon so lange her war – wie lange eigentlich? Acht Jahre? Neun? Seitdem hatte sich so viel geändert..... Wieder flackerte das Bild der Kellertür in seinem Kopf auf, aber er verdrängte es schnell wieder. Und just in diesem Moment ertönte ein überraschter Schrei.

„Das gibt’s nicht!!!“

Diese Stimme kannte er ganz genau. Als er sich umwandte, sah er gerade noch, wie Ryo Sanae oben auf dem Radweg so stürmisch umarmte, dass sie beinahe umgeworfen wurde.

„Das gibt’s nicht, das gibt’s nicht, das gibt’s nicht!!! Was machst du hier?! Heißt das.....?“ Er brach ab und blickte sich um. In der nächsten Sekunde ließ er Sanae los, die immer noch leicht nach Luft schnappte, und rannte den Hügel hinunter.

„Tsubasa.....uah!!!“

Tsubasa hatte gerade noch Zeit, zur Seite auszuweichen, dann sauste Ryo von seinem eigenen Schwung ungebremst an ihm vorbei und landete im Netz.

„Aua!!“

Tsubasa musste sich schwer zusammenreißen, um nicht zu lachen, während Ryo schimpfend versuchte, sich aus dem Tornetz zu entwirren.

„So... ein....verdammter.....doofes Tor!!“

„Du hast dich nicht wirklich verändert.“, meinte Tsubasa grinsend und packte Ryo am Arm. „Komm, ich helf dir.“

„Danke.“

Als Ryo wieder auf den Beinen stand, atmete er erst mal tief durch, dann strahlte er Tsubasa an und machte Anstalten, ihn genauso stürmisch zu umarmen wie Sanae einige Minuten zuvor. Der hatte jedoch noch genau im Kopf, wie sehr Sanae nach Luft geschnappt hatte, und hob abwehrend die Hände.

„Stop! Lass mich bitte leben, okay?“, meinte er nach wie vor grinsend.

Ryo ließ tatsächlich von seinem Plan ab, strahlte jedoch nach wie vor bis über beide Ohren. „Was machst du hier?! Wir dachten, du kommst erst nächste Woche!!! Warum hast du nichts gesagt?!“

„Weil wir euch überraschen wollten.“

„Das ist euch gelungen!! Wahnsinn, dass ihr schon hier seid, ich glaub's gar nicht.... Die anderen werden Augen machen!!“

„Apropos, wo sind sie eigentlich? Trainieren sie nicht mehr hier?“

„Doch, aber heute nicht.“ Ryo grinste. „Gut, dass ihr mich getroffen habt! Wir haben heute nämlich ein Freundschaftsspiel – genau genommen bist du genau richtig angekommen!“

„Ein Freundschaftsspiel?“ Tsubasa blinzelte verdutzt. „Gegen wen?“

Ryo grinste noch breiter. „Rate mal. Komm mit, die Anderen warten sicher schon, ich bin schon spät dran!“

„Wie immer.“

„Ha ha.“ Ryo schritt hoch erhobenen Hauptes voran, und Tsubasa musste sich erneut das Lachen verkneifen. Hier hatte sich wirklich nichts verändert.

Auch Sanae, die alles vom Radweg aus beobachtet hatte, grinste ebenfalls bis über beide Ohren. „Ich glaube, du hast dem Begriff „Eigentor“ gerade eine ganz neue Bedeutung gegeben, Ryo.“

„Na toll.“ Ryo verzog in gespielter Entrüstung das Gesicht. „Immer auf mich! Du hast dich auch nicht verändert!“

„Tut mir leid, aber wenn du es herausforderst.....“

Ryo blickte hilfesuchend zu Tsubasa hinüber, aber der zuckte nur lächelnd mit den Schultern.

„Wo sie recht hat, hat sie recht....“

„Verräter!“

„Hattest du eigentlich nicht gesagt, dass du zu spät kommst?“

„Ja ja, schon gut.“

Ryo seufzte theatralisch und ging voraus.
 

Der Fußballplatz, auf den Ryo sie jetzt führte, lag außerhalb Nankatsus. Tsubasa kannte ihn nicht, anscheinend war er in den letzten fünf Jahren neu angelegt worden.

„Der ist für alle Mannschaften in der Gegend gemeinsam.“, erklärte Ryo auf dem Weg, als hätte er Tsubasas Gedanken erraten. „Wer spielen will, muss offiziell einen Antrag stellen, aber das haben wir dieses Mal nicht, um die Tageszeit ist eh kein Schwein da.“

„Dann wird er wahrscheinlich nichts fürs Training genutzt, oder?“

„Nein, nicht wirklich, dazu ist der ganze Bürokram viel zu umständlich. Ich meine, der Platz ist toll, aber...na ja, ich glaube der alte hat für uns mehr Erinnerungswert. Und es ist eben viel unkomplizierter. Meistens geht ne halbe Stunde vor dem Training ein Rundruf rum, und wer Zeit hat, kommt. Und die anderen Mannschaften halten es in ihren Dörfern genauso, die suchen sich auch irgendeinen anderen Platz bei sich zuhause. Aber für Freundschaftsspiele ist es perfekt.“

„Und warum hat man das Feld ausgerechnet hier bei uns in der Nähe angelegt?“, mischte sich Sanae ein. „Das ist für die anderen doch ziemlich umständlich.“

Ryo schmunzelte. „Kannst du dir nicht denken, wem wir das zu verdanken haben?“

Er schlug Tsubasa auf die Schulter, und der blickte ihn ungläubig an.

„Was hab ich denn damit zu tun?“

„Du bist der erste von unserer Altersklasse, der es ins Ausland geschafft hat – na ja, Genzo abgesehen, aber ich glaube, er ist schon zu lange weg, und ja auch quasi mit seinem Trainer umgezogen. Bei dir war das was anderes, du hast die brasilianischen Trainer ja schon von Japan aus überzeugt. Tja, und da ist Nankatsu natürlich stolz drauf und schlachtet das aus. Ergebnis: ein nagelneues Fußballfeld. Na ja, ganz so nagelneu nicht mehr, ich glaube drei Jahre gibt’s das jetzt auch schon. Aber wie gesagt, am liebsten sind wir immer noch auf dem alten Platz. Da hängen einfach zu viele Erinnerungen dran.“

„Auf dem Schulplatz spielt ihr nicht mehr?“

„Nein, außer die jetzige Mannschaft bittet uns um Trainingsunterstützung, das kommt aber auch nicht oft vor. Und was ist mit dir? Wie läufts in Brasilien? Wie lange kannst du bleiben?“

Diese Fragen würden wohl leider noch oft gestellt werden – besser, Tsubasa gewöhnte sich jetzt gleich daran.

„Es läuft ganz gut. Im Moment gibt es Diskussionen, dass ich in die Stammmannschaft aufgenommen werden soll, Roberto verhandelt da gerade mit den entsprechenden Leuten.“

„Wow, klasse!! War aber auch nur ne Frage der Zeit.“, meinte Ryo zufrieden. „Alles andere hätte uns da ziemlich schockiert! Dann kannst du wahrscheinlich auch nicht allzu lange bleiben, oder?“

„Doch, Roberto hat mich für die nächsten zwei Monate von allen Spielen frei gestellt. Ein paar Wochen bin ich sicher da, aber wie lange genau, weiß ich noch nicht.“

„Er kann dich wirklich so lange entbehren? Hätte ich nicht gedacht.“

Tsubasa musste lächeln. „Na ja, es ist immerhin mein erster Urlaub seit fünf Jahren. Und noch bin ich kein Stammspieler.“

„Stimmt auch wieder. Und umso besser für uns.“ Ryo grinste. „Dann können wir endlich wieder ausgiebig zusammen spielen. Ich bin gespannt, wie gut du geworden bist! Aber ich sags dir gleich, wir haben auch nicht gefaulenzt in der letzten Zeit.“

„Was anders hätte ich auch nicht erwartet.“

„Wie weit ist es noch?“, wollte Sanae wissen.

„Nicht mehr weit, wir habens fast. Normalerweise nehmen wir die Fahrräder oder bilden Fahrgemeinschaften, aber ich....“

„....war zu spät dran.“, vollendete Sanae grinsend den Satz, und Ryo blickte hoheitsvoll in die andere Richtung. Tsubasa unterdrückte ein Lachen. Kein Zweifel, er war wirklich wieder zuhause.

Spielstart

Sie konnten die Anderen auf dem Fußballplatz hören, noch bevor sie das Feld erreichten. Tsubasa runzelte leicht die Stirn.

„Gegen wen spielt ihr noch mal?“

Ryo grinste. „Wie gesagt, rate. Aber das eins von vornherein klar ist, du spielst mit. Wir sind heute eh einer zu wenig, weil Kisugi krank ist, da kommst du wie gerufen.“

Noch bevor Tsubasa antworten konnte, kam der Fußballplatz in Sicht. Im Prinzip handelte es sich um ein kleines Stadion. Es gab kleine Tribünen – jetzt im Moment leer -ein kleines Clubhaus, das wohl als Umkleidekabine diente, und Flutlichter. Der Platz sah neu und gepflegt aus, aber im Moment war Tsubasa eher von den Spielern gefesselt, die anscheinend schon begonnen hatten. Sanae lachte.

„War ja eigentlich klar gegen wen, oder?“

Ryo grinste wieder, dann stieß er einen lauten Pfiff aus und winkte. „Hallo! Seht mal, wen ich mitgebracht habe!“

Die Anderen hoben die Köpfe, und in der Sekunde, in denen sie Tsubasa und Sanae erkannten, war das Spiel erst einmal vergessen. Der Ball kullerte herrenlos über das Feld, und Tsubasa und Sanae fanden sich plötzlich von ihren Freunden umringt. Die Spieler von Toho waren nicht ganz so überschwänglich, standen aber mit teils verdutzten, teils lachenden Gesichtern auf dem Platz, zusammen mit den Nankatsu-Teammitgliedern, die Tsubasa nicht so gut kannten und die etwas verloren aussahen. Kojiro verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete alles mit einem breiten Grinsen. Es dauerte nahezu 10 Minuten, bis sich der allgemeine Trubel gelegt hatte und Tsubasa und Sanae die üblichen Fragen mehr schlecht als Recht beantwortet hatten – warum sie nicht Bescheid gegeben hatten, dass sie früher kamen, seit wann sie wieder in Japan waren, wie es in Brasilien lief und und und . Es dauerte wiederum ein paar Minuten, und erst dann schaffte es Tsubasa, den Anderen kalr zu machen, dass er nicht das komplette Leben in Brasilien eben auf die Schnelle zusammenfassen konnte. Ein Teil seiner Freunde wollte das Spiel ausfallen lassen und statt dessen feiern gehen, aber die meisten bestanden statt dessen darauf, dass er sofort mitspielte – was für eine bessere Feier konnte es schon geben? Und so kam es, dass Tsubasa wiederum einige Minuten später nach einem entschuldigenden Blick zu Sanae – die ihm nur lachend zuwinkte und es sich dann auf den Tribünen gemütlich machte – von seinen früheren Teamkameraden auf den Fußballplatz eskortiert wurde. Kojiro hatte sich die ganze Zeit über nicht vom Fleck gerührt und grinste immer noch.

„Das könnte man fast Schicksal nennen, oder?“, meinte er trocken, als Tsubasa seine alte Position im Mittelfeld wieder eingenommen hatte und ihm gegenüber stand.

Tsubasa lächelte. „Ja, sozusagen.“

„Ich hoffe, du warst in Brasilien nicht faul! Sonst würde ich mich langweilen!“

„Keine Sorge.“

Kojiro grinste wieder. „Dachte ich mir.“ Er wandte sich an Izawa. „Nächster Versuch? Oder sollen wir noch warten, falls er doch noch auftaucht?“

Verdattert blickte Tsubasa ebenfalls zu Izawa hinüber. „Wer fehlt denn noch?“

Jetzt war es an Izawa, zu grinsen, aber bevor er antworten konnte, konnte man jemanden rufen hören.

„Entschuldigt die Verspätung.....“

Tsubasa erstarrte leicht. Das konnte unmöglich – oder doch? Er wandte sich um, und tatsächlich: am Rande des Platzes stand – nicht minder perplex und überrascht – Taro Misaki.
 

***
 

„Ich fasse es immer noch nicht. Seit wann bist du wieder hier? Und warum hast ud mir nichts davon gesagt?“

„Seit 2 Monaten ungefähr. Mein Vater hat eine Festanstellung in einem Kunsthandel gefunden. Ich wollte euch am Flughafen überraschen, wenn ihr nächste Woche ankommt, darum habe ich in meinen Briefen nichts erwähnt.“

„Na toll, noch mehr Überraschungen.“ Tsubasa seufzte. „Warum ständig Überraschungen?“

Taro lachte. „Ich kann mir denken, worauf du anspielst. Ich habe Daichi schon öfter mit deiner Mutter gesehen.“

„Wundert mich nicht. Ich glaube, ganz Nankatsu wußte Bescheid, außer Sanae und ich.“

„Hast du dich schon daran gewöhnt?“

„Nein, ich schätze das dauert noch eine Weile.“

Taro nickte. „Dachte ich mir. Mir ging es auch nicht anders, als ich gemerkt habe, dass meine Mutter wieder geheiratet und eine Tochter hat.“

„Und? Hast du dich daran gewöhnt?“

„Ja. Sakura ist mittlerweile 12 und wir verstehen uns sogar ganz gut, wir schreiben uns regelmässig. Jetzt, wo ich wieder in Japan bin, werden wir uns auch ab und zu sehen. Ich habe über sie sogar wieder einen besseren Kontakt zu meiner Mutter bekommen. Nur mit ihrem neuen Mann komme ich nicht so klar, aber das ist nicht weiter schlimm.“

Tsubasa nickte nur und antwortete nicht. Wenigstens Taro schien ihn einigermaßen zu verstehen – im Gegensatz zu seinen Eltern. Die beiden Freunde gingen nebeneinander am Fluss spazieren. Das Freundschaftsspiel war seit gut einer halben Stunde vorbei, und die Versammlung hatte sich wieder aufgelöst – jedoch nicht ohne den festen Vorsatz, am kommenden Wochenende eine große Wiedersehensfeier zu veranstalten, zu der auch die Mitglieder von Toho eingeladen waren. Sanae war mit Yukari verabredet, die Anderen mussten zurück zu ihrem Arbeitsplatz oder wo immer sie auch sonst beschäftigt waren, und so fanden Taro und Tsubasa genügend Zeit, um sich zu unterhalten. Immerhin hatten sie sich über 8 Jahre nicht mehr persönlich gesehen.

„Im Übrigen darfst du dich nicht beschweren.“, griff Taro den vorherigen Gesprächsfaden wieder auf. „Immerhin hast du auch nicht Bescheid gesagt, dass ihr schon früher anreist – von wegen Überraschung.“

„Das ist zumindest die offizielle Version.“

„Also kenne ich dich immer noch gut genug. Beruhigend zu wissen.“ Taro lächelte. „Ich hab den Anderen auch nichts davon erzählt, wann ich ankomme. Zu viel Trubel am Flughafen.“

„Du hast es erfaßt. Das wird dafür nächsten Samstag wohl auf uns zukommen.“

„Ach, es wird sicher ganz lustig. Wahrscheinlich wird es wohl auch wieder ein spontanes Spiel geben. Da fällt mir ein.....“ Taro schmunzelte. „Du bist gar nicht mit dem Fußball unterwegs.“

„Schon lange nicht mehr – das habe ich mir in Brasilien abgewöhnt. Du übrigens auch nicht.“

„Ja, ich weiß – aber das war mehr oder weniger ein Unfall. Ich hatte mich verspätet und habe ihn daheim vergessen. Ich nehme ihn sonst aber auch nur noch mit, wenn ich zum Training oder zu einem Spiel gehe.“ Taro wurde ernst. „Aber dass du dir das abgewöhnst, hätte ich nicht gedacht. Hängt das mit – dieser Sache - zusammen?“

Tsubasa wußte ganz genau, worauf Taro anspielte. Er hatte die letzten 8 Jahre mit ihm in ständigem Briefkonakt gestanden, und sein Freund wußte, was mit Kenji damals vorgefallen war.

„Auch, aber nicht nur. Ich habe in Brasilien eben auch so schon so viel Fußball gespielt, dass ich nicht das Bedürfnis hatte, in der wenigen Freizeit, die ich habe, auch noch mit Ball rumzulaufen. Anders als in hier, wo die Hälfte des Tages von der Schulzeit aufgebraucht worden ist.“

Taro schmunzelte. „Verstehe. Also nicht mehr die „Der Ball ist mein bester Freund“- Philosophie?“

„Doch, nur in anderer Form. Ich schone ihn jetzt eben mehr, das ist auch eine Art von Freundschaft.“

Jetzt musste Taro lachen. „Stimmt auch wieder.“

„Was hast du jetzt eigentlich vor? Schule zuende machen?“

„Nein, ich habe in Frankreich das Abitur gemacht und eigentlich erstmal genug von Schule. Wenn es klappt, will ich mich hier wieder mehr mit Fußball beschäftigen. Herr Katagiri hat sich schon mit mir in Verbindung gesetzt und gemeint, dass er ein gutes Wort für mich einlegen wird – anscheinend hat er mich auch im Auge behalten, als ich im Ausland war, obwohl ich offiziell in keiner Mannschaft gespielt habe.“

„Willst du in Japan bleiben?“

„Na ja....“ Taro zögerte. „Du versprichst, dass du nicht lachst?“

„Wieso sollte ich?“

„Ich bin am überlegen, mich auch in Brasilien zu bewerben.“

Tsubasa blieb überrascht stehen. „Wie bitte?“

„Hältst du das für abwegig?“

„Nein, ich bin nur überrascht. Ich dachte, ich wäre der einzige, der so verrückt ist und da unbedingt hin wollte.“

„Es war bisher nur ein vager Gedanke, und ein, zwei Jahre würde ich auch gerne noch in Japan bleiben. Aber......“

„Aber?“

Taro wurde leicht verlegen. „Nun ja, ich habe mitterweile meine Gründe.“

Tsubasa musterte ihn aufmerksam. „Hat das was mit Marie zu tun? Zufällig? Ihr seid doch noch zusammen, oder?“

„Äh, ja, sind wir. Und ja, es hat was damit zu tun, mehr oder weniger – sie studiert an der Uni Portugiesisch seit ein par Monaten und will früher oder später in Brasilien weitermachen. Und na ja, das Land bietet für Fußballspieler ja schon große Chancen. Das, was du mir aus den Briefen erzählt hast, hat mich neugierig gemacht. Wer weiß, vielleicht probiere ich es ja mal, ob ich da genommen werde....“

„So wie du vorhin gespielt hast dürftest du damit keine Probleme haben.“

„Meinst du?“ Taro lächelte. „Das wäre schon lustig – das „Goldene Duo“ im Ausland.“ Er streckte sich. „Aber erst mal bleibe ich noch ein bisschen hier und jobbe noch hier und da, irgendwas wird sich noch finden. Es tut richtig gut, wieder in Japan zu sein.“

Tsubasa nickte. „Ja, damit hast du recht.“

Taro blickte ihn von der Seite an. „Ist irgendwas? Du wirkst plötzlich so still.“

„Nein, nichts – zumindest nichts wichtiges.“ Tsubasa blickte auf die Uhr. „Ich fürchte nur, ich muss langsam nach Hause. Meine Eltern wollen mir die nächste Überraschung vor die Nase setzen.“

„Oje.“ Taro lächelte. „Dann wünsche ich dir mal viel Glück. Kommst du morgen auch wieder zum Training?“

„Wahrscheinlich. Ich muss aber erst noch mit Sanae reden, was sie morgen vor hat. Und du?“

„Ich bin auch dabei, habe ja im Moment noch nicht viel zu tun. Bis morgen also?“

„Ja, bis dann!“
 

***
 

Um zehn vor sieben war Tsubasa wieder zuhause und wußte nicht, ob er ein gutes oder ein mulmiges Gefühl haben sollte. Hoffentlich war die Überraschung besser als die letzten beiden. Irgendwie fiel es ihm schwer, sich auf den Abend zu freuen. Er seufzte und schloss die Haustür auf.

Es roch nach Abendessen, seine Mutter werkelte geschäftig in der Küche hin und her, den Geräuschen zu urteilen, und im Wohnzimmer lief der Fernseher. Noch während Tsubasa den Hausschlüssel auf die Kommode legte und seine Schuhe auszog, kam sein Vater auf den Gang. Er lächelte.

„Und, wie war dein Nachmittag?“

„Schön – wir haben Fußball gespielt.“

„Welch große Überraschung.“

Tsubasa musste wider Willen lachen. „Stimmt. Und, was habt ihr jetzt mit mir vor?“

Herr Ozora hob die Augenbrauen. „Höre ich da einen leicht ängstlichen Unterton?“

„Wundert dich das? Wenn wir grad dabei sind, wo ist Daichi? Ich hoffe er bekommt heute abend nicht wieder einen Heulbojen-Anfall.“

„Er ist bei einer Babysitterin.“ Herr Ozora lächelte. „Und da wird er den ganzen Abend bleiben, ich hole ihn gegen halb elf wieder ab.“

„Was?“ Tsubasa blickte ihn verdutzt an. „Warum das?“

„Weil wir heute abend feiern werden.“, mischte sich Frau Ozora ein, die in diesem Moment aus der Küche kam. „Und zwar deinen Geburtstag und dass du wieder da bist. Nur wir drei.“ Sie lächelte ebenfalls. „Gestern hatten wir ja nicht wirklich Gelegenheit dazu.“

Tsubasa blickte seine Eltern sprachlos an.

„Das Essen ist gleich fertig – du kannst dir solange oben noch was frisches anziehen, wenn du willst. Und dann machen wir uns einen schönen Abend.“ Seine Mutter umarmte ihn kurzerhand und wuselte dann in die Küche zurück.

„Und? Hatte ich Recht damit dass dir diese Überraschung besser gefällt?“, meinte Herr Ozora, und Tsubasa musste lachen.

„Ja, hast du. Zufrieden?“

„In der Tat!“

„Ich bin dann noch kurz oben.“

Während sein Vater sich wieder ins Wohnzimmer zurück zog, ging Tsubasa die Treppe nach oben in sein Zimmer. Er fühlte sich im Moment richtig entspannt – im Nachhinein kam es ihm später so vor, als wäre in diesen Minuten eigentlich alles so perfekt gewesen, dass irgendwas negatives einfach noch passieren musste. Er hatte einen schönen Nachmittag mit seinen Freunden verbracht, Taro überraschenderweise wieder gesehen, konnte nachher noch mit Sanae telefonieren, der Abend versprache schön zu werden – bis er seine Zimmertür öffnete. Fassungslos starrte er auf das zerbrochene Fenster und den Stein, der auf seinem Bett gelandet war.

„Was zum....?“

Wie betäubt schloss er die Tür und betrat das Zimmer ganz, bevor er den Stein aufhob. Er war etwa Faust groß und Papier umwickelt. Als er es löste und auseinanderfaltete, konnte er schnell sehen, dass jemand mit krakeligen Buchstaben eine Nachricht darauf geschrieben hatte.
 

Game Start

Geborgenheit

Tsubasa wusste später nicht mehr, wie er den Abend hinter sich gebracht hatte. Er erinnerte sich dumpf daran, den Zettel mitsamt Stein entsorgt und seinen Eltern irgendeine glaubhafte Ausrede für die zerbrochene Scheibe aufgetischt zu haben, die sie wider Erwarten auch annahmen. Sie versprachen, für morgen einen Glaser zu bestellen, sein Vater schnitt ein Stück Pappe zurecht und klebte es darüber. Damit war die Sache für sie erledigt, und Tsubasa brachte den restlichen Abend damit zu, den Vorfall in den hintersten Willen seines Kopfes zu verbannen. Er musste sich so sehr darauf konzentrieren, dass er sich später an die eigentlichen Gespräche mit seinen Eltern nicht erinnern konnte, aber anscheinend war es ihm gelungen, sich normal zu verhalten. Gleichzeitig war am Ende des Abends eine Entscheidung in ihm heran gereift. Er würde die Sache für sich behalten. Kein Wort zu Sanae, zu seinen Freunden oder zu seinen Eltern. Vielleicht war ja wirklich alles nur ein böser Scherz – jemand, der sich über ihn und seine Paranoia lustig machen wollte. Anders konnte man es doch nicht bezeichnen, wenn bei der Botschaft die Erinnerung an einen Zettel an der Türklingel und den widerlichen Geruch eines Rasierwassers in seinem Kopf auf flackerte. Reine Paranoia – oder? Als gegen halb zehn das Handy klingelte und Sanae anrief, um ihm zu sagen, dass ihre Eltern überraschenderweise noch was trinken gegangen waren und zu fragen, ob er nicht vorbei kommen und bei ihr übernachten wollte, kam es ihm so vor, als hätte ihm jemand einen Rettungsring aus dem Gedankenstrudel zugeworfen. Er sagte zu, allerdings mit dem Einwand, dass er erst gegen halb elf vorbei hier weg konnte. Wenn sich seine Eltern schon so viel Mühe gaben mit dem Abend, wollte er nicht einfach so verschwinden. Sein Vater bot ihm an, ihn mitzunehmen, wenn er Daichi abholte, und Tsubasa nickte, obwohl er nichts gegen einen Spaziergang gehabt hätte.
 

***
 

Als er später am Abend schließlich bei Sanae auf dem Bett saß, kam ihm alles schon wie ein böser Albtraum vor. Sie erzählte von ihrem Nachmittag mit Yukari – anscheinend waren die Beiden zunächst Eis-Essen gewesen und hatten das Treffen dann mit einer DVD ausklingen lassen. Es tat unheimlich gut, ihr einfach nur zuzuhören, während sie im Zimmer umher wuselte und anscheinend trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit vor Energie zu platzen schien. Irgendwann wurde ihr jedoch bewusst, dass Tsubasa stiller war als sonst, und blieb stehen.

„Wie war dein Nachmittag? Hast du dich mit Taro gut unterhalten?“

Tsubasa schrak hoch. „Was?“

„Ob du dich mit Taro gut unterhalten hast. Was hat er erzählt? Seit wann ist er wieder in Nankatsu?“, wiederholte Sanae geduldig, während sie ihren Sitzsack in die Nähe des Bettes zerrte und es sich dann darauf gemütlich machte.

„Er ist seit 2 Monaten wieder da und hat aus denselben Gründen nichts gesagt wie wir.“

„Inoffiziell oder offiziell?“

„Beides.“

Sanae kicherte. „Und mit Marie ist alles in Ordnung?“

„Ja, scheint alles bestens zu sein, wobei es jetzt sicherlich schwierig für die Beiden wird – er hier, und sie in Paris.....“

„Sie schaffen es schon. Und was will er jetzt hier machen? Wahrscheinlich hauptsächlich Fußball spielen, oder?“

„Erfasst. Er will sich vielleicht sogar in Brasilien bewerben, weil Marie etwas in der Richtung studiert und wahrscheinlich auch eine Zeit lang dort sein wird.“

Sanae machte große Augen. „Im Ernst? Das wäre ja ein lustiger Zufall. Auch in Sao Paolo?“

„Keine Ahnung, das hat er nicht gesagt. Ein, zwei Jahre will er auf alle Fälle noch hier bleiben. Ich weiß auch nicht, wie offiziell das ist, also behalt es vorerst für dich, ja?“

Sanae legte eine Hand aufs Herz und machte eine wichtige Miene. „Ehrenwort.“ Sie wurde ernst. „Und mit dir ist alles in Ordnung?“

„Sicher, warum?“

„Du bist so still – wie immer, wenn du....“ Sie brach ab, dann redete sie weiter. „Hat es was mit der Kellertür zu tun?“

Tsubasa war fast erleichtert. Wie immer hatte Sanae sofort gespürt, dass etwas nicht stimmte....allerdings ohne den richtigen Grund zu ahnen. Wobei, mehr oder weniger hatte sie ja doch recht..... Er schwieg ein paar Sekunden, dann streckte er die Arme nach ihr aus.

„Komm her.“

Sanae stutzte, dann lächelte sie und kämpfte sich wieder aus dem Sitzsack, bevor sie zu Tsubasa auf das Bett krabbelte. Er legte die Arme um sie, und Sanae schmiegte sich mit einem zufriedenen Seufzen an ihn.

„Auf die Idee hätte ich auch gleich kommen können....“

Tsubasa antwortete nicht, statt dessen küsste er sie leicht in den Nacken und atmete ihren Geruch tief ein .Sanae kicherte.

„Das kitzelt.....“

„Jetzt im Moment ist alles in bester Ordnung.“, meinte Tsubasa leise, ohne sich von ihr zu lösen, und das war nicht einmal gelogen.

Sanae lächelte wieder und lehnte den Kopf gegen seine Schulter. „Dann ist gut.“
 

***

Mitten in der Nacht wurde Tsubasa wach. Er wusste nicht, wieso, aber er spürte es. Sanae neben ihm schlief seelenruhig weiter, zum Glück. Tsubasa richtete sich behutsam auf, um sie nicht zu wecken, und fuhr sich mit dem Ärmel über das schweißnasse Gesicht, bevor er genauso vorsichtig aufstand und zum Fenster ging. Er konnte sich nicht daran erinnern, was er geträumt hatte, konnte es sich aber dem Gefühl nach denken. Eigentlich kein Wunder – erst die Kellertür, dann der Stein. Hoffentlich konnte er in ein paar Minuten weiter schlafen. Wenigstens hatte er sich in den letzten Jahren so an diese Träume gewöhnt, dass sie ihm nicht mehr die ganze Nacht raubten, meistens zumindest. Tsubasa lehnte den Kopf an die kühle Fensterscheibe und blickte nach draußen. Es regnete, ab und zu blitzte es, aber der Donner war nicht zu hören. Anscheinend war das Gewitter weit weg. Gedankenverloren beobachtete er das Schattenmuster, dass die Bäume in der sekundenlangen Helligkeit auf das Straßenpflaster warfen. Dann erstarrte er plötzlich. Da draußen stand eine Gestalt im Regen und blickte direkt zu dem Fenster. Ein paar Sekunden lang rührte sie sich nicht, dann schlenderte sie seelenruhig davon. Tsubasa schloss kurz die Augen.

„Paranoia.“, meinte er leise. „Reine Paranoia – sonst nichts!“

„Tsubasa?“

Er zuckte zusammen und wandte sich um. Sanae war doch wach geworden und richtete sich verschlafen auf.

„Was machst du denn da?“

„Nichts.“ Tsubasa kam zu ihr zurück. „Ich bin nur kurz wach geworden.“

„Hm?“ Sanae rieb sich die Augen. „Wieder so ein Traum?“

„Ich weiß es nicht genau, vielleicht.... wahrscheinlich. Ich kann mich aber schon nicht mehr dran erinnern, ist also halb so wild.“ Er kroch wieder zu ihr unter die Bettdecke.

„Gut.“ Sanae kuschelte sich an ihn und schloss die Augen. „Schlaf weiter, ja?“

„Ja.“ Tsubasa gab ihr einen kurzen Kuss, und Sanae lächelte zufrieden. In der nächsten Sekunde schlief sie bereits wieder tief und fest. Tsubasa lag noch einige Zeit wach, aber schließlich fielen auch ihm wieder die Augen zu, nachdem er den festen Beschluss gefasst hatte, den Stein mitsamt der Gestalt endgültig zu vergessen. Solange Sanae da war, konnte das sogar funktionieren.....

Paranoia

Am nächsten Morgen drang ein leises Klingeln in Tsubasas Bewusstsein. Noch bevor er darüber nachdenken konnte, woher er dieses Klingeln kannte, spürte er einen leichten Druck auf seiner Brust. Als er die Augen öffnete, sah er sich Yoshi gegenüber – Sanaes rotgetigerter Katze – die sich auf seiner Brust zusammen gerollt hatte und ihn aufmerksam beobachtete. Sie maunzte leise, und Tsubasa verkniff sich ein Lachen.

„Guten Morgen. Du kennst mich also noch?“

Er kraulte Yoshi hinter den Ohren,, und sie antwortete mit einem lauten Schnurren. Wie hatte er das nur vergessen können? Immer, wenn er bei Sanae übernachtete, wurde er morgens von Yoshi begrüßt. Er pflückte die Katze von seiner Brust und setzte sie neben sich auf die Bettdecke, bevor er sich aufrichtete. Yoshi schüttelte sich leicht, und das Glöckchen an ihrem Halsband klingelte wieder. Dann begann sie sich ausgiebig zu putzen. Tsubasa schlug die Decke zurück und stand auf. Sanae war anscheinend schon wach und hatte ihn länger schlafen lassen, wahrscheinlich weil sie vermutete, dass er wieder so lange wach gelegen hatte. Auch daran hatte er sich gewöhnt, und oft war er ihr dankbar dafür. Heute wäre es ihm jedoch eigentlich lieber gewesen, wenn sie ihn geweckt hätte, aber wenigstens fühlte er sich jetzt fit und ausgeruht. Nach kurzem Zögern ging er zum Fenster und warf einen kurzen Blick nach draußen. An der Stelle, an der er gestern die Gestalt gesehen hatte, wurde gerade ein roter Opel geparkt, ein paar Fußgänger gingen spaziere. Ansonsten war niemand zu sehen. Tsubasa schüttelte über sich selbst den Kopf, während er seine Sachen vom Stuhl nahm, um sich anzuziehen. Wie er vermutet hatte – reine Paranoia!
 

***
 

Er fand Sanae in der Küche, wo sie eifrig damit beschäftigt war, Frühstück zu machen.

„Oh, guten Morgen! Doch schon wach?“, meinte sie leicht überrascht, als sie ihn bemerkte.

Tsubasa warf unwillkürlich einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach halb zehn.

„Was heißt hier schon? Normalerweise stehe ich früher auf.“

„Normalerweise hast du aber auch ab sieben Fußballtraining.“

„Stimmt.“

Sanae lächelte. „Sag ich doch.“ Sie gab ihm einen Kuss. „Und, wie geht’s dir?“

„Wenn ich „Bestens“ sage, glaubst du mir vermutlich nicht, oder?“

Sanae musterte ihn kurz und prüfend, dann lächelte sie. „Doch, aber nur ausnahmsweise.“ Sie küsste ihn erneut und widmete sich dann wieder dem Frühstückstisch.

„Wie lange bist du schon auf?“, wollte Tsubasa wissen.

„Nicht lange, halbe Stunde vielleicht. Hätte ich dich auch wecken sollen?“

„Passt schon – Yoshi hat dafür gesorgt, dass ich rechtzeitig wach werde.“

Sanae lachte. „Und ich habe noch darüber nachgedacht, ob ich sie aussperren soll.“

„Ich fand es eigentlich ganz schön, dass sie mich noch kennt.“ Tsubasa schmunzelte. „Deine Eltern sind unterwegs?“

„Ja, beide arbeiten.“ Sanae verzog das Gesicht. „Ist eigentlich paradox, oder? Seit meine Mutter auch arbeitet, gehen beide mehr zusammen aus, auch unter der Woche, und sind trotzdem immer fit! Ich finde das unfair! Meine Eltern sind stärkere Nachteulen geworden als ich!“

„Als ob du das vermissen würdest. Du verbringst die Abende doch am liebsten gemütlich zuhause, oder etwa nicht?“

„Ja, schon – aber stell dir vor, wie viele DVDs man anschauen könnte, wenn man so lange wach bleiben könnte...“

Tsubasa musste lachen. „Ich denke, das Problem liegt eher beim aufstehen am nächsten Morgen, oder?“

Sanae gab sich geschlagen und wechselte schnell das Thema. „Was hast du heute vor?“

„Nichts besonderes. Ich denke, heute Mittag zum Fußball, aber ansonsten – keine Ahnung. Und du?“

„Vorhin kam eine SMS von Yukari, sie braucht neue Klamotten.“

„Oha.“

„Was soll das heißen?“

„Nichts – nur dass ich mich heute dann wohl besser von der Innenstadt fernhalte.“

„Und was, wenn ich darauf bestehe, dass du mitkommst?“

„Dann würde ich mich weigern.“

„Und wenn ich dich ganz lieb bitte?“

Tsubasa lachte. „Das passiert nicht! Meiner Meinung nach plant ihr einen typischen Frauentag, da wäre es ja was ganz neues, wenn du mich dabei haben wolltest.“

Sanae grinste. „Stimmt. Glück gehabt.“

„Allerdings.“

„Den zweiten Teil der SMS habe ich dir aber noch nicht verraten.“

„Aha?“

„Sie fragt, ob wir heute abend mit ins Kino wollen. Taro hat schon fest zugesagt, und sie will noch ein paar andere aus der Fußballmannschaft fragen.“

„Welcher Film?“

Als Sanae den Titel nannte, zuckte Tsubasa mit den Schultern. „Sagt mir nichts. Aber wenn du willst, gehen wir mit.“

Sanae strahlte. Super! Dann sage ich ihr gleich zu!”

„Wann wollt ihr euch denn treffen?“

„Gegen elf, wir haben noch Zeit. Die genauen Infos wegen Kino bekomme ich noch, da sage ich dir noch Bescheid.“

„Okay.“
 

***
 

Als Tsubasa später am Vormittag die Haustür aufschloß, empfing ihn Daichis Gekicher aus dem Wohnzimmer. Anscheinend war sein kleiner Bruder bestens gelaunt. Als er in den Raum linste, sah er Daichi auf dem Boden umherkrabbeln, wo er versuchte, den kleinen Knautschfußball zu fangen. Irgendwie kam ihm diese Szene bekannt vor....

„Ah, da bist du ja wieder.“

Tsubasa zuckte unwillkürlich zusammen. Er hatte seinen Vater gar nicht gesehen, der jetzt aus dem Sessel aufstand und die Zeitung zusammenfaltete.

„Und? Wie siehts aus?“

„Gut, denke ich.“

„BASA!“

Daichi hatte seinen großen Bruder entdeckt und rappelte sich auf die Beine, bevor er zu Tsubasa hinüber wuselte und sich an ihm festklammerte.

„Hey!“

Herr Ozora lächelte. „Er hat sich sehr schnell an dich gewöhnt – er hat heute morgen sogar nach dir gefragt.“

„Aha.“

Daichi blickte strahlend zu ihm auf. „Spielen?“

„Jetzt nicht.“

Daichi verzog das Gesicht, und Tsubasa seufzte, bevor er seinen Vater anblickte.

„Dann muss ich mich jetzt auch an so was gewöhnen, oder wie?“

„Sieht danach aus.“ Herr Ozora schmunzelte. „Daichi spielt eben nicht so gerne alleine, das hab ich auch schon gemerkt. Und mal so nebenbei gesagt, du warst auch nicht anders in dem Alter, so lange bis ich dir den Fußball gekauft habe. Ab da hast du dich stundenlang nur damit beschäftigt...“

„Ja ja, die Geschichte kenne ich schon.“ Tsubasa unterdrückte ein erneutes Seufzen und hob Daichi nach kurzem Zögern auf den Arm. „Du bist eine kleine Nervensäge!“

Das kümmerte Daichi nicht wirklich, er strahlte Tsubasa unbekümmert an.

„Und wie sieht dein Tag heute aus?“

„Heute nachmittag Fußball, heute abend Kino – wann und wo, weiß ich aber noch nicht.“

„Deine Mutter ist unterwegs, und ich müsste ein paar Einkäufe erledigen. Willst du mit, oder kann ich Daichi wieder hier bei dir lassen?“

„Du könntest ihn auch mitnehmen, ohne das ich mitgehe, oder?“

„Ja, könnte ich, aber ich dachte vielleicht hast du Lust mitzukommen – um zu sehen, was sich in Nankatsu alles verändert hat, während du weg warst. Und ich denke, ich könnte deine Hilfe gebrauchen – deine Mutter hat eine ziemlich große Liste geschrieben.“

„Aha.“ Tsubasa unterdrückte ein Grinsen. Die Einkaufsgewohnheiten seiner Mutter hatten sich also auch nicht verändert. „Na schön, dann komme ich mit. Ich bring nur kurz meine Sachen nach oben.“

Er gab Daichi seinem Vater auf den Arm, um ein neues Heulbojenkonzert zu vermeiden, und ging dann die Treppe nach oben. In seinem Zimmer warf er zunächst einmal seinen Rucksack aufs Bett, bevor er sich das T-Shirt über den Kopf zog. Als er ein neues aus dem Schrank geholt hatte und es gerade anziehen wollte, fiel sein Blick durch Zufall aus dem Fenster. Die Scheibe war mittlerweile repariert, aber das bemerkte er im Moment nicht. Fassungslos ließ er das T-Shirt fallen und trat näher an das Fenster heran. Da draußen stand ein roter Opel.....

„Tsubasa?“

Er zuckte zusammen und beeilte sich, das T-Shirt aufzuheben und sich überzuziehen, bevor er wieder nach unten lief.

„Komme!“

Sein Vater erwartete ihn bereits, Daichi nach wie vor auf dem Arm.

„Ist alles in Ordnung? Du bist plötzlich so blass.“, wollte er verwundert wissen.

„Alles bestens. Wollen wir?“
 

***
 

Die SMS von Sanae mit den Infos für den Abend kam gegen drei. Der Film fing um halb neun an, um acht wollten sie sich vor dem Kino treffen, und sie würde mit Yukari direkt dorthin kommen. Also machte sich Tsubasa gegen halb acht alleine auf den Weg, nicht ohne noch einmal in seinem Zimmer aus dem Fenster zu sehen. Der rote Opel stand immer noch da. Er wandte sich abrupt um und ging nach unten. Seine Eltern saßen mit Daichi gemeinsam im Wohnzimmer, er döste auf dem Schoß seiner Mutter, eifrig an seinem Schnuller nuckelnd.

„Ich geh dann.“

„Alles klar – viele Grüße an Sanae.“

„Ja, richte ich aus. Bis morgen!“

Er verließ das Haus und zwang sich, nicht noch einmal nach dem roten Opel umzudrehen. Von hier aus konnte er ihn eh nicht sehen.....selbst wenn er noch da war. Möglicherweise war er auch schon längst weg....und eigentlich hatte er absolut keinen Grund, darüber nachzudenken!! Rote Opel gab es wie Sand am Meer....hatte er überhaupt auf das Kennzeichen geachtet? Tsubasa seufzte und verdrängt den Gedanken endgültig in seinen Hinterkopf. Zwanzig Minuten später kam das Kino in Sicht. Die Anderen waren bereits da und schienen auf ihn zu warten. Anscheinend kam doch nur Taro mit.....

„Da bist du ja!“ Sanae winkte. „Wir warten schon ewig!“

„Ewig?“ Tsubasa blickte auf die Uhr. „Ich bin doch noch zehn Minuten zu früh.“

„Mit „Ewig“ meint sie genau 2 Minuten.“, meinte Taro grinsend.

„Verstehe.“

„Wollen wir gleich die Karten kaufen gehen? Danach können wir ja noch was trinken, bis der Film anfängt., schlug Yukari vor.

Dem war nichts entgegen zu setzen, und die Gruppe setzte sich Richtung Eingang in Bewegung. Tsubasa warf unwillkürlich doch noch einen Blick auf die Schulter, bevor er das Gebäude betrat – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein roter Opel in der Nähe in eine Parklücke gelenkt wurde.

„Tsubasa?“ Taro hielt ihm abwarten die Tür auf. „Ist was?“

„Ich – nein, ich dachte nur....ist nicht so wichtig.“

Er betrat das Kino ebenfalls und hoffte, dass er wenigstens über dem Film etwas Ablenkung finden würde – vielleicht hatten sich seine Nerven danach wieder etwas beruhigt und er hörte auf, überall Gespenster zu sehen.

Abend

„So was bescheuertes!“, schimpfte Sanae leise vor sich hin. „Es war eine doofe Idee, in diesen Film zu gehen!“

„Nein, war es nicht, wie oft noch! Es hat mir nichts ausgemacht.“

„Trotzdem hätten wir uns alle mehr drüber informieren müssen!“

„Sanae, zerbrich dir nicht so den Kopf darüber, es ist in Ordnung. Ich kann Film und Realität trennen, mir geht’s gut.“

„Den Eindruck habe ich aber nicht!“ Sanae hakte sich bei ihm unter und schmiegte sich beim Laufen an seinen Arm. „Du bist schon wieder so still, die ganze Zeit!“

Tsubasa schwieg. Die Ablenkungstaktik war ziemlich nach hinten losgegangen. Der Film hatte sich als ein Thriller entpuppt, an für sich noch kein Problem. Aber als der Hauptdarsteller gegen Ende von dem psychopathischen Bösewicht entführt und beinahe umgebracht wurde, war die Sache etwas unangenehm geworden. Tsubasa log Sanae nicht an, er konnte Film und Realität durchaus trennen, und es hatte nicht viele Parallelen zwischen seiner eigenen Erfahrung und dem Leinwand-Geschehen gegeben, aber dennoch hatte er das Kino mit gemischten Gefühlen wieder verlassen – aber eher, weil es ihm nicht gelungen war, dieses paranoide Gefühl zu verdrängen. Und natürlich war das nicht besser geworden, als er gesehen hatte, dass der rote Opel immer noch auf dem Parkplatz stand.

„Tsubasa?“

Sanaes Stimme riß ihn aus seinen Gedanken, und er blickte sie leicht verwirrt an.

„Was?“

„Hast du mir überhaupt zugehört?“ Sanae seufzte. „Ich habe dich gefragt, ob ich bei dir übernachten darf.“

„Da musst du nicht um Erlaubnis fragen, das weißt du doch.“

„Ja, ich dachte nur, mit Daichi, und.... Was hast du denn?“

Ein rotes Auto war an ihnen vorbei gefahren, und Tsubasa hatte sich automatisch halb umgedreht.

„Nichts – ich dachte nur, ich hätte jemanden gesehen....“, meinte er mechanisch und wußte nicht, ob er erleichtert sein sollte, dass der Wagen dieses Mal kein Opel gewesen war. Sanae musterte ihn skeptisch.

„Was ist los mit dir? Du....“ Sanae brach ab und seufzte dann frustriert, beschloss aber, es vorerst auf sich beruhen zu lassen – zumindest, bis sie in Tsubasas Zimmer waren. „Ich muss noch kurz nach Hause und auch meinen Eltern Bescheid sagen, dass ich bei dir bleibe. Kommst du noch mit?“

„Klar.“
 

***
 

Eine knappe Stunde später verschwand Sanae im Haus der Ozoras im Bad, um sich bettfertig zu machen. Tsubasa dagegen stand in seinem Zimmer am Fenster und blickte wieder nach draußen. Der Opel war nicht da..... Er seufzte und wandte sich um. Also doch Paranoia – oder nicht? Das ungute Gefühl wollte auf alle Fälle nicht verschwinden. Es klopfte leise, dann wurde die Tür geöffnet und seine Mutter linste in den Raum. Sie lächelte.

„Ah, habe ich doch richtig gehört, dass du nach Hause gekommen bist. Sanae ist auch da? Ich habe ihre Schuhe gesehen.“

„Ja, sie ist gerade im Bad.“

„Schön.“

Frau Ozora betrat den Raum ganz. In der Hand hielt sie einen Brief, den sie auf den Schreibtisch legte. „Der war heute für dich im Briefkasten.“

„Danke.“

Frau Ozora stutzte. „Was ist denn mit dir los? Alles in Ordnung?“

„Ja, sicher.“

Seine Mutter schwieg, dann kam sie vollends zu ihm hinüber, bevor sie ihn kurzerhand umarmte.

„Du weißt, dass du immer zu uns kommen kannst, wenn es Probleme gibt, oder?“, meinte sie leise. „Daran hat sich nichts geändert.....“

Tsubasa lächelte schwach. „Ja, das weiß ich. Danke. Aber es ist wirklich alles okay.....ich bin glaube ich immer noch müde, das ist alles. Und die letzten Tage ist viel passiert....“

„Ja, da hast du wohl recht.“ Seine Mutter lächelte ebenfalls. „Dann solltest du nicht mehr allzu lange wach bleiben. Schlaf gut.“

„Du auch.“

Frau Ozora lächelte wieder, dann gab sie ihm einen kurzen Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer. Mit einem leisen Klicken fiel die Tür ins Schloss, und Tsubasa war wieder alleine. Sanae duschte anscheinend gerade, man konnte das leise Rauschen des Wassers hören. Tsubasa spürte, dass er allmählich wirklich müde wurde, er fühlte sich richtig ausgelaugt. Kein Wunder, er hatte nahezu den ganzen Tag unter Spannung gestanden und überall nach roten Opeln gesucht..... Hoffentlich konnte er wenigstens schlafen. Zum Glück war Sanae da....vielleicht sollte er nachher doch mit ihr reden, aber er wußte nicht einmal, wie er erklären konnte, was hier passierte. Was war denn eigentlich passiert? Er sah eine komische Gestalt im Regen, die genauso gut ein einfacher Passant sein konnte, er sah dasselbe Automodell mehrmals am Tag.......eigentlich harmlos. Nur der Stein und die kaputte Scheibe – die ließen sich nicht so einfach erklären. Game Start... Tsubasa fröstelte unwillkürlich, und um sich abzulenken, ging er zum Schreibtisch hinüber und hob den Brief auf. Anscheinend war er per Hand eingeworfen worden, er besaß keinen Absender und keinen Poststempel, nur seine Adresse war aufgedruckt worden. Verwundert riß er den Umschlag auf. Als er den Inhalt heraus zog, segelte ein kleines Stück Papier auf den Boden. Tsubasa konzentrierte sich zunächst auf den Rest. Es schien ein Stück aus einer Zeitung zu sein.... Als er erkannte, was er da in der Hand hielt, wurde ihm kalt. Es war ein Zeitungsartikel, der über die Gerichtsverhandlung und die Entführung berichtete, es war sogar ein Foto von Kenji abgedruckt – zwar mit einem Balken über den Augen, aber Tsubasa erkannte ihn trotzdem sofort. Er bückte sich und hob mechanisch das Papier auf, dass auf den Boden gefallen war. Es war dieselbe Schrift wie gestern.....
 

Enjoyed it??

Frühsport

Ein paar Sekunden lang starrte Tsubasa fassungslos auf die beiden Zettel in seinen Händen. Im nächsten Moment kochte blanke Wut in ihm hoch und er stürzte zur Tür. Er wäre beinahe mit Sanae zusammengeprallt, die just in diesem Moment das Zimmer hatte betreten wollte. Sie war im Schlafanzug und trug ihr Kleiderbündel unter dem Arm, dass sie jetzt mit einem erschrockenen Quietschen fallen ließ.

„Tsubasa? Was...“

Mehr hörte Tsubasa nicht. Er ließ sie einfach stehen und rannte die Treppe nach unten, und in der nächsten Sekunde hatte er das Haus bereits verlassen. Der rote Opel stand immer noch da, aber ein Mann öffnete gerade die Tür und machte Anstalten, einzusteigen. Er hielt verdutzt inne, als Tsubasa wütend auf ihn zustürzte und ihn zurück schubste, so dass die Autotür wieder ins Schloss fiel.

„Hey! Was zum....?“

„Was zur Hölle soll das?!“

„Was soll was?“

„Das wissen Sie doch ganz genau!! Warum verfolgen Sie mich schon den ganzen Tag und schicken mir diesen Brief?“ Tsubasa musste sich schwer zusammenreißen, um dem Fremden nicht an den Kragen zu gehen. „Finden Sie das komisch?!“

„Äh...“ Der Mann blinzelte wieder. „Tut mir leid, aber ich hab absolut keine Ahnung wovon du redest. Ich parke hier, ist das verboten?“

„Sie parken heute in ganz Nankatsu, oder wie?!“

„Ich hab das Auto heute morgen hier abgestellt und war den ganzen Tag dann anderweitig unterwegs. Was willst du überhaupt von mir? Ich kenne dich ja nicht mal, warum sollte ich dich verfolgen? Wobei.....“ Er kniff die Augen etwas zusammen. „Bist du nicht dieser Fußballer der dann ins Ausland gegangen ist? Wie war dein Name noch mal.....?“

Tsubasa starrte ihn an und plötzlich wurde ihm bewußt, was er hier überhaupt tat. Seine Wut fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

„Ich...es tut mir leid.“

Der Mann starrte ihn perplex an. Nach ein paar Sekunden zuckte er schließlich mit den Schultern, warf ihm noch einen etwas – mitleidigen? - Blick zu und öffnete die Autotür erneut. Dann fuhr er davon. Tsubasa registrierte es nur am Rande. Er starrte immer noch auf die leere Parklücke und schrak erst hoch, als er Sanae nach ihm rufen hörte.

„Tsubasa? Tsubasa, wo bist du denn?!“

Er seufzte und fuhr sich über das Gesicht, dann ging er langsam zum Haus zurück. Sanae stand in der geöffneten Tür, die Arme um den Oberkörper geschlungen, und blickte sich unsicher um. Als sie ihn entdeckte, atmete sie erleichtert auf.

„Na endlich! Was war denn los?“

„Nichts.“

„Nichts?!“

„Nichts.“

Tsubasa schob sich an ihr vorbei und stieg wieder die Treppe nach oben. Sanae blickte ihm fassungslos hinterher und beeilte sich dann, die Haustür zu schließen und ihm zu folgen.

„Was soll das heißen, nichts? Tsubasa, warte gefälligst!“
 

***
 

Am nächsten Morgen wurde Tsubasa sehr früh wach und fühlte sich, als hätte er so gut wie gar nicht geschlafen. Gewissermaßen stimmte das auch – er wußte nicht genau, wann er letztendlich eingeschlafen war, aber es war sehr spät gewesen – oder auch früh, je nach Definition. Am liebsten hätte er sich wieder umgedreht und weitergeschlafen, aber sein Körper sagte ihm deutlich, dass er jetzt keinen Schlaf mehr finden würde. Dieses Mal erinnerte er sich genau an den Traum, und es war nichts angenehmes gewesen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es gerade mal halb sieben war....viel zu früh! Er seufzte und stand schließlich auf, nachdem er sich überzeugt hatte, dass Sanae immer noch tief und fest schlief. Auch bei ihr war es spät geworden in der letzten Nacht, da sollte sie das Versäumte ruhig aufholen können. Bei ihm brachte es jetzt nicht mehr viel, wenn er im Bett liegen blieb, da konnte er die Zeit auch sinnvoll nutzen. Tsubasa zog sich seine Trainingssachen über – sein restliches Gepäck aus Brasilien war genau wie das von Sanae im Laufe des gestrigen Tages angekommen – und verließ dann mit dem Fußball das Haus, natürlich nicht ohne ihr eine Nachricht zu hinterlassen, damit sie sich keine Sorgen machte. Viel nützen würde es vermutlich nicht, aber er hatte es dann immerhin versucht – und für den Notfall ja auch noch das Handy dabei.

Kaum hatte Tsubasa das Haus verlassen, verfiel er in ein leichtes Dribbling und schlug den Weg zum Strand ein. Es würde ein schöner Tag werden, der Wind war noch angenehm kühl, kündete jedoch bereits von der bevorstehenden Wärme. Tsubasa spürte, wie ihm die frische Luft und die Bewegung gut tat, die Müdigkeit wich langsam aus seinem Körper und die Geschehnisse der letzten zwei Tage wirkten seltsam surreal. Natürlich wußte er es besser, leider. Sanae war mittlerweile eingeweiht. Nach dem, was letzten Abend passiert war, hatte sie keine Ruhe gegeben, bis er ihr alles erzählt hatte – fast alles. Die Gestalt, die er nachts vor dem Fenster gesehen hatte, hatte er für sich behalten. Sanae teilte seine Meinung nicht, dass er sich das meiste nur einbildete – es wäre ohnehin beinahe zu einem Streit gekommen, weil sie nicht verstand, warum er ihr nicht gleich davon erzählt hatte. Dass er grundlos auf den Opel-Fahrer losgegangen war, ließ sie als Beweis für seine Paranoia nicht gelten, und bestand darauf, dass er zur Polizei gehen sollte. Tsubasa hielt nichts davon. Natürlich entsprangen der Stein und der seltsame Brief nicht seiner Fantasie, der rote, ihn verfolgende Opel und damit auch der ominöse Verfolger jedoch offensichtlich schon. Er hatte keine Lust, von der Polizei ausgelacht zu werden. Im schlimmsten Fall würden sie ihm bei seiner Hintergrundgeschichte dazu raten, sich einmal ärztlich auf seinen Geisteszustand hin untersuchen zu lassen. Davon abgesehen, was war eigentlich schlimmes passiert? Eine Fensterscheibe war zu Bruch gegangen, mehr nicht.... noch nicht. Tsubasa verdrängte diesen Gedanken schnell wieder. Genau genommen wußte er nicht, was ihm meh rAngst machte – dass er möglicherweise irgendeinem Verrückten als Zielscheibe diente und die ganze alte Kenji-Geschichte wieder aufgewärmt wurde, oder dass er schlicht und ergreifend dabei war, durchzudrehen. Mittlerweile hatte Tsubasa den Strand erreicht, das Meer lag vor ihm und glitzerte in der frühen Morgensonne.

Unwillkürlich blieb er stehen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er Nankatsu in den letzten Jahren vermisst hatte – nicht die Menschen, die hier lebten, seine Freunde und seine Familie, sondern den Ort selbst. Obwohl er sich in Brasilien auch sehr wohl gefühlt hatte, war er hier doch irgendwie zuhause.....

„Guten Morgen!“

Er zuckte zusammen und wandte sich um, bevor er erleichtert lächelte. „Ach, du bist's.“

„Hast du jemand anderen erwartet?“

„Nein, nicht wirklich – ich habe absolut niemanden erwartet, darum bin ich ja überrascht, dich zu sehen.“

Taro lächelte. „Geht mir ähnlich.“ Er wies mit dem Kopf in Richtung des Fußballs. „Frühsport?“

„Ja, sozusagen, ich war früh wach und konnte nicht mehr schlafen. Und du?“

„Fast dasselbe. Seit ich hier bin, trainiere ich jeden Morgen hier.“ Taro schmunzelte und rollte den seinen eigenen Ball mit der Fußspitze hin und her. „Und, Lust auf ein kleines Duell? Wir hatten schon ewig keine Gelegenheit mehr dazu....“

Tsubasa stutzte, dann musste er lachen. „Immer doch....“

„Dann los – du hast Anstoß!“

***
 

„Kann es irgendwie sein, dass du heute nicht ganz bei der Sache bist?“, wollte Taro eine gute Stunde später wissen, als sie leicht außer Atem nebeneinander im Sand saßen.

„Wieso?“

„Weil du mich normalerweise doch locker in die Tasche stecken müsstest.“

„Wie bitte?! Wir waren schon immer gleich gut!“

„Von wegen!“ Taro lachte. „Das war vielleicht mal in der Grundschule so, aber du hast eine ganz andere Ausbildung bekommen als ich! Vergiß nicht, dass ich in Frankreich in keinem Verein gespielt habe. Darum komme ich auch jeden Morgen hierher um zu trainieren, ich muss den Rückstand irgendwie aufholen, sonst habe ich gar keine Chance, auch mal auf eine professionelle Ebene zu kommen.“

„Ich finde du spielst immer noch sehr gut – mir ist kein Rückstand aufgefallen im Moment.“

„Das schmeichelt dir nicht unbedingt.“ Taro musterte ihn von der Seite. „Womit wir aber wieder beim Thema wären – gestern und vorgestern hast du nämlich auch um einiges besser gespielt als heute. Stimmt irgendwas nicht?“

„Nein, nicht wirklich....“

„Nicht wirklich?“

Tsubasa seufzte. Taro konnte manchmal genau fast genauso schlimm sein wie Sanae – manchmal fragte er sich, ob die beiden einfach ein besonderes Gespür besaßen oder ob man ihm seine Emotionen wirklich so einfach ablesen konnte. Eine Antwort auf Taros Frage blieb ihm jedoch erspart – noch während er darüber nachdachte, ob er seinen Freund einweihen sollte oder nicht, jetzt wo auch Sanae Bescheid wußte – klingelte sein Handy, und beide zuckten zusammen.

„Das ist sicher Sanae – die Nachricht hat ihr wohl wirklich nicht gereicht.“, stellte Tsubasa fest, während er bereits das Telefon aus der Jackentasche holte und abnahm.

„Hallo?“

Seine Augen weiteten sich überrascht, als sich keinesfalls Sanae meldete.

„Roberto?“ Er wechselte automatisch ins Portugiesische. Roberto hatte sich geweigert, sich in einer anderen Sprache mit ihm zu unterhalten, als Tsubasa damals in Brasilien angekommen war. „Anders lernst du es nie.“, war sein Motto gewesen.... Das darauf folgende Gespräch wurde von Taro mit großen Augen verfolgt, und als Tsubasa fünf Minuten später auflegte, konnte er seine Neugier natürlich kaum zügeln.

„Was wollte er?“

Tsubasa drehte das Handy nachdenklich in den Händen. „Ein Spieler ist ausgefallen, und er wollte wissen, ob ich bei einem Spiel nächste Woche einspringen könnte.“

„Ich dachte, du hast Urlaub.“

„Ja, das habe ich ihm auch gesagt – aber er meint, dass die wichtigen Sponsoren und so weiter alle da sein werden und ich damit zu 95 % in die Stammmannschaft einsteigen könnte.“

„Wow. Das ist natürlich ein Argument – und was hast du gesagt?“

„Noch nichts – dass ich darüber nachdenken werde. Eigentlich habe ich keine große Motivation, schon wieder zurück zu fliegen.“

„Klar, kann ich verstehen.“

„Na ja...“ Tsubasa steckte das Handy wieder ein. „Mal sehen, was Sanae nachher dazu sagt....“

Wenigstens um eine Sache musste er sich jetzt keine Sorgen mehr machen.....Taro hatte vergessen, dass er beim Spielen heute morgen abgelenkt gewesen war. Er stand auf und klopfte sich den Sand ab.

„Ich glaube, ich muss langsam wieder zurück. Sehen wir uns heute nachmittag?“

„Klar.“

Zukunftspläne

Obwohl Tsubasa den Rückweg noch mit einem Lauftraining verband und einen relativ großen Umweg machte, war das Haus immer noch still, als er zurück kam. Sanae schlief nach wie vor, so dass er sich leise ein frisches T-Shirt und eine Jeans aus dem Schrank holte und dann ins Bad ging, um zu duschen. Danach fühlte er sich richtig gehend erfrischt- er hatte wieder einen klaren Kopf und der Albtraum war nahezu vollständig aus seinem Kopf verschwunden. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass er bei seiner Rückkehr in das Zimmer automatisch zum Fenster ging und einen Blick hinaus warf. Die Parklücke war leer – kein roter Opel. War das gut oder schlecht?

In diesem Moment wurde Sanae wach. Sie richtete sich müde auf und rieb sich über die Augen.

„Tsubasa? Wie lange bist du schon wach?“

„Eine Weile. Ich war laufen und am Strand unten.“, antwortete Tsubasa geistesabwesend, ohne seinen Blick vom Fenster abzuwenden.

„Und, wie war's?“

„Gut. Taro war auch da.“

„Steht der Opel wieder draußen?“

„Nein.“

Sanae schwieg, dann streckte sie die Arme nach ihm aus. „Legst du dich noch ein bisschen zu mir?“

Tsubasa nickte, aber es dauerte noch ein paar Sekunden, bis er sich vom Fenster lösen konnte. Sanae kuschelte sich sofort an ihn.

„Hast du einigermaßen gut geschlafen?“

„Es geht. Und du?“

„Dasselbe.....mir war nicht wirklich nach schlafen.“

Tsubasa schwieg ein paar Sekunden.

„Darum habe ich dir erst nichts davon sagen wollen.“, meinte er schließlich leise.

Sanae blickte ihn fast empört an.

„Fang nicht wieder damit an! Wir hatten uns darauf geeinigt, dass wir uns in Zukunft immer alles erzählen!!“

„Ja, schon, aber....“

„Kein Aber! Ich will nicht, dass du deine Probleme alleine mit dir rumschleppst, und du würdest auch nicht wollen, dass ich das tue, oder?“

„Natürlich will ich das nicht, aber...“

„Dann ist die Sache geklärt!“

„Aber...“

„Die Sache ist geklärt!“, wiederholte Sanae mit solchem Nachdruck, dass Tsubasa seufzend aufgab. „Okay, schon gut. Du hast gewonnen.“

„Na also, warum nicht gleich so?“ Sanae lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. „Hast du darüber nachgedacht?“

„Worüber?“

„Zur Polizei zu gehen.“

„Nein.“ Tsubasa löste sich von ihr und richtete sich auf.

„Nein was?“, hakte Sanae nach, während sie sich ebenfalls aufsetzte. „Nein, du willst nicht zur Polizei, oder nein, du hast nicht darüber nachgedacht?“

„Beides.“

Sanae öffnete schon den Mund, aber bevor sie etwas sagen konnte, redete Tsubasa bereits weiter.

„Roberto hat angerufen, als ich mit Taro trainiert habe.“

„Roberto? Warum?“

Tsubasa berichtete ihr von Robertos Bitte und den möglichen Folgen, und als er geendet hatte, blickte ihn Sanae nachdenklich an.

„Was hast du gesagt?“

„Das ich darüber nachdenken werde.“

„Wozu tendierst du?“

Tsubasa zuckte mit den Schultern. „Im Moment habe ich keine Ahnung. Das Spiel ist erst nächste Woche, es reicht also wen ich mich bis zum Wochenende entscheide. Montag müsste ich abfliegen.“

Sanae nickte. „Es wäre deine Chance für die Stamm-Mannschaft....“

„Ja, dafür wurde mir aber auch die Bedenkzeit abgekürzt.“

„Roberto hat es sicher nicht böse gemeint....“

„Ich weiß, ich mache ihm auch keinen Vorwurf. Ich bin mir sicher, dass er mich auch in Ruhe gelassen hätte, wenn die Sponsoren nicht auch kommen würden. Wahrscheinlich würde er sich Vorwürfe machen, wenn ich es später nicht schaffe, nur weil ich diese Chance nicht genutzt habe oder er mir nicht Bescheid gesagt hat.....“

„Denk einfach in Ruhe darüber nach.“

„Ja, werd ich wohl. Als ob es noch nicht genug zum Nachdenken gäbe....“

„Sagst du den Anderen Bescheid?“

„Falls du das mit Robertos Anruf meinst: Ja, sobald sich die passende Gelegenheit ergibt. Taro weiß es auch, er war schließlich dabei.“

Sanae nickte, dann warf sie einen Blick auf die Uhr. „Ich werde dann auch mal duschen gehen. Meine Mutter will, dass ich sie zum Einkaufen begleite.“

Tsubasa lächelte leicht. „Schon wieder Shopping?“

„Nein, es geht nur um Lebensmittel.“, antwortete Sanae ungerührt. „Das Shoppen kommt danach mit Yukari.“

„Und gestern war....?“

„Gestern war Yukari dran. Heute bin ich dran. Ich muss doch gut aussehen auf der Wiedersehensfeier.“

„Dir ist klar, dass dich nahezu alle die kommen schon lange kennen, die meisten schon seit der Grundschule? Die wissen, wie du aussiehst.“

„Na und? Darf ich mich deswegen nicht hübsch machen?“

„Doch, aber wenn ich mich an früher erinnere, hätte ich nie gedacht, dass du mal so viel Wert auf Kleidung legst.“

„Und wenn ich mich an früher erinnere, hätte ich nie gedacht, dass du dich mal für was anderes als für Fußball interessierst!“, konterte Sanae, und Tsubasa musste lachen.

„Okay, schon gut – du hast schon wieder gewonnen.“

„Wie immer.“ Sanae schmunzelte und gab ihm einen Kuss, bevor sie aufstand. „Bis gleich, ja?“

Tsubasa und nickte, und als Sanae den Raum verlassen hatte, ließ er sich rücklings wieder auf das Bett fallen. Langsam wurde er doch wieder müde, die Nacht war entschieden zu kurz gewesen. Er unterdrückte ein Gähnen und blickte gedankenverloren an die Decke. Chance für die Stammmannschaft. Natürlich war er froh gewesen, mit diesem Thema von der Frage nach der Polizei ablenken zu können, aber seit Robertos Anruf beschäftigte er sich selbst ununterbrochen damit. Chance für die Stammmannschaft.....Vor ein paar Jahren hätte er alles dafür gegeben. Er wollte immer noch Fußball spielen, das stand außer Frage, und darüber, dass er es berufsmäßig weiter verfolgen wollte, gab es auch keinen Zweifel. Mal ganz abgesehen davon, dass er sich beim besten Willen kein Studium vorstellen konnte, hatte er nur einen eher durchschnittlichen Mittelschulabschluß. Also müsste er dazu zunächst mal die Oberschule nachholen, und das komplett. Dank dem Prozess gegen Kenji, der ihn lange beschäftigt hatte, hatte er sich auch auf die Schuljahre, die er noch absolviert hatte, kaum konzentrieren können. Und eine Ausbildung als Alternative kam auch nicht in Frage. Nein, Fußball war sein Weg, darum hatte er sich letztendlich doch wieder für Brasilien entschieden und war damals mehr als erleichtert gewesen, als Sanae ihm eröffnet hatte, dass sie ihn begleiten würde. Als Roberto ihm jedoch mitteilte, dass er jetzt gut genug für die Stamm-Mannschaft wäre und die entsprechenden Verhandlungen aufnahm, war Tsubasa wieder unruhiger geworden. Er musste sich entscheiden, ob er jetzt wirklich für längere Zeit im Ausland bleiben wollte, oder ob er zurück nach Japan ging..... Roberto hatte das gespürt, ihn schließlich von allen Spielen befreit und nach Hause geschickt. „Sieh zu dass du einen klaren Kopf bekommst und denk in Ruhe darüber nach, was du willst.“ Mit diesen Worten hatte er sich am Flughafen von Tsubasa verabschiedet. „Und nimm dir so viel Zeit wie du brauchst, verstanden?“

Nun ja – so viel zum Thema Zeit. Dass die Verhandlungen während seines Urlaubs weiterliefen, war ihm ebenfalls noch erklärt worden. Eien Unterbrechung hätte ihm womöglich geschadet....ob er dann noch eine Chance hätte, war fraglich. Und jetzt hatte sich durch den Ausfall des Spielers nächste Woche plötzlich alles beschleunigt. An für sich hatte Tsubasa kein Problem damit, ein paar Tage den Urlaub zu unterbrechen, die Frage war eher, ob er damit bereits seine Wahl besiegelte oder ob er immer noch die Chance hatte, seine Karriere in Japan fortzusetzen. Tsubasa schrak aus seinen Gedanken hcoh, als von unten Geschrei ertönte. Anscheinend war Daichi wach.

„Na wunderbar....“ Unwillkürlich warf er einen Blick auf die Uhr – und erschrak. Warum war plötzlich elf?? Vorhin war es noch nicht mal neun oder halb zehn gewesen – war er etwa eingeschlafen? Er richtete sich auf und blickte sich suchend um. Sanae war anscheinend wieder hier gewesen, ihre Sachen fehlten und ein Zettel lag auf der Bettdecke neben ihm.
 

Ich komme um drei mit Yukari auch zum Trainung zum Zuschauen. Bis dahin einen schönen Tag und pass auf dich auf, ja?
 

Sanae
 

Anscheinend hatte sie ihn nicht wecken wollen..... Nun ja, das war jetzt nicht mehr zu ändern, aber es wäre ihm lieber gewesen, wenn er wach gewesen wäre..... Das Geschrei von unten ebbte immer noch nicht ab. Daichi hatte anscheinend keine gute Laune...oder waren seine Eltern wieder weg und hatten ihn zum Babysitten verdonnert, ohne das er es mitbekommen hatte? Tsubasa seufzte, dann stand er auf und ging nach unten in die Küche. Daichi saß im Hochstuhl und weinte, was das Zeug hielt. Von seiner Mutter keine Spur – dafür konnte er sie ebenfalls hören. Die Kellertür stand offen und sie versuchte Daichi anscheinend von da unten aus zu beruhigen.

„Keine Sorge, Schätzchen, Mama ist gleich wieder bei dir, sobald ich die Kartoffeln gefunden habe....“

Aha, darum also dieses Heulbojen-Konzert. Daichi passte es nicht im Hochstuhl sitzen zu müssen, wie's aussah, und seine Mutter hatte den Stuhl augenscheinlich zum Laufstall umfunktioniert, damit ihr Jüngster nicht die Treppe runterfiel, während sie sich im Keller aufhielt. Tsubasa zögerte, aber da ihm von dem Geschrei langsam die Ohren weh taten, fiel ihm der Entschluss dann doch relativ leicht. Er ging zu seinem Bruder hinüber und hob ihn auf den Arm. Daichi vergaß zunächst vor Überraschung zu schreien, dann begann er zu strahlen und kuschelte sich augenblicklich an ihn.

„Basa!“

Genau das hatte er befürchtet – jetzt gab es nachher vermutlich das nächste Heulbojen-Konzert, sobald er es wagte, seinen Bruder wieder auf den Boden zu setzen. Wenigstens war für den Moment Ruhe.... Sein Blick fiel auf die immer noch offene Kellertür, und er wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Daichi dagegen deutete auf die Treppe, die nach unten führte.

„Mama!“

„Vergiß es, ich trag dich da nicht runter! Da musst du schon warten, bis sie wieder kommt.“

Daichi blickte ihn enttäuscht an.

„Vergiß es!“, wiederholte Tsubasa mit Nachdruck. „Wenn du da runter willst, musst du selber laufen! Davon abgesehen ist sie sicher gleich wieder da, es kann ja nicht ewig dauern, die Kartoffeln zu suchen.“

In der Tat erschien seine Mutter just in diesem Moment wieder in der Küche, eine Schüssel voller Kartoffeln in der Hand. Sie lächelte, als sie Tsubasa entdeckte.

„Ah, du bist auch wach. Danke dass du dich um Daichi gekümmert hast......ich setze ihn immer für ein paar Minuten in den Hochstuhl wenn ich in den Keller muss, er ist extrem neugierig...“

„Und warum hast du Papa nicht darum gebeten, kurz auf ihn aufzupassen?“

„Weil dein Vater kurz in die Stadt ist, um was zu erledigen.“

„Aha.“

Tsubasa zögerte, dann ging er das Risiko ein und setzte seinen kleinen Bruder wieder auf den Boden. Zu seiner Erleichterung ging es dieses Mal gut – der Knautschfußball lag in der Nähe und Daichi zog es vor, sich mit einem freudigen Quietschen darauf zu stürzen. Seine Mutter lächelte und stellte die Schüssel mit den Kartoffeln auf den Tisch.

„Sanae hat mit diesem Geschenk wirklich ins Schwarze getroffen....“

„Ja, sieht so aus.“

„Hast du gut geschlafen?“

„Es geht.“

Frau Ozora blickte auf. „Ist irgendwas?“

„Ja....nein. Nichts gravierendes....würde es dir was ausmachen, die Kellertür wieder zu schließen?“

„Oh...tut mir leid.“ Sie schloß die Tür, und Tsubasa konnte wieder freier atmen – zumindest kam es ihm so vor.

„Danke...“ Er wurde abgelenkt, als Daichi mitsamt Fußball ihm zurückwuselte und auffordernd zu ihm aufblickte.

„Später, okay?“

Daichi bekam feuchte Augen. Tsubasa seufzte und blickte seine Mutter an.

„Kann ich ihm das irgendwie klar machen, ohne das er weint?“

Frau Ozora lächelte leicht und nahm ihren kleinen Sprössling auf den Arm. „Keine Sorge, er weint nicht. Er testet nur „den Blick“, sozusagen.“

„Den Blick?“

„Klar. Den konntest du auch ziemlich gut, wenn du irgendwas wolltest.“

Tsubasa sah sie leicht verwirrt an, und seine Mutter lachte.

„Du wirst schon noch merken, was ich damit meine.“

Daran hatte Tsubasa seine Zweifel, aber er sagte nichts. Im Moment hatte er keine Ahnung, was senie Mutter meinte....aber genau genommen hatte er auch wichtigere Sachen im Kopf. Er zögerte.

„Hättest du ein paar Minuten? Ich würde dich gern was fragen....“

Frau Oroza blickte ihn leicht überrascht an. „Klar. Ich bringe Daichi kurz in den Laufstall, dann können wir reden.“

Tsubasa nickte, und während seine Mutter ins Wohnzimmer ging, blieb sein Blick erneut an der Kellertür hängen.
 

***
 

„Echt? Er hat einen Anruf von Roberto bekommen? Das heißt, ihr fliegt am Wochenende schon wieder zurück?“, meinte Yukari überrascht und leicht enttäuscht. „Ihr seid doch gerade erst angekommen.“

„Es wären ja auch nur ein paar Tage, ich denke, dass wir schnell wieder da wären. Ich glaube, Tsubasa ist im Moment lieber in Japan als in Brasilien. Davon abgesehen hat er noch nicht mal angenommen, er denkt noch darüber nach.“

Yukari legte leicht den Kopf schräg und rührte in ihrem Milch-Shake. „Na ja, es wäre glaub ich ziemlich unvernünftig, abzulehnen. Wenn die ganzen Sponsoren da sind und er ein gutes Spiel abliefert – wovon ich jetzt einfach mal ausgehe – fällt es Roberto bestimmt leicht, seine Aufnahme in die Stammmannschaft durchzusetzen.“

Sanae nickte. „Ja, ich gehe auch davon aus dass er annimmt. Aber ich halte mich raus, es ist immerhin seine Entscheidung.“

„Du wirst auch ein Wörtchen mitzureden haben, ob du in Brasilien bleiben willst, oder?“

„Ums bleiben geht es ja erst mal noch nicht.“

„Doch, worum denn sonst? Wie lange geht denn so ein Vertrag, falls er einen bekommt? 5 Jahre? Länger? Ich kenn mich da nicht aus.“

„Ich auch nicht wirklich....“

„Vielleicht solltest du dich mal drüber informieren. Auf alle Fälle seid ihr an Brasilien gebunden, solange der Vertrag dauert, also geht es auch darüber, ob ihr weiterhin im Ausland bleibt oder nach Hause kommt. Oder ob ihr in ein anderes Land geht.....“

„Ein anderes Land steht erst mal gar nicht zur Debatte.“, meinte Sanae entschieden. „Und was die Entscheidung zwischen Brasilien und Japan angeht – natürlich würde ich auch gerne wieder nach Hause, aber immerhin habe ich drüben auch einen Job und Freunde – nicht so gute wie hier, aber ich würde es aushalten, wenn Tsubasa sich entscheidet, dort zu bleiben.“

„Du wirst also bei ihm bleiben, egal wo er hingeht?“

„Ja.“

Yukari blickte sie nachdenklich an, dann lächelte sie leicht. „Du hast dich in der Hinsicht wirklich gar nicht verändert. Für Tsubasa hättest du schon immer alles gemacht, oder?“

Sanae wurde leicht rot. „Na ja, alles ist leicht übertrieben....“

„Immerhin bist du für ihn auch nach Brasilien gegangen, das war ziemlich mutig. So lange wart ihr damals ja noch nicht zusammen....“

„Etwas mehr als zwei Jahre immerhin...“

„Ja, andere Pärchen überlegen da gerade mal zusammen zu ziehen, und du wanderst quasi gleich mit aus. Was, wenn es schief gegangen wäre?“

„Die Angst hatte ich nicht. Und abgesehen davon, hätte ich ja auch einfach wieder nach Hause gehen können.“ Sanae nahm einen Schluck von ihrer Cola. „Ich hatte damals keine andere Wahl, ich musste mit....“

„Ich weiß. Wir haben fast jeden Abend darüber gesprochen, falls du dich daran erinnerst.“ Yukari schmunzelte. „Und ich freue mich für dich, dass es gut gegangen ist. Trotzdem, wer hätte das gedacht – ist ja fast wie im Märchen, wenn man drüber nachdenkt. Du warst so lange in ihn verliebt und das fast in einem Alter, wo man noch gar nicht von Liebe sprechen kann, und jetzt schaut euch beide an....“

Sanae wurde wieder leicht rot und nahm einen neuen Schluck Cola, um ihre Verlegenheit zu verstecken. „Sag doch gleich, das ich ein blindes, verliebtes Huhn war, das ihm einfach hinterher gerannt ist.“

„Was heißt hier war?“

„Hey!“ Sanae gab ihr unter dem Tisch einen leichten Tritt vors Schienbein. „Pass auf was du sagst!“

„Aua!“

„Selber Schuld!“

„Ja ja.“ Yukari seufzte. „In der Hinsicht hast du dich auch nicht verändert.“ Sie grinste. „Beruhigend zu wissen. Halt mich auf alle Fälle auf dem Laufenden, was Tsubasas Entscheidung betrifft, ja?“

„Klar. Aber erzähl den anderen nichts davon, ich denke das will er ihnen selber sagen.“

„Logisch.“ Yukari blickte auf die Uhr. „Es ist schon halb drei, wollen wir langsam los?“

Sanae nickte und winkte der Kellnerin. Als sie sich wieder Yukari zu wandte und an ihr vorbei aus dem Fenster sah, fuhr draußen gerade ein rotes Auto vorbei. Unwillkürlich kehrten ihre Gedanken wieder zu dem geheimnisvollen Brief zurück und zu dem roten Opel, den Tsubasa gestern so oft gesehen hatte.

„Sag mal....“, riss sie Yukari wieder in die Gegenwart zurück. „Was ich dich noch fragen wollte – wie ging es Tsubasa denn gestern? Wegen dem Film und so....ich hatte die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn ausgesucht hab und nicht genau nachgelesen, worum es geht.....“

Sanae zögerte, dann seufzte sie innerlich. Es war Tsubasas Meinung gewesen, dass man besser niemandem etwas erzählen sollte, nicht ihre – und Yukari war ihre engste und beste Freundin. Bisher hatten sie über alles reden können, und das sollte sich jetzt nicht ändern.

„Es ging ihm soweit gut, aber da ist was, was ich dir besser erzählen sollte....“
 

***
 

Als Sanae geendet hatte, starrte Yukari sie fassungslos an.

„Wie bitte? Und warum erzählst du das erst jetzt?“

„Weil ich es selber erst seit gestern weiß. Und behalt es bloß für dich, verstanden? Wenn Tsubasa erfährt, dass ich dir das erzählt habe.....“

„Ja, ja, schon klar.“ Yukari runzelte die Stirn. „Und was habt ihr jetzt vor? Geht ihr zur Polizei?“

„Tsubasa will nicht.“ Sanae seufzte. „Keine Ahnung warum....ich glaube er hält das immer noch für Paranoia.“

„Aber...“ Yukari brach ab, als die Kellnerin zum Abkassieren kam. Als sie wieder gegangen war, stand sie entschlossen auf. „In Ordnung, dann wollen wir mal.“

Etwas irritiert über den abrupten Themenwechsel blickte Sanae ihre Freundin an. „Wir haben doch noch Zeit bis drei, kein Grund zum Hetzen....“

„Wer hat gesagt, das ich zum Fußballplatz will? Wir müssen zur Bibliothek!“

„Hä? Aber....?“

„Ich erklär es dir unterwegs, okay? Komm schon!“

Sanae verstand immer noch kein Wort, erhob sich aber gehorsam und folgte Yukari aus dem Café, in dem sie die letzten zwei Stunden verbracht hatten.

Recherchen

Es war mittlerweile halb fünf. Tsubasa hatte vom Training nicht viel mitbekommen, genau genommen hatte er sich früher verabschiedet mit der Ausrede, auf Daichi aufpassen zu müssen. Besonders gut gelaufen war es ohnehin nicht, er war ständig damit beschäftigt gewesen, den Spielfeldrand abzusuchen. Weder Sanae noch Yukari waren wie verabredet um 15 Uhr aufgetaucht. In einer kurzen Spielpause hatte er mehrmals versucht, sie auf dem Handy zu erreichen, aber es war ausgeschaltet und die Nummer von Yukari hatte er nicht. Gegen Viertel nach vier hatte er das Spielen schließlich aufgegeben und war gegangen. So hatte es eh keinen Sinn.... Zu seiner Überraschung hatten alle die Ausrede geglaubt – fast alle, wie er in diesem Moment feststellen musste.

„Tsubasa! Warte!“ Taro beeilte sich aufzuholen.

„Was machst du denn hier, ich dachte das Training läuft noch.“, meinte Tsubasa abwesend, während er bereits wieder Sanaes Nummer wählte.

„Das war für dich ja auch kein Hindernis, früher zu gehen, oder?“ Taro legte leicht den Kopf schräg. „Willst du mir nicht endlich sagen, was mit dir los ist?“

„Was sollte los sein? Ich muss nach Hause, das hab ich doch vorhin schon gesagt!“

„Und warum läufst du dann Richtung Innenstadt? Komm schon, Tsubasa, ich seh doch das was nicht stimmt. Du hast noch schlechter gespielt als heute morgen, und ich hab gesehen, wie oft du versucht hast, Sanae zu erreichen. Warum bist du so nervös?“

Tsubasa schwieg. Unter normalen Umständen wäre er wahrscheinlich nicht so unruhig gewesen, nur weil Sanae nicht wie verabredet auftauchte, obwohl das nicht wirklich zu ihr passte. Aber der rote Opel, den er wieder vor seinem Haus hatte stehen sehen, und der weiße Brief, den er wieder im Briefkasten gefunden hatte, verstärkten das ungute Gefühl enorm. Er wußte nicht, was in dem Brief stand, er hatte ihn ungeöffnet in die Tasche gesteckt, aber allein das Wissen, das er da war, genügte vollkommen.

„Tsubasa?“

Für ein paar Sekunden hatte er Taros Anwesenheit völlig vergessen. Eine freundliche Frauenstimme verkündete, dass er die Mailbox von Sanae Nakazawa angewählt hatte und bei Bedarf gerne eine Nachricht hinterlassen könne.... Er seufzte und legte auf, bevor er Taro anblickte.

„Tut mir leid – ich erklär dir alles später. Du hast nicht zufällig Yukaris Handy-Nummer, oder?“

„Äh...“ Taro blickte ihn irritiert an. „Doch, die hab ich, wieso?“

„Weil sie mit Sanae unterwegs sein könnte.... Bitte, ich erklär dir wirklich alles später, aber erst muss ich wissen, wo sie ist!“

Taro musterte ihn ein paar Sekunden nachdenklich, dann suchte er sein Handy aus der Tasche, suchte die entsprechende Nummer und hielt ihm das Telefon hin.

„Nimm am besten gleich meins, ich hab dasselbe Netz wie sie, dürfte billiger sein.“

„Danke.“

Der Freiruf ertönte, und wenige Sekunden später wurde endlich abgenommen. Tsubasas Erleichterung hielt jedoch nicht lange an, als Yukari ihm eröffnete, dass Sanae nicht mehr bei ihr war.

„Wir haben uns vor ungefähr 15 Minuten getrennt, wir waren in der Bibliothek, und...“

„In der Bibliothek?! Was wolltet ihr denn da?“

Yukari schien zu zögern. „Na ja, wir......das soll dir Sanae selber sagen, denke ich.“

Tsubasa verstand überhaupt nichts mehr. „Und wo ist sie jetzt?“

„Sie wollte noch in der Bibliothek bleiben und was nachschauen. Tut mir leid, dass wir dir nicht Bescheid gesagt haben, aber Sanaes Akku war leer, und wir hatten dann verabredet, dass ich mich bei dir melde, und dann habe ich gemerkt, dass ich deine Nummer nicht habe....ich wollte gerade Taro anrufen, damit er es dann an dich weiterleitet....“

Als Tsubasa das Gespräch kurz darauf beendete, fühlte er sich nur zum Teil erleichtert. Was hatte Sanae in der Bibliothek zu suchen?? Er gab Taro das Handy zurück und setzte seinen Weg fort.

„Zur Bibliothek, nehme ich an?“

Tsubasa nickte, und Taro seufzte, während er ihm wieder folgte.

„So hab ich dich noch nie erlebt! Was ist denn los, verdammt noch mal?“

„Ich erklär dir alles später....“

„Ja, das hoffe ich auch!“, brummelte Taro missmutig. „Sonst musst du mir das Gespräch bezahlen, klar?“
 

***
 

Es war nicht weit zur Bibliothek, aber für Tsubasa wurde der Weg zu einer Ewigkeit. Taro hatte es aufgegeben, ihm Fragen zu stellen, aber genauso beharrlich ließ er sich auch nicht abschütteln. Tsubasa wußte nicht, ob er darüber erleichtert sein sollte. Sie legten den Weg schweigend zurück, und erst, als das Bibliotheksgebäude in Sicht kam, griff Taro den Gesprächsfaden wieder auf.

„Willst du reingehen und sie suchen?“

„Falls sie nicht gerade draußen steht, wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, nehme ich an.“

Taro nickte. „Dann warte ich draußen, falls sie rauskommt.“

„Danke.“

„Kein Thema....ich hab zwar immer noch keinen Plan, warum du so durch den Wind bist, aber wenn es dir danach wieder besser geht, soll es mir recht sein.“ Taro schüttelte leicht den Kopf. „Machst du dir immer solche Sorgen, wenn Sanae dich versetzt?“

„Sie hat mich bis jetzt noch nie so versetzt.“

„Aha.“

Eine weitere Antwort blieb Tsubasa erspart. Mittlerweile hatten sie die Bibliothek erreicht, das Gebäude lag auf der anderen Straßenseite. Glücklicherweise musste er nicht suchen, just in diesem Moment schwang die große Flügeltür auf, und Sanae trat auf den Gehweg. Tsubasa war noch nie so erleichtert gewesen, sie zu sehen – und auch noch nie so wütend. Er hatte es so eilig, über die Straße zu kommen, dass er nicht auf den Verkehr achtete und beinahe von einem Auto erfaßt worden wäre, hätte ihn Taro nicht am Ärmel gepackt und zurück gerissen.

„Hey, Vorsicht!“

Durch das Hupen wurde Sanae aufmerksam. Sie wandte sich um und Schuldbewußtsein zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Nach einem kurzen Blick nach links und rechts huschte sie über die Straße zu den Beiden hinüber.

„Kannst du mir bitte erklären, was das soll?!“, meinte Tsubasa aufgebracht, ohne sie zu Wort kommen zu lassen. „Ich hab x-tausend Mal versucht dich zu erreichen, warum tauchst du einfach so nicht auf ohne Bescheid zu sagen??“

„Ich....es tut mir leid, mir ist erst zu spät aufgefallen das mein Handy-Akku leer ist und da war es auch schon zu spät....hat Yukari dir Bescheid gesagt?“

„Nein, hat sie nicht, weil sie meine Handy-Nummer nicht hatte!! Ich hab sie gerade mit Taros Hilfe angerufen und erfahren, wo du bist! Was willst du überhaupt hier?!“

„Ich werd's dir nachher in Ruhe erklären, aber es war wichtig....Yukari hatte die Idee....ich hätte nie gedacht, dass es so lange dauert, tut mir wirklich leid.....“

Taro räusperte sich. „Könntet ihr mir vielleicht mal zwischendurch erklären, was hier gespielt wird? Ich mein, dass Sanae einfach nicht aufgetaucht ist war sicher nicht die feine Art, aber kein Grund, sich dermaßen Sorgen zu machen.“, meinte er mit einem Seitenblick auf Tsubasa. „Irgendwas stimmt hier nicht, meiner Meinung nach, und ich will wissen, was!“

„Ich....“

Taro schüttelte unwillig den Kopf und schnitt Tsubasa damit wieder das Wort ab. „Wehe, du willst mich wieder auf später vertrösten! Ich will JETZT hören, was los ist!“

Tsubasa seufzte. „Schon gut....“

„Ich glaube, es ist wirklich das beste, wenn wir Taro alles erzählen.“, meinte Sanae leise. „Dann kann ich auch gleich erklären, was ich in der Bibliothek wollte. Aber ich würde sagen, dass wir dazu besser irgendwo hingehen, wo es gemütlicher ist.....“

„Gute Idee. Ich wohne hier ganz in der Nähe.“, meinte Taro sofort. „Mein Vater ist gerade nicht da, wir haben also Ruhe um zu reden.“

Tsubasa nickte widerstrebend. Anscheinend hatte er keine andere Wahl.....
 

***
 

„Wie bitte?!“

Sanae lächelte schwach, obwohl die Situation eigentlich nicht lustig war. Irgendwie hatte sie gerade ein starkes Deja-Vu – genauso hatte Yukari am Nachmittag auch reagiert. Natürlich hütete sie sich, das zu erwähnen. Sie saßen im Wohnzimmer der kleinen Wohnung, die Herr Misaki gemietet hatte, und Taro blickte fassungslos von Tsubasa zu Sanae und wieder zurück.

„Du bekommst Drohbriefe?“

„Drohbriefe sind zuviel gesagt.“, meinte Tsubasa dumpf. „Eher – Erinnerungsbriefe, oder wie auch immer du sie nennen willst.“

„Einen Stein durchs Fenster zu werfen klingt meiner Meinung nach schon nach einer Drohung. Und dann noch der rote Opel, der dich überall hin verfolgt...“

„In meiner Fantasie...“

Taro schüttelte unwillig den Kopf. „Du solltest unbedingt zur Polizei, Tsubasa!“

„Sag ich doch!“, mischte sich Sanae ein und erntete dafür einen finsteren Blick von Tsubasa.

„Ich gehe auf keinen Fall zur Polizei!“

„Aber warum....ich meine, das trägt doch Kenjis Handschrift! Hast du dich wenigstens informiert, ob er immer noch da ist, wo er hingehört?“

„Nein.....“

„Und warum?“

„Keine Ahnung, warum! Ich habe es halt nicht gemacht! Davon abgesehen habe ich den Brief mit dem Zeitungsartikel ja auch erst gestern bekommen!“

Sanae räusperte sich. „Ich habe da auch nicht dran gedacht, um ehrlich zu sein.....aber Yukari hatte heute mittag dieselbe Idee, darum sind wir zur Bibliothek....“

Tsubasa blickte sie entgeistert an. „Du hast Yukari davon erzählt??“

Sanae wurde rot, als sie sich bewußt wurde, dass sie sich gerade gehörig verplappert hatte. „Tut mir leid...

„Was habt ihr denn rausgefunden?“, hakte Taro nach, bevor Tsubasa noch etwas sagen konnte, und Sanae atmete tief durch.

„Yukari und ich haben zusammen Zeitungsartikel der letzten drei Jahre durchforstet, und....“

„Und?“

„Na ja....Kenji ist vor einem Jahr auf Bewährung entlassen worden....“

„Was?!“ Tsubasa erstarrte, und auch Taro wurde bleich.

„Na also, das passt ja dann......jede Wette, das er auf Rache aus ist, und....“, setzte er bereits an, aber Sanae schüttelte den Kopf.

„Nein. Kenji kann es nicht gewesen sein. Er ist tot.....“

Stille senkte sich über die Küche. Nach ein paar Sekunden zog Sanae ihre Handtasche von der Stuhllehne zu sich und kramte einen reichlich zerknitterten Ausdruck hervor.

„Yukari musste früher weg, aber ich wollte meinen Jahrgang noch zuende durchschauen, und dann hab ich das hier gefunden und noch schnell ausgedruckt.....“, meinte sie leise, während sie das Papier glatt strich und dann auf den Tisch legte. „Es war im August letztes Jahr, er ist anscheinend zu schnell in ner Kurve gewesen und gegen einen Baum gefahren......“

„Au weia.“; meinte Taro betroffen. Tsubasa dagegen schwieg, er machte auch keine Anstalten, den Artikel zu lesen. Sanae faßte unter der Tischplatte nach seiner Hand.

„Tut mir wirklich leid, dass du dir solche Sorgen gemacht hast, aber ich wollte nur wissen, ob Kenji dahinter stecken könnte, damit wir was in der Hand haben um zur Polizei zu gehen....“

„Das wäre ja geklärt.“, meinte Tsubasa dumpf. „Kenji war es nicht, und ich gehe nicht zur Polizei.“

„Tsubasa.....“

„Was erwartest du denn? Die lachen mich aus, wenn ich mit nichts als zwei Briefen und einem Zeitungsartikel da aufkreuze! Und einem roten Opel, der mich angeblich verfolgt! Wenn Kenji wirklich – wenn er es sein könnte, dann hätte ich es eingesehen, aber so.....“

Sanae seufzte. „Manchmal hast du wirklich einen unheimlichen Dickkopf!“

Tsubasa erwiderte nichts darauf, und Taro zog den Zeitungsartikel näher zu sich herüber.

„Schon heftig....man könnte das fast als Schicksal bezeichnen.“, meinte er nachdenklich. „Er muss sofort tot gewesen sein.....“

In diesem Moment piepten nacheinander zwei Handys, und alle drei zuckten zusammen.

„Das klingt nach einer Rund-SMS.“, meinte Taro dann mit einem schwachen Lächeln, während Tsubasa bereits einen prüfenden Blick auf das Display warf. Dann reichte er das Telefon an Sanae weiter, die zu faul war, ihres aus der Handtasche zu suchen. Ihre Augen weiteten sich erstaunt.

„Oh...“

„Was besonderes?“, wollte Taro wissen, und Tsubasa nickte, froh von dem Thema Polizei wegzukommen.

„Ja, und dich betrifft es auch. Kojiro hat uns für morgen nach Toho eingeladen, zu einem spontanen Spiel und ner anschließenden Feier....anscheinend hatte er keine Lust bis Samstag zu warten und will das schon mal vorziehen.“

Taro musste lachen. „Okay....dann geht’s wohl morgen nach Toho. Ihr fahrt doch, oder?“

Tsubasa nickte erneut. „Ich denke schon.“ Das versprach immerhin eine interessante Ablenkung zu werden...... Er schickte eine kurze Antwort-SMS zurück und blickte dann Sanae an. „Ich glaube, wir sollten langsam...zumindest meine Eltern werden sich schon wundern, wo ich bleibe.“

„Ja....ich muss auch nach Hause....“

„Wann soll das morgen denn losgehen?“, wollte Taro wissen. Tsubasa zuckte mit den Schultern.

„Ne Uhrzeit hat er nicht mitgeschickt – ich denke das sich wieder Fahrgemeinschaften bilden werden, ich sag dir Bescheid sobald ich was weiß.“

„Alles klar – und ich hoffe, du hältst mich auch mit dieser Brief-Sache auf dem Laufenden.“

„Ja....aber tu mir wirklich den Gefallen und behalt es für dich, ich will nicht dass es alle wissen....die Aufregung damals hat mir gereicht.“

„Du kennst mich doch, ich hab noch nie was weitererzählt. Und Yukari kannst du sicher auch vertrauen.“

„Ja, ich weiß.“
 

***
 

Diese Nacht verbrachte Sanae wieder bei Tsubasa. Sie mussten nicht großartig darüber sprechen, beide wollten nicht alleine bleiben. Gegen neun kam eine weitere SMS von Kojiro, dann noch eine von Ryo. Danach stand der Plan für morgen fest. Das Spiel sollte um zwölf beginnen, um zehn trafen sich alle beim Fußballplatz in Nankatsu und würden sich dann auf diverse Autos verteilen. Die meisten hatten zum Glück Zeit – entweder sie ließen die Uni dezent ausfallen oder sie konnten sich den Tag anderweitig frei boxen. Während Sanae sich wieder ins Bad zurück zog, um sich fertig zu machen, sagte Tsubasa noch via Handy Taro Bescheid – und dann erinnerte er sich plötzlich wieder an den Brief, den er im Briefkasten vorgefunden hatte. Zum Glück hatte er sich heute selbst um die Post gekümmert, seine Mutter wäre wohl doch stutzig geworden wenn sie schon wieder so einen ungestempelten Umschlag vorfand. Über der ganzen Aufregung und dem Gespräch mit Taro hatte er es dann vergessen – oder verdrängt. Tsubasa zog den Umschlag aus der Hosentasche und blickte ihn ein paar Sekunden finster an, bevor er ihn zusammen knüllte und ihn ungöffnet in den Papierkorb warf. Zu so einem Spielchen gehörten immer zwei, und er würde ab jetzt nicht mehr mitmachen! Den Gedanken an den Zeitungsartikel verdrängte er sofort wieder. Kenji war tot – eine Sorge weniger. Aber irgendwie fühlte er sich trotzdem nicht gut bei dem Gedanken daran....

Sanae kam zurück und sah an seiner Miene wie immer sofort, dass ihn etwas beschäftigte.

„Denkst du immer noch über heute mittag nach? Über die Polizei?“

„Nein, nicht über die Polizei.“

„Über was dann?“

Tsubasa zögerte. „Glaubst du, Kenji hätte mich damals umgebracht?“

„Was?!“ Sanae erstarrte. „Wie kommst du denn darauf?“

„Na ja....immerhin wollte er mich verstümmeln, und ich hätte ihn mit etwas Glück erkennen können im Keller....“

„Das ist doch was ganz anderes als jemanden umzubringen!“; protestierte Sanae energisch. „Hör auf, über so was nachzudenken!“

„Na ja.....“ Tsubasa seufzte. „Kenji ist tot, und ich sollte erleichtert sein, aber irgendwie weiß ich dann doch nicht, ob ich traurig sein soll.....beides fühlt sich nicht richtig an.“

Sanae schwieg ein paar Sekunden, dann kam sie zu ihm hinüber und nahm ihn in den Arm. „Vergiß ihn einfach, ja?“, meinte sie leise, bevor sie ihn sanft küsste. „Wenigstens für heute abend. Denk nicht mehr darüber nach....“

Rot

Am nächsten Morgen wurde Tsubasa wieder früh wach. Er hatte wider Erwarten tief und traumlos geschlafen und fühlte sich daher überraschenderweise relativ gut und ausgeruht. Anscheinend hatte sich sein Körper automatisch das geholt, was er brauchte. Sanae schlief noch, daher nutzte er die Gelegenheit, vor dem Frühstück noch eine Jogging-Runde am Strand zu drehen. Als er zurück kam, fand er seine Familie gemeinsam mit Sanae beim Frühstück vor. Zu seiner Überraschung – wobei, wenn er so darüber nachdachte war es eigentlich keine wirklich große Überraschung – hatte sie Daichi auf dem Schoß, und anscheinend fühlte sich der Kleine pudelwohl. Er nuckelte an seinem Schnuller und war damit beschäftigt, einen Plastiklöffel gegen Sanaes Tasse zu schlagen. Die Geräuschkulisse schien niemanden zu stören. Als Daichi Tsubasa im Türrahmen stehen sah, begann er augenblicklich zu strahlen.

„Basa!“

Jetzt wurden auch Sanae und seine Eltern aufmerksam.

„Na endlich. Du warst lange weg.“, meinte Sanae halb vorwurfsvoll.

„Nicht länger als das letzte Mal, nur hast du da noch geschlafen.“ Tsubasa gab ihr einen kurzen Kuss. „Ich gehe noch kurz duschen und komme dann gleich, ja?“

„Alles klar.“ Sanae lächelte und wurde dann abgelenkt, als Daichi den Löffel so fest gegen die Tasse schlug, dass er ihm aus der Hand fiel. Natürlich begann er zu quengeln, und Tsubasa beeilte sich, die Küche zu verlassen. Anscheinend konnte das größere Dilemma jedoch noch verhindert werden, zumindest war von oben kein Baby-Gebrüll zu hören. Glück gehabt.... Tsubasa holte sich frische Jeans und T-Shirt aus dem Schrank und konnte sich gerade noch einen Blick aus dem Fenster verkneifen. Ab jetzt keine Spielchen mehr, genau wie er es sich gestern vorgenommen hatte! Aber trotzdem....so ganz wurde er das ungute Gefühl, das ihn allein bei der Erinnerung daran überfallen hatte und das er den ganzen Morgen bis jetzt erfolgreich verdrängt hatte, nicht los – auch später nicht, als er beim Frühstück bei den anderen saß. Aber wenigstens gelang es ihm dieses Mal, es nicht so offensichtlich zu zeigen. Daichi sorgte ohnehin für Ablenkung. Anscheinend hatte er Sanae ins Herz geschlossen, und umgekehrt war es genauso. Während des ganzen restlichen Frühstücks saß er weiterhin auf ihrem Schoß, plapperte vor sich hin und machte sich einen Spaß daraus, Sanae alle möglichen Sachen anzubieten – über ein angelutschtes Stück Brot bis hin zu dem kleinen Knautschfußball. Ihre halbherzigen Versuche, die Sachen abzulehnen, sorgten für viel Gelächter. Als Tsubasa sich später an diesem Tag an diese Augenblicke zurück erinnerte, kam es ihm eher wie ein Traum vor, oder wie eine Atempause vor dem endgültigen Absturz. Aber vorerst ahnte er nichts von dem, was noch kommen sollte, und sogar er musste über Daichis eifrige Bemühungen schmunzeln. Die Zeit verging schnell, und eine gute halbe Stunde später verließen Tsubasa und Sanae gemeinsam das Haus. Sie waren mit Taro auf halber Strecke verabredet, die neue Wohnung der Misakis lag sozusagen auf dem Weg. Treffpunkt mit den anderen war der neue Fußballplatz, sie hatten also eine gute Strecke zu laufen, aber es war noch früh und sie hatten noch Zeit. Sanae atmete die frische Morgenluft tief ein und hakte sich dann bei Tsubasa unter.

„Ich bin unheimlich gespannt auf den Tag heute – wir waren schon ewig nicht mehr in Toho!“

„Das letzte Mal ist schon ein paar Jahre her, das stimmt.“

Sanae blickte ihn von der Seite an. „Freust du dich auf das Spiel?“

„Sicher, warum sollte ich nicht?“

„Na ja, ich dachte nur, dass....“ Sie brach ab.

„Dass ich andere Sachen im Kopf habe?“

Sanae nickte, und es war fast beruhigend zu wissen, dass er sie manchmal genauso gut kannte wie sie ihn.

„Ich habe beschlossen, dass es keine Briefe gibt. Zumindest heute nicht.“

„Also willst du wohl auch immer noch nicht zur Polizei, nehme ich an?“

„Nein – davon musst du gar nicht wieder anfangen. Außerdem hätte das Revier heute eh schon geschlossen, wenn wir wieder zurück sind.“

Sanae setzte zu einer Antwort an, gab sich dann aber seufzend und kopfschüttelnd geschlagen. Anscheinend hatte sie auch keine Lust, heute großartig über das Thema zu sprechen und sich davon den Tag vermiesen zu lassen. Sie schwiegen, bis sie schließlich in die Straße einbogen, in der Taro wohnte. Er wartete bereits in einiger Entfernung auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hatte sie aber noch nicht bemerkt.

„Hey, da ist er ja schon. Klappt ja alles perfekt!“ Sanae löste sich von Tsubasa und winkte, um Taro auf sich aufmerksam zu machen. „Ich hoffe, er steht nicht schon ewig da draußen – wir sind nicht zu spät, oder?“

„Nein, sind wir nicht, glaube ich zumindest....“ Tsubasa wollte einen Blick auf die Uhr werfen, stellte aber fest, das er ausgerechnet heute keine trug. In der nächsten Sekunde überschlugen sich die Ereignisse. Noch während er sein Handy aus der Hosentasche zog, um einen Blick auf das Display zu werfen und so heraus zu finden, ob sie zu spät waren, bemerkte er aus dem Augenwinkel etwas rotes. Er wandte automatisch den Kopf, hörte im selben Moment das Aufheulen eines Motors und Sanaes Stimme, als sie Taros Namen rief. Der rote Blitz schoss an ihm vorbei, der Motor wurde lauter, und bevor Tsubasa auch nur irgendwie reagieren konnte, raste ein roter Opel direkt an ihm vorbei auf Sanae zu. Sie war weitergelaufen und stand jetzt mitten auf der Straße.... Es ging so schnell, dass sie nicht mal schreien konnte. Der Wagen erfaßte sie frontal, es gab ein dumpfes Krachen, als ihr Körper über Motorhaube, Dach und Kofferraum prallte, und ein leises Poltern, als sie schließlich auf der Straße aufschlug. Der Opel raste weiter und verschwand in der Ferne. All das hatte nur wenige Sekunden gedauert. Tsubasa stand am Straßenrand, das Handy immer noch in der Hand, und starrte fassungslos auf die Szene vor sich, auf Sanaes reglose Gestalt, die auf dem Asphalt lag. Langsam bildete sich eine Blutlache.

„Sa...nae....?“
 

***
 

„Oh verdammt, verdammt, verdammt!“

Frau Ishizacki schrak hoch, als sie aus dem Zimmer ihres Sohnes direkt über der Küche einen Aufschrei und kurz darauf ein dumpfes Poltern hörte. Mit großen Augen starrte sie an die Decke, den Kochlöffel, mit dem sie gerade einen Kuchenteig hatte umrühren wollen, noch in der Hand. Es rumpelte wieder, erneut ein Fluchen, und langsam dämmerte Frau Ishizacki, was da oben vor sich ging. Sie seufzte und widmete sich wieder ihrem Kuchen. Nur wenige Minuten später kam Ryo die Treppe hinunter gerast und rannte an der Küchentür vorbei, mit seiner Sporttasche kämpfend.

„Morgen Mama – bin zu spät! Tschüß, Mama!“

Und weg war er. Frau Ishizacki quittierte den überhasteten Aufbruch ihres Sohnes mit einem Augenrollen.

„Jeden zweiten Morgen dasselbe Spiel.....“

Während sie den Teig in die Kuchenform füllte, rannte Ryo draußen bereits um die Ecke. Mit einer Hand zerrte er noch den Reissverschluss seiner Tasche zu, gleichzeitig warf er einen Blick auf die Uhr. Bereits Viertel nach zehn – er hatte total verschlafen!! Dabei hatte er doch extra zwei Wecker gestellt – aber vermutlich hätte er den Director's Cut gestern doch nicht mehr anschauen sollen! Wie spät war gewesen, als er eingeschlafen war? Halb zwei, oder halb drei? Er hatte keine Ahnung – auf alle Fälle war er heute morgen auf der Couch vor dem Fernseher aufgewacht und hatte sich beim aufstehen prompt in der Decke verheddert, mit der er es sich gestern gemütlich gemacht hatte. Und jetzt das – hoffentlich warteten die anderen auf ihn! Zumindest hatte er noch keine Drängel- oder SMS auf seinem Handy, das war ein gutes Zeichen – oder ein schlechtes? Waren sie womöglich schon weg? Unwillkürlich beschleunigte Ryo seine Schritte noch mehr – und tatsächlich schaffte er die Strecke zum neuen Fußballplatz in Rekordzeit. Um Punkt halb elf kam er völlig außer Atem dort an – und sah zu seiner Überraschung und zu seiner Erleichterung die Anderen in Gruppen um die Autos herum stehen.

„Gott sei dank – sorry für die Verspätung.“ Er ließ seine Sporttasche ins Gras fallen, kaum das er seine Freunde erreicht hatte, und stützte die Hände auf die Knie, um wieder durchatmen zu können.

„Wir haben mit nichts anderem gerechnet.“, grinste Izawa. „Was meinst du, warum wir die Abfahrt schon auf zehn gesetzt haben?“

„Hä....?“

Kisui gab ihm einen leichten Stoß gegen die Rippen. „Damit wir pünktlich sind, müssen wir erst in zehn Minuten los.“

Ryo starrte ihn ein paar Sekunden perplex an, dann begann er zu schimpfen, und seine Freunde lachten.

„Aber wenn es dich beruhigt, du bist nicht mal der letzte, ausnahmsweise.“ Izawa blickte auf die Uhr. „Tsubasa, Sanae und Taro fehlen noch..“

„Echt jetzt?“ Ryo blinzelte überrascht. „Habt ihr ihnen von dem Trick erzählt?“

„Nein, das wußten nur Taki und ich – und Kojiro, der hat uns den Tipp gegeben, damit du pünktlich bist.“

Ryo warf Izawa einen gespielt hochnäsigen Blick zu, bevor er ernst wurde. „Dann ist es aber komisch, dass sie noch nicht da sind. Habt ihr schon mal versucht, sie auf dem Handy zu erreichen?“

„Ja, aber es geht keiner ran.“

„Komisch.“

„Wir haben uns auch schon gewundert, aber bis jetzt haben wir noch gedacht, dass sie vielleicht mit dir zusammen unterwegs sind.“

„Ne, ich war alleine....“ Ryo runzelte die Stirn und suchte nach seinem eigenen Handy. Wie von Izawa prophezeit, nahmen weder Tsubasa noch Sanae ab. Bei Taro allerdings hatte er Erfolg, und Ryo atmete erleichtert auf.

„Na endlich! Hör mal, bist du zufällig mit Tsubasa und Sanae unterwegs? Wir....“

Er brach ab, als Taro am anderen Ende der zu reden begann. Bereits nach wenigen Sekunden wurde er leichenblass.

„Was.....?“

An seinem Tonfall hörten auch die anderen, das anscheinend etwas nicht stimmte. Nach und nach verstummten die Gespräche, und alle Augen richteten sich auf Ryo. Das Gespräch dauerte nur noch wenige Sekunden.

„Wir kommen hin.“

Das war alles, was Ryo noch sagte, dann legte er sofort auf. Die Anderen sahen ihn verwundert an.

„Was ist los?“

Ryo schluckte und brauchte zwei Versuche, bis ihm seine Stimme gehorchte. „Sanae ist überfahren worden.....“

Starre

Frau Ozora war gerade damit beschäftigt, ihren Jüngsten zu baden, als das Telefon klingelte. Da ihr Ehemann zuhause war, achtete sie nicht darauf. Daichi beanspruchte ohnehin ihre ganze Aufmerksamkeit, er dachte gar nicht daran still zu halten und sich die Haare waschen zu lassen. Fröhlich vor sich hin brabbelnd fischte er nach der Quietscheente, die ihm ständig durch die nassen Finger flutschte. Seine Mutter seufzte, konnte aber ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Das Telefon hatte aufgehört zu klingeln, sie konnte ihren Mann gedämpft sprechen hören. Just in diesem Moment hüpfte die Ente wieder davon, und Daichi versuchte mit vollem Körpereinsatz, sie zurück zu holen. Frau Ozora konnte ihn gerade noch festhalten und verhindern, dass er Kopfüber im Wasser landete.

„Himmel noch mal, Daichi, jetzt halt endlich still!“, schimpfte sie milde. „So werden wir nie fertig!“

Daichi blickte sie unschuldig an, blieb jedoch immerhin brav sitzen, so dass sie ihn loslassen und mit der freien Hand nach der Shampoo-Flasche greifen konnte. Als sie aufblickte, stand ihr Mann im Türrahmen, und anhand seiner Miene konnte sie sofort sehen, dass etwas nicht stimmte. Sie hielt inne und blickte ihn überrascht an.

„Was ist los? Wer hat angerufen?“

„Die Polizei.“

„Was?“ Frau Ozora blinzelte. „Warum? Ist irgendetwas passiert?“ Langsam bekam sie ein mulmiges Gefühl.

„Ja......das kann man wohl sagen.“

„Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen! Was ist los?? Geht es um Tsubasa?“

Herr Ozora schien einen Moment lang nach den richtigen Worten zu suchen, dann nickte er schließlich.

„Ja.....aber keine Angst, es geht im gut....körperlich, meine ich.....“

„Was soll das schon wieder heißen?“ Frau Ozora richtete sich auf und hob Daichi aus der Wanne, bevor sie ihn in ein Badetuch wickelte und ihren Mann dann besorgt anblickte. „Rede mit mir!“

Herr Ozora seufzte. „Sanae hatte einen ziemlich schweren Autounfall. Sie wird gerade im Krankenhaus operiert.....genaues hat mir der Polizist nicht sagen können, aber anscheinend ist sie mit hoher Geschwindigkeit angefahren worden....“

Seine Frau wurde bleich. Daichi strampelte, aber sie achtete nicht darauf.

„Wie schlimm ist es? Und was ist mit Tsubasa?“

„Ziemlich schlimm. Ich weiß nur, dass sie operiert wird....aber anscheinend ist die Lage ernst. Tsubasa ist körperlich in Ordnung, er stand am Straßenrand, aber......“ Er redete nicht weiter, aber das war auch nicht nötig. Beide kannten ihren Sohn gut genug, um sich auszumalen, wie es ihm ging.

„Wo ist er?“, wollte Frau Ozora schließlich wissen.

„Auch im Krankenhaus, darum hat die Polizei auch hier angerufen.“

„Versuch die Babysitterin zu erreichen, wir müssen da sofort hin!“

Ohne eine Antwort abzuwarten, hastete sie mit ihrem verdutzten Sohn auf den Armen ins Kinderzimmer und begann, ihn so schnell wie möglich trocken zu rubbeln und anzuziehen.

Daichi schien ebenfalls zu spüren, dass etwas nicht in Ordnung war, zumindest ließ er die verhältnismäßig grobe Behandlung ruhig über sich ergehen und musterte seine Mutter mit großen Kulleraugen. Erst, als sie ihn eine gute Viertelstunde später bei ihrem Babysitter abgab, begann er zu weinen und streckte die Hände nach ihr aus.

„Tut mir leid, Spatz.“, meinte Frau Ozora hastig und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Du kannst nicht mitkommen. Wir holen dich ganz schnell wieder ab, keine Angst. Sei brav.“

Sie küsste ihn noch mal, dann verabschiedete sie sich von der Babysitterin und rannte zurück zum Wagen, wo ihr Mann mit laufendem Motor auf sie wartete. Nach einer erneuten halben Stunde, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkam, betraten sie die Klinik und rannten über die weißen Gänge Richtung Notaufnahme. Sie waren nicht die einzigen. Beim Näherkommen erkannten sie, dass sich nahezu die komplette Fußballmannschaft auf die diversen Sitzgruppen verteilt hatte. Sanaes Eltern saßen ein Stück entfernt, nahe an den Flügeltüren, die in den OP-Bereich führten. Das Licht darüber leuchtete rot. Frau Nakazawa weinte, ihr Mann hielt sie im Arm und starrte über ihren Rücken an die Wand.

„Ich bleibe hier und versuche, einen Arzt aufzutreiben, der uns mehr über Sanae sagen kann.“, meinte Herr Ozora gedämpft. „Du kümmerst dich um Tsubasa.“

Seine Frau nickte widerspruchslos und schnappte sich die erste Krankenschwester, die an ihr vorbei kam. Herr Ozora hörte noch, dass sie aufgeregt auf die im ersten Moment etwas verwirrt dreinblickende Schwester einzureden begann, dann hatte er die Anderen erreicht. Taro bemerkte ihn zuerst, er hob den Kopf. Zu seinen Füßen stand Tsubasas Sporttasche. Teilweise hatte sie dunkle Flecken.....anscheinend Blut. Herr Ozora hatte plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund.

„Gibt es irgendetwas neues?“, wollte er ohne Umschweife mit nach wie vor gedämpfter Stimme von Taro wissen. Er bekam ein Kopfschütteln zur Antwort.

„Nein.....sie ist immer noch da drin.....“

Taro klang mehr als müde, ihm war anzusehen, dass ihm die ganze Sache sehr zu schaffen machte. Seine Freunde machten keinen besseren Eindruck. Niemand sprach. Herr Ozora spielte kurz mit dem Gedanken, zu Sanaes Eltern hinüber zu gehen, ließ es dann aber bleiben. Das war sicher kein guter Zeitpunkt..... Er blickte sich suchend nach einem Arzt um. Taro schien seine Absicht zu erraten.

„Ich fürchte, Sie werden niemanden erwischen, der Ihnen mehr sagen kann....wir versuchen es selber ständig, aber alle Ärzte, die was wissen, sind bei ihr drin.....“

„Wie ernst ist es?“

„Ernst.“

Die Art, wie Taro das sagte, bestätigte Herr Ozoras schlimmste Befürchtungen.

Nach kurzem Zögern setzte er sich in den letzten freien Stuhl neben Taro und begann ebenfalls zu warten.
 

***

Frau Ozora wurde unterdessen von der Krankenschwester in einen anderen Teil der Klinik geschickt. Hier gab es noch mehr Behandlungszimmer. Es schien ein verhältnismäßig ruhiger Tag zu sein, nur wenige Patienten waren auf dem Gang, die Krankenschwestern machten einen verhältnismäßig ruhigen Eindruck. Frau Ozora blickte sich leicht unsicher um, in der Aufregung hatte sie sich die Zimmernummer nicht gemerkt. Nach erneuter kurzer Nachfrage stand sie schließlich vor der richtigen Tür und klopfte. Nach ein paar Sekunden ertönte ein gedämpftes „Herein!“

Sie drückte die Klinke nach unten, und als die Tür aufschwang, fiel ihr Blick als erstes auf Tsubasa, der reglos auf einem Stuhl saß, eine Decke über den Schultern.

„Entschuldigung, wer sind Sie?“

Frau Ozora zuckte zusammen und wandte den Blick von ihrem Sohn ab. Jetzt erst bemerkte sie den jungen Arzt, der sich ebenfalls im Raum befand und sie fragend anblickte.

„Seine Mutter.“

„Ah, die Polizei hat Sie also erreicht? Entschuldigung, dass Sie erst so spät verständigt wurden, aber....“

Frau Ozora schüttelte den Kopf und schloss die Tür hinter sich, bevor sie zu Tsubasa hinüber ging. Er schien noch gar nicht realisiert zu haben, dass sie angekommen war. Als sie ihm in die Augen blicken konnte, fröstelte sie unwillkürlich. Er reagierte gar nicht, sein Blick ging geradewegs durch sie hindurch.

„Sie müssen sich keine Sorgen machen, körperlich ist alles mit ihm in Ordnung.“, begann der Arzt ihre unausgesprochene Frage zu beantworten. „Aber er scheint unter Schock zu stehen.....kein Wunder, meiner Meinung nach. Das Einsatzteam hat ihm vor Ort noch ein ziemlich starkes Beruhigungsmittel gegeben, anders hätten sie ihn anscheinend nicht hierher bekommen. Es hat sie ziemlich viel Kraft gekostet, ihn von dem Mädchen wegzuziehen..... Auf alle Fälle wirkt das Medikament noch, und darum ist er wohl so abwesend.“

Abwesend war nach Meinung von Frau Ozora das absolut falsche Wort – starr schien es besser zu treffen.

„Tsubasa.“, meinte sie leise und drehte behutsam sein Gesicht mit den Händen in ihre Richtung, so dass er sie direkt ansehen musste. „Tsubasa, ich bin’s.“

Auf ihre Berührung hin zuckte Tsubasa leicht zusammen, sein Blick flackerte, und er schien sie endlich zu bemerken. Allerdings sprach er nach wie vor kein Wort.

Frau Ozora schloss ihn kurzerhand in die Arme.

„Keine Angst, Sanae schafft es..... sie schafft es ganz bestimmt.“

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass der Arzt leise das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss, kümmerte sich aber nicht darum.

„Sie schafft es.“, wiederholte sie eindringlich. „Du wirst sehen.....alles wird wieder gut.“

Schuld

Frau Ozora hatte keine genaue Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war. Ihre Uhr hatte sie in der Hektik zu Hause vergessen, und in diesem Raum hier hatte sie zumindest noch keine entdeckt. Tsubasa sprach nach wie vor kein Wort. Seine Mutter hatte mehrmals versucht, ihn wenigstens dazu zu überreden, sich etwas hinzulegen, aber ohne Erfolg. Er blieb einfach still auf seinem Platz sitzen, nach wie vor mit der Decke über den Schultern. Frau Ozora hatte keine Ahnung, ob diese unheimliche Starre tatsächlich von dem Beruhigungsmittel herrührte oder von dem Schock, aber je länger sie andauerte, desto beunruhigter wurde sie. Der Arzt ließ sich vorerst nicht mehr blicken, genauso wenig wie eine Krankenschwester oder überhaupt irgendjemand, mit dem sie hätte sprechen können, und da sie es nicht wagte, ihren Sohn in diesem Zustand aus den Augen zu lassen, blieb ihr nicht anderes übrig, als neben Tsubasa sitzen zu bleiben und hin und wieder zu versuchen, zu ihm durchzudringen. Bis auf den kurzen Moment, als er direkt nach ihrer Ankunft auf sie reagiert hatte, blieb sie jedoch ohne Erfolg. Nach einer Ewigkeit, so schien es, klopfte es zaghaft an der Tür. Frau Ozora erhob sich automatisch, aber es war nur ihr Mann, der den Raum betrat. Er sah sehr ernst aus.

„Wie sieht es hier aus?“, wollte er nach einem Blick auf seinen Sohn wissen.

Frau Ozora zuckte hilflos mit den Schultern. „Gibt es etwas Neues von Sanae?“

Sie bemerkte am Rande, das Tsubasa beim Klang ihres Namens leicht zusammenzuckte, aber bevor sie darauf reagieren konnte, redete ihr Mann weiter.

„Sie haben sie bis vor fünf Minuten operiert…“

„Und?“

„Nun ja….“ Herr Ozora wurde noch ernster. „Sie hat überlebt, vorerst…..anscheinend hat sie schwere Kopfverletzungen und Knochenbrüche, wegen der inneren Blutungen haben sie sie sofort notoperieren müssen. Im Moment liegt sie auf der Intensivstation im Koma, wir müssen abwarten…..“

Frau Ozora blickte ihn geschockt an. „So schlimm? Aber….“

Weiter kam sie nicht. Tsubasa war abrupt aufgestanden und verlor dabei die Decke. Ohne sich darum zu kümmern, wollte er an seinem Vater vorbei, wurde allerdings von ihm zurück gehalten.

„Warte, Tsubasa!“

„Ich muss zu Sanae!“

„Ich weiß, aber das geht nicht! Erstens bist du selber nicht fit genug….“

„Mir geht’s gut!“

Herr Ozora überging den Einwand, von dem er genau wußte, dass es nicht stimmte – dazu genügt es nur, sich seinen Sohn anzusehen.

„…und zweitens sind ihre Eltern gerade bei ihr, und der Arzt hat weiteren Besuch für heute streng verboten. Sie braucht absolute Ruhe….“

Tsubasa wollte sich aus dem Griff seines Vaters befreien, aber Herr Ozora hielt ihn unbarmherzig fest.

„Bitte sei vernünftig!“, meinte er ernst. „Ich weiß, dass du unbedingt zu Sanae willst, aber im Moment schadest du euch beiden nur damit. Sieh zu, dass du bis morgen selber wieder richtig auf die Beine kommst, dann kannst du sie sicher auch besuchen! Bitte, Tsubasa!“

Frau Ozora bekam langsam einen Eindruck davon, was der Arzt vorhin angedeutet hatte. Obwohl die Wirkung des Beruhigungsmittels anscheinend noch nicht hundertprozentig nachgelassen hatte – das sah sie an Tsubasas noch recht mechanischen Bewegungen – kostete es ihren Mann alle Mühe, ihn festzuhalten. Seine Augen hatten diese unheimliche Leere verloren, dafür konnte man die Verzweiflung und die Angst um Sanae so deutlich ablesen wie an einer Tafel. Frau Ozora schluckte und kam ihrem Mann zu Hilfe. Dabei bemerkte sie die großen, dunklen Flecken auf seiner Kleidung, die bis jetzt von der Decke verborgen gewesen waren. Blut. Sanaes Blut….

„Lasst mich los! Ich will sie doch nur sehen….“

„Ich weiß, aber es geht nicht! Komm wieder zur Vernunft, bevor die Ärzte auf die Idee kommen, dir noch mal ein Beruhigungsmittel zu spritzen!“, meinte Herr Ozora energisch. „Du kannst heute nicht zu ihr! Wir fahren jetzt nach Hause, ich habe die Erlaubnis dafür bekommen. Dann legst du dich hin und morgen früh bringe ich dich persönlich hierher zurück, damit du sie sehen kannst. Und ich habe die Ärzte gebeten, uns sofort anzurufen, falls sich etwas verändert! Vertrau mir! Oder willst du, dass sie dir den Besuch vollständig verbieten, wenn du dich so benimmst?“

Das endlich schien zu wirken. Tsubasa hörte auf, sich zu wehren, seine plötzliche Energie verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Er schien in sich zusammenzusinken, und Frau Ozora nahm ihn ohne nachzudenken wieder in den Arm.

„Keine Sorge, alles wird wieder gut.“, meinte sie leise. „Sanae schafft es, das habe ich dir doch schon einmal gesagt…. Dass sie die OP überstanden hat, ist ein gutes Zeichen!“

Tsubasa antwortete nicht, aber sie konnte spüren, dass er unkontrolliert zitterte. Auch Herr Ozora hatte es bemerkt.

„Ich hole noch schnell die Sporttasche, Taro hat sie in Verwahrung genommen. Er wird dann auch mit den Anderen nach Hause fahren, sie wollten nur noch wissen, ob es Tsubasa soweit gut geht. Aber ich denke, er sollte sie in dem Zustand nicht sehen….“

Frau Ozora nickte, ohne ihren Griff um ihren Sohn zu lockern.

„Ich werde auch noch versuchen, ob ich den Arzt noch mal treffe, der hier nach ihm gesehen hat, bevor wir fahren.“, stellte Herr Ozora nach einem erneuten Blick auf Tsubasa fest. „Es wird hoffentlich nicht lange dauern….“

Seine Frau nickte erneut, und Herr Ozora verließ das Zimmer.
 

***
 

Es dauerte in der Tat nicht lange. Keine Stunde später schloss Herr Ozora die Haustür auf. Der Arzt hatte Tsubasa erneut untersucht, aber gesundheitlich fehlte ihm nichts. Er hatte ihn angewiesen, sich die nächsten Stunden auszuruhen, und ihm noch Tabletten mitgegeben, damit er schlafen konnte. Dennoch ließ Frau Ozora ihren Sohn während der Heimfahrt nicht aus den Augen. Tsubasa hatte sich soweit wieder gefasst, er zitterte nicht mehr, war aber immer noch schweigsam und sehr bleich. Als sie das Haus betraten, stellte Herr Ozora die Sporttasche in der Diele auf den Boden und blickte dann seine Frau an.

„Fährst du Daichi abholen oder soll ich?“

„Das mache ich, ich nehme das Rad – ein paar Minuten an der frischen Luft tun mir sicher gut….“

Herr Ozora nickte und blickte dann zu Tsubasa hinüber, der teilnahmslos neben seinen Eltern gestanden hatte.

„Und du gehst hoch ins Bett und bleibst da, verstanden? Versuch ja nicht, alleine zum Krankenhaus abzuhauen…..“

Tsubasa wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und ging Richtung Treppe. Sein Vater blickte ihm kummervoll hinterher, dann ging er in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. Nach dem ganzen Schrecken konnten sicher alle eine Stärkung vertragen…
 

***

Als Tsubasa die Treppe nach oben stieg, kam ihm immer noch alles seltsam unwirklich vor. Heute morgen noch war er mit Sanae dieselbe Treppe nach unten gegangen, voll Vorfreude auf das Spiel in Toho und mit dem festen Entschluss, für ein paar Stunden den ganzen Ärger zu vergessen…. Und jetzt lag sie alleine auf der Intensivstation, sah nichts und hörte nichts…… Bei dem Bild, das sich in seinem Kopf formte, begannen seine Hände erneut zu zittern, und er ballte sie fest zu Fäusten. Warum ausgerechnet Sanae? Es hätte doch wenigstens ihn erwischen können…. Als er die Zimmertür öffnete, war er sich mehr denn je dem Blut auf seiner Kleidung bewusst. Er konnte sich an die Minuten nach dem Unfall nur verschwommen erinnern. Wenn Taro nicht da gewesen wäre….. Tsubasa wusste noch, dass sein Freund alles menschenmögliche unternommen hatte, um ihn von Sanae wegzuziehen und so zu verhindern, dass er ihre Verletzungen noch verschlimmerte. Taro war es auch gewesen, der den Krankenwagen gerufen hatte und die Polizei. Sie hatten ihm Fragen gestellt, aber Tsubasa hatte keine einzige davon beantworten können, also war auch hier Taro in die Bresche gesprungen, hatte so gut er konnte beschrieben was passiert war und eine notdürftige Beschreibung des Autos abgegeben. Andere Zeugen gab es nicht…. Tsubasa würde in ein paar Tagen ebenfalls zur Polizei gehen müssen. Und er schuldete Taro mehr als eine Entschuldigung, er hatte es ihm weiß Gott nicht leicht gemacht… Im Zimmer fiel sein Blick zuerst auf Sanaes Rucksack, der immer noch neben dem Bett stand. Sanae hatte ihn heute abend erst abholen wollen. Tsubasa ballte jetzt die Hände so fest zu Fäusten, dass sich seine Fingernägel tief in seine Handfläche gruben. Wie sollte er sich hier einfach so ausruhen, während sie….. Er wandte den Blick ab – und erstarrte. Jetzt erst bemerkte er das Fenster. Die reparierte Scheibe war erneut zersprungen, ein neuer Stein mitsamt Brief auf dem Teppichboden. Die Szenerie begann vor seinen Augen zu flimmern. Ohne nachzudenken, hob er den Stein auf und wickelte das Papier ab. Die Nachricht war wie alle anderen gestaltet.
 

That was fun!
 

In seinem Hinterkopf hatte es unangenehm zu pochen begonnen. Tsubasa starrte die Buchstaben mehrere Minuten lang an, ohne sich zu rühren. Dann ließ er es abrupt fallen, hastete zum Papierkorb hinüber und kippte ihn aus. Es dauerte nicht lange, bis er gefunden hatte, was er suchte. Der Brief war reichlich zerknittert, und er musste ihn mehrmals glatt streichen, bis er ihn lesen konnte.
 

You will miss her!
 

Das Pochen in seinem Hinterkopf steigerte sich zu einem Hämmern, das Blut rauschte in seinen Ohren. Wieder starrte er die Botschaft mehrere Minuten lang an, dann packte er den Stein und warf ihn mit einem wütenden Schrei von sich. Er traf den Schreibtisch. Der Blumentopf der Zimmerpflanze, die seine Mutter vor einiger Zeit dort abgestellt hatte, um „etwas Farbe in den Raum zu bringen“, wie sie es ausgedrückt hatte, zersprang unter lautem Klirren, gemeinsam mit einer Wasserflasche. Erde verteilte sich auf der Tischplatte und rieselte auf den Teppichboden, vermischte sich mit dem heruntertropfenden Wasser. Der Bücherstapel, der daneben gestanden hatte, kippte ebenfalls um und landete in der dreckigen Pfütze. Tsubasa blieb außer Atem stehen, wo er war, den Blick auf die Sauerei auf dem Teppichboden und auf der Delle in der Schreibtischplatte gerichtet. Der Stein blickte unschuldig zurück. Tsubasa ließ den Brief los und sank haltlos auf den Boden, das Gesicht in den Händen vergraben. Hastige Schritte ertönten auf der Treppe, in der nächsten Sekunde riss sein Vater die Tür auf und stürmte in das Zimmer.

„Tsubasa! Was….?!“

Er brach ab und blickte fassungslos auf das Durcheinander, das sich ihm bot….die Scherben und die Erde, der ausgekippte Papierkorb, die zersprungene Fensterscheibe, und inmitten dieses Chaos Tsubasa auf dem Boden……

„Was…was ist hier passiert?“, wollte Herr Ozora misstrauisch und besorgt wissen. „Tsubasa ?“

Tsubasa schüttelte nur den Kopf, und sein Vater betrat das Zimmer ganz.

„Was ist hier passiert?“, wiederholte er, während er sich erneut umsah. „Was war das für ein Lärm gerade eben, warum hast du geschrien? Und was ist mit dem Fenster passiert?“

„Es ist meine Schuld….“

„Was?“ Irritiert blickte Herr Ozora seinen Sohn an. „Was meinst du damit? Hast du das Fenster etwa eingeworfen?“

„Nein…“ Tsubasa schüttelte erneut den Kopf, ohne seinen Vater anzusehen. „Sanae wird sterben und es ist meine Schuld….“

Herr Ozora schwieg ein paar Sekunden, dann setzte er sich neben ihn auf den Fußboden. Mit so etwas hatte er bereits gerechnet.

„Wie kommst du darauf? Natürlich ist es nicht deine Schuld! Keiner hätte in so einer Situation schnell genug reagieren können, du….“

Weiter kam er nicht. Tsubasa hob abrupt den Kopf, in seinen Augen standen Tränen. „Du hast doch keine Ahnung!! Es ist meine Schuld!! Sie wollte zur Polizei, sie hat mich immer wieder dazu gedrängt, und ich bin nicht hingegangen, und jetzt wird sie sterben!!“

Mittlerweile schrie er beinahe. Sein Vater sah ihn geschockt an.

„Wovon redest du?“

„Davon!“ Tsubasa hielt ihm einen der Briefe vor die Nase. „Von diesen verdammten Briefen, die mir irgendein Irrer ständig durchs Fenster wirft oder vor die Tür legt! Seit ich hier bin geht das schon so, und ich wollte nicht zur Polizei….“ Seine Stimme versagte.

Sein Vater nahm ihm den Zettel ab und überflog ihn. Dann sah er ihn ernst an.

„Warum hast du uns nichts davon gesagt?“

„Was spielt das noch für eine Rolle?“, meinte Tsubasa bitter, ohne ihn anzusehen. „Sanae wird sterben….. wenn ich den Brief gestern wenigstens noch gelesen hätte, dann…..“ Er brach erneut ab und konnte nun endgültig nicht mehr verhindern, dass ihm Tränen die Wangen hinunterliefen. Er registrierte es nicht mal…..

Sein Vater faltete den Brief mit ernster Miene zusammen.

„Ich will, dass du mir jetzt gut zuhörst.“, meinte er schließlich leise. „Sicher wäre es besser gewesen, wenn du zur Polizei gegangen wärst oder wenigstens mit uns geredet hättest, aber du hast keine Schuld an dem, was heute passiert ist. Schuld hat nur der, der das Auto gesteuert hat.“

Tsubasa schüttelte wieder nur den Kopf und wandte den Blick ab, aber sein Vater packte ihn an den Schultern und zwang ihn, ihn anzusehen.

„Es ist wichtig, dass du das verstehst.“; meinte er eindringlich. „Du hast keine Schuld, und du hättest es auch nicht verhindern können, selbst wenn du zu ihr auf die Straße gerannt wärst. Damit hättest du nur erreicht, dass du neben ihr auf der Intensivstation liegen würdest. Also konzentrier deine Energie darauf, für sie da zu sein, und nicht, dich selbst mit Vorwürfen kaputt zu machen. Verstanden?“

Tsubasa reagierte nicht, und er fühlte sich nicht imstande, seinem Vater in die Augen zu sehen. In seinem Kopf hämmerte es immer noch unangenehm, nach wie vor rannen ihm Tränen die Wangen hinunter, und er wußte nicht, was schlimmer war – das taube Gefühl, dass in seinem restlichen Körper vorherrschte, die Leere und die Trauer, oder die rasende Wut…. Sein Vater schien seine Gedanken zu lesen.

„Glaub mir, ich verstehe mehr als du denkst.“, meinte er ruhig. „Und darum solltest du endlich auf mich hören. Nimm ein oder zwei von den Tabletten und versuch zu schlafen, in dem Zustand bist du Sanae keine Hilfe. Morgen früh gehen wir zur Polizei, bevor ich dich wieder ins Krankenhaus fahre. Du gibst ihnen die Briefe und erzählst alles, was passiert ist, ohne Ausnahme. Danach geht es dir sicher besser. Und wer weiß, vielleicht ist Sanae morgen auch schon wieder wach.“

Tsubasa brachte ein leeres Lächeln zustande und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab, bevor er sich von seinem Vater auf die Beine ziehen ließ. Das klang alles zu schön, um wahr zu sein. Dennoch spürte er, dass Herr Ozora recht hatte. Er brauchte Schlaf, brauchte ein paar Stunden, ohne Sanae ständig vor sich liegen zu sehen……nur ein paar Stunden, in denen er sich einreden konnte, alles nur geträumt zu haben….

Zorn

Bis auf das Ticken der Küchenuhr war es totenstill. Taro saß am Tisch, eine Tasse Kaffee vor sich, das Gesicht in den Händen vergraben. Er hatte das Gefühl, den längsten Tag seines Lebens hinter sich zu haben. Mit ihm am Tisch saßen Ryo, Izawa und Yukari. Auch sie wirkten abgespannt und erschöpft. In stummer Übereinkunft hatten sie sich vor dem Krankenhaus von den Anderen verabschiedet und waren anschließend gemeinsam zu Taros Wohnung gefahren. Yukari war ebenfalls erst spät verständigt worden und sogar noch nach Tsubasas Eltern angekommen, man konnte ihr ansehen, dass sie viel geweint hatte in den letzten Stunden. Jetzt saß sie stumm neben Taro und starrte in die Tasse vor sich. Der Tee darin dampfte, aber getrunken hatte sie noch nichts. Auch Ryo und Izawa sagten kein Wort. Es gab nichts zu sagen, aber allein sein wollte jetzt auch niemand. Das Telefon stand in Griffweite, obwohl sie nicht wussten, ob sie sich vor einem Anruf fürchteten oder darauf hofften, das es klingelte…. Wenigstens war Herr Misaki noch nicht zuhause. Gut möglich, dass sich der Unfall bereits in Nankatsu herum gesprochen hatte und er bereits versucht hatte, seinen Sohn zu erreichen, aber wenn ja, wusste Taro noch nichts davon. Er hatte sein Handy direkt nach dem Gespräch mit Ryo wieder ausgeschaltet, es lag neben ihm. Auf irgendwelche besorgt-neugierige Anrufe von flüchtigen Bekannten konnte er gut verzichten. Aus demselben Grund blieben auch die Handys der restlichen Mannschaftsmitglieder und Freunde ausgeschaltet…. Es war eh ein Wunder, dass die Presse noch keinen Wind von der ganzen Sache bekommen hatte. Sanae Nakazawa, die große Jugendliebe des angehenden Fußball-Profis Tsubasa Ozora, bei Verkehrsunfall mit Fahrerflucht schwer verletzt….. Er konnte die Schlagzeile förmlich vor sich sehen und bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken. Wieder zogen die Bilder des Vormittags an ihm vorbei. Das dumpfe Krachen, als Sanaes Körper erfaßt wurde, der rote Wagen, der plötzlich um die Ecke schoss und genauso schnell wieder verschwand, wie er gekommen war, Tsubasas verzweifelte Schreie, als er schließlich begriffen hatte, was passiert war, die ersten neugierigen Schaulustigen…. Unwillkürlich blickte Taro auf und rieb sich seinen Arm. Einige blaue Flecken bildeten sich bereits, Tsubasa hatte sich heftig gewehrt, als Taro versucht hatte, ihn von Sanae wegzuziehen. So hatte er seinen Freund noch nie erlebt….

Ryo hatte offensichtlich einen ähnlichen Gedanken, als er die Stille plötzlich durchbrach.

„Meint ihr, wir hätten uns noch bei Tsubasa melden sollen?“

„Nein.“ Yukari schüttelte den Kopf. „Er ist schließlich nicht alleine, seine Eltern sind ja da.“

„Schon.“ Ryo seufzte. „Trotzdem….“

„Er kommt sicher zurecht.“, meinte Izawa leise und drehte seine eigene Tasse in den Händen. „Ich denke, er wird sich auch bei uns melden, sobald er sich wieder ein bisschen gefasst hat…. Sein Vater hat ja gemeint, dass er körperlich in Ordnung ist, er muss nur den Schock verdauen…“

Taro nickte. Schock verdauen klang irgendwie noch harmlos… Taro wollte weiß Gott nicht in Tsubasas Haut stecken, es war ja so schon schlimm genug, und allein der Gedanke, dass Marie so etwas zustoßen könnte…..

„Sanae schafft es doch, oder?“, meinte Yukari plötzlich erstickt.

Taro legte ihr den Arm um die Schulter. „Du hast die Ärzte doch gehört, ihr Zustand ist halbwegs stabil im Moment, wir müssen einfach abwarten….“

Izawa seufzte und fuhr sich müde über die Augen. „Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, das wir was wichtiges vergessen haben.“

„Geht mir auch so.“ Ryo stützte den Kopf auf. „Vielleicht hätten wir doch auf Tsubasa warten sollen, bis er auch aus der Klinik kommt….“

„Nein, das ist es nicht – ich meine, ja, auch – ich hätte mich auch gerne davon überzeugt, das es ihm halbwegs gut geht und auch gerne erfahren, was eigentlich passiert ist, aber ich meine wirklich, dass wir irgendwas wichtiges übersehen haben, etwas das wir hätten erledigen sollen….ach, keine Ahnung!“ Izawa brach frustriert ab und nahm einen Schluck Kaffee. „Heute ist ja eh alles daneben….“

Die Anderen verstanden nur zu gut, was er meinte. Kaum einer war in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, alle dachten immer wieder an das Krankenhaus zurück….

Just in diesem Moment konnte man hören, wie mit quietschenden Reifen ein Auto abgebremst wurde. Taro zuckte bei diesem Geräusch zusammen, seine Freunde hoben verwundert die Köpfe. Eine Tür wurde so heftig zugeschlagen, dass es sie wunderte, nicht noch das Klirren einer Fensterscheibe zu hören, Schritte knirschten auf dem Kiesweg, und nur Sekunden später klingelte jemand Sturm.

„Meint ihr….jemand von der Presse…?“, meinte Yukari zögernd.

Taro schüttelte den Kopf, während er bereits aufstand. „Nein – warum sollten die ausgerechnet bei mir klingeln?“

„Weil du Augenzeuge bist. Vielleicht haben sie’s schon bei Tsubasa versucht….“

Der Gedanke hatte eine gewisse Logik. Taro hoffte unwillkürlich, dass Tsubasa in diesem Fall noch nicht zuhause gewesen war – nervige Journalisten waren jetzt sicher nicht das richtige…. Er zögerte. Der Besucher begann, an die Tür zu hämmern.

„Verdammt noch mal, macht auf! Ich weiß das ihr da seid, ich kenne das Auto!!! Macht gefälligst die Tür auf!“

Beim Klang dieser Stimme fuhren erneut alle zusammen. Jetzt wussten sie genau, was sie vergessen hatten. Taro seufzte und ging schließlich zur Tür. Kaum dass er sie einen Spalt weit geöffnet hatte, flog sie bereits vollends auf. Kojiro schob ihn ungeduldig zur Seite und marschierte aufgebracht in die Wohnung. Es war nicht zu übersehen, wie wütend er war.

„So!“, meinte er drohend, während er sich vor dem Küchentisch aufbaute. „Findet ihr das komisch, ja? Ihr taucht einfach so nicht auf und wir stehen uns mehrere Stunden die Beine in den Bauch!“

Die Anderen sahen ihn nur perplex und betroffen an. Über dem ganzen Chaos hatten sie doch tatsächlich vergessen, in Toho Bescheid zu sagen, warum sie nicht kamen….. Noch bevor sie etwas sagen konnten, redete Kojiro bereits weiter.

„Ich versuche schon den ganzen Tag euch zu erreichen, aber alle Handys sind aus! Ich versuch bei jedem daheim anzurufen, von dem ich die Nummer hab, aber niemand nimmt ab! Ich fahr zu jeder Adresse die ich kenne, aber keiner da. Ich hoffe, ihr habt euch wenigstens gut amüsiert bei der ganzen Sache!!“

„Glaub mir, niemand hier hat sich heute amüsiert.“, meinte Taro niedergeschlagen, der die Wohnungstür wieder geschlossen hatte und zurück in die Küche kam.

Kojiro schnaubte nur, er war so wütend, dass er Taros traurigen Tonfall nicht bemerkte.

„Und das soll ich euch jetzt einfach glauben, oder wie? Wo ist Tsubasa? Wenigstens er hätte mir doch Bescheid sagen können! Verdammt, ich hab schon angefangen mir Sorgen zu machen, weil ich niemanden erreiche!!“

„Setz dich erst mal….“ Taro deutete auf den letzten freien Stuhl, aber Kojiro schüttelte den Kopf.

„Ich stehe ausgezeichnet, danke! Also was zum Teufel ist hier los? Ihr macht Gesichter als wäre jemand gestorben!“

Yukari sank in sich zusammen und begann wieder zu weinen, dicke Tränen tropften auf ihre Bluse. Das nahm Kojiro komplett den Wind aus den Segeln, seine Wut verpuffte.

„Äh…“ Verdattert und besorgt blickte er Yukari an. „Was…? Das war doch nur eine Redewendung!“ Er sah zu den Anderen hinüber. „Was ist denn los? So schlimm kann es doch nicht sein, oder?“

„Doch.“, meinte Ryo belegt. „Ich fürchte, es ist so schlimm…..“

Kojiro starrte ihn an und blickte dann zu Taro hinüber, der sich mittlerweile an den Türrahmen gelehnt hatte und schwieg. Er brachte es beim besten Willen nicht fertig, noch einmal alles zu erzählen…. Izawa nahm ihm diese Aufgabe ab.

„Sanae hatte einen schweren Autounfall. Wir waren die ganze Zeit bei ihr im Krankenhaus, darum hast du niemanden erreicht…..“

Es wurde still, das Ticken der Wanduhr nahm wieder überhand. Kojiro blickte fassungslos von einem zum andern.

„Das ist jetzt ein schlechter Scherz, oder?“, wollte er hastig wissen, nachdem er seine Stimme wieder gefunden hatte.

„Nein, ich fürchte es ist bitterer Ernst.“ Ryo fuhr sich mit der Hand über die Augen.

„Und sie…..? Ich meine, ist sie….wird sie…“

„Sie lebt. Aber die Verletzungen sind böse, sie liegt im Koma…..genaueres wissen wir auch nicht. Wir müssen abwarten….“

Wieder herrschte Stille. Kojiro ließ sich automatisch auf den freien Stuhl fallen und registrierte es nicht einmal.

„Was….“ Er räusperte sich. „Wie ist es passiert?“

Izawa blickte kurz zu Taro hinüber, aber da der immer noch kein Wort sagte, wandte er sich schließlich wieder an Kojiro.

„So ganz klar ist uns das auch nicht. Sanae wollte anscheinend über die Straße, und dann ist plötzlich dieser Wagen aufgetaucht und hat sie mit voller Geschwindigkeit erfasst….“ Er brach ab.

Kojiro stöhnte erstickt und stützte die Ellbogen auf den Tisch, bevor er das Gesicht in den Händen vergrub. „So eine gottverdammte Sch*****! Das darf nicht wahr sein….“

Wieder schwiegen alle. Yukari schluchzte immer noch erstickt und fuhr sich immer wieder mit dem Ärmel über das Gesicht. Taro rührte sich und holte eine frische Tasse aus dem Schrank, die er kommentarlos mit Kaffee füllte und sie vor Kojiro auf den Tisch stellte, bevor er sich wieder setzte.

„Was ist mit Tsubasa?“, wollte Kojiro schließlich wissen, ohne aufzublicken. „Wie geht’s ihm?“

„Körperlich unverletzt, wenn du das meinst. Ansonsten….“ Ryo zuckte mit den Schultern und blickte ebenfalls zu Taro hinüber, der immer noch beharrlich schwieg. Er würde definitiv nicht weiterzählen, wie Tsubasa ausgerastet war….

„Wir haben noch nicht mit ihm gesprochen seitdem.“, schloss Ryo schließlich. „Nur mit seinem Vater kurz….“

„Verstehe.“ Mehr sagte Kojiro erst mal wieder nicht.

Taro nahm einen Schluck von seinem Kaffee, der mittlerweile schon fast kalt geworden war.

„Hat man das Schwein von Fahrer schon erwischt?“, fragte Kojiro nach ein paar Sekunden.

„Nein. Er ist abgehauen, und die Polizei sucht noch nach dem Wagen.“, meinte Taro leise. „Ich war zu weit weg und konnte das Kennzeichen nicht sehen, nur die Marke und die Farbe, und Tsubasa….“ Er stockte. „Tsubasa stand direkt daneben, aber er muss seine Aussage erst noch machen…. Ich glaube auch nicht, dass er sich das Kennzeichen gemerkt hat….“ Er rieb sich über die Augen. „Andere Zeugen gibt’s nicht…“

Kojiros Wur kehrte mit einem Mal so plötzlich zurück, wie sie verschwunden war. „Verdammt noch mal, warum hat uns niemand Bescheid gesagt?! Wir wären auch gekommen!“

„Tut uns wirklich leid….“, meinte Ryo kleinlaut. „Es ist einfach untergegangen….“

„Untergegangen, von wegen!“ Kojiro stand auf und begann erregt, in der Küche auf und ab zu wandern. „Ich bin genauso eng mit den Beiden befreundet wie ihr, ihr hättet mir Bescheid sagen müssen!!“

Darauf gab es nichts zu sagen. Die vier wussten, dass Kojiro im Prinzip recht hatte. Sie schwiegen, und Kojiro setzte seine Wanderung fort, bis er plötzlich so heftig mit der Hand auf die Tischplatte schlug, dass etwas Kaffee überschwappte. Erschrocken fuhren sie zusammen.

„Das reicht, ich fahr jetzt zu Tsubasa! Ich will wissen, was da genau passiert ist…..“

Er war bereits auf dem Weg nach draußen, als Taro sich wieder fasste. Während seine Freunde dem Toho-Kapitän noch perplex hinterher starrten, sprang er ebenfalls auf und rannte Kojiro hinterher.

„Warte! Das ist jetzt keine gute Idee, wir haben kurz mit seinem Vater geredet, und…“

„Ich kann mir schon vorstellen, dass es ihm jetzt nicht gerade blendend geht.“, unterbrach ihn Kojiro aufgebracht. „Und ob du’s glaubst oder nicht, ich kann auch feinfühlig sein, wenn ich will, also zerbrich dir nicht den Kopf! Ich will nur wissen, was passiert ist…. Ich kann nicht glauben, dass ausgerechnet Sanae ein Auto übersieht!“

„Sie hat das Auto nicht übersehen!“

„Was?!“

Taro holte tief Luft. „Ich war auch dabei, das hab ich doch gesagt – etwas weiter weg, aber ich bin mir sicher, dass der Wagen erst losgefahren ist, als sie schon auf der Straße war.“

„Aber….“ Kojiro starrte ihn fassungslos an. „Das heißt, das jemand mit Absicht….?“

Taro zuckte hilflos mit den Schultern. „Es sieht so aus….“

Kojiro musterte ihn argwöhnisch. „Du weißt nicht zufällig, warum?“

Taro verneinte, vielleicht ein wenig zu schnell – Kojiros Misstrauen war dadurch in keiner Weise besänftigt. Zum Glück kamen jetzt auch die Anderen aus der Küche, so dass er keine Gelegenheit hatte, noch weiter nachzuhaken.

„Lass Tsubasa heute bitte noch in Ruhe…“, meinte Ryo unsicher. „Du kannst ihn doch immer noch morgen fragen…..er wird sicher in der Klinik sein, da wollen wir auch hin, und wir wollen auch wissen, was genau los ist….“

Kojiro musterte sie der Reihe nach, dann seufzte er schließlich. „In Ordnung. Bei wem kann ich übernachten?“

Schlaf

So, zuallerst mal danke für eure lieben Kommentare bis hierher :-) Ich freu mich jedes Mal sehr darüber und es motiviert zum Weiterschreiben ^^ Ich wollte mich an dieser Stelle für die langen Wartezeiten im Moment entschuldigen, aber ich bin mitten in meinen Magisterprüfungen, noch bis Juli, und komme daher nicht so oft zum Schreiben, wie ich es gerne hätte. Aber ich werde diese FF auf alle Fälle zuende schreiben. :-)
 

Viel Spaß beim nächsten Kapitel und danke für eure Geduld :-)
 

*******
 

Schlaf
 

Als Tsubasa die Augen aufschlug, dauerte es eine Weile, bis ihm bewusst wurde, dass er wach war. Erst nach und nach registrierte er, dass er in seinem Bett lag und die Sonne direkt in sein Zimmer schien. Allerdings konnte er sich weder daran erinnern, sich hingelegt zu haben, noch eingeschlafen zu sein – das letzte, was er wußte, war dass er dem Ratschlag seines Vaters gefolgt war und zwei der Tabletten genommen hatte. Danach riss die Erinnerung ab. Etwas benommen richtete er sich auf und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Wenn er gewusst hätte, wie stark das Mittel war, dass ihm der Arzt mitgegeben hatte, hätte er lieber darauf verzichtet. Wie lange hatte er überhaupt geschlafen? Es klopfte, und Tsubasa zuckte bei dem unerwarteten Geräusch prompt zusammen. Bevor er reagieren konnte, wurde die Tür auch bereits geöffnet und seine Mutter erschien im Zimmer, Daichi auf dem Arm.

„Du bist wach?“

„Sieht man doch, oder?“ Tsubasa rieb sich mit den Händen über das Gesicht. „Wie lange hab ich geschlafen?“

„Lange. Es ist halb eins.“

„Wa….?“ Tsubasa blickte sie ungläubig und entsetzt an. „Ich hab über 12 Stunden geschlafen?! Warum zum Teufel habt ihr mich nicht geweckt?“

„Das haben wir versucht, mehrmals, aber du hast nicht reagiert, und dann haben wir gedacht dass es sicher nicht verkehrt ist…..“

Tsubasa setzte zu einer Antwort an, aber seine Mutter redete schnell weiter.

„Ich habe vor ein paar Minuten mit der Klinik telefoniert. Sanae ist weiterhin stabil, du darfst sie nachher besuchen. Heute Morgen wäre es eh nicht gegangen, also hätte es nichts gebracht, wenn wir dich früher geweckt hätten. Sobald du dich frisch gemacht und was gegessen hast, fährt dich dein Vater hin.“

Tsubasa sagte nichts mehr, stattdessen schlug er die Bettdecke zurück und stand auf. Im ersten Moment war ihm leicht schwindelig, er fühlte sich wegen der Tabletten immer noch etwas benebelt. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er nur noch die Jeans von gestern trug, das blutverschmierte T-Shirt hatte er sich offenbar ausgezogen, bevor er sich hingelegt hatte. Es lag nirgends, vermutlich hatten seine Mutter dafür gesorgt, dass er es nicht sofort zu Gesicht bekam. Die kaputte Fensterscheibe war erneut mit Pappe überklebt, das Chaos an seinem Schreibtisch war beseitigt. Erinnern konnte er sich an nichts davon…. Wie sein Vater prophezeit hatte, fühlte er sich jedoch in der Tat anders. Nicht unbedingt besser, aber wenigstens hatte er sich jetzt wieder unter Kontrolle. Seine Mutter beobachtete stumm, wie Tsubasa zu seinem Kleiderschrank hinüber ging. Auch Daichi verfolgte seine Bewegungen aufmerksam und nuckelte dabei am Daumen.

„Ich kümmere mich unten um das Mittagessen, in Ordnung? Komm dann einfach, wenn du soweit bist.“, meinte Frau Ozora schließlich leise und verließ anschließend das Zimmer, ohne eine Antwort abzuwarten. Leise schloss sich die Tür hinter ihr.
 

***
 

Als Tsubasa gute 20 Minuten später frisch geduscht die Treppe nach unten stieg, hatte sich sein Verstand wieder aufgeklart. Das kalte Wasser hatte Wunder gewirkt….. Hunger hatte er zwar immer noch nicht, aber da er seine Mutter genau kannte, wusste er dass er ohne Mittagessen nicht aus dem Haus gelassen wurde. Also brachte er das am besten gleich hinter sich, damit er dann möglichst schnell zu Sanae konnte…. Als er die Treppe nach unten stieg, konnte er zu seiner Überraschung seinen Vater telefonieren hören Er klang wütend.

„Nein, zum Teufel noch mal! Es ist egal wie oft Sie hier noch anrufen, Sie können nicht mit ihm reden! Hören Sie endlich auf, uns zu belästigen, und….“ Er wurde unterbrochen, aber die Antwort seines Gesprächspartners schien ihn nur noch wütender zu machen. „Eins sage ich Ihnen, wenn Sie es wagen, hier oder bei Sanaes Familie aufzutauchen, dann rufe ich die Polizei!“

Damit knallte er den Hörer auf die Gabel und wandte sich um. Fast in derselben Sekunde entdeckte er Tsubasa und die Wut verschwand sofort aus seiner Miene.

„Ah, da bist du ja. Und, wie….“

„Geht so. Wer war das? Die Presse?“

„Ja, leider….seit heute morgen rufen sie ständig hier an. Ich versuche sie die ganze Zeit schon abzuwimmeln, und bei den meisten ist das Interesse auch schon wieder abgeklungen, aber ein paar sind äußerst hartnäckig….“

Tsubasa zuckte mit den Schultern und kam die Treppe vollends nach unten. „Und wenn schon.“

Er ließ seinen Vater stehen und ging in die Küche. Dort kam er nicht allzu weit, bereits nach dem ersten Schritt hing das mittlerweile schon bekannte Gewicht an seinem Bein. Ein Blick nach unten bestätigte seine Vermutung. Daichi klammerte sich an ihm fest und sah mit dem üblichen Dackelblick zu ihm auf, allerdings ohne ein Wort zu sagen.

Seine Mutter, die gerade damit beschäftigt war den Tisch zu decken, wurde auf die beiden aufmerksam und stellte die Teller, die sie in der Hand gehalten hatte, schnell ab.

„Warte, ich nehm den Kleinen gleich….“

Tsubasa schüttelte nur den Kopf und hob Daichi kommentarlos auf den Arm. Sein kleiner Bruder begann sofort zu strahlen und kuschelte sich an ihn, aber Tsubasa ignorierte ihn und setzte sich. Seine Mutter zögerte nur kurz, bevor sie weiter den Tisch deckte.

„Ich hab leider nur Reis und einen Rest Soße von gestern da, über der ganzen Aufregung gestern ist das einkaufen untergegangen….“

„Egal, ich hab eh keinen Hunger.“

„Das hab ich mir schon gedacht, aber bevor…“

„Ich weiß, bevor ich nichts gegessen habe, lässt du mich nicht weg. Darum sitze ich ja hier.“

Frau Ozora lächelte schwach und ging an den Herd zurück. Kurze Zeit später kam ihr Mann in die Küche.

„So, ich habe sicherheitshalber bei der Polizei angerufen und den Reporter gemeldet, sie werden ab und zu hier vorbei fahren und nach dem Rechten sehen und dasselbe auch bei Sanaes Familie machen.“; meinte er finster und setzte sich ebenfalls. „Bei der Gelegenheit hab ich uns auch schon für nachher angekündigt.“

Tsubasa nickte nur und schwieg. Die ganze Situation kam ihm mit einem Mal wieder surreal vor, besonders als er auf das zufriedene Gesicht seines kleinen Bruder hinab sah. Wann konnte er endlich zu Sanae?

Als seine Mutter wenige Minuten später die Schüssel mit dampfendem Reis auf den Tisch stellte, klingelte es plötzlich an der Tür.

„Wer ist das denn?“, wollte Frau Ozora leicht beunruhigt wissen und blickte unwillkürlich ihren Mann an.

„Keine Ahnung, aber wenn es dieser Presse-Mensch ist, kann er was erleben.“, brummte der wütend und stand bereits auf, um zur Tür zu gehen. Tsubasa reagierte gar nicht wirklich darauf, er beobachtete, wie Daichi mit einem kleinen Plastiklöffel spielte. Nach wenigen Sekunden kam sein Vater in die Küche zurück.

„Tsubasa, es ist für dich.“

„Was?“ Jetzt hob Tsubasa doch den Kopf.

„Hallo, Tsubasa.“ Taro tauchte hinter Herrn Ozora im Türrahmen auf. „Tut mir leid, ich will nicht lange stören…..hast du ein paar Minuten, Tsubasa?“

„Klar.“ Tsubasa stand auf und gab Daichi an seine Mutter weiter. „Wir gehen am besten hoch.“

Auf diese Weise musste er wenigstens nichts essen…. Beide schwiegen, während sie die Treppe nach oben stiegen. Erst, als Tsubasa die Zimmertür hinter ihnen schloss, ergriff Taro das Wort.

„Die Frage klingt wahrscheinlich bescheuert, aber….wie geht’s dir?“

Tsubasa zuckte mit den Schultern und setzte sich auf sein Bett. Dabei fiel sein Blick auf Taros Arme – auf die blauen Flecken, die sich mittlerweile deutlich abzeichneten.

„Tut mir leid.“

„Was?“ Taro blinzelte verdattert, dann erst begriff er, was Tsubasa meinte. „Achso….nein, vergiss es, schon gut….ich hätte an deiner Stelle glaub ich auch nicht anders reagiert.“ Er setzte sich neben ihn.

„Warst du schon bei Sanae?“

„Nein. Die haben mir im Krankenhaus ein ziemlich starkes Beruhigungsmittel gegeben, ich hab geschlafen bis halb eins heute mittag. Warum bist du hier?“

„Um dich zu warnen.“ Taro seufzte. „Ich wollte dich schon ein paar Mal anrufen, aber du hast das Handy immer noch aus…ist aber vermutlich auch gut so. Die Sache hat sich schon in ganz Nankatsu rumgesprochen, es waren sogar schon ein paar Presseleute bei mir. Ich nehm an dass sich der Trubel bald wieder legt, aber bis dahin….“

„Ich weiß, mein Vater hat mir das auch schon gesagt. Trotzdem danke.“

Taro zögerte. „Außerdem ist Kojiro seit gestern hier.“

„Kojiro?“ Tsubasa blinzelte überrascht, dann erst wurde ihm klar, dass sie gestern ja eigentlich zu einem Freundschaftsspiel eingeladen gewesen waren. Auch das hatte irgendwie an Bedeutung verloren…

„Er war vermutlich ziemlich sauer, oder?“, fragte er nach ein paar Sekunden.

Taro nickte. „Sauer ist noch leicht untertrieben…..mittlerweile hat er sich wieder beruhigt, aber du kennst ja sein Temperament….ich wollte nur sichergehen, dass du vorbereitet bist, er wird heute im Laufe des Tages sicher hier auftauchen. Er hat mich gestern noch gelöchert, was genau passiert ist und warum….“ Taro brach ab.

Tsubasa schwieg ein paar Sekunden. „Die Anderen werden dieselben Fragen haben, oder?“, meinte er dann schließlich leise. „Was hast du ihnen erzählt?“

„Nicht viel….eigentlich gar nichts. Dass ihr über die Straße gehen wolltet und dann dieses Auto losgerast ist….“

Tsubasa nickte und schwieg wieder ein paar Sekunden. „Du kannst den Anderen sagen, dass sie sich noch bis heute Abend gedulden sollen.“

Taro blickte ihn überrascht an. „Du willst ihnen alles erzählen?“

„Bevor sie es doch irgendwie über die Presse rauskriegen, ist es besser, wenn sie es von mir selber hören.“

„Das stimmt schon, aber….“ Taro zögerte erneut. „Versteh mich nicht falsch, ich finde es gut, aber allen auf einmal…sie werden vermutlich auch ziemlich sauer sein erst mal.“

„Ich weiß, zu Recht…. Keine Sorge, ich überstehe das schon. Und ich habe keine Lust, alles mehrmals erzählen zu müssen.“

Taro nickte immer noch nicht ganz überzeugt. „Wie du meinst…..und was ist mit….“

„Zur Polizei gehe ich gleich.“

Jetzt wirkte sein Freund erleichtert. „Das ist gut….“

Tsubasa sagte nichts dazu, aber das musste er auch gar nicht. In diesem Moment rief seine Mutter von unten, dass das Essen kalt wurde. Also kam er wohl doch nicht drum herum… Er unterdrückte ein Seufzen und stand auf. Auch Taro erhob sich.

„Wir sehen uns also heute abend, ja? Selber Treffpunkt wie immer?“

Tsubasa nickte, und Taro drückte zum Abschied kurz aufmunternd seine Schulter, bevor er das Zimmer verließ. Tsubasa wartete noch ein paar Sekunden, bevor er ebenfalls die Treppe nach unten stieg. Wenigstens konnte er nach dem Essen endlich zu Sanae….

Stille

Sooooo.....endlich geht es weiter :) Erst mal ein großes Sorry für die lange Wartezeit - ich hatte tierisch viel zu tun mit meinem Magister und jede Menge organisatorischem Krams und konnte mich nicht wirklich motivieren, mich an den PC zu setzen. Aber jetzt ist das erst mal überstanden und ich werde ab jetzt wieder versuchen, regelmäßig zu tippen, so dass ihr nicht allzu lange warten müsst :) Es ist wieder ein verhältnismäßig ruhiges Kapitel geworden, aber ich hoffe, es gefällt euch trotzdem :) Viel Spaß beim lesen und ich freu mich auf eure Kommentare!
 

****
 

Kapitel 20: Stille
 

„Verstehe.“ Der Polizist ließ die Briefe mit ernster Miene sinken. „Warum bist du nicht früher damit zu uns gekommen?“

Tsubasa zuckte nur mit den Schultern und sagte nichts. Nach ein paar Sekunden ergriff sein Vater wieder das Wort.

„Wir wissen, dass wir uns direkt bei Ihnen hätten melden sollen, aber leider sind die Dinge jetzt so, wie sie sind….. Was können Sie deswegen unternehmen?“

„Nicht allzuviel, leider. Die Spuren sind ziemlich dürftig – natürlich werden die Briefe genauer untersucht, mit viel Glück finden wir Fingerabdrücke – wer hat sie alles angefasst, Tsubasa?“

„Sanae, meine Eltern und ich.“

Der Polizist nickte. „Das habe ich mir gedacht. Wir brauchen eure Abdrücke dann zum Abgleich – bei Sanae wird das leider nicht möglich sein, aber zumindest dich und deine Eltern können wir dann aussortieren.“

Tsubasa nickte stumm, und der Polizist räusperte sich.

„Was den roten Opel angeht…. Kannst du dich an irgendetwas erinnern? Hast du das Kennzeichen gesehen?“

„Es ging zu schnell.“

„Denk bitte ganz genau nach, es ist wichtig.“

„Es ging zu schnell. Ich habe das Kennzeichen nicht gesehen. Es war ein roter Opel, das ist alles, was ich weiß.“

„Derselbe rote Opel, der dich die letzten Tage verfolgt hat?“

Tsubasa zuckte mit den Schultern. „Rote Opel sehen alle gleich aus, oder?“

Der Polizist seufzte. „In gewisser Hinsicht hast du damit auch recht….“

„Was können Sie unternehmen?“, mischte sich erneut Herr Ozora ein.

„Wie gesagt, nicht viel. Natürlich wird Sanae unter Personenschutz gestellt, und du auch, Tsubasa. Außerdem werden wir verstärkt in Ihrem Wohngebiet Streife fahren…..“

„Ich will keinen Personenschutz!“

„Zwingen können wir dich natürlich nicht, aber in Anbetracht dessen, was schon passiert ist, solltest du die Sache nicht auf die leichter Schulter nehmen!“

Tsubasas Hände ballten sich zu Fäusten. „Die Lektion habe ich schon gelernt, besten Dank. Schützen Sie Sanae, das reicht.“, meinte er finster, ohne den Polizisten oder seinen Vater direkt anzusehen.

„Tsubasa….“ Herr Ozora blickte seinen Sohn leicht geschockt an, dann wandte er sich wieder dem Polizisten zu. „Entschuldigen Sie….“

Der Beamte schüttelte den Kopf. „Ist schon in Ordnung, die Situation ist schließlich nicht gerade einfach…“ Er schob seine Karte über den Tisch. „Wenn dir noch irgendetwas einfällt oder du neue Briefe bekommst oder sonst irgendetwas sein sollte, meldest du dich sofort, Tsubasa, in Ordnung?“

Tsubasa nickte, machte aber keine Anstalten, die Karte an sich zu nehmen, so dass sein Vater sie schließlich einsteckte.

„Glauben Sie uns, wir tun wirklich alles, was wir können, um den Kerl zu finden.“, meinte der Polizist ernst. „Aber so wie die Dinge liegen…..“

„Ich verstehe. Trotzdem vielen Dank….“

„Die Briefe bleiben natürlich hier, sobald wir etwas wissen, melden wir uns. Wir bräuchten dann noch die Fingerabdrücke zum Abgleichen…. Sagen Sie bitte auch Ihrer Frau Bescheid, damit sie so bald wie möglich herkommt und wir ihre auch nehmen können.“

„Selbstverständlich.“
 

***
 

Als sie kurze Zeit später das Polizeirevier verließen, seufzte Herr Ozora unwillkürlich.

„Ich hatte mir etwas mehr erhofft…..“

Tsubasa zuckte wieder nur mit den Schultern. „War doch klar, dass sie nichts großartig machen können.“

„Trotzdem war es die richtige Entscheidung. Immerhin steht Sanae jetzt unter Personenschutz – aber mir wäre wohler, wenn du das Angebot der Polizei auch angenommen hättest.“

„Das bringt nichts.“

„Woher willst du das wissen? Ich will nicht, dass dir dasselbe passiert wie Sanae….“

„Wenn es von Anfang an mich erwischt hätte, hätten wir das Problem jetzt nicht.“

Das war zu viel. Herr Ozora blieb abrupt stehen und packte Tsubasa ziemlich unsanft am Arm.

„Das will ich nie wieder hören!“; meinte er scharf. „Hast du verstanden?!“

„Ja.“ Tsubasa wollte seinen Weg fortsetzen, aber sein Vater hielt ihn zurück.

„Ich meine es ernst, Tsubasa! Ich habe keine Lust, mir zusätzlich noch Sorgen um dich machen zu müssen – glaub mir, ich habe kein Problem damit, dich zur Not auch in deinem Zimmer einzusperren!“

„Schon gut, ich hab verstanden! Fährst du mich jetzt endlich ins Krankenhaus?“

Herr Ozora musterte ihn einen Moment lang prüfend, dann ließ er ihn los und ging voraus zum Auto.

„Mach dir aber keine großen Hoffnungen, ich glaube nicht, dass du lange bei Sanae bleiben kannst.“

Tsubasa nickte, sagte aber nichts mehr.
 

***
 

Auf der Intensivstation des Krankenhauses schien die Zeit still zu stehen. Tsubasa wusste nicht, wie lange er bereits neben Sanae saß und ihre leblose Gestalt anstarrte. Die Überwachungsgeräte waren auf lautlos gestellt, so dass ihm wenigstens das monotone Piepen des EKGs erspart blieb - allerdings wusste er im Moment nicht, ob die Stille, die auf dem Zimmer lastete, nicht noch viel schlimmer war. Sanae hatte auf sein Hereinkommen nicht reagiert, auch als er vorsichtig ihre Hand in seine genommen hatte, war sie reglos liegen geblieben. Die vielen Verbände und Bandagen ließen sie in dem sterilen Krankenhausbett kleiner erscheinen, als sie war. Dutzende Schläuche führten von ihrem Körper zu den Maschinen, die neben dem Bettgestell aufgebaut waren. Sein Vater sprach draußen mit dem behandelten Arzt, aber Tsubasa wollte die ganzen medizinischen Details nicht wissen. Er zuckte zusammen, als eine Hand auf seine Schulter gelegt wurde. Offensichtlich war das Arztgespräch beendet – er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass sein Vater den Raum betreten hatte.

„Ihr Zustand ist weiterhin stabil.“, meinte Herr Ozora gedämpft. „Aber sie liegt im Koma….“

„Hör auf.“

Sein Vater ließ sich nicht beirren. „Es ist wichtig, dass du das weißt. Die meisten ihrer Verletzungen sind relativ harmlos, aber….“ Er zögerte, redete dann aber doch weiter. „Das Problem sind ihre Kopfverletzungen. Es kann gut sein, dass…..“

„Ich weiß. Hör auf!“

Dieses Mal schwieg sein Vater tatsächlich, aber der Griff um Tsubasas Schulter verstärkte sich. Für ein paar Minuten senkte sich wieder eine bleierne Stille über den kleinen Raum.

„Willst du noch bleiben?“, fragte Herr Ozora schließlich leise.

Tsubasa nickte stumm.

„In Ordnung – dann hole ich dich in einer Stunde wieder ab. Und komm nicht mal auf die Idee, alleine irgendwohin zu gehen, verstanden? Solange sich die Situation nicht geklärt hat….“

„Ja.“

Herr Ozora schwieg, dann verließ er schließlich den Raum und Tsubasa blieb alleine bei Sanae sitzen.
 

***

Tsubasa erreichte den Fußballplatz 15 Minuten vor der verabredeten Zeit. Auf diese Art hoffte er, sich besser auf das einstellen zu können, was ihm vermutlich diesen Abend noch bevor stand. Seine Freunde würden nicht begeistert reagieren – zu Recht. Auf der anderen Seite waren ihm solche Dinge im Moment ziemlich egal. In Gedanken war er immer noch bei Sanaes lebloser Gestalt im Krankenhaus…. Sein Vater hatte darauf bestanden, ihn auch zum Fußballplatz zu fahren, und Tsubasa war zu müde gewesen, um großartig darüber zu streiten. Die Diskussion über den Heimweg stand noch aus….

Als er den Fußballplatz betrat, erwartete ihn jedoch eine Überraschung: Ryo tigerte unruhig vor dem Tor hin und her. Als er Tsubasa bemerkte, unterbrach er seine Wanderung sofort und rannte zu ihm hinüber, bevor er ihn kurzerhand und ohne ein Wort umarmte. Das ganze dauerte nur wenige Sekunden – Tsubasa war zu perplex, um seinerseits irgendwie zu reagieren. Als sich Ryo wieder von ihm löste, sah er zu seiner Überraschung Tränen in den Augen seines Freundes stehen, und ihm wurde bewusst, dass Ryo wohl trotz der ganzen Kabbeleien einer der engsten Freunde von Sanae war.

„Warst du bei ihr?“, wollte Ryo ohne Umschweife wissen.

Tsubasa nickte. „Ja – es gibt nichts Neues. Sie ist stabil.“

Ryo atmete tief durch und fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen. „Und wie geht’s dir?“

Auf diese Frage hin zuckte Tsubasa nur mit den Schultern. Ryo musterte ihn ein paar Sekunden, dann seufzte er.

„War eigentlich ne bescheuerte Frage, entschuldige. Aber wenn irgendwas ist – du weißt ja, wie du mich erreichst.“

„Danke.“

Ryo nickte mehr oder weniger beruhigt, dann kippte seine Stimmung abrupt.

„Ehrlich gesagt wusste ich die ganze Zeit nicht, ob ich dich heut Abend umarmen oder dir direkt eine reinhauen soll. Was zum Teufel ist hier los?! Du bist so ein absoluter Idiot, dass du nicht mit uns geredet hast….“

Tsubasa unterbrach seinen Redeschwall und schüttelte mit einem matten Lächeln den Kopf. „Lass gut sein, Ryo – du hast recht, und nachher kannst du mich noch beschimpfen, so viel du willst, aber ich will nicht alles zwei Mal erzählen – wenn die Anderen da sind, in Ordnung?“

Ryo musterte ihn ein paar Sekunden lang äußerst eindringlich, dann seufzte er erneut. „Okay. Aber wehe, du lügst uns an!“

„Ich habe keinen Grund mehr dazu – und im Endeffekt ist jetzt eh alles egal.“

Damit ging Tsubasa an Ryo vorbei, sein Freund folgte ihm nach ein paar Sekunden. Es dauerte allerdings nicht lange, bis Tsubasa abrupt stehen blieb, so dass Ryo beinahe gegen ihn geprallt wäre.

„Hey, pass doch auf. Was ist denn?“

„Wie lange bist du schon hier?“

„Hä? Warum fragst du so was?“

„Sag schon, wie lange!“

Ryo kratzt sich am Kopf. „Keinen Plan, ich hab nicht genau auf die Uhr gesehen. Vielleicht ne Viertelstunde – warum fragst du?“

„Hing der Zettel vorhin schon da?“

„Welcher Zettel?“

Ryo linste an seinem Freund vorbei und entdeckte jetzt auch, was Tsubasa meinte. An einen der Torpfosten war ein weißer Umschlag geklebt.

„Ich hab nicht drauf geachtet, ob der vorhin schon da war.“, meinte er perplex und blickte wieder Tsubasa an. „Was ist hier los? Ist der Brief für dich?“

Tsubasa gab keine Antwort darauf, unbewusst hatte er wieder beide Hände fest zu Fäusten geballt. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich überwinden konnte, zum Tor hinüber zu gehen und den Umschlag abzureißen. Er war mit Tesafilm an den Pfosten geklebt worden.

„Das erinnert mich an das Poster damals.“, meinte Ryo unsicher. „Das Foto….“

Er redete nicht weiter, aber Tsubasa wusste genau, was er meinte. Er starrte den weißen Umschlag in seinen Händen an, dann gab er sich einen Ruck und öffnete ihn schließlich.

Schutz

Wieder einmal war es in Taros Wohnung, genauer gesagt in der Küche, totenstill. Das einzige Geräusch waren Kojiros unruhige Schritte. Es gab nicht genügend Sitzplätze für alle, aber selbst wenn, hätte es den Toho-Kapitän nicht lange auf einem Stuhl gehalten. Die Wut, die in ihm brodelte, war offensichtlich. Taro schluckte und blickte unwillkürlich zu Tsubasa hinüber. Der Kontrast zwischen den Beiden war geradezu gespenstisch – er hatte kein Wort mehr gesprochen als unbedingt nötig und wirkte die meiste Zeit so, als wäre er mit seinen Gedanken woanders. Taro konnte sich auch gut vorstellen, wo…. Er schluckte wieder und blickte auf den neuen Brief, der für alle sichtbar auf der Tischplatte lag. Im Nachhinein war er doppelt froh, dass er die anderen überzeugt hatte, das Gespräch in seine Wohnung zu verlegen. Auf dem Fußballplatz ließ es sich nicht wirklich gut reden. Und so hatten sie sich alle in der kleinen Küche versammelt - Ryo und Izawa waren gekommen, Yukari, Taki, Kisugi und noch ein paar andere aus der alten Schulmannschaft – und natürlich Kojiro. Bei der Erinnerung an den Entrüstungssturm, der losgebrochen war, als Tsubasa erzählt hatte, was seit seiner Ankunft aus Brasilien alles geschehen war, bekam Taro unwillkürlich eine Gänsehaut – besser gesagt, bei der Erinnerung daran, wie stoisch Tsubasa das alles aufgenommen hatte. Die Vorwürfe seiner Freunde waren scheinbar einfach an ihm abgeprallt….

„Verdammt noch mal!“, riss ihn Kojiros Stimme aus seinen Gedanken. „Ich kapier’s immer noch nicht! Warum hast du uns nicht früher davon erzählt? Oder bist wenigstens zur Polizei gegangen? Ich meine, so naiv kann man doch gar nicht sein! Nicht nach dem, was dir passiert ist!“

Tsubasa zuckte mit den Schultern. „Jetzt weiß ich auch, dass es ein Fehler war.“

„Was soll das denn bitte heißen? Hakst du das einfach so ab? Was ist, wenn dieser Irre weitermacht? Ich meine, wenn er dich oder Sanae…“ Kojiro brach hilflos ab, und die anderen schwiegen bedrückt, den Blick auf den Brief auf der Tischplatte geheftet. Die Drohung war eindeutig.
 

„Next one please!“
 

Noch schlimmer war allerdings das Foto, das mit in dem Umschlag gesteckt hatte. Sanae. Sanae auf der Intensivstation, reglos, unter den ganzen Verbänden teilweise kaum zu erkennen…..

„Sanae steht unter Personenschutz.“, meinte Tsubasa dumpf. „Die Polizei hat mir das fest zugesagt.“

„Und was ist mit dir?“, mischte sich Ryo ein. „Ich versteh nicht, wie dich das so kalt lassen kann….“

Er brach ab, als sein Blick Tsubasas Augen begegnete, und schluckte. Kalt lassen war eindeutig das falsche Wort…..

„Ich brauche keinen Personenschutz. Sanae ist wichtiger.“

„Das eine schließt das andere nicht automatisch aus.“, meinte Kojiro seufzend und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, bevor er seine Wanderung wieder aufnahm. Mit einem Mal wirkte er jedoch nicht mehr wütend, sondern genauso müde wie alle anderen auch. „Die Frage ist, was wir jetzt machen.“

„Ich fürchte, wir können nicht viel machen.“, meinte Taro niedergeschlagen. „Die Polizei ist jetzt ja zum Glück informiert. Vermutlich können wir nur die Augen offen halten….“

Die Anderen nickten, Kojiro dagegen stützte die Hände auf die Tischplatte. „Aber das werden wir äußerst gründlich tun! Tsubasa, dir ist nie irgendjemand aufgefallen, der dir gefolgt sein könnte? Was ist mit dem Opel, hast du vielleicht den Fahrer erkannt? Es reicht schon ob es eine Frau oder ein Mann war….“

„Nein. Das habe ich der Polizei auch schon gesagt.“

„Aber irgendetwas muss dir doch aufgefallen sein! Ich meine, der Kerl beobachtet dich anscheinend rund um die Uhr….ich habe den Eindruck, dass er deinen Tagesablauf besser kennt als du!“

„Ich habe niemanden gesehen.“

Die kleine Auseinandersetzung mit dem parkenden Opel-Fahrer behielt er wohlweislich für sich. Seine Freunde mussten nicht unbedingt erfahren, dass er grundlos auf einen Wildfremden losgegangen war.

„Und die Gestalt, die du vor Sanaes Zimmer gesehen hast?“, wollte Izawa wissen.

„Es war dunkel, und vermutlich war es sowieso nur ein Spaziergänger.“

„Ein Spaziergänger!“ Kojiro schnaubte. „Von wegen – dann bin ich der Kaiser von China!“

„Das war bestimmt Kenji!“, meinte Taki leise und wütend. „Ganz sicher – wenn wir den in die Hände kriegen…..“

„Kenji ist tot.“

Auf diese neue Nachricht wurde es erneut mit einem Schlag totenstill.

„Tot?“, meinte Ryo schließlich fassungslos. „Wie…. ich meine, woher…..?“

„Sanae hatte denselben Gedanken wie ihr und hat in der Bibliothek alte Zeitungen durchforstet. Er ist seit ein paar Jahren tot, Autounfall.“

Das mussten seine Freunde erst mal verdauen.

„Aber…wenn Kenji nicht….wer dann?“, wollte Izawa unsicher wissen. „Ich meine, du warst die letzten drei Jahre weg, wer sollte…..“

„Ich weiß es nicht.“

Wieder senkte sich für ein paar Sekunden Schweigen über die kleine Runde. Yukari fuhr sich unauffällig mit dem Ärmel über die Augen. Man sah ihr an, dass sie viel geweint hatte in der letzten Nacht, sie wirkte blass und unausgeschlafen. Wobei niemand in diesem Raum gut geschlafen hatte…..

„Wenn du den Schutz der Polizei nicht willst, musst du unseren nehmen.“, meinte Kojiro schließlich leise, aber fest. „Du gehst nirgends mehr alleine hin! Kapiert?“

Tsubasa sagte nichts, was von Kojiro als Zustimmung gewertet wurde. Er nickte mehr oder weniger zufrieden und wandte sich an alle.

„Wir erstellen eine Handy-Liste….hauptsächlich für mich und für Wakashimazu, ich werde versuchen ihn nachher zu erreichen. Sein Karate kann uns vielleicht helfen. Dann sind wir jederzeit alle erreichbar und können uns abwechseln….“

Er brach ab, als Tsubasa aufstand.

„Was soll das werden?“

„Nichts. Ich muss los.“

„Was? Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen.“

„Ich muss. Meine Mutter dreht mir den Hals um, wenn ich jetzt zu spät komme, sie macht sich eh Sorgen, wenn ich unterwegs bin.“

Das klang einleuchtend.

„Ich komme mit.“, bot Ryo an, aber Tsubasa schüttelte den Kopf.

„Du solltest genauso wenig alleine unterwegs sein wie ich.“

Er deutete auf die Nachricht auf dem Tisch. Next one. Ryo schluckte.

„Du meinst…..?“

„Ja.“

„Guter Punkt.“; meinte Kojiro nachdenklich. „Wir sollten auf alle Fälle immer mindestens zu zweit sein…..“

„Dann komme ich eben auch mit.“, meinte Izawa, aber Tsubasa schüttelte wieder den Kopf.

„Das braucht ihr nicht. Ich muss eh noch mal zur Polizei, das ist nicht weit, und von da aus kann ich mich abholen lassen.“

„Versprochen?“

„Ja.“ Tsubasa lächelte bitter. „Mein Vater lässt mich auch nirgends mehr alleine hin. Kein Grund zur Sorge also.“
 

***
 

Entgegen Tsubasas Überzeugung, dass es nicht mehr schlimmer werden konnte, wurde es noch schlimmer: Es wurde Nacht. Nach seinem erneuten Besuch der Polizei, wo er brav den neuen Brief abliefert, hatte ihn in der Tat sein Vater abgeholt, und zuhause war alles scheinbar so seine gewohnte Bahn gegangen, dass es weh tat. Seine Mutter war in der Küche mit dem Abendessen beschäftigt und unterbrach ihre Arbeit nur kurz, als ihr ältester Sohn nach Hause kam. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass den Umständen entsprechend alles in Ordnung war, verschwand sie wieder an den Herd. Daichi war etwas stiller als sonst, wuselte aber ansonsten unbeschwert in seinem Laufstall herum. Als Tsubasa erkannte, mit was er da spielte, spürte er einen kleinen Stich. Der Knautschfußball….. Herr Ozora, der nach ihm das Wohnzimmer betrat, hatte offensichtlich denselben Gedanken. Er lächelte traurig und hob Daichi auf den Arm, was sein Jüngster nach einem kurzen Protestruf – offensichtlich nur pro forma – mit einem zufriedenen Glucksen quittierte. Tsubasa wandte sich schweigend um und ging in sein Zimmer hinauf. Die Fensterscheibe war über Tag repariert worden –zum zweiten Mal. Dieses Mal gab es wenigstens keine bösen Überraschungen…

Als seine Mutter kurze Zeit später zum Abendessen rief, konnte er sich nicht wirklich erinnern, mit was er sich beschäftigt hatte oder welche Gedanken ihm durch den Kopf gegangen waren, aber das war auch gut so. Hunger verspürte er keinen, aber da er seine Eltern kannte, versuchte er gar nicht erst, sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen. Also ging Tsubasa gehorsam nach unten, setzte sich zu seiner Familie an den Tisch und aß gerade so viel, dass er in Ruhe gelassen wurde. Zu seinem Glück beanspruchte Daichi fast die ganze Aufmerksamkeit seiner Eltern, er quengelte, weil er den Reis nicht essen wollte, und fegte schließlich mit wütendem Geheul den Plastikteller von seinem Hochstuhl. Tsubasa konnte Sanaes Reaktion fast bildlich vor sich sehen und lächelte schwach, während seine Mutter schimpfend den Schlammassel beseitigte. Alles ganz normal – irgendwie. Aber Sanae war nicht da. Dieser Gedanke kam immer wieder, drehte sich wie ein Karussell in Tsubasas Kopf. Daichi wurde nach dem Essen ins Bett gebracht, seine Eltern setzten sich vor den Fernseher. Tsubasa wollte eigentlich die Gelegenheit ergreifen und wieder nach oben verschwinden, aber nach kurzem Zögern blieb er dann doch – allerdings ohne auch nur das Geringste von der Fernsehsendung mitzubekommen. Und dann war es plötzlich Nacht, seine Eltern gingen schlafen, und Tsubasa war alleine in seinem Zimmer. An Schlaf war nicht zu denken….. Mechanisch warf er einen Blick aus dem Fenster. Kein roter Opel. Natürlich nicht. Weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, machte er sich schließlich doch bettfertig, blieb anschließend aber auf der Decke sitzen und blickte sich um. Gestern war Sanae noch hier gewesen….halt, vorgestern. Es war schon fast zwei Tage her…… Mit einem Mal waren die Bilder wieder da. Der aufheulende Motor des Wagens, der dumpfe Aufprall, das Klatschen, als Sanaes Körper auf die Straße aufschlug. Überall war Blut, Sanae schrie. Dann fiel plötzlich eine Kellertür ins Schloss, und das einzige, was Tsubasa noch hörte, war das Hämmern seines eigenen Herzschlags und das Dröhnen in seinen Ohren.
 

Miss her – next one – miss her – next one….
 

Er erschrak, als er plötzlich am Arm gepackt wurde, um ein Haar hätte er selbst aufgeschrien, aber dann spürte und sah er, dass es seine Mutter war, die sich auf den Bettrand gesetzt hatte. Offensichtlich war er doch eingeschlafen…. Sein Herz hämmerte immer noch schmerzhaft gegen seine Rippen, er zitterte am ganzen Körper. Seine Mutter sagte gar nichts, sie nahm ihn einfach in den Arm. Genau in diesem Moment landete der erste Anruf auf seiner Mailbox.

Einsamkeit

Herr Ozora blickte von seinem Buch auf, als seine Frau den Raum betrat.

„Und?“

Sie zuckte mit den Schultern und setzte sich neben ihn aufs Sofa. „Ich glaube, er schläft.“

„Mit den Medikamenten oder ohne?“

„Ohne.“ Frau Ozora seufzte. „Meistens weigert er sich, die Tabletten zu nehmen… Du kennst ihn ja.“

Herr Ozora nickte und klappte das Buch zu. Daichi saß zu seinen Füßen auf dem Teppichboden und spielte mit Duplo-Steinen. Der Fernseher lief zwar, aber der Ton was ausgestellt, und niemand schenkte ihm Beachtung.

„Vielleicht hätten wir doch mal mit ihm zum Psychologen gehen sollen.“, meinte Frau Ozora bedrückt. „Schon damals….“

Herr Ozora schüttelte den Kopf. „Das wollte er nicht, und außerdem ging es ihm doch soweit ganz gut…..“

„Jetzt geht es ihm nicht mehr gut. Hast du ihn in den letzten Tagen mal angesehen? Ich bin ja schon froh, wenn ich ihn einmal dazu bekomme, etwas Vernünftiges zu essen. Er kann kaum schlafen, und wenn man ihm zwei, drei zusammenhängende Sätze entlocken kann, ist das schon viel. So geht das doch nicht weiter…. Alles, was ihn interessiert, ist Sanae, und mit jedem Tag wird es schlimmer.“

„Ich weiß.“ Herr Ozora rieb sich müde mit den Händen über das Gesicht. „Ich weiß auch nicht, was wir machen sollen. Zwingen können wir ihn ja schlecht….“

„Na ja….“ Seine Frau zögerte. „Wir könnten ihm verbieten, Sanae zu besuchen, bis er wenigstens mal mit einem Therapeuten spricht.“

Herr Ozora blickte sie verdattert an, aber bevor er ihr antworten konnte, klingelte das Telefon.

„Wehe, das ist wieder einer dieser Reporter…“, murmelte er wütend vor sich hin, während er aufstand und den Raum verließ. Seine Frau blieb alleine mit ihrem Jüngsten im Wohnzimmer sitzen. Daichi hielt mit seinem Spiel inne und blickte zu ihr auf, eifrig an seinem Schnuller nuckelnd. Sie lächelte leicht und hob ihn auf den Schoß.

„Na? Geht’s dir gut? Wenigstens einer in der Familie….“

Daichi sah sie mit großen Augen an und legte schließlich leicht den Kopf schief. „Basa?“

„Der kann jetzt nicht mit dir spielen….später vielleicht wieder, ja?“

Es war paradox, aber der einzige, der anscheinend wirklich noch Zugang zu Tsubasa hatte, war Daichi. Vielleicht, weil der Kleine die ganze Lage noch nicht verstand….aber er schien intuitiv zu spüren, dass es seinem großen Bruder im Moment nicht gut ging, und suchte seine Nähe noch mehr als sonst. Und Tsubasa ließ es zu. Nur einmal war es kritisch gewesen, als Daichi nach Sanae gefragt hatte…. Frau Ozora wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ihr Mann zurück kam.

„Und? War es wieder jemand von der Presse?“

Herr Ozora schüttelte den Kopf und setzte sich wieder neben sie. „Nein, Ryo. Er hat sich nach Tsubasa erkundigt, weil er wieder nicht beim Fußballtraining war. Die anderen machen sich anscheinend um ihn genauso Sorgen wie um Sanae.“

„Verständlich.“ Frau Ozora seufzte. „Wenn sich wenigstens die Polizei melden würde….“

„Ich bin schon froh, dass es die letzten Tage keine neuen Drohungen mehr gegeben hat, wenigstens in der Hinsicht ist Ruhe. Vielleicht ist dieser Irre schon damit zufrieden, was er angerichtet hat….“

„Wie geht es Sanae denn?“

„Anscheinend unverändert. Ich habe vor zwei Stunden mit ihren Eltern gesprochen.“

Frau Ozora schwieg bedrückt. Daichi begann zu zappeln, so dass sie ihn wieder auf den Boden ließ, damit er weiter spielen konnte.

„Ich halte das für keine gute Idee.“, meinte ihr Mann plötzlich. Als sie ihn irritiert anblickte, zuckte er mit den Schultern. „Ich meine, dass du ihm verbieten willst, Sanae zu sehen.“

„Nur solange, bis er einwilligt, mit einem Psychologen zu reden….“

„Trotzdem. Ich habe Angst, dass er dann heimlich hingeht…und er sollte definitiv nicht alleine unterwegs sein. Das sehen seine Freunde genauso – ist dir nicht aufgefallen, dass sie ständig anbieten, ihn abzuholen? Und ich habe Kojiro ziemlich oft am Haus vorbei laufen sehen.“

Frau Ozora nickte. „Schon, aber…“

„Vielleicht sollten wir nachher beim Abendessen einfach mit ihm darüber reden. Wer weiß, vielleicht lässt er sich ja helfen…. Sanae wäre entsetzt, wenn sie ihn so sehen würde, das ist ein Argument, dass er vielleicht versteht.“

„Wenn du meinst.“ Seine Frau seufzte und stand schließlich auf. „Dann werde ich mich mal ums Abendessen kümmern….“
 

***
 

„Und? Hast du mit ihm gesprochen?“, wollte Taro sofort wissen, als Ryo vom Telefon zurück kam.

„Nein, nur mit seinem Vater. Aber er ist zuhause, und anscheinend schläft er.“

„Gott sei Dank.“ Taro atmete auf. Es wäre seine und Ryos Aufgabe gewesen, Tsubasa vorm Krankenhaus abzupassen, damit er nicht alleine nach Hause ging, aber als sie dort eingetroffen waren, war Tsubasa bereits weg. Als er auch beim Fußballtraining eine halbe Stunde später nicht aufgetaucht war, hatten sie beunruhigt bei ihm zu Hause angerufen. Ihre Erleichterung, dass er unbeschadet daheim angekommen war, war groß. Es hatte seit der letzten Botschaft zwar keine neuen Briefe mehr gegeben, aber trotzdem…..

„Eigentlich hätten wir uns keine Sorgen machen müssen – dass er beim Fußballtraining nicht mitmacht, ist ja seit kurzem nichts besonderes mehr.“, meinte Ryo niedergeschlagen.

„Ja – er ist jede freie Minute bei Sanae.“

Kurze Zeit herrschte Schweigen, dann stand Taro auf. „Du auch Kaffee? Ich kann jetzt dringend einen gebrauchen.“

Ryo nickte und setzte sich auf einen Küchenstuhl. Aus Gründen, die er im Nachhinein selbst nicht mehr nachvollziehen könnte, hatten sie nicht vom Handy aus bei Tsubasa angerufen, sondern waren zu Taro nach Hause gegangen. Seit das alles passiert war, fühlten sie sich innerhalb einer Wohnung wohl unbewusst auch sicherer….. Ryo zückte sein Handy und tippte eine Rund-SMS an die anderen, dass mit Tsubasa soweit alles in Ordnung war.

„Hast du eigentlich eine Ahnung, wo Kojiro steckt? Ist er wieder am patroullieren?“

„Kann gut sein. Er lässt sich davon ja nicht wirklich abbringen – ich schätze mal, er würde den Typen gerne höchstpersönlich in die Finger kriegen.“

„Da ist er nicht alleine.“ Ryo warf das Handy auf den Tisch. „Ich würde dem Kerl auch liebend gern den Hals umdrehen! Wenn Kenji nicht tot wäre, könnte ich schwören, dass er es ist! Wer sonst sollte Tsubasa so hassen?“

„Keine Ahnung.“ Taro kam mit zwei dampfenden Tassen an den Tisch zurück. „Wenigstens ist Tsubasa weitestgehend vernünftig und geht kaum noch alleine irgendwohin…“

„Ich glaube, vernünftig ist das falsche Wort – es ist ihm eher egal.“

„Ja, leider….aber das Ergebnis ist in dem Fall dasselbe.“ Taro setzte sich und nippte an dem Kaffee. „Hast du eigentlich Neuigkeiten aus dem Krankenhaus?“

„Alles unverändert. Sanae ist stabil, aber nicht wach – und die Ärzte können immer noch nichts Genaueres sagen.“

Ryo presste wütend die Lippen zusammen. „Oh ja, ich würde diesem Kerl wirklich zu gerne den Hals umdrehen….“

Taro lächelte schwach und nahm einen neuen Schluck von seinem Kaffee. „Überlass das besser der Polizei….“

„Aber die machen doch nichts! Außer einen Beamten vor Sanaes Zimmer zu setzen….das ist zwar wichtig, aber….“ Ryo brach hilflos ab. „Es kann doch nicht sein, dass dieser Mistkerl einfach so von der Bildfläche verschwindet!“

„Ohne das Kennzeichen haben sie nicht viele Anhaltspunkte.“

„Schon, aber….“ Ryo brach erneut ab, dann nahm er schließlich einen extra großen Schluck aus seiner Kaffee-Tasse und verbrannte sich prompt die Zunge.

„Au!!! Verdammt noch mal, heute ist wirklich nicht mein Tag…..“

Taro lächelte erneut und wärmte seine Hände an seiner eigenen Tasse. Ihm war ein neuer Gedanke gekommen….
 

***
 

Dröhnende Donnerschläge durchbrachen die Stille. Tsubasa zuckte zusammen und presste sich unwillkürlich die Hände gegen die Ohren, aber es half nichts. WAMM WAMM WAMM – der Donner kam zurück, drei Mal, noch lauter als vorher.

„Tsubasa?“

Eine Stimme gesellte sich dazu.

„Tsubasa, bist du wach?“

Tsubasa öffnete die Augen und realisierte, dass er in seinem Zimmer auf dem Bett lag. Sein Kopf dröhnte. Der Donner war verschwunden – statt dessen klopfte seine Mutter zum dritten Mal an seine Zimmertür.

„Tsubasa! Das Abendessen ist fertig – bist du wach?“

„Ja.“ Er richtete sich etwas mühsam auf und ignorierte das protestierende Hämmern in seinem Kopf. Seine Mutter öffnete die Zimmertür und steckte den Kopf in den Raum.

„Alles in Ordnung? Hast du einigermaßen schlafen können?“

„Ja.“, meinte Tsubasa dumpf und massierte sich unwillkürlich die Schläfen. „Alles bestens…“

Seine Mutter musterte ihn besorgt, beließ es aber dabei. „Kommst du bitte runter? Dein Vater und Daichi warten schon.“

„Ja….“

Frau Ozora verschwand und ließ die Tür offen. Tsubasa blieb noch ein paar Minuten auf dem Bett sitzen und wartete darauf, dass das Rumoren hinter seiner Stirn endlich nachließ. Kopfschmerzen waren nichts Besonderes mehr – mit den Albträumen war auch das protestierende Hämmern in seinem Schädel wieder zurück kommen. Eigentlich kein großes Wunder – er schlief zu wenig. Natürlich hätte er die Schlaftabletten nehmen können. Es war nicht dasselbe Medikament, dass sie ihm im Krankenhaus gegeben hatten, seine Mutter hatte aus der Apotheke ein leichteres und harmloseres besorgt, aber Tsubasa konnte gut darauf verzichten. Genau genommen waren Kopfschmerzen im Vergleich zu dem, was Sanae durchmachen musste, ja noch das kleinere Übel….und schlafen wollte er nicht. Schnell verdrängte er den Gedanken an den letzten Traum aus seinem Gedächtnis und stand auf – etwas zu schnell. Prompt wurde ihm schwindelig, und er setzte sich unfreiwillig wieder auf den Bettrand. Na wunderbar….

„Tsubasa? Kommst du?“, rief seine Mutter erneut von unten.

„Ja….“ Tsubasa rieb sich ein letztes Mal mit beiden Händen über das Gesicht, dann stand er erneut auf, dieses Mal langsamer. Er brauchte ein, zwei Schritte, bis er sich wirklich wieder sicher auf den Beinen fühlte, aber dann verschwand das leicht benebelte Gefühl, und auch die Kopfschmerzen ließen etwas nach. Immerhin….

Als er die Küche kurze Zeit später betrat, war seine Mutter gerade dabei, die letzte Schüssel auf den Tisch zu stellen. Sein Vater und sein kleiner Bruder saßen bereits am Tisch, Daichi wie immer in seinem Hochstuhl, einen Plastiklöffel bereits in der Hand. Als er Tsubasa entdeckte, begann er sofort zu strahlen, ließ den Löffel fallen und streckte die Arme nach ihm aus.

„Basa!“

Ihn auf den Arm zu nehmen, war im Moment wohl keine besonders gute Idee. Tsubasa strich ihm flüchtig über den Kopf und setzte sich anschließend auf seinen Platz. Daichi verzog enttäuscht das Gesicht, aber als seine Mutter einen Teller mit dampfendem Reis vor ihn hinstellte und ihm auch den Löffel zurück gab, war er schnell wieder getröstet.

„Und, wie geht’s dir?“, wollte Herr Ozora von seinem ältesten Sohn wissen. „Wieder Kopfschmerzen?“

„Es geht.“

„Wenn du was gegessen hast, wird es sicher besser.“, mischte sich seine Mutter ein.

„Ich habe keinen….“

„Das ist mir egal! Du isst was, und keine Widerrede!“

Tsubasa seufzte und rieb sich wieder die Schläfen. „Wenn du meinst…“

„Ja, meine ich.“ Frau Ozora blickte ihn streng an. „Ich habe keine Lust, dabei zuzusehen, wie du dich selbst krank machst!“

Tsubasa erwiderte nichts darauf, und sein Vater nutzte die Chance, das Wort zu ergreifen.

„Es gibt da eh noch eine Sache, über die wir mit dir reden wollten.“

„Nämlich?“

„Na ja….“ Herr Ozora tauschte einen kurzen Blick mit seiner Frau aus, dann redete er schließlich weiter. „Wir haben überlegt, ob es nicht besser wäre, wenn du mal mit einem Psychologen sprechen würdest.“

Tsubasa hob den Kopf und blickte seine Eltern fassungslos an. „Was?“

„Sieh dich doch mal an!“, meinte Frau Ozora hastig. „Du hast seit Tagen nicht geschlafen und kaum was gegessen, und die Kopfschmerzen….“

„Ein Psychologe kann mir da sicher nicht helfen!“

„Wir meinen es nur gut, Tsubasa.“, entgegnete sein Vater ernst. „Eigentlich ist es unsere Schuld – wir hätten schon vor fünf Jahren darauf bestehen sollen, dass du eine Therapie machst….“

„Ich brauche keine Therapie, verdammt noch mal! Ich bin nicht verrückt!“

„Das hat ja auch keiner gesagt! Tsubasa, beruhige dich erst mal und hör mir zu, in Ordnung? Wir meinen es wirklich nicht böse. Du brauchst Hilfe, und ich denke, wenn du die Chance hast, auch das von vor fünf Jahren aufzuarbeiten….“

„Diese Sache hat damit gar nichts zu tun!“

„Und ob sie das hat, Tsubasa!“, mischte sich seine Mutter ein. „Bitte, denk doch wenigstens darüber nach! Sanae würde sicher nicht wollen, dass du….“

„Lass Sanae da raus!“

Tsubasas Stimme hatte so einen scharfen Ton angenommen, dass Frau Ozora abrupt abbrach und verunsichert zu ihrem Mann hinüber saß. Der zögerte kurz, bevor er erneut das Wort ergriff.

„Du solltest uns vertrauen, Tsubasa. Es ist normal, dass dich die ganze Sache belastet, gerade darum ist es wichtig, dass du mit jemandem darüber reden kannst – mit jemandem, der dir mehr helfen kann als wir….“

„Belastet, ja?“, meinte Tsubasa bitter. „Ich kann Sanae jede Nacht schreien hören. Sie ist vor meinen Augen überfahren worden, da brauche ich keinen Psychologen, um….“ Er brach abrupt ab, dann er plötzlich auf und verließ die Küche. Nach der ersten Überraschung beeilte sich sein Vater, ihm zu folgen. Er erwischte ihn gerade noch vor der Haustür.

„Tsubasa, warte!“

„Lass mich in Ruhe!“

„Nein, sicher nicht.“ Sein Vater verstärkte seinen Griff um Tsubasas Arm und zwang ihn, stehen zu bleiben. „Du kannst jetzt nicht einfach so weglaufen.“

„Ich gehe zu keinem Psychologen! Ich will nicht ständig erzählen müssen, wie sie….“ Tsubasa brach erneut ab.

„Das kann ich verstehen, aber….“

„Lass mich bitte in Ruhe!“

Tsubasas Stimme hatte jetzt fast etwas flehendes. Sein Vater zögerte kurz, dann ließ er ihn los. „Versprich mir, dass du darüber nachdenkst. Wir wollen dir wirklich nur helfen.“

Tsubasa sagte nichts mehr, und sein Vater hielt ihn nicht zurück, als er das Haus verließ. Seufzend ging er in die Küche zurück. Seine Frau blickte ihm ängstlich entgegen.

„Er sollte doch nicht alleine….“

„Ich weiß, aber ich glaube er braucht jetzt ein paar Minuten. Ich hoffe, dass er nicht allzu lange wegbleibt….“

Daichi blickte mit großen Augen zwischen seinen Eltern hin und her. Er hatte ausgenutzt, dass sie abgelenkt gewesen waren, und den Reis auf dem kleinen Hochstuhltischchen verteilt, so dass es aussah wie nach einem Schlachtfeld.

„Herrje, was hast du denn angestellt.“, seufzte Frau Ozora resignierend, als sie darauf aufmerksam wurde. „Das nächste Mal füttere ich dich wohl doch besser wieder….“ Sie stand auf und holte einen Lappen, um die Sauerei zu beseitigen. Just in diesem Moment klingelte es an der Tür. Kam Tsubasa schon wieder zurück? Hoffnungsvoll stand Herr Ozora auf und öffnete. Zu seiner Überraschung stand Taro draußen.

„Hallo. Ich wollte kurz mit Tsubasa reden….“

Peng!

Taro brachte sein Fahrrad mit quietschenden Reifen zum Stehen und warf einen besorgten Blick zum Himmel hinauf. Dunkle Wolken türmten sich am Horizont, ein frischer Wind war aufgekommen, in der Ferne grummelte es. Hoffentlich hielt das Wetter noch eine Weile – sonst fiel sein Plan wohl im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser. Taro kettete sein Rad an einen Laternenpfosten und schulterte seinen Rucksack, bevor er seinen Weg zu Fuß fortsetzte. Es dauerte nicht lange, bis er den Strand erreichte und der Beton unter seinen Füßen von weichem Sand abgelöst wurde. Hier war der Wind noch eine Spur kräftiger, das Meer war unruhig. Taro beobachtete ein paar Sekunden, wie sich die Wellen an den Klippen in der Nähe brachen, bevor er weiter ging. Es donnerte wieder, lauter als vorher. Das Gewitter kam näher. Wenigstens war der Strand wegen des drohenden Unwetters menschenleer – das konnte für das, was Taro vorhatte, nur von Vorteil sein. Er musste nicht lange suchen. Tsubasa saß an eine Felswand gelehnt, die Knie angezogen und den Kopf auf die Arme gelegt. Offensichtlich bemerkte er Taro nicht. Der zögerte kurz, bevor er vollends zu ihm hinüberging und sich mit einem kurzen Räuspern bemerkbar machte.

„Hey.“

Tsubasa zuckte zusammen und hob den Kopf. Taro versuchte, sich seine Sorge nicht anmerken zu lassen- Tsubasa sah aus, als hätte er nächtelang nicht mehr geschlafen, und vermutlich entsprach das auch der Wahrheit.

„Alles in Ordnung?“

Tsubasa zuckte nur mit den Schultern und richtete den Blick aufs Meer. „Sicher.“

Taro zögerte erneut, bevor er sich neben ihn in den Sand setzte. „Ich habe gehofft, dass ich dich hier finde. Du solltest doch nicht allein unterwegs sein…. Deine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen.“

Ein neues Schulterzucken war die Antwort. Taro versuchte es weiter.

„Gab es heute was Neues von Sanae? Wie geht’s ihr?“

„Unverändert.“

„Verstehe.“

Ein paar Sekunden schwiegen beide. Dann fasste sich Taro schließlich ein Herz und öffnete seinen Rucksack.

„Hier.“

Tsubasa wandte den Kopf und hatte gerade noch Zeit, den Fußball aufzufangen, den Taro zu ihm hinüberwarf. Verdattert blickte er ihn an. „Was…?“

„Du gegen mich.“, meinte Taro knapp, während er bereits aufstand und sich den Sand abklopfte.

„Mir ist nicht nach…“

„Es geht nicht darum, was du willst, sondern was du brauchst!“, schnitt ihm Taro das Wort ab. „Seit Tagen kapselst du dich ab, hast mit kaum jemandem ein Wort gesprochen und dich schon ewig nicht mehr bei uns auf dem Platz blicken lassen. So geht das nicht weiter! Ich kann verstehen, dass du wütend bist und Angst hast, aber wenn du das alles in dir einschließt, wird es sicher nicht besser.“

„Aber…“

„Kein Aber!“ Taro verschränkte die Arme. „Ich bleibe hier so lange stehen, bis du gegen mich gespielt hast!“

Als Tsubasa immer noch keine Anstalten machte, aufzustehen, fasste Taro ihn kurzerhand am Arm. „Komm schon! Vertrau mir!“

Tsubasa ließ sich widerwillig auf die Beine ziehen. Seine Motivation, ausgerechnet in dieser Situation Fußball spielen zu müssen, hielt sich extrem in Grenzen. Aber danach gab Taro hoffentlich wieder Ruhe – und es war immerhin besser als der Plan seiner Eltern, ihn zum Psychologen zu verfrachten.

„Und wie genau stellst du dir das vor?“

„Squash.“ Taro deutete auf die Felswand hinter ihm. „Wir schießen abwechselnd gegen die Wand. Wer den Ball nicht mehr erwischt, hat verloren. Einverstanden?“

„Von mir aus…“

„Dann los. Du fängst an.“

Taro war gut in Form. Tsubasa musste sich während der nächsten Minuten voll und ganz auf den Ball konzentrieren. Nach ein paar Startschwierigkeiten bemerkte er zu seiner eigenen Verwunderung, dass sein Körper ganz automatisch die Kontrolle über die vertrauten Bewegungen übernahm. Nach und nach wichen die bohrenden Kopfschmerzen und die Müdigkeit, und mit jedem Schuss, den Taro über die Wand zu ihm zurück schickte, verschwand auch die Starre, die ihn bei jedem Gedanken an Sanae gelähmt hatte. Stattdessen spürte er, dass er zunehmend wütender wurde. Und ein anderes, seit der letzten Begegnung mit Kenji verschwundenes Gefühl kehrte zurück: Hass. Kalter, blanker Hass. Unwillkürlich gewannen seine Bewegungen und Schüsse an Kraft und an Energie. Taro ließ sich davon nicht beirren. Nach gut zehn Minuten waren beide völlig verschwitzt und außer Atem, ohne nachzulassen. Der weiche Sand war es schließlich, der das Spiel noch einmal zehn Minuten später beendete. Tsubasa rutschte bei dem Versuch, Taros Schuss zu erwischen, aus und verlor den Halt. Wieder kochte Wut in ihm hoch, Wut über seine eigene Ungeschicklichkeit, über den Opelfahrer, sogar über den Sand. Irgendwie schaffte er es dennoch, den Ball zurück zu schießen. Noch bevor er sich richtig wieder sammeln und sein Gleichgewicht zurückfinden konnte, kam der Fußball von Taro bereits wieder –und Tsubasa sah endgültig rot. Rein instinktiv legte er mit einem wütenden Schrei seine ganze Kraft und seinen Zorn in den nächsten Schuss. Leider hatte er keinerlei Kontrolle über den Winkel – was dazu führte, dass das Leder direkt zu ihm zurück prallte. Es ging so schnell, dass Tsubasa überhaupt nicht reagieren konnte. Mit einem dumpfen Aufschlag traf ihn der Ball mitten ins Gesicht. Die Wucht war so heftig, dass er von den Beinen gerissen wurde und sich im nächsten Moment rücklings im Sand liegend wiederfand. Der Ball kullerte herrenlos ein paar Meter weiter, vom Wind in Richtung Meer getrieben.

„Tsubasa!“

Nach der ersten Schrecksekunde Taro zu Tsubasa hinüber, der einfach liegengeblieben war, einen Arm über das Gesicht gelegt.

„Bist du verletzt?“

Tsubasa schüttelte nur leicht den Kopf, ohne sich sonst irgendwie zu rühren, und Taro verstand mit einem Mal, was los war. Stumm setzte er sich neben seinen Freund in den Sand, den Blick aufs Meer gerichtet. Das Gewitter war mittlerweile bedrohlich nahe, es würde sicher jeden Moment zu regnen beginnen. Vereinzelt spalteten große Blitze den Himmel, jedes Mal gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donner. Der Wind war empfindlich kühl geworden. Taro kam der Gedanke, dass sie sich womöglich beide eine schöne Erkältung einfangen würden, verschwitzt wie sie waren, falls sie hier noch länger blieben, aber er schwieg weiterhin. Es dauerte ein paar Minuten, bis sich Tsubasa anscheinend wieder unter Kontrolle hatte.

„Danke.“, meinte er leicht heiser, immer noch ohne sich sonst zu rühren, und Taro lächelte leicht.

„Gern geschehen. Aber du hättest das mit dem Ball erwischen nicht so wörtlich nehmen müssen…“

Tsubasa konnte nicht anders, er musste lachen, obwohl ihm eigentlich immer noch zum heulen zumute war. Und es tat gut – beides.

„Du bist wirklich nicht verletzt, oder? Das sah übel aus….“, hakte Taro nach.

„Nein, alles in Ordnung.“ Tsubasa löste endlich den Arm von seinem Gesicht und richtete sich auf. Eine Zeitlang schwiegen beide wieder.

„Ich bin nachher mit Kojiro, Ryo und Izawa verabredet.“, meinte Taro schließlich. „Kommst du mit? Sie freuen sich bestimmt, dich mal wieder länger zu sehen, außer auf dem Weg zwischen Krankenhaus und nach Hause.“

Tsubasa zögerte, aber dann nickte er schließlich. Immerhin konnte er so das leidige Thema Psychologe noch einmal umgehen. Wie er seine Eltern kannte, war das sicher noch nicht das letzte Wort gewesen…..

Taro schien erleichtert zu sein. „Klasse. Dann gehen wir besser schon mal vor –das Wetter hält bestimmt nicht mehr lange.“

Wie aufs Stichwort begannen bereits die ersten Regentropfen zu fallen. Taro seufzte.

„Wunderbar.“ Er stand auf und hielt Tsubasa anschließend die Hand hin. „Beeilen wir uns besser….“

Tsubasa zögerte erneut, dann ließ er sich schließlich aufhelfen. Sein Kopf protestierte gegen die abrupte Bewegung, aber es war bei weitem nicht so schlimm wie vor einigen Stunden. Überhaupt hatte er zum ersten Mal seit Tagen das Gefühl, wieder einigermaßen frei atmen zu können…

„Hast du dein Handy mit?“, wollte Taro wissen, der mittlerweile auch den Fußball wieder eingesammelt hatte. „Meins liegt daheim….“

„Keine Ahnung. Warum?“

„Weil du besser deinen Eltern Bescheid sagen solltest – sonst machen sie sich in der Situation mit Garantie Sorgen.“

Daran hatte Tsubasa noch gar nicht gedacht, aber er musste wider Willen zugeben, dass Taro recht hatte. Er begann seine Hosentaschen nach seinem Handy abzusuchen und wurde zu seiner eigenen Überraschung fündig. Allerdings war es ausgeschaltet. Ihm wurde bewusst, dass er es seit Sanaes Unfall nicht mehr benutzt hatte. Ein neuer Blitz zuckte über den Himmel, ein dumpfes Krachen folgte. Das Gewitter war jetzt direkt über ihnen, die Regentropfen mehrten sich.

„Wir müssen uns wirklich beeilen.“, meinte Taro mit einem besorgten Blick nach oben. Tsubasa nickte abwesend. Er hatte das Handy mittlerweile eingeschaltet und runzelte angesichts der 15 Nachrichten, die jemand auf seiner Mailbox hinterlassen hatte, verwirrt die Stirn.

„Habt ihr oft versucht, mich auf dem Handy zu erreichen?“

„Nein, eigentlich nicht. Nur direkt nach…“ Taro bracht ab, aber Tsubasa wusste auch so, was er meinte. Er schwieg.

„Komm, wir sollten hier nicht länger bleiben, das Wetter hält keine Sekunde mehr.“

Tsubasa nickte wieder und begann nach kurzem Zögern, die Nachrichten abzuhören, während er Taro bereits folgte. Die ersten stammten tatsächlich von seinen Freunden am Tag von Sanaes Unfall – besonders Kojiro hatte fünf Mal auf seine Mailbox gesprochen, jedes Mal in wütenderem Tonfall – aber danach folgten schlicht und ergreifend Zahlen. Eine fremde, verzerrte Männerstimme zählte von zehn abwärts- in jeder Nachricht eine Zahl, in unregelmäßigen Abständen, angefangen in der Nacht ein Tag nach dem Unglück bis zum heutigen Datum. Die letzte Nachricht war gerade mal eine halbe Stunde alt.

„Und? Wer hat so oft angerufen?“, wollte Taro wissen, während er bereits seinen Fahrradschlüssel aus der Tasche suchte.

„Keine Ahnung. Klingt nach einem Countdown…“

„Ein Countdown? Für was?“

Das war eine äußerst gute Frage. Tsubasa bekam ein ungutes Gefühl. Die Männerstimme endete bei 0, der Piepton ertönte, und die freundliche Frauenstimme seiner Mailbox kündete die letzte Nachricht an. Dieses Mal keine Zahl…

„PENG“
 

Verwirrt blickte Tsubasa das Telefon an. „Peng? Was solll….“

Weiter kam er nicht. Ein neuer, besonders greller Blitz teilte den Himmel, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnern, gleichzeitig spürte Tsubasa plötzlich einen brennenden Schmerz in seinem Bein. Verdattert blickte er nach unten, auf den kleinen, roten Punkt auf seinem linken Oberschenkel, der sich rasend schnell ausbreitete und den Stoff seiner Jeans verfärbte. Er fühlte sich feucht und warm an. Erst langsam dämmerte es ihm, dass es sich um Blut handelte. Sein Blut…. Mit dieser Erkenntnis verstärkte sich auch der Schmerz. Das Handy entglitt seinen Fingern, es landete lautlos im weichen Sand, gleichzeitig verlor er den Halt. Bevor er jedoch stürzen konnte, war Taro plötzlich direkt neben ihm und hielt ihn fest.

„Keine Angst, das ist sicher nicht so schlimm, wie es aussieht.“, meinte sein Freund hastig, schaffte er aber weder, seine eigene Panik aus der Stimme noch aus seinen Augen zu verdrängen. „Ich hole gleich Hilfe….“

Tsubasa antwortete nicht. Er war immer noch zu verwirrt, um zu verstehen, was hier passierte – und was gerade passiert war. Warum blutete sein Bein? Der Schmerz verhinderte, dass er überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte, er bekam nicht einmal richtig mit, dass Taro ihn in den Sand in eine sitzen Position sinken ließ und sich dann bereits hastig das T-Shirt über den Kopf zog, bevor er es mit Hilfe seiner Zähne und einem scharfen Ruck zerriss.

„Keine Panik.“, wiederholte er leise und schlang die T-Shirt-Streifen dicht über der Wunde um Tsubasas Oberschenkel, bevor er sie festzog. „Wir müssen nur die Blutung stoppen, der Rest ist sicher halb so wild....“

Der rote Fleck breitete sich immer noch sehr schnell aus. Gleichzeitig kroch eine klamme Kälte von seinem verletzten Bein in seinen ganzen Körper, die Umgebung verlor mehr und mehr ihre Konturen…..

„Hierbleiben!“

Taros Stimme und seine Hand, die Tsubasa an der Schulter packte, rissen den Nebel etwas zur Seite.

„Du musst hierbleiben.“, wiederholte Taro mit Nachdruck, während er mit der freien Hand Tsubasas Handy aus dem Sand hob und eine Nummer wählte. „Nicht ohnmächtig werden, verstanden?“

Jemand rief seinen Namen. Taro hob verwundert den Kopf. In der nächsten Sekunde war Kojiro bereits da.

„Ich habe alles gesehen – Erklärungen gibt es später.“, meinte er knapp, ohne Taro zu Wort kommen zu lassen, und ging ebenfalls bei Tsubasa in die Knie, bevor er ihn an der anderen Schulter fasste. „Hast du den Krankenwagen schon gerufen?“

„Gerade dabei.“

Kojiro nickte knapp und wurde abgelenkt, als Tsubasa wieder das Gleichgewicht zu verlieren drohte, er verstärkte seinen Griff um dessen Schulter.

„Zusammenreißen, klar?“, meinte er streng. „Es dauert sicher nicht lange, bis Hilfe da ist….“

Sogar in seinem benebelten Zustand wurde Tsubasa bewusst, dass seine Freunde beide kreidebleich wirkten. Vermutlich kein gutes Zeichen….wie er wohl selbst aussah? Die Wunde hörte nicht auf zu bluten und tat ekelhaft weh, gleichzeitig war er immer noch zu durcheinander, um den Schmerz richtig zu spüren. In der Ferne war die Sirene eines Krankenwagens zu hören.

„Bleib du hier, ich laufe den Sanitätern entgegen, damit sie uns schneller finden.“, meinte Taro hastig an Kojiro gewandt, bevor er sich aufrappelte und davon rannte.

Kojiro nickte nur und blickte unwillkürlich auf die Wunde. Die Blutung ließ immer noch nicht nach, anscheinend war eine Arterie verletzt…. Kojiro biss die Zähne zusammen und zog mit der freien Hand die T-Shirt-Streifen enger um Tsubasas Bein. Tsubasa zuckte nicht einmal zusammen, er wirkte immer noch mehr verwirrt als geschockt…..vermutlich war es eine Kombination aus beidem. Mehrere Rufe und Schritte verrieten Kojiro, dass Taro mit den Sanitätern zurückkam. Endlich…. Es wurde immer schwerer, Tsubasa wach zu halten. Kojiro machte den Männern bereitwillig Platz und zog sich zu Taro zurück, der mehr als geschockt aussah.

„Habt ihr irgendwas bemerkt?“, wollte er ohne Umschweife wissen. „Habt ihr gesehen, dass der Kerl euch folgt?“

„Ich….nein.“ Taro blickte hilflos zu Tsubasa hinüber. Die Sanitäter legten eine Hektik an den Tag, die ebenfalls nichts gutes vermuten ließ. „Ich weiß auch immer noch nicht, was genau passiert ist…..“

„Jemand hat auf ihn geschossen, dass ist passiert.“, meinte Kojiro grimmig, während er bereits sein Handy zückte und die Nummer der Polizei wählte. „Ruf du seine Eltern an, die müssen wissen, was passiert ist. Ich verständige die Polizei und die Anderen. Wir müssen eine Krisensitzung einberufen…. Wir treffen uns in einer halben Stunde auf dem alten Fußballplatz, dann können wir zusammen weiter ins Krankenhaus fahren.“

Taro öffnete schon den Mund, schloss ihn dann aber wieder, ohne seine Frage auszusprechen. Ohne weitere Widerworte nahm er wieder Tsubasas Handy und wählte die Telefonnummer der Ozoras. Dabei stellte er fest, dass seine Hände blutverschmiert waren und dass seine Finger leicht zitterten. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit hatte er das Blut eines engen Freundes an den Händen…. Erst Sanae, jetzt Tsubasa. Was zum Teufel ging hier nur vor?

Kojiro schien seine Gedanken zu lesen. Nach dem Gespräch mit der Polizei fasste er kurz Taros Schulter und drückte sie.

„Er hatte Glück, dass du dabei warst und gleich geholfen hast. Ich glaube nicht, dass es wirklich schlimm ist, vermutlich ein glatter Durchschuss.“

Woher willst du das wissen, schoss es Taro durch den Kopf, aber er schwieg weiter. An Kojiros Variante zu glauben war angenehmer. Also nickte er nur und hob das Handy an sein Ohr. Nach dem zweiten Klingeln wurde bereits abgenommen.

„Tsubasa?"

Es war Tsubasas Vater. Taro schluckte. „Nein, Taro hier. Leider habe ich keine guten Nachrichten…..“

Narkose

Der Regen war in Hagel übergegangen. Das Prasseln der feinen Eiskörner mischte sich mit dem Trommeln der Regentropfen auf der Fensterscheibe. Der Himmel war immer noch bedrohlich grau, es donnerte und blitzte in kurzen Abständen, die Bäume bogen sich heftig im Wind. Es war reines Glück, dass das Unwetter sich erst jetzt so zuspitzte. Taro stand mit verschränkten Armen auf dem Gang der Notaufnahme und starrte nach draußen. Im Moment war er mit Kojiro, Ryo, Yukari und Izawa alleine. Eine halbe Stunde nach dem Vorfall hatten sie alle sich auf dem alten Fußballplatz getroffen, waren aber vor dem Gewitter hierher in die Klinik geflüchtet und hatten dort in der Cafeteria das nötigste besprochen. Kojiro hatte bisher eine Erklärung verweigert, warum er so plötzlich am Strand aufgetaucht war und was er von dem Schuss mitbekommen hatte, er wollte erst darüber sprechen, wenn Tsubasa dabei war. Die Polizei, die direkt nach den Sanitätern an Ort und Stelle gewesen war und Tsubasas Transport ins Krankenhaus noch mitbekommen hatten, hatten den Platz, an dem er angeschossen worden war, kurz inspiziert, die Personalien von Taro und Kojiro aufgenommen und waren dann nach einer kurzen Befragung wieder gegangen, allerdings nicht ohne die beiden für den nächsten Vormittag ins Revier zu bestellen. Auch hier war Kojiro sehr wortkarg gewesen und hatte darauf bestanden, zufällig vorbei gekommen zu sein. Taro glaubte davon kein Wort. Vermutlich hatte Kojiro auf seiner Rolle als Bodyguard beharrt und war Tsubasa von zuhause aus gefolgt, aber warum weigerte er sich, darüber zu sprechen, bevor Tsubasa dabei war? Taro seufzte und rieb sich mit den Händen über das Gesicht, bevor er den Blick schweifen ließ. Die Notaufnahme war leer heute, außer ihnen und Tsubasas Eltern, die ganz in der Nähe saßen, war kein Mensch mehr da. Mittlerweile ging es bereits auf neun Uhr abends zu, und es gab immer noch keine neuen Nachrichten von Tsubasa. Taro blickte wieder zu seinen Freunden hinüber, von denen jeder seinen eigenen Gedanken nachzuhängen schien. Auch Herr und Frau Ozora sprachen nicht miteinander, sie sahen sehr bleich und besorgt aus –was kein Wunder war. Herr Ozora wirkte noch blässer als seine Frau, aber auch das war nicht verwunderlich. Offensichtlich hatte Tsubasa sehr viel Blut verloren, es hatte nicht lange gedauert, bis ein Arzt hektisch ein paar Worte mit seinen Eltern gewechselt hatte. Daraufhin war Herr Ozora dem Mediziner den Gang hinunter gefolgt und erst nach gut einer Stunde wieder zurück gekommen, den linken Arm von der Blutabnahme immer noch angewinkelt. Taro wusste nicht, wie viel sie genommen hatten – offensichtlich wenig genug, um ihn nach einer gewissen Beobachtungszeit wieder zu seiner Familie zurück zu lassen. Frau Ozora saß auf einem Stuhl neben ihrem Mann und wiegte Daichi abwesend hin und her. Dieses Mal hatten sie offenbar keinen Babysitter auftreiben können und hatten den Kleinen daher zwangsweise mitgebracht. Die erste Zeit hatte er in seinem Kinderwagen gesessen und hatte geschlafen, aber dann war er wach geworden und hatte begonnen zu quengeln. Mittlerweile schlief er wohl wieder, aber seine Mutter machte keine Anstalten, ihn zurück in den Kinderwagen zu setzen. Taro seufzte und warf zum hundertsten Mal ein Blick auf Tsubasas Handy, das er immer noch bei sich trug – und zu seinem Erstaunen war tatsächlich ein kleiner Briefumschlag auf dem Display zu sehen. Hektisch rief er die Nachricht auf.
 

Wir haben was! Machen uns jetzt auf den Rückweg!
 

Die SMS kam von Kisugi Taro atmete erleichtert auf und gab Kojiro einen kleinen Stoß in die Seite, bevor er ihm das Handy reichte. Er nickte grimmig, nachdem er die Nachricht überflogen hatte.

„Wenigstens etwas.“, war sein einziger Kommentar, während er ihm das Handy zurück gab. „Wir reden nachher darüber.“

Taro nickte und schaltete das Handy aus. Er hatte eh kein gutes Gefühl gehabt, es die ganze Zeit hier im Krankenhaus anzulassen, aber immerhin handelte es sich um einen Notfall. Die Anderen waren trotz des Unwetters zurück zum Strand gegangen und hatten nach irgendetwas gesucht, dass ihnen – und er Polizei – weiterhelfen konnte. Besonders gründlich waren die Polizisten bei ihrer Inspektion anscheinend nicht gewesen.

„Ich frage mich, wie lange das noch dauert.“, brach Ryo plötzlich das Schweigen. „So schlimm kann es doch gar nicht gewesen sein!“

„Na ja…. Solche Sachen brauchen häufig ihre Zeit.“, meinte Yukari leise. Sie saß ebenfalls auf einem der Besucherstühle, die Hände so fest in ihrem Schoß verschränkt, dass die Knöchel weiß hervortraten. Auch sie war bleich, tiefe Ringe lagen unter ihrem Augen. Es war offensichtlich, dass sie die letzten Tage extrem wenig geschlafen hatte, und das war kein Wunder. Sie verbrachte jede Minute bei Sanae, die Tsubasa oder Sanaes Eltern nicht bei ihr sein konnten und die die Ärzte erlaubten.

„Schon, aber….“ Ryo brach hilflos ab, und Taro konnte gut nachvollziehen, wie er sich fühlte.

„Es ist ein Stück weit unsere Schuld.“, meinte Izawa finster. „Wir hätten ihn nicht aus den Augen lassen dürfen….“

„Schwachsinn! Das haben wir doch schon ausdiskutiert! Tsubasa war nicht alleine, als es passiert ist, außerdem hätte das niemand verhindern können.“, meinte Kojiro entschieden. „Wenn überhaupt, dann ist es meine Schuld, weil ich den Kerl gesehen habe….“

„Was?“ Die Anderen starrten ihn entgeistert an. „Du hast ihn gesehen? Warum hast du das nicht der Polizei gesagt?“

„Das werde ich noch, keine Sorge. Aber erst, wenn ich mit Tsubasa geredet habe!“

Die Anderen setzten zu einer Erwiderung an, aber in diesem Moment sahen sie den Arzt von vorhin, der entschieden an ihnen vorbei und auf Tsubasas Eltern zuging.
 

***
 

Herr Ozora zuckte unwillkürlich zusammen, als er Schritte hörte, und blickte auf, dann erhob er sich hastig, ohne auf den Schwindel zu achten, der ihn einen Moment lang befiel. Seine Frau folgte seinem Beispiel

„Und?“, wollte Herr Ozora sofort wissen, ohne dem Arzt eine Chance zu lassen, etwas zu sagen. „Wie geht es Tsubasa? Haben Sie die Blutung endlich stoppen können?

Der Arzt nickte und schenkte Tsubasas Eltern ein aufmunterndes Lächeln. „Ja, wir haben die Blutung gestoppt, es geht Ihrem Sohn den Umständen entsprechend gut. Er hatte Glück im Unglück, es war ein glatter Durchschuss, der Knochen wurde nicht verletzt. Wenn Sie möchten, kann ich Sie in ein paar Minuten zu ihm bringen, ich würde vorher nur kurz gerne ein paar Worte mit Ihnen beiden sprechen. Folgen Sie mir am besten in mein Büro.“

Herr Ozora tauschte einen kurzen Blick mit seiner Frau aus, die Daichi bereits vorsichtig zurück in den Kinderwagen setzte, um ihn nicht aufzuwecken. Dann folgten sie beide dem Arzt den Gang entlang, den Kinderwagen vor sich herschiebend. Es dauerte nicht, lange bis sie ihr Ziel erreichten. Der Arzt ließ sie eintreten und deutete auf zwei Besucherstühle, die vor dem großen, aufgeräumten Schreibtisch saßen.

„Nehmen Sie doch bitte Platz.“

„Was ist denn jetzt genau mit Tsubasa?“, wollte Frau Ozora ungeduldig wissen, während sie der Aufforderung Folge leistete. „Warum hat die Behandlung so lange gedauert? Ist es was Ernstes?“

„Nun ja, mit einer Schusswunde ist sicher nicht zu spaßen.“ Der Arzt ließ sich ebenfalls hinter seinem Schreibtisch nieder. „Das wichtigste habe ich Ihnen ja bereits gesagt. Tsubasa hatte Glück im Unglück, die Kugel ist glatt durch seinen Oberschenkel geschlagen und hat dabei keinen größeren Schaden eingerichtet. Ein paar Zentimeter tiefer, und es hätte das Knie erwischt. Wir mussten operieren, um die Blutung zu stoppen, aber im Moment ist das alles auch dank Ihrer Blutspende wieder im grünen Bereich. Er liegt noch in der Narkose, ich denke, dass er innerhalb der nächsten Stunde wieder zu sich kommt – vermutlich wird er dann aber noch ziemlich benommen sein.“

„Wird er bleibende Schäden zurückbehalten?“, wollte Herr Ozora besorgt wissen, und seine Frau zuckte leicht zusammen. Diese Frage hatte sie bis jetzt erfolgreich verdrängt.

Der Arzt wurde ernst. „Deswegen wollte ich auch mit Ihnen sprechen. Wenn ich richtig informiert bin, hat er gute Chancen auf eine Fußballkarriere in Brasilien?“

Seine Eltern nickten, und der Arzt seufzte.

„Nun ja, aus rein ärztlicher Sicht denke ich, dass keine Schäden zurückbleiben werden, wie gesagt, er hatte Glück. Rein theoretisch müsste er also wieder spielen können. Allerdings hängt das auch ein wenig von Tsubasa ab. Er muss sich unbedingt mindestens zwei Monate schonen, das Bein braucht die Chance, vollständig zu verheilen. Im Idealfall hütet er die nächsten zwei Wochen erst mal das Bett und läuft so wenig wie möglich.“

Tsubasas Eltern tauschten einen besorgten Blick aus. Bei Tsubasa würde das ein hartes Stück Arbeit werden.

„Und wenn er sich nicht schont?“, meinte Frau Ozora schließlich zaghaft.

„Dann kann ich für nichts garantieren. Wie gesagt, mit einer Schusswunde ist nicht zu spaßen.“

Ein paar Sekunden herrschte Schweigen, bevor sich der Arzt schließlich räusperte und fortfuhr.

„Wir würden ihn auch gerne noch ein paar Tage zur Beobachtung hierbehalten. Wir wollen sicher gehen, dass er die Narkose vertragen hat und die Wunde problemlos verheilt – und auch mit Hinblick auf den Blutverlust ist es besser, wenn er die nächsten Stunden unter ärztlicher Aufsicht bleibt.“

„Natürlich, das versteht sich von selbst.“

„Gut, ich habe gehofft, dass Sie in der Hinsicht mit mir einer Meinung sind.“ Der Arzt lächelte leicht. „Ich wollte Sie bitten, mit Tsubasa darüber zu sprechen und ihm auch klar zu machen, was auf dem Spiel steht, wenn er sich nicht an unsere Anweisungen hält. Ihr Sohn hat – einen gewissen Ruf, was die Rücksicht auf seine Gesundheit angeht.“

Frau Ozora nickte. „Den hat er leider nicht umsonst.“, meinte sie niedergeschlagen. „Aber die letzten Jahre ist er in der Hinsicht etwas vernünftiger und erwachsener geworden – wir werden auf alle Fälle unser Bestes versuchen.“

Dabei schoss ihr durch den Kopf, dass es immer Sanaes Einfluss gewesen war, der Tsubasa in letzter Zeit zur Vernunft gebracht hatte….

„Können Sie uns jetzt zu Tsubasa bringen? Ich wäre gern bei ihm, wenn er aufwacht.“, meinte sie leise. Herr Ozora griff unwillkürlich nach ihrer Hand und drückte sie.

Der Arzt nickte. „Selbstverständlich. Folgen Sie mir bitte….und erschrecken Sie nicht, es sieht auf den ersten Blick vermutlich schlimmer aus als es ist. Den Kleinen können Sie solange im Schwesternzimmer lassen, wenn Sie möchten, eine der Schwestern ist bestimmt bereit, sich um ihn zu kümmern.“

Frau Ozora nickte erleichtert, ihr war nicht wohl bei dem Gedanken gewesen, Daichi mitzunehmen.

„Ich komme gleich nach, ich sage kurz Taro und den Anderen Bescheid – sie werden sicher wissen wollen, was los ist.“, meinte ihr Mann leise. „Geh du ruhig schon vor…..“

Frau Ozora nickte erneut. „In Ordnung.“
 

***
 

„Hey! Aufwachen!“

Tsubasa zuckte zusammen, als er von etwas weichem am Kopf getroffen wurde, und öffnete perplex die Augen. Sanae blickte ihn vorwurfsvoll an.

„Das ist so typisch! Der erste freie Tag, den wir seit langem haben, und was machst du? Du schläfst ein! Ich hoffe, du schämst dich wenigstens!“

„Ein bisschen.“ Tsubasa lächelte leicht und richtete sich auf. „Ich habe halt wenig geschlafen in letzter Zeit….“

„Trotzdem! Schlafen kannst du zuhause!“ Sanae sammelte das Kissen ein, dass sie vorhin nach ihm geworfen hatte, und setzte sich damit neben ihn auf die Decke. „Dafür will ich eine Entschädigung!“

„Und was schwebt dir da vor?“

„Hm….“ Sanae blickte sich suchend um, dann hellte sich ihre Miene auf, als sie einen Eiswagen in der Nähe entdeckte. „Du könntest mir ein Eis spendieren. Ich glaube, das wäre ein guter Anfang.“

„Ein Anfang?“ Tsubasa zog die Augenbrauen nach oben. „Was erwartet mich denn noch alles?“

„Das erfährst du, wenn du mit dem Eis wieder da bist.“, grinste Sanae und gab ihm einen Kuss. „Beeil dich – ich hab Hunger.“

„So groß kann der Hunger ja nicht sein, vom Picknickkorb hast du noch nicht viel angerührt.“

„Da ist ja auch kein Eis drin.“

„Verstehe.“ Tsubasa lächelte leicht und suchte den Geldbeutel aus seinem Rucksack, bevor er aufstand. „Dann bleibt mir wohl keine Wahl.“

„Richtig.“, meinte Sanae zufrieden und streckte sich auf der Decke aus. „Zwei Kugeln mindestens – mit Schokolade. Ich warte hier.“

„Zu Befehl.“

Sanae streckte ihm die Zunge heraus, aber das sah Tsubasa schon nicht mehr, er machte sich auf den Weg Richtung Eiswagen. Es war interessant zuzusehen, dass Sanae hier in Brasilien mehr und mehr ihr altes Temperament zurück gewann. Es war fast so, als müsste sie die Tatsache, dass es hier keinen Ryo gab, mit dem sie sich streiten konnte, auf Tsubasa übertragen. Nicht, dass es ihn gestört hätte, im Gegenteil. Auf diese Art gab es fast immer etwas zu lachen – und indirekt war es fast so, als wäre Ryo auch hier. Ein Stück Zuhause, sozusagen….. Fünf Monate waren sie bereits in Sao Paolo, zwei davon gemeinsam, und mittlerweile hatten sie sich ganz gut eingelebt, wenn man von der Tatsache absah, dass Tsubasa an manchen Tagen durchaus 10 Stunden auf dem Fußballplatz verbrachte und abends dann völlig erledigt nach Hause kam. Obwohl er die Auswahlspiele erfolgreich überstanden hatte, bestand Roberto darauf, ihn zumindest in der Anfangszeit täglich einige Stunden extra zu trainieren. Es war Sanaes Idee gewesen, den ersten wirklichen freien Tag für einen Ausflug zu nutzen, und so hatten sie am Morgen ihre Sachen gepackt und waren mit dem Zug an diesen Badesee gefahren. Das Wetter war perfekt dafür – strahlend blauer Himmel und Sonnenschein, aber nicht so heiß, dass man es mittags draußen nicht ausgehalten hätte. Mittlerweile hatte Tsubasa das Eis erstanden und machte sich auf den Weg zurück. Er blickte sich kurz um, als er meinte, seinen Namen zu hören, und schüttelte über sich selbst den Kopf. Wer sollte ihn hier kennen? Als er die Picknickdecke erreichte, blieb er verdattert stehen. Sanae war weg….

„Sanae?“

Er blickte sich erneut um, aber auch in der Nähe konnte er sie nirgends sehen. Er bekam ein ungutes Gefühl. Mit einem Mal war es totenstill geworden, nicht mal die Vögel waren mehr zu hören. Als sich Tsubasa ein weiteres Mal umsah, bemerkte er zu seinem Entsetzen, dass auch alle anderen Menschen plötzlich verschwunden waren. Sogar die beiden Eiswaffeln, die er gerade noch gehalten hatte, waren nicht mehr da. Verdattert starrte er seine leeren Hände an –und hörte in diesem Moment noch einmal seinen Namen. Jemand rief nach ihm…. Mit wachsender Panik blickte er sich erneut um, konnte aber niemanden sehen. Was ging hier vor….? Plötzlich knallte ein Schuss. Tsubasa wusste sofort, dass er getroffen worden war, spürte aber zu seinem eigenen Erstaunen keine Schmerzen. Im Gegenteil, sein linkes Bein wurde komplett taub……

„Tsubasa!“

Jetzt hörte er die Stimme sehr deutlich. Es war ein Mann….

„Tsubasa? Hörst du mich?“

Zwei leuchtende Punkte tauchten direkt über ihm auf. Tsubasa blinzelte benommen. Der See war weg – er lag irgendwo, es fühlte sich fremd an und roch steril. Das taube Gefühl in seinem Bein war immer noch da…..

„So ist es gut.“, meinte der Mann wieder. Langsam formte sich ein Gesicht zu der fremden Stimme. Das Licht flackerte noch einmal über seine Augen. „Jetzt hast du das schlimmste geschafft.“

Tsubasa blinzelte wieder und realisierte langsam endlich, wo er war. Der Mann, der sich über ihn gebeugt hatte, steckte die kleine Taschenlampe zurück in die Brusttasche und lächelte ihn aufmunternd an. „Willkommen zurück.“

Erwachen

„Willkommen zurück.“

Der Mann lächelte ihn erneut an, dann wandte er sich über die Schulter an jemanden, den Tsubasa nicht sehen konnte. „Er ist wach – alles in Ordnung.“

„Gott sei Dank!“

Diese Stimme kannte Tsubasa ganz genau. In der Tat dauerte es nicht lange, bis das besorgte Gesicht seiner Mutter in seinem Blickfeld auftauchte.

„Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Es hat ewig gedauert, bis du aufgewacht bist, wir hatten schon Angst….“ Sie brach ab, um in der nächsten Sekunde bereits weiterzureden. „Geht’s dir gut? Hast du Schmerzen? Was…..“

„Langsam.“, schnitt der Mann ihren Redefluss ab. „Lassen Sie ihn erst mal richtig zu sich kommen.“

Tsubasa war mehr als dankbar dafür. Er hatte große Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn mit dem Redetempo seiner Mutter mitzuhalten. Sie verstummte tatsächlich, griff dafür aber nach seiner Hand und drückte sie. Tsubasa registrierte dabei den Pulsmesser, der an seinem rechten Zeigefinger befestigt war, in der nächsten Sekund bemerkte er auch die Elektroden auf seiner Brust. Langsam bekam er zumindest eine Ahnung, wo er war…..

„Du bist im Krankenhaus.“, meinte der Mann, als hätte er Tsubasas Gedanken erraten. „Mein Name ist Kimura, ich bin dein behandelnder Arzt. Kannst du dich daran erinnern, was passiert ist?“

Tsubasa musste sofort an den Traum denken, an den Schuss und an das taube Gefühl in seinem Bein, das immer noch nicht verschwunden war. Trotzdem schüttelte er nur den Kopf.

„Du wurdest angeschossen.“, meinte seine Mutter leise. „Am Strand….“

Angeschossen….also doch! Es war, als hätte man einen Schalter in Tsubasas Kopf umgelegt. Der Countdown auf seinem Handy, der plötzliche Schmerz in seinem Oberschenkel, das viele Blut, Regen, Kojiros und Taros Gesichter…..Wie war er hierher gekommen? Unwillkürlich drehte er den Kopf zum Fenster. Draußen war es dunkel, den Geräuschen nach zu urteilen regnete es immer noch.

„Es ist zwölf Uhr nachts.“, meinte Dr. Kimura leise und immer noch beruhigend. „Du hast wesentlich länger in der Narkose gelegen als angenommen, aber das ist alles kein Grund zur Sorge.“

Narkose? Warum Narkose?

„Es ist kein Wunder, dass du dich nicht richtig erinnerst.“, redete der Arzt weiter. „Du hast sehr viel Blut verloren und bist auf dem Weg ins Krankenhaus ohnmächtig geworden. Wir mussten dich notoperieren, um die Blutung zu stoppen, aber es ist alles gut gelaufen. Vermutlich wirst du dich noch ziemlich benommen und schläfrig fühlen, das geht in ein paar Stunden vorbei, sobald du dich richtig ausgeschlafen hast. Wir mussten dir starke Schmerzmittel geben, dazu kommen noch der Blutverlust und die Nachwirkungen von der Narkose. Ruhe ist jetzt das allerwichtigste – wenn du dich an unsere Anweisungen hältst und dich die nächste Zeit schonst, bist du bald wieder auf den Beinen. Kein Grund zur Sorge also….“

Das schien sein Lieblingssatz zu sein. Tsubasa war zu müde, um sich wirklich Sorgen zu machen..... Aber vielleicht war das auch eher an seine Mutter gerichtet gewesen…. Sie war immer noch bleich und drückte seine Hand so fest, dass es fast weh tat..

„Ich lasse Sie eine Zeitlang allein.“, meinte Dr. Kimura leise an Frau Ozora gewandt. „Aber Sie sollten bald nach Hause gehen, es ist eh eine Ausnahme, dass Sie noch hier sein dürfen – und ich denke, Ihnen und Ihrem Mann tut etwas Ruhe genauso gut.“

Frau Ozora nickte. „Ja – natürlich. Danke….“

„Keine Ursache. Wenn etwas sein sollte, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.“

Damit verließ er das Zimmer, und Tsubasa war mit seiner Mutter allein. Sie setzte sich auf den Bettrand, ohne seine Hand loszulassen.

„Du hast uns einen Heidenschrecken eingejagt….. Ich mag gar nicht daran denken, was passiert wäre, wenn Taro nicht dabei gewesen wäre….“, meinte sie leise. „Hast du Schmerzen?“

Tsubasa schüttelte wieder den Kopf. „Nein….. alles ist taub…. Wo sind die anderen alle?“

„Dein Vater sieht nach Daichi, er müsste jeden Moment wieder da sein. Taro und Kojiro sitzen noch draußen, die Anderen sind mittlerweile heim gegangen…. Kojiro will auch unbedingt mit dir sprechen, aber das hat Zeit bis morgen….ich werde ihm schon noch klar machen, dass du erst mal Ruhe brauchst.“

Tsubasa brauchte ein paar Sekunden, bis alles, was seine Mutter erzählt hatte, zu ihm durchgedrungen war. Er nickte nur. Taro und Kojiro waren also nicht auch noch verletzt worden….das war gut. Die Frage, wen seine Mutter noch mit „die Anderen“ meinte, sparte er sich für den Moment lieber. Sprechen und Denken konnte beides sehr anstrengend sein…. Mit einem Mal kam ihm jedoch noch ein anderer Gedanke.

„Bin ich im selben Krankenhaus wie Sanae?“

Seine Mutter runzelte angesichts dieser unerwarteten Frage irritiert die Stirn. „Ja, aber sie liegt auf einer anderen Station. Warum?“

Tsubasa antwortete nicht, statt dessen unternahm er den schwachen Versuch, sich aufzurichten – aber mal abgesehen davon, dass ihm sofort schwindelig wurde und er es eh nicht geschafft hätte, hielt ihn seine Mutter sofort zurück.

„Was machst du denn? Bleib liegen!“

„Ich will zu Sanae….“

Frau Ozora schüttelte unwillig den Kopf. Kannst du mir verraten, wie du das anstellen willst, halb betäubt wie du noch bist? Selbst wenn du laufen könntest, kämst du keine drei Schritte weit. Du bleibst hier im Bett, wo du hingehörst!“ Ihre Stimme wurde etwas sanfter. „Du musst dir um Sanae keine Sorgen machen, ich habe den Abend über immer wieder nach ihr gesehen. Der Polizist sitzt immer noch vor der Tür, niemand unbefugtes wollte rein oder raus – alles ist in Ordnung.“

Tsubasa blieb tatsächlich liegen. Die Worte seiner Mutter beruhigten ihn keineswegs, aber er spürte, dass sie in einem Punkt recht hatte –in dieser Verfassung würde er es nicht mal aus dem Bett schaffen. Allein dieser kurze Versuch hatte seine Kräfte vollständig aufgebraucht, er konnte mit einem Mal kaum noch die Augen offen halten.

„Ruh dich aus.“, meinte Frau Ozora leise und erhob sich. „Morgen früh, wenn es dir besser geht, reden wir weiter…. Erst mal ist wichtig, dass du wieder zu Kräften kommst. Dein Vater und ich kommen morgen früh gleich wieder.“

Just in diesem Moment wurde die Tür geöffnet – Herr Ozora kam zurück, den schlafenden Daichi auf dem Arm. Als er sah, dass sein ältester Sohn wach war, hellte sich sein Gesicht auf.

„Tsubasa! Ein Glück – wie geht’s dir?“

Noch bevor Tsubasa antworten konnte, ging Frau Ozora zu ihm hinüber und begann, leise auf ihn einzureden. Er konnte kein Wort verstehen – genau genommen war es ihm auch egal. Das letzte, das er paradoxerweise mitbekam, bevor ihm die Augen zufielen, war der hochgerollte Hemdsärmel und das kleine, weiße Pflaster am Arm seines Vaters.
 


 

***
 

Als er wieder aufwachte, fiel helles Sonnenlicht durch das Zimmerfenster und tauchte alles in so blendendes Licht, dass es fast weh tat. Offensichtlich hatte er sehr lange geschlafen….. Dieses Mal wusste Tsubasa sofort, wo er war. Der Arzt hatte recht behalten – das schwache und benebelte Gefühl war fast verschwunden. Leider war das jedoch nicht das einzige, was sich geändert hatte… auch das taube Gefühl in seinem Bein hatte einem unangenehmen Pochen und Stechen Platz gemacht. Er drehte den Kopf zur Seite und entdeckte seinen Vater, der es sich auf einem Stuhl gemütlich gemacht hatte und in ein Buch vertieft war.

„Spannend?“

Herr Ozora zuckte zusammen und hob den Kopf, dann lächelte er. „Nicht besonders.“ Er klappte das Buch zu. „Wie geht’s dir?“

„Besser – glaube ich.“

Tsubasa richtete sich auf und zuckte prompt zusammen, als er dabei unabsichtlich das verletzte Bein bewegte.

„Warte.“Sein Vater stand auf und suchte ein paar Sekunden am Bettgestell herum, bis er den Mechanismus gefunden hatte, um das Kopfteil halb auszurichten. „So dürfte es besser gehen.“

„Danke.“ Jetzt, wo Tsubasa sich anlehnen konnte, war es in der Tat wesentlich besser. Langsam ließ das Stechen nach. „Wie lange habe ich geschlafen?“

„Eine ganze Weile.“ Herr Ozora setzte sich ebenfalls wieder. „Es ist halb drei nachmittags. Deine Mutter war heute Morgen hier, jetzt ist sie zuhause und kümmert sich um Daichi. Heute Abend kommt sie wieder. Was macht dein Bein?“

„Tut weh….aber es geht schon.“

Sein Vater nickte, als hätte er diese Antwort erwartet. „Die Schmerzmittel haben nachgelassen, nehme ich an.“ Er zögerte, bevor er weiterredete. „Wie viel hast du von dem mitbekommen, was dir der Arzt gestern gesagt hat?“

Tsubasa blickte ihn kurz irritiert an, dann zuckte er mit den Schultern. „Irgendwas von wegen Not-OP und kein Grund zur Sorge…. So genau weiß ich das nicht mehr.“

Herr Ozora nickte erneut, als hätte er auch diese Antwort erwartet. „Das wundert mich nicht.“ Er begann noch einmal zusammenzufassen, was Dr. Kimura am Abend zuvor erklärt hatte.

„Es ist äußerst wichtig, dass du dich schonst, aber wenn du dich an die ärztlichen Anweisungen hältst, stehen die Chancen gut, dass alles vollständig verheilt.“, meinte er schließlich und zögerte wieder. Tsubasa blickte ihn misstrauisch an.

„Was noch?“

„Nichts.“ Herr Ozora seufzte. „Na ja…. Deine Mutter und ich, wir haben gemeinsam mit der Polizei überlegt, dass wir der Presse gegenüber das Gegenteil sagen sollten…. Dass du voraussichtlich nicht mehr richtig laufen, geschweige denn Fußball spielen kannst.“

„Was?!“ Tsubasa blinzelte perplex. „Warum das denn?“

„Weil wir im Moment fest davon ausgehen, dass dieser Irre absichtlich auf dein Bein gezielt hat. Wenn er glaubt, dass er sein Ziel erreicht hat und deine Fußballkarriere vorbei ist, bist du vielleicht erst mal außer Gefahr.“

„Und wie stellt ihr euch das vor? Das geht vielleicht ein oder zwei Monate gut, aber irgendwann….“

„Es geht auch erstmal nur um ein oder zwei Monate. Danach werden wir weitersehen…. Das wichtigste ist erst mal, dass Sanae und du aus der Schusslinie genommen seid. Wer weiß, vielleicht verrät sich der Typ in der Zwischenzeit und die Polizei kann ihn außer Gefecht setzen…..“

„Und wie soll das funktionieren, wenn ihr gleichzeitig darauf spekuliert, dass er mich so in Ruhe lassen soll?“ Tsubasa war von der Idee alles andere als begeistert. „Wenn er sich nicht mehr meldet, kann die Polizei ihn auch nicht finden….“

Herr Ozora seufzte. „Die Polizei nimmt den Fall mittlerweile sehr ernst – leider spät genug. Sie hat ein psychologisches Profil von dem Typen erstellen lassen und glaubt, dass er sich definitiv noch einmal melden wird – mindestens. Er will seinen vermeintlichen Sieg auskosten.“

„Und wie stellt ihr euch das vor mit dem Verein in Sao Paolo? Wenn die auch glauben, dass ich nicht mehr spielen kann…..“

„Ich weiß. Wir werden das hoffentlich irgendwie geregelt bekommen….. Du solltest so schnell wie möglich mit Roberto sprechen. Es tut mir leid, dass ich jetzt gleich damit überfalle, aber wir müssen das schnell entscheiden…. Bei uns zuhause klingelt schon wieder ohne Unterlass das Telefon, lange können wir die Presse nicht mehr hinhalten.“

„So wie du klingst, gibt es da nicht mehr viel zu entscheiden.“, meinte Tsubasa mit einem bitteren Ton in der Stimme. „Macht, was ihr wollt…. Ich glaube eh nicht, dass es funktioniert.“

Sein Vater sah nicht gerade glücklich aus, aber er nickte und zückte sein Handy. „Dann sage ich deiner Mutter gleich Bescheid, damit sie sich mit der Polizei in Verbindung setzen kann. Sie werden heute wohl auch mit dir sprechen wollen – bist du fit genug?“

„Ja, sicher.“

Sein Vater nickte wieder und stand auf. „Ich bin gleich wieder da, das dürfte nicht lange dauern.“

Damit verließ er das Zimmer, und Tsubasa war allein. Er seufzte und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Wunderbar….als wären die Dinge nicht schon kompliziert genug. Jetzt musste er auch noch lügen…. Aber vielleicht hatten seine Eltern recht und wenigstens Sanae war dann außer Gefahr. Hoffentlich konnte er mit Roberto sprechen, bevor der es irgendwie in den Zeitungen lesen musste…. Tsubasa erstarrte, als ihm mit einem Mal ein neuer Gedanke kam. Au weia…..das Spiel! Er hatte das Spiel in Brasilien völlig vergessen!

Beobachtung

So - ich lebe noch ;-) Zuerst mal ne ganz große Entschuldigung, ich hatte nicht geplant, die FanFic so lange liegen zu lassen. Leider hatte ich Schreibblockade der übelsten Art und auch privat einiges um die Ohren, aber jetzt geht es endlich weiter. Ich hoffe, ihr habt immer noch Spaß an der Geschichte und egal wie lange es dauert, ich schreibe sie hundertprozentig fertig und hoffe, das ich Anfang nächster Woche schon das nächste Kapitel parat habe. Danke für eure Geduld und ich freue mich wie immer auf eure Kommentare :-)
 

****
 

Tsubasa hatte nicht lange Zeit, über das verpatzte Spiel und die möglichen Konsequenzen nachzudenken. Sein Vater kam zurück, allerdings nicht alleine. Der Arzt von gestern begleitete ihn – es dauerte ein paar Sekunden, bis Tsubasa sich an den Namen erinnerte. Dr. Kimura. In der nächsten Viertelstunde musste er eine erneute Untersuchung über sich ergehen lassen. Der Arzt vergewisserte sich, dass er keine schlimmeren Beschwerden aufgrund der Narkose und des Blutverlustes mehr hatte und kontrollierte, ob die Wunde soweit verheilte, wie sie sollte. Tsubasa zog es vor, lieber nicht hinzusehen, was ihm zum Glück auch gelang.

„Wie fühlt sich dein Bein an?“, wollte Dr. Kimura abschließend wissen, während er einen neuen Verband anlegte.

„Es pocht ziemlich, lässt sich aber aushalten.“

Genauer gesagt war das Pochen dank der Untersuchung um ein vielfaches stärker geworden. Dr. Kimura nickte.

„Das wird vermutlich noch schlimmer werden, sobald dein Bein endgültig aufwacht, im Moment wirkt die Betäubung immer noch nach, vermute ich. Ich habe dir ein Schmerzmittel verschrieben, das du bei Bedarf nehmen kannst. Die Tabletten machen müde, aber ich denke, das ist das kleinere Übel. Schlafen hat in so einer Situation noch niemandem geschadet.“

Tsubasa nickte ebenfalls, entschied sich aber fast sofort, auf die Tabletten zu verzichten. Ein klarer Kopf war ihm im Moment wichtiger als alles andere.

„Ein paar Tage wirst du noch zur Beobachtung bleiben müssen, das haben dir deine Eltern vermutlich ja schon gesagt. Anfang nächster Woche können wir dann schauen, ob wir dich guten Gewissens entlassen können. Aber auch dann ist Schonung angesagt – je weniger du dein Bein belastest, desto besser.“ Der Arzt machte den Verband fest. „Außerdem hat die Polizei angefragt, wann du vernehmungsfähig bist. Ich habe sie auf heute Abend bzw. morgen Vormittag vertröstet, so hast du noch etwas Zeit, um dich auszuruhen.

Damit verabschiedete sich Dr. Kimura wieder, und Tsubasa war mit seinem Vater allein. Herr Ozora räusperte sich leicht und setzte sich wieder auf seinen Stuhl.

„Apropos Polizei.“, setzte er an. „Im Laufe des Tages wird ein Polizist vor deiner Tür hier postiert.“

„Was? Aber…“

„Ich weiß, aber was du willst, steht hier im Moment nicht zur Debatte. Es geht nicht mehr nur um deine Sicherheit, es geht auch darum, die Presse von dir fern zu halten. Was meinst du, was los ist, sobald die Pressemeldung raus ist? Mal ganz abgesehen davon, dass die Geschichte von deinem Karriere-Aus glaubhaft bleiben muss und du deswegen auf keinen Fall befragt werden sollst, musst du dich ja auch in Ruhe erholen können. Also keine Diskussion, verstanden? Es geht ja nur um ein paar Tage. Bis du entlassen wirst, hat sich das Interesse vielleicht schon wieder gelegt.“

Tsubasa nickte missmutig, hoffte aber unwillkürlich, dass keiner der Presse-Menschen auf den Gedanken kam, Sanaes Unfall mit dem Schuss auf ihn in Verbindung zu bringen. Falls eine Verschwörungs- und Attentats-Story in den Medien kursierte, konnten sie lange darauf warten, dass das Interesse an der ganzen Geschichte nachließ.
 

***
 

Tsubasa wurde aus dem Schlaf gerissen, als die Zimmertür ins Schloss gedrückt wurde. Stimmen redeten miteinander, gedämpft und…. Wütend? Tsubasa blinzelte verschlafen und wandte den Kopf zur Tür. Er hatte Besuch bekommen. Taro, Ryo, Izawa – und Kojiro. Sie waren in eine hitzige, aber leise Diskussion vertieft. Taros Hand ruhte auf der Türklinke, offensichtlich wollte er wieder gehen. Tsubasa brachte sich äußerst vorsichtig in eine aufrechtere Position. Das Pochen in seinem Bein hatte seinen Vorsatz innerhalb einer Stunde zum Kippen gebracht, auf Drängen seines Vaters hatte er schließlich doch eine von den Schmerztabletten genommen und war kurz darauf wieder eingeschlafen. Angeschossen werden war offensichtlich doch ein anderes Kaliber wie die Verletzungen, die er sich bis jetzt auf dem Fußballplatz zugezogen hatte. Wenigstens hielten die Tabletten, was sie versprachen, im Moment spürte er fast nichts. Bis auf seine Freunde war das Zimmer leer, gut möglich, dass sein Vater kurz frische Luft schnappen wollte. Das Buch, in dem er gelesen hatte, lag aufgeschlagen auf dem Tisch.

„Gibt es irgendein Problem?“

Die Diskussion brach ab, seine Freunde wandten überrascht dem Kopf zu ihm um.

„Du bist ja doch wach…“

„Jetzt schon. Worüber streitet ihr denn?“

„Darüber, ob wir dich schlafen lassen oder nicht.“, meinte Taro missmutig und blickte Kojiro strafend an, aber der ignorierte ihn einfach und ging hastig auf Tsubasa zu.

„Stimmt es?!“

Tsubasa blickte ihn irritiert an. „Stimmt was?“

„Wir haben in den Regionalnachrichten gehört, dass dein Bein steif bleiben wird, weil dein Knie irreparabel geschädigt worden ist.“, meinte Izawa unsicher. „Stimmt das? Gestern hieß es doch noch, dass alles glimpflich ausgegangen ist….“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Tsubasa es schaffte, eins und eins zusammenzuzählen. Er war immer noch nicht richtig wach. Offensichtlich hatten seine Eltern es versäumt, seine Freunde in das Täuschungsmanöver einzuweihen, und die Nachricht hatte bei ihnen natürlich eingeschlagen wie eine Bombe.

„Ihr müsst euch keine Sorgen machen, mein Bein kommt wieder in Ordnung.“ In wenigen Worten erläuterte er den Plan, den seine Eltern mit der Polizei zusammen beschlossen hatten. Die Erleichterung war fast mit den Händen greifbar.

„Dann geht es dir also gut, ja?“, vergewisserte sich Ryo, und Tsubasa nickte.

„Etwas benebelt von den Schmerzmitteln, aber sonst ja. Aber behaltet das besser für euch.“

„Klar…“

„Ich muss ganz dringend mit dir reden!“, wechselte Kojiro abrupt das Thema. „Hast du irgendjemanden gesehen?“

Wieder dauerte es ein paar Sekunden, bis Tsubasa in der Lage war, Kojiros Gedankensprung zu folgen.

„Nein, habe ich nicht.“

„Sicher?“

„Ja.“

„Auch den roten Opel nicht?“

„Nein, auch nicht.“

„Vielleicht gehört?“

Tsubasa schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe aber auch nicht darauf geachtet.“

Genau genommen hatte er auf nichts und niemanden geachtet und war wie ein Schlafwandler durch die Gegend gelaufen. Zumindest kam ihm das rückblickend so vor. Bis Taro ihn aus dieser Lethargie herausgerissen hatte….

Die Anderen starrten Kojiro ungläubig an. „Und nur deswegen wolltest du unbedingt mit ihm reden und hältst der Polizei Informationen vor?“

Tsubasa blickte verwirrt von einem zum anderen. „Was für Informationen?“

„Das würde uns auch interessieren.“, meinte Izawa seufzend und verschränkte die Arme. „Kojiro weigert sich, irgendwas zu erzählen, schon seit gestern Abend. Er wollte unbedingt zuerst mit dir sprechen, bevor er zur Polizei geht. Und die Patronenhülse, die wir gefunden haben, wollte er auch noch nicht abgeben.“

„Was für eine Patronenhülse?“

„Wir haben den Strand noch mal abgesucht, weiträumig. Die Polizei hat sich nur auf die unmittelbare Umgebung beschränkt, wo es passiert ist, und uns war das nicht genug, und wir haben auch wirklich eine Patronenhülse gefunden.“, erklärte Taro und blickte Kojiro wieder missbilligend an. „Aber Kojiro war stur….“

„Wenn du Polizei so dämlich ist und die Hülse nicht findet, kann sie auch noch ein paar Stunden darauf warten.“, wiegelte der ab und wandte sich wieder an Tsubasa. „Der Zeitungsartikel, der über Kenji – hast du den auch gelesen? Oder nur Sanae?“

Langsam verstand Tsubasa gar nichts mehr. „Natürlich habe ich den auch gelesen. Und Taro auch. Und selbst wenn nicht, was für einen Unterschied macht das?“

„Hör endlich mit der Geheimniskrämerei auf und sag uns, was Sache ist.“, drängte Ryo. „So bringt das doch nichs!“

Kojiro seufzte, verschränkte die Arme und begann, unruhig in dem Zimmer hin- und her zu laufen. Dann blieb er abrupt wieder stehen.

„Ich wollte zuerst sicher gehen, ganz einfach. Ich habe den Typen gesehen, aber ich fürchte, ihr werdet mir kein Wort glauben.“

„Wie, du hast ihn gesehen?“ Tsubasa starrte ihn entgeistert an, die anderen – bis auf Taro – waren nicht weniger perplex. „Wo?“

Kojiro seufzte wieder. „Ich denke, es ist dir aufgefallen, dass ich die letzte Zeit oft in deiner Nähe war….“

Tsubasa nickte. Das war ihm in der Tat aufgefallen, aber es ihm herzlich gleichgültig gewesen. Wie fast alles andere auch. Vorsichtig ausgedrückt.

„Gestern bin ich dir auch zum Strand gefolgt und…“ Kojiro stockte, und Tsubasa bekam den Verdacht, dass er auch die Aktion mit dem Fußballspiel zwischen ihm und Taro beobachtet hatte und darüber nachdachte, ob er es ansprechen sollte oder nicht.

„Und?“, bohrte Izawa ungeduldig nach.

Es dauerte noch mal ein paar Sekunden, bevor Kojiro weitersprach.

„Ich habe den Kerl gesehen, ich habe gesehen dass er euch beobachtet, und dass er plötzlich eine Waffe in der Hand hatte… Es ging zu schnell, ich hab nicht reagieren können, er hat einfach abgedrückt… Ich bin ihm hinterher, hab ihn aber nicht erwischt, und dann ist er in ein rotes Auto gestiegen und weggefahren.“ Kojiro räusperte sich. „Es war Kenji.“

Anrufe

Nach Kojiros Eröffnung war es eine Weile sehr still.

„Kenji?“, wiederholte Tsubasa dann langsam. „Sicher?“

Kenji schnaubte. „Sicher ist relativ. Ich habe ihn nur kurz gesehen und nur von hinten. Aber ich könnte schwören, dass er es war!“

„Aber Kenji ist tot!“, wandte Ryo ein. „Wie soll er….“

„Das weiß ich selbst! Deswegen wollte ich ja zuerst mit Tsubasa sprechen, bevor ich zur Polizei gehe.“, meinte Kojiro ungehalten, bevor er wieder Tsubasa ansah. „Kenji ist ganz sicher tot, ja?“

Tsubasa schüttelte leicht den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Diese Neuigkeit trug nicht gerade dazu bei, das leicht benommene Gefühl von den Schmerztabletten loszuwerden.

„Ich weiß genauso viel wie du. Sanae hat den Zeitungsartikel gefunden und uns gezeigt, mehr Info haben wir nicht. Es hieß Autounfall….“

„Hat man ihn einwandfrei identifiziert?“

„Davon gehe ich aus. Einfach so wird die Presse nicht einfach behauptet haben, dass er es ist.“, meinte Taro trocken.

„Warum bitte hast du das nicht der Polizei gesagt?“, fragte Izawa verständnislos. „Sie hätten schon längst nach ihm fahnden können…. Deswegen hättest du doch nicht warten müssen….“

„Ich habe keine Lust, mich zum Vollidioten zu machen.“, hielt Kojiro dagegen. „Die hätten mir doch kein Wort geglaubt! Ich wollte erst sicher gehen und hören, ob Tsubasa auch was gesehen hat….“

„Auf jeden Fall hat die Polizei bessere Möglichkeiten, herauszufinden, ob Kenji noch lebt oder nicht.“, meinte Tsubasa dumpf und rieb sich die Schläfen. In diesem Moment bereute er es bitter, die Tabletten genommen zu haben. Seine Erinnerungen an den Strand waren auch bei klarem Kopf verwirrend genug.

„Ich habe auf jeden Fall nichts bemerkt, nicht mal was gehört. Da war der Countdown auf meinem Handy….“

„Countdown?“ Kojiro blickte Taro an. „Davon hast du nichts erzählt. Was für ein Countdown?“

„Ich hab es auch nicht richtig mitbekommen…. Und es ging ja alles sehr schnell…“

„Eine verzerrte Männerstimme hat einen Countdown auf meine Mailbox gesprochen….bis 0 abwärts. Die letzte Nachricht war nur ein Peng, und dann ist es auch schon passiert….“

„Peng?“ Ryo runzelte die Stirn. „Und direkt danach wurde geschossen?“

„Ich glaube ja…“

Taro nickte. „Das kommt in etwa hin, glaub ich.“ Daran erinnerte er sich nur zu gut – Tsubasas verwirrten Blick auf das Telefon, der Blitz, der den Himmel erhellte, der Donner…das Blut….

„Das heißt, er hat dich beobachtet und gewartet, dass du das Handy anschaltest.“, meinte Kojiro finster. „Und wir haben ihn wieder nicht bemerkt…“

„Weil wir auch keine Ahnung haben, nach wem wir suchen sollen…“

„Aber wenn es wirklich Kenji war…“, setzte Ryo an, wurde aber sofort von Kojiro unterbrochen.

„Ich weiß, wen ich gesehen habe!“

„Schon, aber…“

„Hast du die Nachrichten mittlerweile gelöscht?“, wollte Izawa wissen. Tsubasa schüttelte den Kopf. „Nein… um ehrlich zu sein hab ich nicht mal eine Ahnung wo mein Handy gerade ist.“

Nach allem, was er wusste, lag es immer noch am Strand und war mittlerweile dank Wind und Regen völlig hinüber. Aber zu seiner Überraschung zog Taro nun leicht verlegen das Telefon aus der Tasche.

„Ich hab es mitgenommen…. Seit gestern Nacht ist es aus, ich hoffe das ist ok…“

„Klar… Danke.“

Tsubasa nahm ihm das Handy ab, hatte aber den Eindruck, dass Taro eigentlich noch etwas sagen wollte.

„Was ist los? Hab ich noch mehr verpasst?“

Taro zögerte und öffnete schon den Mund, entschied sich dann aber anders und zuckte nur leicht mit den Schultern.

„Mach schon, ruf die Mailbox ab.“, drängelte Kojiro ungeduldig. „Vielleicht ist es Kenjis Stimme!“

„Sicher nicht.“, antwortete Tsubasa trocken. „Das wäre mir aufgefallen.“

Trotzdem gehorchte er Kojiros Aufforderung. Er schaltete das Handy ein, wählte die Nummer der Mailbox an und stellte das Telefon anschließend auf laut. Unbehagliche Stille senkte sich über das Zimmer, als zunächst die Nachrichten seiner Freunde abgespielt worden und anschließend die verzerrte Männerstimme ihren Countdown begann.

„PENG.“

Die Anderen tauschten beunruhigte Blicke aus, noch während die höfliche Dame von der Mailbox verkündete, dass keine weiteren Nachrichten vorhanden waren. Tsubasa würgte sie ab und legte auf. Ihm war leicht übel, er hoffte, dass seine Freunde das nicht mitbekamen. Sein Bein pochte.

„Der Typ ist krank. Absolut krank!“, brach Izawa das Schweigen schließlich. Seine Stimme klang heiser. Kojiro verschränkte die Arme vor der Brust, er konnte seine Wut nur schwer verbergen.

„Es könnte Kenji gewesen sein. Die Stimme war immerhin verzerrt….“

Tsubasa schüttelte den Kopf, während er das Handy wieder auf stumm schaltete und auf den Nachttisch legte.

„Nein. Kenjis Stimme würde ich erkennen, egal ob verzerrt oder nicht.“

„Bist du sicher?“

„Ja, absolut sicher.“

Mehr sagte Tsubasa nicht dazu, und seine Freunde hakten nicht weiter nach. Tsubasa war dankbar dafür. Beinahe war es, als hinge der Geruch von Kenjis Rasierwasser im Raum, und plötzlich schob sich auch Sanaes lebloser Körper in ihrem eigenen Blut vor sein inneres Auge. Er drängte das Bild sofort zur Seite und war dankbar, als Izawa ihn ablenkte.

„Du gibst die Mailbox-Nachrichten doch hoffentlich zur Polizei, oder? Vielleicht kriegen die die Originalstimme raus…“

Tsubasa nickte. „Ja, klar. Aber es war ganz sicher nicht Kenji.“

„Hast du dir das Kennzeichen merken können?“, wollte Ryo von Kojiro wissen, der frustriert den Kopf schüttelte.

„Nein. Es ging alles so verdammt schnell…. Wenn ich nur etwas früher reagiert hätte….“ Er brach ab.

Kurze Zeit sagte niemand etwas.

„Ich bin selbst schuld.“, meinte Tsubasa schließlich müde und lehnte sich zurück. „Ich bin alleine zum Strand, obwohl mich alle gewarnt haben. Wenn Taro mich nicht vorher schon gefunden hätte, wäre alles nicht so glimpflich ausgegangen. Ihr müsst euch keine Vorwürfe machen, niemand von euch hätte was ändern können.“

Wieder sagte niemand etwas, und die Stille wurde durch das Geräusch der Türklinke unterbrochen. Sein Vater kam zurück. Er war nicht sonderlich überrascht, die anderen zu sehen. Unwillkürlich musste Tsubasa an den Polizisten denken, der angeblich vor der Tür sitzen sollte – vielleicht hatte der ihm schon Bescheid gesagt. Wobei, wie waren seine Freunde dann an ihm vorbei gekommen? Allein von dieser Frage schwirrte ihm schon wieder der Kopf. Diese bescheuerten Schmerztabletten….

„Wir wollten gerade wieder gehen.“, meinte Izawa direkt nach der Begrüßung. Er blickte wieder Tsubasa an. „Noch mal sorry, dass wir dich geweckt haben. Morgen kommen wir wieder, ja?“

„Und denk dran, die Mailbox-Nachrichten der Polizei zu geben.“, erinnerte Kojiro, und Tsubasa lächelte trocken.

„Klar, solange du daran denkst, der Polizei von Kenji zu erzählen.“

Kojiro war offenbar nicht zum Lachen zumute, er nickte ernst, dann verließ er zusammen mit den anderen den Raum. Nur Taro blieb stehen, er zögerte. Dann blickte er zu Tsubasas Vater hinüber.

„Noch fünf Minuten….?“

Herr Ozora wirkte leicht überrascht, nickte aber und zog sich ebenfalls zurück. Mit einem leisen Klicken fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

„Ich hab vorhin schon überlegt, wann ich es dir am besten erzähle, aber ich wollte nicht, dass die anderen dabei sind.“, begann Taro, noch während Tsubasa ihn verdutzt ansah. „Heute Morgen hat Roberto auf deinem Handy angerufen.“

„Was?!“

„Ich hab es kurz angeschaltet.“, redete Taro sofort weiter. „Kojiro hat mich überredet, er wollte wissen, ob der Irre sich heute Nacht noch mal gemeldet hat und hat nicht locker gelassen, bis ich versprochen habe, kurz nachzusehen. Und genau da kam der Anruf. Roberto war – ziemlich durch den Wind, um es vorsichtig auszudrücken. In Brasilien scheint die Hölle los zu sein…. Du solltest ihn unbedingt zurück rufen, falls das von hier aus geht, er macht sich Sorgen.“

Tsubasa nickte betäubt. Es wurde besser und besser…. Wieder meldete sich das schlechte Gewissen, weil er das Spiel verpasst hatte. Hoffentlich hatte Roberto deswegen keinen Ärger…

Taro musterte ihn ernst und besorgt. „Ich erzähle dir das im Moment nur ungern, aber ich denke, du solltest Bescheid wissen und das so schnell wie möglich klären, bevor alles noch schlimmer wird….“

„Ja, klar…danke.“

Taro lächelte schwach, dann verabschiedete er sich ebenfalls und verließ den Raum. Tsubasa zögerte, aber nur kurz, dann atmete er tief durch und griff nach dem Handy, bevor er Robertos Nummer wählte.

Roberto

Roberto nahm noch während des ersten Klingelns ab.

„Tsubasa?“

„Ja…“

Weiter kam er nicht, Roberto redete direkt weiter – auf Japanisch. Das war kein gutes Zeichen, aber Tsubasa war trotzdem erleichtert darüber. Ob er in seinem benebelten Zustand in der Lage gewesen wäre, sinnvolle Sätze auf Portugiesisch zustande zu bringen, bezweifelte er im Moment sehr.

„Na endlich! Ich versuche schon seit Ewigkeiten, dich zu erreichen!“

„Ich…“ Tsubasa brach ab, dann redete er weiter. „Tut mir leid, dass ich das mit dem Spiel verpatzt habe…“

Wieder schnitt ihm Roberto das Wort ab. „Ach, so ein Unsinn! Vergiss das Spiel! Dein Vater hat mich schon vor Tagen angerufen und gesagt, dass du nicht kommen kannst, das ist alles geregelt!“

Tsubasa blinzelte überrascht, hatte aber wieder keine Gelegenheit, etwas zu sagen.

„Taro hat erzählt, dass auf dich geschossen wurde? Wo bist du, wie geht’s dir? Was zur Hölle ist los bei euch?“

„Ich…“ Tsubasa bemühte sich, seine Verwirrung zu ignorieren und seine Gedanken etwas zu ordnen. Verdammte Schmerzmittel….

„Ich bin noch im Krankenhaus, es geht mir soweit gut.“ Er zögerte, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann erzählte er Roberto, was passiert war – angefangen von den Drohbriefen bis hin zu Sanaes Autounfall und seiner eigenen Schussverletzung. Falls Roberto bereits Teile der Geschichte von Tsubasas Vater oder von Taro kannte, ließ er sich zumindest nichts anmerken. Er unterbrach ihn kein einziges Mal, und nachdem Tsubasa ihm auch noch den Plan seiner Eltern und der Polizei erläutert hatte, eine falsche Pressemeldung herauszugeben, um ihn und Sanae fürs erste aus der Gefahrenzone zu bringen, herrschte am anderen Ende der Leitung ein paar Sekunden lang Schweigen. Schließlich räusperte Roberto sich, und als er sprach, klang seine Stimme leicht belegt.

„Soll ich nach Japan kommen?“

Mehr sagte er nicht, und Tsubasa war für einen kurzen Moment unendlich dankbar. Trotzdem musste er über die Antwort nicht nachdenken.

„Nein… Du würdest nur Ärger mit dem Verein bekommen, vermutlich hattest du schon genügend Schwierigkeiten meinetwegen.“

„Schwierigkeiten.“ Roberto schnaubte verächtlich. „Diese Anzugträger sollen sich nicht so anstellen. Wenn du willst, dass ich rüber fliege, sitze ich im nächsten Flugzeug. Verstanden?“

Er klang streng, und Tsubasa musste wider Willen leicht lächeln. Diesen Tonfall kannte er nur zu gut. Für einen kurzen Moment musste er an seine ersten Wochen in Brasilien denken, als Roberto ihn gesondert auf die Auswahl-Spiele für den Verein vorbereitet und stundenlang gnadenlos über den Platz gejagt hatte, bis er wirklich an seine äußersten Grenzen getrieben worden war – und teilweise darüber hinaus. Widerspruch war absolut zwecklos.

„Ja, verstanden.“

„Sicher? Du schwörst mir, dass du dich meldest, wenn ihr meine Hilfe braucht?“

„Ja, versprochen.“

„Gut.“ Roberto räusperte sich leicht. „Vermutlich hast du insofern aber nicht ganz unrecht, dass es gut ist, wenn ich euch hier den Rücken freihalte. Die Pressemeldung ist schon raus, vermute ich?“

„Ja, vor ein paar Stunden schon.“

„Dann wird es nicht lange dauern, bis der Verein hier auch Wind davon bekommt und es durch die Medien gejagt wird. Besser, ich spreche direkt mit dem Vorstand. Ich beschränke es auf ein Minimum – dass du verletzt worden bist und dein Urlaub daher auf unbestimmte Zeit verlängert werden muss. Die Pressemeldung haben deine Eltern rausgegeben, um Fragen zu vermeiden, wann du wieder auf den Beinen bist und um dich persönlich so gut es geht aus den Medien herauszuhalten, damit du dich auskurieren kannst. Das sollte helfen, die Wellen etwas zu beruhigen… Stell dich aber darauf ein, dass deine Freunde aus der Mannschaft versuchen werden, dich anzurufen – ihnen auch die Wahrheit zu sagen ist zu riskant, fürchte ich.“

„Ja, klar…“

Roberto zögerte offensichtlich, dann redete er weiter. „Wir haben hier noch ein weiteres Problem. Deswegen wollte ich dich anrufen. Gestern kam ein Brief von dir.“

„Was? Von mir? Ich habe nicht…“

„Ich weiß. Ich kenne deine Handschrift gut genug, schon bei der Adresse war mir klar, dass der Brief nicht von dir kommt.“ Roberto seufzte. „Zum Glück habe ich ihn zuerst gesehen, der Postbote ist mir direkt bei Trainingsbeginn in die Arme gelaufen und hat mir alles in die Hand gedrückt, sonst hätte ich ihn viel zu spät bemerkt. Adressiert war er an den Vorstand direkt. Ich habe ihn sofort verschwinden lassen.“

„An den Vorstand?“ Tsubasas Gedanken rasten endgültig. „Aber… was….?“

„Der Brief war eine Kündigung, Tsubasa. Und keine besonders diplomatisch formulierte. Wenn der Vorstand das gelesen hätte, hättest du dir den Rückflug sparen können. Verletzung und Urlaub hin oder her… Die Stimmung war eh nicht besonders gut, weil ich das Spiel für dich abgesagt habe. Du musst verdammt vorsichtig sein, Tsubasa. Wer auch immer das ist, er sieht dich nicht gerne auf dem Fußballplatz. Und offensichtlich ist ihm jedes Mittel recht…. Versprich mir bitte, dass du vernünftig bist und den Polizeischutz dieses Mal annimmst. Wenn ich gestern schon gewusst hätte, dass auf dich geschossen wurde…“

Roberto brach wieder ab, und auch Tsubasa sagte nichts.

„Sei vorsichtig.“, wiederholte Roberto schließlich. „Und melde dich bitte regelmäßig bei mir. Ich will wissen, wie es dir und Sanae geht. Ich halte hier die Stellung und versuche, die Wogen so weit es geht zu glätten. Aber mach dir um deine Position im Verein keine Sorgen, es ist nichts passiert, was sich nicht wieder hinbiegen lässt. Für die Absage des Spiels habe ich einen familiären Notfall angegeben, der Vorstand war verschnupft, hatte aber Verständnis. Und dass du dich auf deine Teamkollegen hundertprozentig verlassen kannst, weißt du ja. Wir halten dir den Rücken frei und du kümmerst dich um deine Gesundheit und um Sanae. Verstanden?“

„Ja.“ Tsubasa wusste nicht, was er sagen sollte, seine Gedanken rasten immer noch. „Ich… danke.“

„Schon gut. Pass auf dich auf!“

Damit legte Roberto auf, und Tsubasa starrte das Telefon ein paar Sekunden lang an. Nahm das Chaos denn nie ein Ende?

Die Tür öffnete sich, sein Vater kam zurück. Sein Blick fiel sofort auf das Handy in Tsubasas Hand, aber er sagte nichts.

„Was macht dein Bein?“, fragte er stattdessen, während er sich wieder auf den Stuhl setzte. „Wirken die Schmerzmittel noch? Du siehst blässer aus als vor ein paar Stunden. Du weißt ja, dass du bis zu drei am Tag nehmen kannst.“

Neue Schmerzmittel war das letzte, was Tsubasa wollte. Er schüttelte nur leicht den Kopf, dann kam ihm auf einmal ein neuer Gedanke. Er starrte seinen Vater an.

„Ähm… Papa?“

„Was?“

„Hättest du nicht vor ein paar Tagen wieder abreisen müssen?“

Sein Vater schwieg ein paar Sekunden, dann lachte er bitter. „Denkst du im Ernst, dass ich in dieser Situation abreise, Tsubasa? Ich habe meine sofortige Versetzung in den Innendienst beantragt, noch am Tag von Sanaes Unfall, während du geschlafen hast. Entweder sie akzeptieren ihn oder ich kündige mit sofortiger Wirkung.“

Tsubasa starrte ihn weiterhin an. Langsam wurde ihm schwindelig, das war alles eindeutig zu chaotisch und zu viel. Kojiros Beobachtung – es konnte nicht Kenji gewesen sein, das war absolut unmöglich – das Gespräch mit Roberto und die gefälschte Kündigung, und jetzt noch die Eröffnung seines Vaters. Viel schlimmer war jedoch, dass Tsubasa bis gerade eben absolut keinen Gedanken daran verschwendet hatte, dass sein Vater eigentlich gar nicht mehr hätte hier sein dürfen. Plötzlich erinnerte er sich an das kleine weiße Pflaster und an die Aussage des Arztes, dass er viel Blut verloren hatte. Dann kamen die Vorwürfe und die Scham.

„Ich… Tut mir leid.“

Sein Vater sah ihn irritiert an. „Was denn?“

„Alles.“

Mehr sagte Tsubasa nicht, und nach ein paar Sekunden schien sein Vater zu verstehen. Er fasste Tsubasas Arm und drückte ihn kurz.

„Du solltest wieder versuchen, zu schlafen.“, meinte er statt einer Antwort. „Du siehst aus, als könntest du es brauchen. Nachher reden wir, wenn du willst.“ Er nahm ihm das Handy aus der Hand und half ihm dann wieder in eine liegende Position. Tsubasa wehrte sich nicht dagegen. Er war wirklich todmüde…

Träume

„Und? Was hat Roberto gesagt?“ Sanae lehnte sich an den Türrahmen. „Warum wollte er so dringend mit dir reden?“

Tsubasa ließ seine Sporttasche auf den Boden fallen und zog seine Jacke aus. „Er hat mich die nächste Zeit von allen Spielen befreit. Mindestens die nächsten vier Wochen, eventuell auch länger.“

„Ernsthaft?“ Sanae machte große Augen. „Warum das denn? Hast du Mist gebaut?“

„Nein, im Gegenteil. Er will mich demnächst für die Stammmannschaft vorschlagen, darum soll ich mir vorher eine Auszeit nehmen.“

„Eine Auszeit?“, wiederholte Sanae perplex. Sie stieß sich vom Türrahmen ab und kam zu ihm hinüber. „Okay, wenn sogar Roberto der Auffassung ist, hab ich mir definitiv nichts eingebildet.“

Tsubasa blickte sie verdutzt an. „Was meinst du?“

„Das frage ich dich.“ Sie blieb dicht vor ihm stehen und stieß ihm den Zeigefinger gegen die Brust. „Du bist die ganzen Wochen schon so komisch – ständig mit den Gedanken woanders und abgelenkt und irgendwie nervös. Stimmt was nicht in der Mannschaft?“

„Nein – wie kommst du darauf?“

„Ach komm, ich kenne dich gut genug. Irgendwas stimmt nicht, und ich will endlich wissen, was.“ Sie musterte ihn prüfend. „Hast du Heimweh?“

Tsubasa schwieg ein paar Sekunden, dann zuckte er schließlich leicht mit den Schultern und schob sie sanft beiseite, so dass der Weg in die Küche frei war. „Vielleicht, manchmal. Aber das ist nicht weiter tragisch. Es war die richtige Entscheidung, das weiß ich.“

„Aber?“ Sanae folgte ihm.

„Nichts aber. Wir waren schon lange nicht mehr zuhause, das ist alles. Ich habe meine Eltern seit drei Jahren nicht mehr gesehen, du deine auch schon ewig nicht mehr. Und wenn Roberto mich jetzt für die Stamm-Mannschaft vorschlägt und das angenommen wird, sitzen wir mindestens die nächsten fünf Jahre hier fest.“

„Ja, und? Ich dachte, du magst es hier.“

„Das stimmt ja auch, das ist nicht das Problem.“ Tsubasa seufzte. Es war schwierig zu erklären – genau genommen wusste er selber nicht so ganz, wohin die ganzen Gedanken in seinem Kopf führten. Vermutlich war genau das das Problem.

„Vermutlich bin ich nur urlaubsreif.“, meinte er schließlich leicht resigniert. „Und wer weiß, was sich in Japan alles ergibt. Da kann ja auch alles Mögliche passieren.“

Sanae grinste unwillkürlich und kam zu ihm hinüber. „Das mit dem urlaubsreif kann ich definitiv unterschreiben.“, stellte sie fest und legte ihm die Arme um den Hals. „Das sage ich dir schließlich schon seit Wochen – oder sogar seit Monaten. Aber du hörst ja nie auf mich!“

Tsubasa musste wider Willen lachen. „Na ja, Monate ist übertrieben…“

„Von wegen! Ich hab dir schon letzte Weihnachten gesagt, dass du dir ein paar Tage frei nehmen solltest!“

„Da waren wichtige Spiele, und Roberto hat…“

„Und im März, da hat Carlos uns für eine Woche nach Rio eingeladen, erinnerst du dich? Und wer wollte nicht mit…?“

„Das hat doch nichts mit wollen zu tun, ich…“

Sanae schnitt ihm das Wort ab, indem sie ihn kurzerhand auf den Mund küsste, und mit einem Mal vergaß er, was er eigentlich hatte sagen wollen. Als sie sich wieder von ihm löste, lehnte sie die Stirn sacht an seine.

„Wenn du einige Zeit nach Hause willst, ist das vollkommen in Ordnung.“, meinte sie leise, und aller Schalk war aus ihrer Stimme verschwunden. „Mir fehlen die anderen auch. Aber du musst mit Roberto über die Sache mit der Stamm-Mannschaft sprechen. Wenn du dir noch nicht sicher bist, ob es das ist, was du willst, kann er vielleicht auch noch eine Weile warten.“

Tsubasa schwieg einige Sekunden, dann legte er ebenfalls die Arme um sie und zog sie enger an sich. „Was würde ich eigentlich ohne dich machen?“

„Das kann ich dir sagen.“ Sanae kicherte leise an seiner Schulter und kuschelte sich an ihn. „Mich vermissen, was sonst!“
 

***

„Tsubasa?“

Tsubasa fuhr erschrocken hoch, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Sein Vater stand neben dem Bett und blickte ihn leicht besorgt an. „Tut mir leid, dass ich dich wecken muss, aber du hast Besuch.“

„Was…? Wen denn?“

„Jemand von der Polizei ist da. Bist du fit genug?“

„Ja…sicher…“ Tsubasa brachte sich wieder in eine sitzende Position und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Mich vermissen, was sonst…. Sanaes Stimme hallte deutlicher denn je in seinem Kopf nach. Diese lebhaften Träume waren wohl auch eine Nebenwirkung der Medikamente. Hoffentlich….. Sein Vater war zur Tür gegangen und wechselte ein paar leise Worte mit jemandem, der draußen stand, dann wandte er sich zu Tsubasa um.

„Er will unter vier Augen mit dir sprechen, ist das für dich in Ordnung?“

Tsubasa nickte. „Klar….“

„Ich warte draußen.“ Sein Vater verließ das Zimmer, und ein Mann in Uniform trat ein. Tsubasa rieb sich erneut mit beiden Händen über das Gesicht und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Er fühlte sich schon wieder nicht richtig wach… Sanaes Stimme schwebte immer noch im Raum.

„Hallo, Tsubasa. Lange nicht gesehen.“

Tsubasa erstarrte unwillkürlich und hob den Kopf. Der Polizist war direkt neben ihm stehen geblieben und grinste ihn an. Jetzt erst war er in der Lage, sein Gesicht zu sehen. Kenji….. Ein paar Sekunden lang war Tsubasa wie gelähmt. Bevor er reagieren konnte, schoss Kenjis Hand bereits nach vorne, in sein Gesicht und über seinen Mund, so dass jeder Versuch zu schreien im Keim erstickt wurde. Tsubasa wurde unsanft ins Kissen zurück gepresst, er war viel zu überrumpelt, um sich zu wehren, und in der nächsten Sekunde spürte er bereits, wie ihm der Lauf einer Pistole gegen den Bauch gepresst wurde. Er erstarrte. Kenji grinste wieder. Er benutzte immer noch dasselbe Rasierwasser.

„Ich habe dir doch damals schon gesagt, dass ich dafür sorgen werde, dass du nie wieder einen Fuß auf einen Fußballplatz setzt.“, flüsterte er leise. „Erinnerst du dich?“ Das Grinsen wurde breiter. „Viele Grüße von Sanae. Sie wartet schon auf dich.“

Damit drückte er ab.
 

***
 

Mit einem Aufschrei fuhr Tsubasa im Bett hoch und spürte fast augenblicklich zwei Hände, die ihn beruhigend an Schulter und Brust fassten und zurück ins Kissen drückten.

„Ganz ruhig, alles in Ordnung.“, meinte seine Mutter sanft. „Du hast nur geträumt… Alles gut…“

Tsubasa antwortete nicht. Sein Herz raste und hämmerte schmerzhaft gegen seine Rippen, sein Atem flog, während seine Haut mit kaltem Schweiß bedeckt war. Sogar das Kopfkissen war komplett durchgeschwitzt, so wie es sich anfühlte….

„Es war nur ein Albtraum.“, wiederholte seine Mutter leise, ohne ihren Griff zu lockern. Sie setzte sich zu ihm auf die Bettkante. „Du hast nur geträumt. Tief durchatmen…“

„K…Kenji war hier…“

„Nein, war er nicht. Niemand war hier, nur Daichi und ich, und dein Vater bis vor zehn Minuten. Beruhige dich, Tsubasa, du hast wirklich nur geträumt….“

„Er hatte eine Waffe….Sanae….“ Tsubasa wollte sich wieder aufrichten, und wieder drückte ihn seine Mutter entschieden ins Kissen zurück.

„Schscht…. Alles ist gut…“

Von wegen, gar nichts war gut! Durch die abrupte Bewegung pochte und hämmerte sein Bein unangenehm, sein Puls raste immer noch, und er konnte nach wie vor Kenjis Rasierwasser riechen. Unwillkürlich glitt sein Blick zur Zimmertür, aber da war niemand. Viele Grüße von Sanae… sie wartet schon auf dich….

Als er plötzlich die kühle Hand seiner Mutter auf seiner Stirn fühlte, zuckte er unwillkürlich zusammen.

„Ich glaube beinahe, du hast Fieber.“, meinte sie leise und strich ihm behutsam ein paar verschwitzte Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Ich werde schauen, ob ich Dr. Kimura erreiche, damit er nach dir sieht, in Ordnung?“

Sie wollte aufstehen, aber Tsubasa schüttelte heftig den Kopf und packte sie am Handgelenk.

„Bleib hier….“

„Ich bin wirklich sofort wieder da, Tsubasa, keine Sorge. Niemand ist hier, dir kann absolut nichts passieren. Und der Polizist draußen…“

Weiter kam sie nicht. Unwillkürlich blitzte wieder Kenjis Gestalt in der Polizei-Uniform vor Tsubasas innerem Auge auf, er schüttelte wieder heftig den Kopf und der Griff um den Arm seiner Mutter verstärkte sich.

„Nein….“

Sie sah ihn für einige Sekunden hilflos an, dann kam ihr anscheinend eine Idee. „Wie wäre es, wenn du für ein paar Minuten auf Daichi aufpasst, während ich weg bin?“, meinte sie leise. „Es dauert wirklich nicht lange. Dein Vater ist bestimmt auch gleich wieder zurück.“

Tsubasa wandte den Kopf und bemerkte erst jetzt seinen kleinen Bruder, der auf einer Spieldecke auf dem Boden unter dem Fenster saß, ein aufgeschlagenes Bilderbuch in den Händen und seinen Schnuller im Mund. Er beobachtete Tsubasa und seine Mutter mit großen Augen, ohne einen Mucks von sich zu geben. Frau Ozora stand auf, löste Tsubasas Griff um ihre Hand und hob den Kleinen auf den Arm.

„Er hat den ganzen Tag schon nach dir gefragt und keine Ruhe gegeben, bis ich ihn mitgenommen habe.“, meinte sie lächelnd, während sie ihn zu Tsubasa auf das Bett setzte. „Behalte ihn einfach für mich im Auge, ja? Ich hole Dr. Kimura und bin sofort wieder zurück.“

Tsubasa blickte Daichi nur leicht verdattert an, aber seine Mutter wertete das als Zustimmung. Sie drückte noch einmal kurz seinen Arm, lächelte ihn beruhigend an und hatte dann bereits den Raum verlassen, ohne ihm noch einmal die Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen. Daichi war in der darauf folgenden Stille der erste, der sich rührte. Er krabbelte näher zu seinem großen Bruder hinüber und kuschelte sich zufrieden an ihn, wobei er Tsubasas Schulter und Arm als Kopfkissen benutzte. Tsubasa starrte ihn ein paar Sekunden lang stumm an, dann blickte er erneut erst zur Tür, anschließend zum Fenster und den leeren Stühlen im Zimmer. Kenji war nicht hier. Daichis mittlerweile vertrauter Geruch verdrängte das Echo des Rasierwassers. Langsam, ganz langsam, hatte er wieder das Gefühl, normal atmen zu können, der Druck auf seiner Brust ließ nach. Erschöpft ließ er den Kopf wieder ins Kissen zurücksinken und schloss die Augen. Verdammte Medikamente…. Er war Albträume gewohnt, aber Kenjis Gestalt war dermaßen real gewesen…. Er konnte sie immer noch vor seinem inneren Auge sehen in der Polizeiuniform, das Gesicht zu einem Grinsen verzogen, die Waffe in der Hand. Er hatte keinen Tag älter ausgesehen als das letzte Mal, als Tsubasa ihn im Gerichtssaal gesehen hatte. Wie auch? Kenji war tot! Oder? Kojiro schwor schließlich, ihn am Strand gesehen zu haben. Aber das war absolut unmöglich! Viele Grüße von Sanae….. Tsubasa schüttelte leicht den Kopf und bedeckte die Augen mit seinem freien Unterarm. Unmöglich, absolut unmöglich! Selbst wenn Kojiro Recht behalten sollte, konnte es Kenji auf gar keinen Fall hierher ins Krankenhaus geschafft haben, seine Eltern hatten ihm wiederholt versichert, dass die Polizei vor Ort war…. Den ganzen Nachmittag schon…. Auf der anderen Seite, wie hatte er es geschafft, Sanae auf der Intensivstation direkt nach ihrem Unfall zu fotografieren? War die Polizei da schon vor ihrer Tür gewesen? Tsubasa konnte sich nicht erinnern. Er zuckte leicht zusammen, als Daichi seinen Griff um seinen Oberarm verstärkte und ihn so aus seinen Gedanken riss, und richtete den Blick erneut auf seinen kleinen Bruder. Daichi sah ihn mit großen Augen an, den Schnuller nach wie vor im Mund und eng an seinen Oberkörper geschmiegt. Er schien genau zu spüren, dass die Gedanken, die Tsubasa durch den Kopf schossen, keine guten waren. Oder bildete er sich das jetzt auch nur ein? Der Kleine war immerhin erst zwei…

„Vermutlich hast du absolut keine Ahnung, was los ist, oder?“, meinte Tsubasa schließlich leise und lächelte schwach. „Da sind wir dann immerhin schon zu zweit. Liegst du wenigstens bequem?“

Anstelle einer Antwort kletterte Daichi kurzerhand auf Tsubasas Oberkörper – Tsubasa blieb leicht die Luft weg bei dieser Aktion, als sich Daichis Knie recht unangenehm in seinen Magen und seine Rippen bohrten – bis er ihm die kleinen Arme um den Hals legen und den Kopf direkt in Tsubasas Halsbeuge kuscheln konnte.

„Alles klar, das ist auch eine Aussage.“, ächzte Tsubasa leise. „Du bist schwerer als du denkst, nur falls dich mal jemand fragt….“

Daichi ignorierte ihn komplett. Zum Glück öffnete sich just in diesem Moment die Zimmertür wieder und seine Mutter kam zurück, seinen Vater und Dr. Kimura im Schlepptau.

„Ach herrje.“ Sie unterdrückte ein Lachen, wirkte aber immer noch leicht besorgt. „Er hat dir hoffentlich nicht wehgetan, oder?“, wollte sie wissen, während sie ihren jüngsten Sprössling von Tsubasas Brust pflückte, sehr zu Daichis Missfallen. Er begann sofort zu quengeln.

„Nein, hat er nicht, alles ok….“

Tsubasa richtete sich wieder etwas auf, und dieses Mal hinderte ihn niemand daran. Seine Mutter trug Daichi nach draußen, um ihn etwas zu beruhigen, während sein Vater und Dr. Kimura näher ans Bett traten.

„Wie fühlst du dich? Deine Mutter hat gesagt, dass du einen Albtraum hattest und etwas – na ja, verwirrt und desorientiert warst.“, wollte der Arzt ruhig wissen und zog sich einen Stuhl heran.

„Geht schon wieder.“

Dr. Kimura musterte ihn prüfend, dann griff er nach Tsubasas Handgelenk und suchte den Puls.

„Keine Schmerzen im Bein?“

„Es lässt sich aushalten. Ich brauche keine neuen Schmerzmittel, danke.“

Dr. Kimura lächelte leicht, ohne sich ablenken zu lassen. „Das freut mich schon mal zu hören.“

„Kann ich zu Sanae?“

Herr Ozora runzelte leicht die Stirn, aber Dr. Kimura kam ihm zuvor.

„Heute definitiv nicht.“, meinte er entschieden und ließ Tsubasas Arm wieder los. „Vielleicht morgen. Nach der Situation gerade…“

„Es war nur ein Albtraum, das haben Sie doch gerade selbst gesagt! Ich muss sie sehen!“

Noch während Tsubasa sprach, wurde ihm selbst schmerzhaft bewusst, wie sehr es stimmte. Er musste Sanae sehen! Wenn er sich nicht selbst davon überzeugen konnte, dass es ihr gut ging und dass Kenjis Gestalt nur ein Albtraum gewesen war…. Viele Grüße von Sanae….

Dr. Kimura zögerte, offenbar machte ihn die Vehemenz in Tsubasas Stimme nachdenklich.

„Ich muss sie sehen.“, wiederholte Tsubasa etwas leiser und versuchte, die Bettdecke zurück zu schlagen, aber Dr. Kimura packte ihn sofort am Handgelenk.

„Nicht so schnell.“, meinte er ernst. „Zwei Bedingungen. Zuerst lässt du dich gründlich von mir untersuchen, es sieht für mich auch so aus, als hättest du etwas Fieber. Und zweitens wirst du auf gar keinen Fall laufen, verstanden?“

Tsubasa nickte nach kurzem Zögern, und Dr. Kimura ließ ihn los.

„Gut, dann sind wir uns ja einig. Dann lass mal dein Bein sehen…

Während der Arzt begann, den Verband behutsam abzulösen, richtete Tsubasa den Blick an die Decke. Mich vermissen, was sonst!

„Du hast keine Ahnung, wie sehr du Recht hast…“, schoss es ihm niedergeschlagen durch den Kopf und schloss die Augen. „Nicht die geringste….“

Begegnung

Als Taro am nächsten Tag das Fahrrad in Richtung Klinikgelände lenkte, stand die Sonne bereits recht hoch am Himmel. Er hatte verschlafen – die letzten Tage hatten eindeutig ihren Tribut gefordert. Eigentlich hätte er sich vor zwei Stunden mit den anderen zur Lagebesprechung auf dem alten Fußballplatz treffen sollen, Ryo hatte ihn schließlich auf dem Handy angerufen und gefragt, wo er blieb. Das Klingeln hatte Taro geweckt. Nach kurzem Zögern hatte er sich entschieden, nicht mehr nachzukommen und sich stattdessen von Ryo später am Tag berichten zu lassen, was besprochen wurde. Genau genommen konnten sie eh nichts tun, alles lag jetzt bei der Polizei. Taro gönnte sich eine lange Dusche und einen Kaffee, bevor er sich nach kurzem Zögern auch dazu zwang, eine Schüssel Müsli zu essen. Dann versuchte er, Tsubasa auf dem Handy zu erreichen, leider ohne Erfolg. Stattdessen nahm Herr Ozora ab, und das Gespräch verlief äußerst ernüchternd. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass keine Reporter vor der Wohnung herumlungerten, schwang er sich auf sein Fahrrad und trat kräftig in die Pedale. Der Fahrtwind half ihm, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Die Pressemeldung hatte wie erwartet für einen riesigen Wirbel gesorgt. Eine Schießerei am Strand war für eine Kleinstadt wie Nankatsu alleine schon nervenaufreibend genug, aber dass es ausgerechnet Tsubasa erwischt hatte, nur kurze Zeit nachdem Sanae angefahren worden war, setzte dem ganzen natürlich die Krone auf. Zum Glück hatte noch niemand daran gedacht, eine Verbindung zu ziehen – im Moment wurde die tragische junge Liebe von Tsubasa und Sanae in jeder Schlagzeile ausgiebig behandelt, ganz zu schweigen von dem vorgeblichen frühen Karriere-Aus, wo Tsubasa doch gerade als erster seiner Altersklasse kurz davor gewesen war, eigenständig den Sprung in die Profi-Liga im Ausland zu schaffen. Fast alle aus der ehemaligen Nankatsu-Elf waren im Laufe des letzten Tages, fast unmittelbar nach dem die Pressemeldung heraus gegeben worden war, von mindestens einem Reporter besucht und mit Fragen bestürmt worden – ob sie bereits mit Tsubasa gesprochen hatten, ob sie wussten, in welchem Krankenhaus er behandelt wurde, ob sie glaubten, dass er diesen Schicksalsschlag verkraften würde, bla bla bla. Taro schnaubte unwillkürlich. Dass sie zu dem Zeitpunkt noch nichts von dem Täuschungsmanöver gewusst hatten, hatte es zumindest überflüssig gemacht, ihr Entsetzen und ihren Schock vortäuschen zu müssen. Mittlerweile hatte Taro das Klinikgelände fast erreicht, er beschleunigte. Hoffentlich hatte Tsubasa wenigstens mit Roberto alles klären können, so dass die Dinge in Brasilien geregelt waren. Der Trainer hatte sehr aufgebracht geklungen am Telefon – auch wenn Taro vom ersten portugiesischen Redeschwall kein Wort verstanden hatte, bis er schließlich zu Wort gekommen war und Roberto darüber aufklären konnte, dass er nicht Tsubasa war. Taro rollte am Parkplatz vorbei – und entdeckte aus den Augenwinkeln eine vertraute Gestalt. Unwillkürlich bremste er ab und blickte ungläubig ein zweites Mal hin.

„Kojiro? Was zum Teufel machst du da?“

„Nach was sieht es denn aus?“, brummte Kojiro missmutig, ohne sich stören zu lassen. „Kennzeichen aufschreiben.“

„Aber – wozu?“

„Um den besch*** roten Opel zu finden.“

Kojiro deutete mit dem Stift auf einen roten Opel, der vor ihm in einer Parklücke stand. „Kaum zu glauben, wie viele von denen auf der Straße unterwegs sind, wenn man mal hinschaut. Kein Wunder, dass Tsubasa sich für paranoid gehalten hat. Ich hab heute alleine schon fünf aufgeschrieben, die ich hier in der Nähe gesehen habe.“

Taro starrte ihn an. „Das heißt, du schreibst alle roten Opel auf, die hier vorbei kommen?“

„Um genau zu sein, alle roten Opel in allen Farbschattierungen. Hab schon drei dunkelrote auf der Liste.“

„Und – wie lange machst du das schon?“

„Angefangen hab ich gestern Nachmittag, nachdem wir bei der Polizei waren und uns getrennt haben. Heute bin ich seit ungefähr zwei Stunden dabei.“

Taro starrte ihn nach wie vor fassungslos an, und Kojiro schnaubte verächtlich.

„Hör auf, mich so anzusehen! Was soll ich denn sonst machen? Untätig rumsitzen macht mich verrückt! Und wer weiß, ob die Polizei auf die Idee kommt….“

„Sicher nicht. Was soll das denn bringen? Du sagst es doch selber, es gibt unzählige rote Opel! Außerdem…“ Taro stockte, als er sich an die Wucht des Aufpralls erinnerte, und holte tief Luft. „Außerdem würdest du es definitiv sehen, wenn das Unfall-Auto hier stünde. Die ganze Front müsste beschädigt sein.“

„Schon mal was von Reparaturen und neuer Lackierung gehört? Ich gehe auf jeden Fall kein Risiko ein!“

„Und was machst du dann mit den Kennzeichen? Alle der Polizei geben, um sie überprüfen zu lassen? Die werden sich sicher bedanken!“

Kojiro funkelte ihn wütend an. „Wenn die ihren Job machen würden, müssten wir ihn nicht machen, oder? Wer hat denn die Patronenhülse gefunden, wir oder die?“

„Trotzdem, die Polizei hat sicher andere Mittel und Wege, den Halter von dem Opel herauszukriegen.“ Taro stieg ab und schob das Rad zu ihm hinüber. „Ich glaube, so ist es die Nadel im Heuhaufen. Wie kommst du überhaupt auf die Idee, hier zu suchen?“

„Na, warum wohl. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Typ Tsubasa auch nur eine Sekunde aus den Augen lässt.“

Dieser Gedanke war Taro auch schon gekommen, und ihn jetzt von Kojiro bestätigt zu bekommen, löste ein mulmiges Gefühl in ihm aus.

„Seine Familie ist ja die ganze Zeit bei ihm.“, meinte er schnell, auch um sich selbst zu beruhigen. „Und die Polizei…“

„Sicher.“ Kojiro klappte das kleine Notizbuch zu und steckte es mitsamt Stift in die Hosentasche, bevor er die Hand gegen die Sonne abschirmte und zu dem Stockwerk hinaufblickte, auf dem er Tsubasa vermutete. „Aber trotzdem. Die Sache lässt mir keine Ruhe…“

„Mir auch nicht.“

Kurze Zeit schwiegen beide.

„Wolltest du gerade zu Tsubasa?“, griff Kojiro den Gesprächsfaden dann wieder auf, und Taro nickte, nur um kurz darauf den Kopf zu schütteln.

„Ja…also nicht direkt.“ Er zögerte kurz, dann redete er weiter. „Ich hab ihn anrufen wollen und nur seinen Vater am Telefon gehabt. Tsubasa hatte anscheinend keine besonders gute Nacht, er schläft jetzt und wir sollen ihn heute besser nicht besuchen.“

„Was heißt das, keine besonders gute Nacht?“, fragte Kojiro alarmiert. „Gab es wieder Ärger?“

„Nein, ich glaube nicht. Aber er hat relativ hohes Fieber. Wie es aussieht, hat es gestern Nachmittag schon angefangen, nachdem wir weg waren, und wurde über Nacht dann schlimmer. Scheinbar gibt es Anzeichen für eine Entzündung in der Wunde, und dazu noch der Stress in der letzten Zeit….“

„Stress.“ Kojiro schnaubte leicht. „Ziemlich harmloses Wort, findest du nicht? Müssen wir uns wieder Sorgen machen?“

Taro zuckte mit den Schultern. „Dr. Kimura meint nein. Anscheinend hat er mit so was schon fast gerechnet, das kommt wohl relativ häufig vor. Tsubasa soll viel schlafen und sich ausruhen, und zur Sicherheit behandeln sie ihn noch mit Antibiotika.“

„Aha.“ Kojiro blickte wieder zur Fassade der Klinik hinüber. „Dann hoffen wir mal, dass er Recht hat. Warum bist du trotzdem hier?“

Taro lächelte trocken. „Vermutlich aus demselben Grund wie du. Mir ist es nicht wohl dabei, die Beiden lange aus den Augen zu lassen, und daheim rumsitzen macht mich verrückt. Ich wollte nach Sanae sehen und anschließend Tsubasas Eltern fragen, ob ich irgendwas tun kann – vielleicht brauchen sie ja auch jemanden, der Daichi für ein paar Stunden beaufsichtigt.“

Kojiro nickte kommentarlos. „Warst du bei der Besprechung heute Morgen dabei?“

„Nein, ich habe verschlafen. Du auch nicht?“

„Nein. Es gibt wichtigeres im Moment….“

„Wie Kennzeichen aufschreiben?“

„Und beobachten, wer das Gebäude betritt und verlässt. Wenn der Kerl noch mal hier auftaucht, kriege ich ihn, verlass dich drauf!“

Taro musterte ihn nachdenklich. „Machst du dir immer noch Vorwürfe wegen der Sache am Strand?“

Kojiro schwieg ein paar Sekunden, dann zuckte er mit den Schultern, ohne etwas zu sagen.

„Meinst du, es lohnt sich, heute schon bei der Polizei nachzufragen?“, meinte er schließlich nach ein paar weiteren Minuten, und jetzt war es an Taro, mit den Schultern zu zucken.

„Vermutlich nicht. Ich kann mir eh nicht vorstellen, dass die uns über laufende Ermittlungen irgendwas sagen. Da werden wir wohl abwarten müssen, bis sie sich bei Tsubasa melden.“

„Was sicher nicht heute sein wird, wenn er schlafen soll.“, meinte Kojiro finster und verschränkte die Arme vor der Brust. „Vielleicht sollten wir trotzdem nachbohren, sicher ist sicher.“

„Kojiro, lass es, das bringt doch nichts.“

„Das können wir nicht wissen, bis wir es nicht versucht haben. Ich habe sogar schon drüber nachgedacht, bei Kenjis alter Adresse vorbei zu fahren, aber seine Eltern sind direkt nach der Gerichtsverhandlung umgezogen und ich weiß nicht, wo….“ Er brach ab, dann weiteten sich seine Augen leicht. „Oh verdammt! Das könnte…“

„Was?“ Taro sah ihn irritiert an. Kojiro gab keine Antwort, stattdessen zog er seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche und rannte den Parkplatz entlang zu seinem Wagen.

„Wenn du mitkommen willst, beeil dich!“, rief er über die Schulter zurück, während er bereits die Autotür aufriss. „Lass dein Rad einfach stehen!“

„Aber wohin…“

„Unterwegs!“

Taro zögerte, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann schob er sein Rad abseits unter einen Baum und kettete es fest, bevor er sich beeilte, Kojiros Beispiel zu folgen.
 

***
 

Eine gute Stunde später steuerte Kojiro das Auto auf den Parkplatz eines Friedhofs. Obwohl er Taro unterwegs wie versprochen seinen Geistesblitz erläutert hatte, war der immer noch verwirrt.

„Und warum genau sind wir jetzt hier?“

„Ich will Kenjis Grab sehen.“ Kojiro drehte den Schlüssel um, und der Motor erstarb. „Er ist hier bestattet, das stand online im Archiv der Regionalnachrichten.“

„Und – wozu? Ich meine, wir wissen dann immer noch nicht, ob er….“

„Ich will es mit meinen eigenen Augen sehen!“, beharrte Kojiro, während er bereits seine Tür öffnete. „Ist nur so ein Gefühl…“

„Aha.“ Taro verkniff sich einen weiteren Kommentar und stieg ebenfalls aus. „Na, wenn du meinst…. Hauptsache du fährst mich nachher auch wieder zurück.“

Kojiro hörte ihn bereits nicht mehr, er öffnete schon das kleine Tor zum Friedhof und Taro musste sich wieder beeilen, ihm zu folgen.

„Hey, warte wenigstens!“

„Am besten teilen wir uns auf. Du gehst links rum, ich rechts.“, meinte Kojiro nachdenklich mit einem Blick auf das doch recht große Gelände, als Taro ihn eingeholt hatte. „Sonst sind wir hier Stunden beschäftigt. Wenn du das Grab findest, ruf einfach oder klingel auf meinem Handy durch.“

Taro nickte kommentarlos und lief los. Je schneller sie das hier erledigt hatten, desto besser. Das war fast noch eine größere Zeitverschwendung wie das Kennzeichen-Aufschreiben. Er seufzte und ließ seinen Blick über die eingravierten Schriftzeichen auf den Grabstelen schweifen. Er mochte keine Friedhöfe, und in der aktuellen Situation noch weniger…. Es war still, außer ihnen waren keine weiteren Besucher zu sehen. Nicht mal ein Vogel war zu hören. Taro fröstelte unwillkürlich, gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er nicht mal wusste, wie Kenji mit Nachnamen hieß bzw. wie man ihn schrieb. Er hatte nur kurz den Zeitungsartikel überflogen, den Sanae mitgebracht hatte….. Unwillkürlich hob er den Kopf und blickte sich suchend nach Kojiro um, um ihn zu fragen – und entdeckte die Gestalt, die am anderen Ende des Friedhofs vor einem Grab stand und auf den Grabstein hinabblickte, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Ein Mann in Jeans und grüner Windjacke. Taro runzelte leicht die Stirn und blickte sich wieder nach Kojiro um. Als er ihn fand, war es bereits zu spät. Kojiro hatte die Gestalt ebenfalls entdeckt, just in demselben Moment, indem sie den Kopf drehte und ihn offensichtlich bemerkte. Ansatzlos wirbelte sie wieder herum und sprintete los, in die entgegengesetzte Richtung. Taro starrte ihr perplex hinterher, zu verdattert, um zu reagieren, während Kojiro einen Fluch ausstieß und sofort die Verfolgung aufnahm. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Taro seine Überraschung überwunden hatte und ebenfalls hinter den Beiden herrannte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. War das etwa…? Kojiros wütende Stimme hallte über den Friedhof.

„Stehen bleiben! Verdammt noch mal, bleib stehen!!!“

Der Mann dachte nicht daran. Er hechtete über die niedrige Friedhofsmauer und rannte weiter, über die angrenzende Wiese in Richtung Wald. Kojiro schrie wieder irgendetwas, aber dieses Mal konnte Taro ihn nicht verstehen. Er war immer ein ausdauernder und schneller Läufer gewesen, zumindest war es ihm auf dem Fußballplatz so vorgekommen, aber die Wut schien in Kojiro ungeahnte Reserven zu wecken, während der Flüchtende ebenfalls beinahe über den Rasen fliegen zu schien. Egal, wie sehr Taro sich anstrengte, er schaffte es nicht, zu den Beiden aufzuholen. Er rief Kojiros Namen, aber sein Freund reagierte nicht. In der nächsten Sekunde gab es einen heftigen Ruck an seinem linken Fuß, Taro strauchelte und knallte mit voller Wucht auf den Boden. Der Aufprall raubte ihm den Atem, er ächzte und blieb nach Luft ringend ein paar Sekunden liegen. Als er schließlich den Kopf hob, waren Kojiro und der Fremde im Wald verschwunden.

„Oh, das darf doch nicht wahr sein….“ Leicht stöhnend zwang sich Taro wieder auf die Füße. Sein linker Knöchel pochte und schmerzte unangenehm, aber gebrochen schien nichts zu sein. Ein Erdloch war ihm zum Verhängnis geworden…. Er humpelte in Richtung Waldrand und rief wieder Kojiros Namen, aber alles blieb still. Taro fluchte und zog sein Handy aus der Hosentasche, um seine Freunde anzurufen. Es brachte nichts, wenn er auch noch in den Wald rannte, mal ganz zu schweigen davon, dass er nicht wusste, wie weit er mit seinem lädierten Fuß kam. Gerade, als er Ryos Nummer wählte, glaubte er, einen dumpfen Aufschlag zu hören, gefolgt von einem erstickten Schrei. Er erstarrte. War das jetzt der Fremde gewesen, oder….? Taro zögerte, dann fluchte er erneut, steckte das Handy wieder weg und humpelte weiter auf den Wald zu, in die ungefähre Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

„Kojiro?“

Keine Antwort. Doch dann raschelte es auf einmal im Unterholz, und Kojiro brach durch die Büsche. Er presste sich eine Hand gegen die Schläfe und musste sich zwei Mal an einem Baum aufstützen, um die Richtung einigermaßen halten zu können, aber in seinen Augen loderte nach wie vor eine unbändige Wut. Taro starrte ihn geschockt an, und sein Entsetzen wuchs, als er die Blutfäden bemerkte, die zwischen Kojiros Fingern hindurch sickerten.

„Was ist passiert?“

„Ich hatte ihn fast.“, grummelte Kojiro finster. „Ich hatte ihn!“

„Was ist passiert?“, wiederholte Taro und packte ihn am Arm, um ihn etwas zu stützen, als Kojiro ihn mehr oder weniger sicher auf den Beinen erreichte.

„Er hat mir hinter einem Baum aufgelauert und mir einen Ast gegen den Schädel gedonnert. Und ich war so dämlich und bin auch noch mitten rein gerannt…. Als hätte ich mir das nicht denken können…“

„Das sieht übel aus….“

„Quatsch, ein Kratzer, mehr nicht.“

„Richtig – nur ein Kratzer. Dann kannst du ja sicher allein zum Auto laufen, nicht?“

Kojiro brummte etwas unverständliches, machte aber keine Anstalten, Taros Hand von seinem Arm zu lösen. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zurück zum Friedhof, deutlich langsamer als sie es auf dem Hinweg gewesen waren, während sie sich gegenseitig stützten. Nach ein paar Sekunden musste Taro unfreiwillig lachen. Kojiro blickte ihn mit gerunzelter Stirn an.

„Was?“

„Ich habe nur gedacht, dass wir uns jetzt bald alle im Krankenhaus häuslich einrichten können. Sanae ist schon da, Tsubasa ist da, und jetzt schauen wir beide da wohl auch noch vorbei.“

Es war absurd, und es war absolut nicht komisch. Trotzdem konnte Taro nicht anders als weiter zu lachen, und auch Kojiros Mundwinkel zuckten verräterisch, obwohl er sich bemühte, sich zu beherrschen.

„Tut mir leid.“, meinte Taro schließlich nach einigen Sekunden etwas atemlos und immer noch leicht kichernd. „Ich schätze mal, meine Nerven sind etwas überreizt….“

„Nicht nur deine.“

„War es der Typ vom Strand?“

„Ja. Hundertprozentig. Die Statur würde ich überall wieder erkennen.“

„Und…. war es….?“

Taro sprach die Frage nicht aus, aber das musste er auch gar nicht. Kojiro zögerte.

„Ich bin mir nicht ganz sicher.“, gestand er dann schließlich. „Am Strand hätte ich schwören können, dass er es war, die Haare und die Statur… Aber jetzt, als ich ihn noch mal im Sonnenlicht gesehen habe…. Keine Ahnung. Ich habe ihn ja auch jahrelang nicht gesehen.“

„Hast du sein Gesicht erkennen können?“

„Nein, wieder nicht. Und du?“

„Auch nicht. Aber ich kenne…kannte Kenji nicht, darum wäre ich dir eh keine Hilfe, fürchte ich.“

Kojiro nickte. „Was macht dein Bein?“

„Nichts gravierendes, zumindest nichts gebrochen. Es tut weh, aber ich kann halbwegs auftreten. Und dein Kopf?“

„Erinnert mich an meine eigene Dummheit, und ich schätze, das wird er noch einige Tage tun. Lass uns noch einen Blick auf den Grabstein werfen, deswegen sind wir ja schließlich hier.“

Taro wollte widersprechen, nickte dann aber. Kurze Zeit später hatten sie das richtige Grab gefunden, vor dem auch der Fremde gestanden hatte, und starrten auf die eingravierten Schriftzeichen.

„Hast du eigentlich einen Führerschein?“, fragte Kojiro schließlich düster, ohne den Blick von der Grabinschrift abzuwenden.

„Ja, aber ich bin in Japan noch nie Auto gefahren.“ Auch Taro starrte die Schriftzeichen weiter an.

„Dann wird das heute das erste Mal.“ Kojiro drückte ihm seinen Autoschlüssel in die Hand. „Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, wenn ich fahre. Zumindest, falls du dir das zutraust mit dem lädierten Fuß. Ansonsten bleibt nur Taxi.“

„Nein, müsste schon gehen.“ Taro riss sich vom Grabstein los. „Beeilen wir uns besser. Wir müssen der Polizei erzählen, was passiert ist, und den Anderen…“

„Ja.“ Kojiro blickte ein letztes Mal auf die Grabinschrift. „Und das hier dürfte auch alle brennend interessieren.“

Rache

Ryo verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte zum wiederholten Male ungläubig den Kopf.

„Also ehrlich, ich fasse es immer noch nicht. Das mit Kojiro das Temperament durchgeht, kann ich ja noch verstehen, aber…“ Er unterbrach sich und blickte kurz zu Kojiro hinüber. „Nichts für ungut.“

Kojiro bedachte ihn nur mit einem vernichtenden Blick, enthielt sich aber jeden Kommentars und presste sich weiter den Eisbeutel gegen die Schläfe. Wieder einmal waren sie in der kleinen Küche der Misakis versammelt. Taro hatte auf die Schnelle nur Ryo und Izawa erreicht, aber Kojiro war das eigentlich auch ganz recht. So sahen wenigstens nicht alle das weiße Pflaster an seiner Schläfe und den blau schillernden Bluterguss, der sich bereits gebildet hatte. Insgesamt hatte er noch Glück gehabt, die Wunde hat nicht einmal genäht werden müssen. Die Ärzte im Krankenhaus hatten ihm geraten, über Nacht zu bleiben, weil eine leichte Gehirnerschütterung nicht ganz ausgeschlossen werden konnte, aber davon hatte er nichts wissen wollen. Also war er mit Kopfschmerz-Tabletten ausgerüstet wieder gegangen. Auch Taro hatte Glück und war mit einer Überdehnung der Sehnen davon gekommen, mit dem Tape-Verband, der ihm angelegt worden war, konnte er sogar fast normal laufen.

„Ryo hat aber ausnahmsweise recht.“, meinte Izawa. „Ihr hättet nicht alleine dahin fahren sollen.“

„Wer rechnet denn damit, dass wir auf den Typen treffen?“, entgegnete Kojiro finster. „Ich wollte den Grabstein sehen, mehr nicht. Nicht, das ich was dagegen gehabt hätte, mir den Mistkerl persönlich vorzuknöpfen, aber…“

„Ja, das Ergebnis davon können wir ja ausgiebig bewundern.“ Ryo zog beide Augenbrauen hoch. „Und was hat es gebracht?“

„Eine ganze Menge.“, setzte Kojiro an, brach aber ab, als Taro zurückkam, der die letzten zehn Minuten am Telefon verbracht hatte.

„Und?“, wollte Izawa wissen, während Taro sich zu ihnen an den Tisch setzte.

„Wir sollen nachher direkt zur Polizei kommen, wir haben einen Termin in einer guten Stunde.“

„Und Tsubasa? Hast du ihn auch erreicht?“

„Ja, aber nur kurz. Er wusste genauso wenig davon wie wir. Bei der Gerichtsverhandlung war der Typ auf jeden Fall nicht.“

„Geht’s ihm besser?“

Taro zuckte mit den Schultern. „Er sagt ja. Anscheinend ist er halt extrem müde, er klang zumindest so. Liegt an den Medikamenten, schätze ich, die haben ihn ja gestern schon geschlaucht, und die Antibiotika machen das ganze sicher nicht besser. Aber das Fieber und die Entzündung haben die Ärzte anscheinend im Griff, behauptet er zumindest. Wir sollen uns keine Sorgen machen.“

„Den Spruch kennen wir ja.“, brummelte Ryo. „Hoffentlich ist er ehrlich!“

„Soweit ich das über das Telefon jetzt beurteilen konnte, denke ich schon. Ausnahmsweise hat er ja mal keine Wahl, als sich an das zu halten, was die Ärzte sagen, und sich auch wirklich auszuruhen und viel zu schlafen. Aufstehen und weglaufen kann er schließlich nicht.“

So zynisch das auch klang, Taro hatte Recht. Und dieses Argument war ironischerweise tatsächlich beruhigend.

„Hast du auch was von Sanae gehört?“, wollte Izawa wissen.

„Ja, ich hab auf der Intensivstation auch angerufen. Alles unverändert. Sanae ist weiter stabil, atmet auch selbstständig, ist aber nicht wach.“

Kurze Zeit schwiegen alle vier, dann gab sich Kojiro einen Ruck und nahm den vorherigen Gesprächsfaden wieder auf.

„Wie gesagt, es hat viel gebracht.“ Er schob den Papierausdruck von dem Grabstein-Foto, das er auf dem Friedhof mit der Handykamera noch geschossen hatte, bevor sie wieder gefahren waren, in die Mitte des Tisches.
 

Kenji Kobayashi. Geliebter Sohn, Bruder und Freund. Du wirst uns fehlen
 

„Bruder.“, murmelte Izawa. „Ich kann mir das immer noch nicht so ganz erklären. Ich meine, Kenji war doch auf deiner Schule, Kojiro – hast du nie irgendwas von einem Bruder mitbekommen?“

„Wie oft denn noch, nein. Ich hab auch nie großartig mit ihm gesprochen, von daher ist das keine große Überraschung. Hallo und Tschüss auf dem Gang, und ab und zu hat er mal beim Fußballtraining zugeschaut, das war’s dann.“

„Aber wenn wir davon ausgehen, dass Kenjis Bruder hier Amok läuft…“, mischte sich Ryo ein. „Und du ihn verwechselt hast….dann müssten sie doch ungefähr gleich alt gewesen sein, oder? Und du müsstest mal was mitbekommen haben. Irgendwas.“

„Nein, wieso denn? Erstens kann er auf einer ganz anderen Schule gewesen sein, meine Geschwister sind auch nicht auf derselben wie ich damals. Außerdem – wie gerade schon erwähnt - bis er vor fünf Jahren plötzlich zum Irren geworden ist, hatte ich nichts mit ihm zu tun! Und keiner von uns hat sein Gesicht gesehen, nebenbei, wir wissen nicht, wie alt der Typ vom Friedhof und vom Strand ist.“

„Von der Statur her nicht so viel älter oder jünger wie wir, und von der Kleidung her auch nicht, würde ich sagen.“, meinte Taro nachdenklich. „Aber muss es denn sein Bruder sein? Vielleicht war es auch ein Freund…“

„Oder doch Kenji selbst. Das Grab beweist gar nichts.“

„Fängst du schon wieder damit an?“, stöhnte Izawa, aber Kojiro ließ sich nicht beirren.

„Wenn wir nachher bei der Polizei sind, sollten wir unbedingt darauf bestehen, dass sie überprüfen, ob der Typ in dem Auto damals wirklich Kenji war!“

„Auf die Idee werden sie schon selber kommen. Genauso wie die Kennzeichen überprüfen….“

Kojiro rollte mit den Augen. „Sicher.“

Taro verkniff sich einen weiteren Kommentar und blickte wieder das Foto an.

„Und was machen wir jetzt?“

„Dasselbe wie die letzten Tage auch.“, meinte Kojiro finster. „Wir beobachten und passen auf. Tsubasa wird ja vermutlich noch einige Zeit länger im Krankenhaus bleiben müssen, das macht die Sache für uns etwas einfacher. So können wir ihn und Sanae gleichzeitig im Auge behalten. Ich für meinen Teil werde weiter dafür sorgen, dass niemand ins Gebäude rein kommt, der nicht rein soll. Und umgekehrt. Ihr könnt mir helfen, wenn ihr wollt, oder weiter der Polizei alles überlassen.“

Sein Tonfall machte deutlich, was er von der letzten Möglichkeit hielt, und seine Freunde tauschten einen leicht resignierten Blick.

„Ich hoffe, das die Polizei zumindest rausfindet, wo Kenjis Familie heute wohnt.“, meinte Taro nach einigen Sekunden Schweigen und blickte erneut auf die Fotografie. „Vielleicht hilft uns das ja auch weiter.“

Die Anderen nickten zustimmend, sogar Kojiro, bevor er entschlossen nach dem Foto griff und den Eisbeutel zur Seite legte.

„In Ordnung. Dann machen wir am besten einen Zeitplan für die nächsten Tage. Taro, wir brauchen Stift und Papier.“

Taro unterdrückte ein erneutes Seufzen, dann stand er auf. „Aber lass mich weitgehend da raus. Ich fühle mich wohler, wenn ich bei den Beiden auf der jeweiligen Station bin. Vielleicht kann ich ihren Familien ja auch bei der einen oder anderen Sache helfen.“

Ryo verschränkte die Arme vor der Brust. „Irgendwie hab ich ein mieses Gefühl bei der ganzen Sache. Ein ganz mieses….“, meinte er leise mehr zu sich selbst, und Izawa blickte ihn kurz von der Seite an, ohne etwas zu sagen. Kojiro hatte die Bemerkung nicht mitbekommen, und Izawa war irgendwie fast dankbar dafür. Die Sache war noch lange nicht ausgestanden, das sagte ihm auch sein eigenes Bauchgefühl, und er wollte Kojiros Eifer nicht noch unnötig anstacheln. Die Sache auf dem Friedhof hatte ja schon bewiesen, dass es auch für sie nicht ganz ungefährlich war, dem Fremden in die Quere zu kommen, und das letzte, was Izawa wollte, war das noch jemand von seinen Freunden im Krankenhaus landete. Trotzdem, da gab er Kojiro recht, nichts tun kam nicht in Frage.

„Wir müssen auf jeden Fall verdammt vorsichtig sein.“, meinte Izawa schließlich doch nach kurzem Zögern an alle gewandt, als Taro mit einem Spiralblock und einem Stift bewaffnet zurück an den Tisch gekommen war.

„Keine Sorge, wir sind vorsichtig.“, bestätigte Kojiro grimmig. „Noch mal passiert mir so was wie auf dem Friedhof nicht! Der Kerl ist fällig!“

Das war absolut nicht das, was Izawa damit hatte aussagen wollen, aber er beließ es dabei und war nachplötzlich froh, dass Tsubasa nicht hier war. Er dachte an Kojiros und Taros - zum Glück nur leichte - Verletzungen und erinnerte sich nur zu gut an Tsubasas Gegenwehr vor fünf Jahren, als er unbedingt hatte verhindern wollen, dass seine Freunde noch tiefer in das alles verstrickt wurden. Dieses Mal war es dafür definitiv zu spät.

Zuhause

Gute zwei Wochen später wurde Tsubasa entlassen. Wie erwartet, hatte er deutlich länger im Krankenhaus bleiben müssen als ursprünglich geplant. Grund dafür waren unter anderem das Fieber und die Entzündung gewesen. Er hatte seine Freunde nicht angelogen, Dr. Kimura hatte die Situation in der Tat schnell wieder in den Griff bekommen und das Fieber war nicht gestiegen, allerdings auch mehrere Tage lang nicht gesunken. Die Antibiotika hatten dafür gesorgt, dass sich die Infektion gar nicht erst weiter ausbreitete, dafür hatten sie ihm allerdings auch zu der Erkenntnis geholfen, dass er Medikamente – und insbesondere wohl Antibiotika – nicht sonderlich gut vertrug. Hatten ihn die Schmerzmittel nur benebelt und müde gemacht, so hatten ihn die zusätzlichen Antibiotika mehrere Tage lang fast komplett außer Gefecht gesetzt. Vermutlich hatte auch das Fieber und die Kombination von beiden Medikamenten seinen Teil dazu beigetragen, so genau konnte er das nicht sagen, aber Fakt war, dass er tage- und nächtelang mehr oder weniger durchgeschlafen hatte, mit kurzen Unterbrechungen, an die er sich kaum erinnern konnte. Er hatte wirre Dinge geträumt, an die er sich glücklicherweise auch kaum erinnern konnte. Als die Entzündung und das Fieber endlich zurück gingen und er in der Lage war, seine Umgebung wieder deutlicher und bewusster wahrzunehmen, dauerte es trotzdem noch einige Zeit, bis er wieder verinnerlicht hatte, wo er war und warum. An den Vorfall auf dem Friedhof konnte sich Tsubasa jedoch paradoxerweise recht schnell und gut erinnern. Taros Anruf hatte ihn – wie konnte es auch anders sein – mehr oder weniger aus seinen Fieberträumen heraus gerissen und die Nachricht von der Begegnung seiner beiden Freunde mit Kenjis vermeintlichem Bruder hatte sich über eine Stunde lang in seinem Kopf festgesetzt, so dass es lange gedauert hatte, bis er wieder eingeschlafen war. Ob seine Freunde später noch einmal versucht hatten, ihn zu erreichen, wusste er nicht. Sein Vater hatte das Handy kurzerhand konfisziert, damit so etwas nicht noch einmal passierte, außerdem musste es eh noch zur Polizei für die kriminaltechnische Untersuchung der Mailbox-Nachrichten, so dass Tsubasa es erst kurz vor seiner Entlassung zurück bekam. Wie erwartet blieb die Untersuchung jedoch ohne besondere Ergebnisse. Kenji war es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht, aber wer stattdessen angerufen hatte, ließ sich ohne einen Verdächtigen für einen Stimmabgleich nicht ermitteln. Ganz zu schweigen von der Frage, wie der Unbekannte an Tsubasas Nummer gekommen war. Immerhin hatte eine genauere Recherche ergeben, dass Kenji in der Tat einen zwei Jahre älteren Bruder gehabt hatte, der allerdings vor mehreren Jahren ins Ausland gegangen war. Mehr hatten die Beamten noch nicht ermitteln können, sehr zu Kojiros Ungeduld. Seine Freunde durften ihn weiterhin nur sporadisch besuchen, meistens kam nur Taro vorbei und hielt ihn über die Entwicklungen außerhalb des Krankenhauses auf dem Laufenden. Allerdings gab es da nicht viel zu berichten. Kojiro hatte sich nach wie vor in den Kopf gesetzt, den Typen persönlich in die Hände zu kriegen, verbrachte die meiste Zeit auf Patrouillengängen auf dem Krankenhausgelände und beäugte jeden roten Opel, der auf dem Parkplatz abgestellt wurde, kritisch. Die anderen unterstützten ihn nach Möglichkeit, ohne sich jedoch große Hoffnungen zu machen. In der Tat war es verdächtig ruhig. Seit dem Zwischenfall auf dem Friedhof war nichts mehr passiert. Keine Anrufe, keine Briefe, kein Versuch, irgendwie an den im Krankenhaus stationierten Polizisten vorbei zu kommen, und auch in Brasilien passierte offenbar nichts nennenswertes, zumindest versuchte auch Roberto nicht, Tsubasa zu erreichen. Tsubasa vermied es, zu sehr darüber nachzudenken, genauso wenig wie er auch die Frage verdrängte, ob tatsächlich Kenjis Bruder dahinter stecken könnte. Ob er überhaupt einen Bruder hatte. Ob er womöglich noch einmal Sanae, seine Familie oder seine Freunde angreifen könnte. Wenn er zu viel darüber nachdachte, kamen die Träume wieder, gefolgt von Kenjis Rasierwasser-Duft. Die Erinnerung an den Traum, als er plötzlich vor ihm gestanden und ihm die Pistole auf den Bauch gedrückt hatte, fühlte sich immer noch deutlich lebendiger an, als ihm lieb war. Umso erleichterter war er, dass er sich an die anderen Fieberträume kaum bzw. nur verschwommen erinnern konnte.

Als er schließlich nach den zwei Wochen auf Krücken gestützt das Krankenhaus wieder verlassen durfte, hatte die Polizei die Bewachung bereits wieder abziehen müssen. Das Risiko, dass etwas passierte, schwand mit jedem Tag, und man konnte es sich schlichtweg nicht leisten, „Personal zu verschwenden“. Herr Ozora war bei dieser Aussage beinahe vor Wut explodiert, aber es half nichts. Tsubasa dachte auch darüber nicht zu viel nach. Dr. Kimura hatte ihm eingeschärft, sich die nächsten Wochen unbedingt noch zu schonen und alle 3-4 Tage zur Kontrolle vorbei zu kommen. Eigentlich waren keine weiteren Komplikationen zu erwarten, die Wunde verheilte gut und Fieber sowie Entzündung waren abgeklungen, aber im Hinblick auf Tsubasas weitere berufliche Laufbahn war Vorsicht besser als Nachsicht. Tsubasa wehrte sich nicht großartig, seine einzige Bedingung war, dass er weiterhin regelmäßig bei Sanae sein konnte. Auch bei ihr waren einige der Verletzungen bereits fast komplett ausgeheilt und die ersten Verbände durch große Pflaster ersetzt, aber ihr Zustand war ansonsten immer noch unverändert. Dass sie selbstständig atmete, war ein gutes Zeichen, und ein einziges Mal hatte Tsubasa gespürt, dass ihre Finger in seiner Hand kurz gezuckt hatten, aber der Moment war so schnell vorbei gewesen, dass er sich rückblickend nicht mehr sicher war, ob er sich alles nur eingebildet hatte. Die Ärzte zeigten sich jedoch vorsichtig optimistisch. Sämtliche Werte waren stabil oder zeigten eine Tendenz zur Verbesserung. Allerdings änderte das nichts daran, dass sie die Augen nicht öffnete und still und bleich in den weißen Laken lag….

Sich zu schonen fiel Tsubasa ausnahmsweise nicht schwer. Obwohl er sich an die Krücken recht schnell gewöhnte, kostete ihn jede Bewegung gerade in den ersten Tagen nach seiner Entlassung sehr viel Kraft. Die ganze Sache hatte ihn offensichtlich mehr geschwächt, als er vermutet hatte. Und auch als das Schwächegefühl nach einiger Zeit wieder besser wurde, musste er sehr schnell feststellen, dass eine einzige falsche oder unvorsichtige Bewegung sich immer noch auf sehr unangenehme Art und Weise bemerkbar machen konnte, insbesondere, wenn die Schmerzmittel nachließen, die Dr. Kimura ihm immer noch verschrieben hatte. Immerhin hatte er sich soweit an sie gewöhnt, dass sie ihn nicht mehr zwangsweise für mehrere Stunden benebelten. Folglich verbrachte er seine Zeit hauptsächlich zuhause auf dem Sofa, und Daichi sorgte dafür, dass ihm nicht langweilig wurde. Sein kleiner Bruder hatte nicht jeden Tag mit ins Krankenhaus kommen dürfen, und umso größer war jetzt seine Freude, dass Tsubasa wieder zuhause war. Bei jeder Gelegenheit suchte er seine Nähe und kletterte zu ihm auf die Couch, falls ihn niemand schnell genug zu fassen bekam. Ein einziges Mal, als ihrer beider Eltern abgelenkt gewesen waren und Tsubasa über einem ziemlich langweiligen Fernsehprogramm weggedöst war, war Daichi bei der Kletteraktion gestolpert und mehr oder weniger auf Tsubasas verletztem Bein gelandet, was Tsubasa wiederum – vorsichtig ausgedrückt – etwas abrupt geweckt hatte. Zum Glück hatte das ganze keinen größeren Schaden hinterlassen, und Daichi schien seine Lektion erstaunlicherweise ebenfalls gelernt zu haben: Seit dem Vorfall ließ er sich jedes Mal von seinen Eltern oder Tsubasa selbst nach oben helfen - was die Häufigkeit, in der er darum bettelte, ebenfalls auf das Sofa zu dürfen, allerdings in keiner Weise verminderte. Tsubasa musste sich zu seiner eigenen Verwunderung eingestehen, dass er sich nicht nur an den kleinen Kerl gewöhnt hatte, sondern dass er sich häufig sogar über die Nähe zu seinem kleinen Bruder freute. Daichi ließ ihm kaum Zeit für dunkle Gedanken. Er schleppte ständig neue Bücher an, die er anschauen oder aus denen er vorgelesen bekommen wollte, ganz zu schweigen von dem kleinen Knautschfußball, der immer noch sein liebstes Spielzeug zu sein schien. Anfangs hatte der Anblick von Sanaes Geschenk Tsubasa immer noch einen kleinen Stich versetzt, aber Daichi zeigte jedes Mal so offensichtliche Freude und Begeisterung, wenn er dem Ball hinterherjagte, dass er irgendwann nicht mehr anders konnte, als ebenfalls darüber zu lachen. Sanae hätte das gefallen. Und wieder einmal kam es ihm rückblickend so vor, als wären die paar Tage nach seiner Entlassung die Ruhe vor dem Sturm gewesen. Bis zu dem Tag, an dem seine Eltern das erste Mal seit Wochen am frühen Abend gemeinsam das Haus verließen.
 

***
 

„Und du bist wirklich sicher, dass wir euch zwei allein lassen können?“, fragte seine Mutter bestimmt zum zwanzigsten Mal, und wie die Male davor nickte Tsubasa.

„Klar.“

Daichi saß wie so häufig neben ihm auf dem Sofa, plapperte vergnügt vor sich hin und machte sich einen Spaß daraus, seine kleine Hand immer wieder gegen Tsubasas zu klatschen. High Five in Endlosschleife….. Es gab schlimmeres.

„Wir sind maximal zwei bis drei Stunden weg.“, meinte nun Herr Ozora, und Tsubasa nickte wieder, ohne seine Hand wegzuziehen.

„Ja, macht euch keine Gedanken. Daichi wird eh schon schlafen, wenn ihr geht, und ich bleibe hier einfach sitzen und lese.“

Seine Mutter war immer noch nicht beruhigt. „Sieh zu, dass du dein Handy in Griffweite hast, falls etwas sein sollte. Und die Schmerztabletten….“ Sie brach ab und blickte dann wieder zu ihrem Mann. „Wir könnten auch immer noch absagen. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.“

„Von wegen, ihr sagt nicht ab.“, meinte Tsubasa, immer noch ohne Daichi bei seinem Spiel zu stören. „Das ist eure erste Einladung seit Wochen. Wir kommen alleine klar. Und wenn Daichi aufwacht und rumgetragen werden muss oder sonst was sein sollte, kann ich mir ja Hilfe holen.“

Es war seiner Mutter anzusehen, dass das ihre geringste Sorge war, und auch sein Vater sah nicht völlig überzeugt aus.

„Außerdem habe ich den starken Verdacht, dass ich nachher auch noch Besuch bekomme.“, redete Tsubasa weiter, ohne auf die besorgten Mienen seiner Eltern einzugehen. „Ich glaube, dass mindestens Kojiro noch hier auftaucht. Wundert mich eh, dass er noch nicht hier war und sich mit kurzen Anrufen begnügt hat.“

Als weder seine Mutter noch sein Vater etwas sagten, blickte Tsubasa zu ihnen auf und unterdrückte ein Seufzen.

„Würde es euch beruhigen, wenn ich jemanden anrufe und direkt nachfrage, ob jemand vorbei kommt?“

Das schien sie in der Tat etwas zu beruhigen, wenn auch nicht vollständig. Aber der Anruf erübrigte sich. Keine fünfzehn Minuten später klingelte es an der Tür. Sein Vater öffnete, und Tsubasa unterdrückte ein Lächeln, als er die Stimmen von Taro und Kojiro im Gang hörte. Kurze Zeit später standen die beiden bereits im Wohnzimmer, während seine Mutter, die sich bemühte, ihre Erleichterung nicht allzu offensichtlich zu machen, mit einem unglücklichen Daichi im Kinderzimmer verschwand, um ihn bettfertig zu machen. So aufgekratzt, wie der Kleine gewesen war, konnte es eine Weile dauern, bis sie ihn zum Schlafen brachte.

„Du siehst schon wieder deutlich besser aus.“, stellte Kojiro anstelle einer Begrüßung fest und machte es sich augenblicklich in einem der Sessel bequem. „Hast beinahe wieder Farbe.“

„Na besten Dank….“

Taro rollte leicht mit den Augen. „Er hat sich immer noch Sorgen gemcaht, weil wir noch keine Gelegenheit hatten, dich zu besuchen, seit du entlassen bist.“, übersetzte er Kojiros Aussage. „Und er ist sehr erleichtert, dass es dir besser geht. Tut es doch, oder?“ Er setzte sich ebenfalls, und Tsubasa nickte.

„Ja, es wird schon. Die Schmerztabletten werden mir noch eine Weile erhalten bleiben und Laufen ist auch mit den Krücken noch nicht so wirklich toll, aber das Fieber ist weg. Habe ich euch ja auch schon am Telefon gesagt, wobei ich mir schon gedacht habe, dass ihr mir das nicht glaubt, bis ihr euch selbst davon überzeugt habt.“

Während Taro leicht verlegen drein blickte, verschränkte Kojiro nur die Arme vor der Brust. „Na, bei deiner Vorgeschichte dürfte dich das ja auch nicht sonderlich überraschen, oder?“

„Nein, hat es auch nicht.“ Tsubasa lächelte leicht. „Aber wie gesagt, es wird. Ihr müsst euch keine Sorgen mehr machen.“

„Zumindest eine Baustelle weniger. Was sagt der Arzt, wie lange dauert es, bis du wieder ganz fit bist?“

Tsubasa zuckte mit den Schultern. „Vermutlich ein paar Wochen, so genau wollte er sich nicht festlegen.“

Kojiro nickte. „Ist eh kein Fehler, wenn du dich die nächste Zeit noch bedeckt hältst und zuhause bleibst. Die Pressemeldung wurde ja immer noch dementiert, und je länger alle glauben, dass du nie wieder spielen kannst, umso besser. Ich glaube immer noch nicht, dass der Mistkerl aufgegeben hat. Es ist immer noch nichts Neues passiert die letzte Zeit?“

„Nein. Bei euch?“

Taro und Kojiro schüttelten gleichzeitig die Köpfe. „Nein. Alles ruhig.“

Sie wurden unterbrochen, als Tsubasas Vater mit Getränken den Raum betrat. „Wir sind dann weg, sobald Daichi schläft.“, wandte er sich direkt an seinen Sohn. „Denk daran, wenn irgendetwas sein sollte…“

„Ja, schon klar.“

Herr Ozora nickte nur. Nachdem er den Raum verlassen hatte, fühlte Tsubasa die fragenden Blicke von seinen Freunden auf sich ruhen.

„Meine Eltern sind bei Bekannten auf einer Geburtstagsfeier eingeladen. Sie wollten erst nicht hin, gehen jetzt aber doch. Es bringt ja nichts, wenn sie auch die ganze Zeit hier rum sitzen. Ich laufe ihnen definitiv nicht weg und werde auch niemanden ins Haus lassen, insofern….“

Taro runzelte leicht die Stirn. „Na ja, dass sie sich Sorgen machen kann man nach den letzten Wochen ja verstehen. Finde es aber trotzdem auch gut, wenn sie gehen, glaube ich. Irgendwann muss es ja wieder etwas normaler werden, das alles….“

„Umso besser, das wir vorbei gekommen sind.“, meinte Kojiro ernst, ohne auf Taros letzte Bemerkung einzugehen. „Bis jetzt war der Typ immer bestens informiert und hat genau dann zugeschlagen, wenn du alleine warst….“

Er brach ab, als er einen ziemlich unsanften Rippenstoß von Taro erntete.

„Hör auf, schon wieder damit anzufangen. Das bringt nichts!“

„Außerdem war ich am Strand nicht allein.“, rief ihnen Tsubasa ins Gedächtnis.

„Trotzdem hat dich der Typ beobachtet und wusste ganz genau, wann er dich am besten erwischt.“, beharrte Kojiro. „Und darum bleiben wir hier, basta!“ Er grinste unwillkürlich. „Genau genommen gibt es nichts, was du dagegen tun kannst.“

Tsubasa blinzelte ihn ein paar Sekunden perplex an, dann musste er selber ein Lächeln unterdrücken und schüttelte den Kopf. „Wer hat denn gesagt, dass ich etwas dagegen tun will?“

Kojiro nickte zufrieden, und auch Taro war erleichtert. Genau genommen tat es unheimlich gut, zu sehen, dass es Tsubasa in der Tat wieder besser ging. Mal ganz abgesehen von der Geschichte mit der Verletzung und dem Fieber war er auch bei weitem nicht mehr so verschlossen und in sich gekehrt wie vor dem Krankenhausaufenthalt, das hatte Taro insgeheim am meisten Sorgen gemacht. Anscheinend hatte ihm die unfreiwillige Ruhephase ironischerweise gut getan. Für einen Außenstehenden wirkte er bis auf wenige Augenblicke beinahe wieder normal, wobei Taro trotzdem das Gefühl hatte, jede Sekunde, die seine Gedanken zu Sanae ins Krankenhaus drifteten, in seinen Augen ablesen zu können.

„So, dann wäre das ja geklärt.“, riss ihn Kojiro aus seinen Überlegungen. „Bleibt die Frage, was wir den Abend über jetzt anstellen. Hast du irgendwelche guten Filme da, Tsubasa?“

„Keine Ahnung, was du unter „gut“ verstehst. Sieh im Regal nach, direkt hinter dir…. Gehören alle meinen Eltern, meine sind in Sao Paolo.“

„Gibt’s denn aus Brasilien irgendwas neues?“, wollte Taro wissen, während Kojiro aufstand und die Filmtitel zu mustern begann.

„Nein, zumindest nichts offizielles. Roberto hat sich vorgestern kurz gemeldet und gemeint, dass er die Lage soweit unter Kontrolle hat, es sind keine neuen angeblichen Briefe von mir angekommen, obwohl der Typ mittlerweile gemerkt haben dürfte, dass es nicht geklappt hat. Und ein paar Leute aus der Mannschaft haben auch angerufen, allerdings alle auf der Mailbox, als ich noch im Krankenhaus war und die Polizei mein Handy untersucht hat. Ich nehme an, dass Roberto ihnen sagt, dass es mir soweit wieder besser geht, auch ohne die Pressemeldung zu untergraben. Ich muss sie aber trotzdem noch zurück rufen bei Gelegenheit….“

„Okay.“ Taro zögerte kurz. „Und….. Sanae…?“

„Ich war gestern da, nach der Kontroll-Untersuchung. Alles unverändert….“ Tsubasa verstummte, und auch Taro schwieg, bis Kojiro achselzuckend zurück kam und sich wieder in den Sessel setzte.

„Da ist nichts dabei, was ich nicht schon gesehen habe und noch mal sehen müsste. Alternativvorschläge?“

„Wie wäre es mit Kartenspielen?“, schlug Taro nach ein paar Sekunden Stille vor.

„Ach herrje.“ Tsubasa runzelte leicht die Stirn. „Ich glaube, ich kenne kein einziges Spiel mehr. Aber wenn ihr wollt… Ich glaube, in der Schublade in der Kommode da drüben liegen welche.“

„Ausgezeichnete Idee.“, meinte Kojiro zufrieden und stand erneut auf. „Jede Gelegenheit, uns miteinander zu messen, ist gut!“

„Uns miteinander zu messen? Meinst du das ernst?“

„Klar. Solange wir nicht auf dem Fußballplatz nicht entscheiden können, wer der bessere ist, müssen wir uns eben andere Gelegenheiten suchen.“

Kojiro kam mit den Karten zurück und grinste Tsubasa und Taro selbstbewusst an. „Habe ich erwähnt, dass ich kleine Geschwister habe und jahrelang ausgezeichnetes Training genossen habe?“

Tsubasa tauschte einen perplexen Blick mit Taro aus. „Der meint das wirklich ernst.“

„Ja, scheint so….“

„Na dann haben wir wohl keine andere Wahl…“

Spiele

Der Abend verlief zunächst sehr entspannt. Kojiro erwies sich als sehr guter Kartenspieler, Tsubasa dagegen weniger, aber das störte ihn nicht. Im Gegenteil: Kojiro dabei zuzusehen, wie er zwischen Siegesfreude und Frustration hin und her schwankte, entschädigte ihn voll und ganz. Taro entpuppte sich nämlich als hervorragender Kartenspieler und gewann jedes Mal haushoch.

„Das gibt’s doch nicht.“, meinte er entnervt und warf die Karten auf den Couchtisch - nach dem zehnten Spiel und Taros achtem Sieg in Folge. „Wie machst du das? Ich dachte, du kennst das Spiel nicht!“

„Tue ich auch nicht. Vermutlich hab ich einfach nur Glück.“

„Von wegen Glück!“, brummelte Kojiro. „Du schummelst doch!“

Taro hob beide Hände. „Durchsuch mich, wenn du willst.“

Kojiro sah einen Moment lang so aus, als würde er tatsächlich ernsthaft darüber nachdenken, dann schüttelte er immer noch brummelnd den Kopf. Taro grinste und stand dann auf.

„Ich sehe noch mal nach Daichi. Solange kannst du entscheiden, ob du ein neuntes Mal verlieren willst.“

„Der schummelt! Zu hundert Prozent!“, wiederholte Kojiro, während Taro den Raum in Richtung Kinderzimmer verließ. „Du könntest mir ruhig helfen, Tsubasa!“

Tsubasa unterdrückte ein Lächeln und schüttelte den Kopf. „Sorry, ich halte mich da komplett raus. Leb damit.“

„Leb damit.“, wiederholte Kojiro mürrisch. „So dankst du mir also, ja? Erinner mich wenigstens dran, das ich Taro nie mit meinen Geschwistern bekannt mache! Wenn er ihnen erzählt, wie er mich heute Abend über den Tisch gezogen hat, kriege ich das mein Leben lang zu hören!“

„Das lässt sich einrichten, denke ich.“ Tsubasa veränderte seine Sitzposition etwas und wandte den Kopf, als Taro zurückkam.

„Alles bestens, schläft wie ein Murmeltier.“, meinte er an Tsubasa gewandt, während er sich wieder setzte. Er hatte die Aufgabe übernommen, in etwa alle halbe Stunde nach Daichi zu sehen, um Tsubasa das ständige Aufstehen und Herumlaufen zu ersparen. „Allzu lange werden deine Eltern vermutlich auch nicht mehr weg sein, oder? Ist ja schon fast neun.“

„Ja, denke auch dass sie bald wieder da sind. Wobei ich hoffe, dass sie den Abend wenigstens ein bisschen genießen.“

„Wir bleiben auf jeden Fall so lange hier, bis sie wieder da sind!“, meinte Kojiro entschieden. „Solange hab ich noch Zeit, aufzuholen! Revanche, Taro, sofort!“

Taro zog eine Augenbraue nach oben. „Niederlage Nummer 9 also? Dir ist schon klar, dass du das nie im Leben aufholst, oder?“

„Sieg Nummer 3!“ Kojiro griff erneut nach den Spielkarten und mischte sie gründlich durch. „Und bis Tsubasas Eltern wieder da sind, ist alles offen! Hat Tsubasa doch auch immer wieder gesagt, oder? Bis zum Schlusspfiff….“

Tsubasa lächelte und schüttelte leicht den Kopf. „Bist du irgendwann mal geistig nicht auf dem Fußballplatz?“

„Selten. Genau wie du.“

„Ich glaube, wie wir alle.“, meinte Taro mit einem leichten Grinsen. „Na dann, Sieg Nummer 9. Oder Niederlage Nummer 3. Je nach Blickwinkel….“

Noch während Kojiro Taro finster anblickte und den Mund öffnete, um eine entsprechende Antwort zurückzugeben, summte Tsubasas Handy. Gleichzeitig war aus der Küche ein lautes Klirren zu hören. Alle drei erstarrten.

„Ich geh nachsehen!“, meinte Kojiro schließlich , bevor er die Karten auf den Tisch legte und aufstand. „Ihr bleibt hier, klar?“

Er verließ den Raum, und auch Taro erhob sich, rührte sich ansonsten jedoch nicht vom Fleck. Es dauerte einige Minuten, bis Kojiro zurückkam. Er hatte ein kleines braunes Bündel in der Hand und sah wütend aus. Tsubasa erkannte schon von weitem, was das bedeutete, und ihm wurde leicht übel.

„Der Typ hat wieder ein Fenster eingeworfen?“

„Ja.“ Kojiro legte den wieder gut faustgroßen Stein auf den Tisch, der erneut mit Papier eingeschlagen war. „Ich bin raus und hab ihn gesucht, aber er war schon über alle Berge.“, meinte er finster. „Sein Glück!“

„Wir sollten die Polizei…“, setzte Taro an, aber Kojiro unterbrach ihn.

„Das bringt nichts, der Typ ist weg!“

„Trotzdem….“

„Die Polizei ist absolut nutzlos! Wir haben ihr die Patronenhülse organisiert, was hat es gebracht? Gar nichts! Wir haben ihnen Kenjis Bruder auf dem Silbertablett gereicht, und was ist das Ergebnis? Gar nichts! Sie finden weder ihn, noch finden sie den Opel, noch tun sie sonst irgendwas! Sie machen gar nichts!“

Kojiro redete sich immer weiter in Rage, aber Tsubasa hörte ihm nicht zu. Er starrte den Stein auf dem Tisch an, und griff schließlich unbemerkt von seinen Freunden danach. Taro und Kojiro wurden erst auf ihn aufmerksam, als er das Papier bereits auseinander faltete.

„Was machst du denn da? Du solltest das nicht lesen, damit machst du genau, was er will!“, setzte Kojiro an, aber dieses Mal war es Tsubasa, der ihn unterbrach.

„Ich hab ihn vor Sanaes Unfall ignoriert, den Fehler mache ich kein zweites Mal.“

Damit strich er das Papier glatt und warf einen Blick darauf.
 

Miss him already?
 

„Miss him already?”, meinte Taro verwirrt und immer noch etwas geschockt, als er ihm über die Schulter blickte. „Wen meint er?“

Das war eine verdammt gute Frage. Tsubasas Gedanken rasten. Die Übelkeit wurde stärker, aber er ignorierte sie, während er unwillkürlich eine geistige Liste durchging. Es fiel ihm schwer sich zu konzentrieren, und dass sich ständig eine andere Botschaft vor sein inneres Auge schob, machte das Ganze nicht unbedingt besser. You will miss her…. Wer war dieses Mal gemeint? Sein Vater? Jemand aus der Fußballmannschaft? Oder….

„Wir müssen sofort die ganze Telefon-Liste abklappern.“, meinte Kojiro immer noch wütend und auch etwas besorgt. „Wenn es jetzt jemand von den Anderen erwischt hat….“

„Vielleicht ist es auch nur eine Warnung, so wie letztes Mal….“, entgegnete Taro unsicher, klang aber selber nicht ganz überzeugt. Dann stockte er und blickte Tsubasa an, der nach seinen Krücken griff und aufzustehen versuchte. Es fiel ihm noch schwerer als sonst, er wirkte mit einem Mal sehr bleich.

„Was hast du vor?“, wollte Taro leicht besorgt wissen und packte ihn am Arm – ob er Tsubasa am Aufstehen hindern oder ihm helfen wollte, konnte er im Moment selbst nicht sagen.

„Daichi….“

Mehr musste Tsubasa nicht sagen. Kojiro verstand augenblicklich, während Taro noch ein paar Sekunden brauchte, um zu verarbeiten, was Tsubasa andeuten wollte.

„Oh scheiße….“

Kojiro riss die Wohnzimmertür auf und stürmte aus dem Raum. Nach einigen Sekunden kam er zurück, nun ebenfalls kreidebleich. Tsubasa hatte das Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen, trotzdem befreite er sich aus Taros Griff und machte sich ebenfalls auf den Weg ins Kinderzimmer, Taros und Kojiros Proteste ignorierend. Schließlich verstummten sie. Tsubasa achtete nicht darauf, ob sie ihm folgten oder nicht, er hielt den Blick starr auf die offen stehende Tür zu Daichis Zimmer gerichtet. Als er den Raum betrat, erwarteten ihn ein offen stehendes Fenster und ein leeres Gitterbett. Von Daichi keine Spur…. Sein kleiner Bruder war weg.

Vermisst

Tsubasa wusste nicht, wie lange er auf Daichis leeres Bett starrte. Dass Taro und Kojiro ihm doch gefolgt waren, merkte er erst, als die Beiden wieder zu reden begannen.

„Ich verstehe das nicht.“, meinte Taro geschockt. „Wie…. Ich meine… Ich war doch vor ein paar Minuten noch hier, und alles war in Ordnung…. Das Fenster war auch zu, da bin ich mir sicher!“

„Fenster kann man manipulieren oder aufbrechen.“, antwortete Kojiro finster. „Vermutlich hat er den Stein geworfen, um uns abzulenken….“

„Aber….“ Taro brach hilflos ab, und auch Tsubasa sagte nichts. Seine Gedanken rasten immer noch, gleichzeitig war sein Kopf wie leer gefegt. Er hatte keine Ahnung, was er sagen oder tun sollte. Daichi war weg. Das Bett war leer bis auf die dunkelblaue Fleece-Decke, die seine Mutter erst letzte Woche gekauft hatte. Der kleine Fußball lag vor dem Bett auf dem Boden. Sanaes Geschenk. You will miss her…. Miss him already….

„Tsubasa?“ Taro fasste ihn erneut am Arm, aber Tsubasa reagierte nicht darauf, stattdessen glitt sein Blick von dem leeren Gitterbett und dem Fußball hin zum offenen Fenster.

You will miss her…miss him already….

Seinetwegen…. Das passierte alles nur seinetwegen. Erst Sanae, jetzt Daichi.

You will miss her…. Miss him already…

Mit einem Mal wurde die Umgebung seltsam schief. Taros Griff um seinen Arm verstärkte sich.

„Kojiro…..“

Kojiro, der mittlerweile zum offenstehenden Fenster hinüber gegangen war und den Rahmen genauer inspizierte, wandte sich um und erfasste die Situation sofort. Mit wenigen Schritten hatte er das Zimmer wieder durchquert und packte Tsubasas anderen Arm.

„Schön ruhig bleiben, in Ordnung?“, meinte er leise, aber bestimmt. „Wir gehen jetzt zurück ins Wohnzimmer, du setzt dich wieder hin, und dann überlegen wir, was wir unternehmen können.“

Tsubasa sagte immer noch nichts, aber er wehrte sich auch nicht, als seine Freunde ihm die Krücken aus der Hand nahmen, sich stattdessen seine Arme um die Schultern legten und ihm auf diese Art zurück ins Wohnzimmer halfen. Nur wenige Augenblicke später saß er wieder auf der Couch und starrte den Stein auf dem Tisch an. Taro und Kojiro mussten ihn noch zwei weitere Male ansprechen, bis er wieder reagierte. Er blinzelte.

„Ich…. Tut mir leid.“

Seine Freunde musterten ihn ernst. „Geht’s wieder?“

„Ja.“ Tsubasa rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Kurzschlusss…. Oder so….“

Taro und Kojiro musterten ihn ein paar Sekunden lang stumm, dann setzten sie sich ebenfalls.

„Also.“, meinte Taro ernst. „Was machen wir? Polizei?“

„Das bringt nichts.“, antwortete Kojiro finster und schnitt Taro das Wort ab, als der zum Sprechen ansetzte.

„Ich weiß was du sagen willst, aber das hat nichts mit meiner persönlichen Meinung zu tun, obwohl ich dabei bleibe, dass die Polizei in dem Fall absolut nichts taugt. Wie dämlich kann man sein, und den Polizeischutz abziehen nach allem was passiert ist, obwohl der Typ immer noch auf freiem Fuß ist? Es geht mir um Daichi dieses Mal. Was meinst du, was sie noch verbocken, wenn wir sie jetzt dazu holen? Noch ist dem Kleinen vermutlich gar nichts passiert, wer weiß, ob das so bleibt, sobald die Polizei im Spiel ist.“

Noch. Vermutlich. Tsubasa rieb sich erneut mit den Händen über das Gesicht, spürte aber gleichzeitig, wie die Schockstarre immer weiter nachließ, langsam war er wieder in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.

„Wir suchen Daichi selbst.“, redete Kojiro weiter. „Und wenn wir ganz Nankatsu auf den Kopf stellen müssen.“

„Wenn er überhaupt noch hier ist.“, meinte Tsubasa leise. „Wenn der Typ wieder mit dem roten Opel da war, ist er vermutlich schon über alle Berge.“

„Trotzdem, wir müssen es versuchen. Oder hast du eine bessere Idee?“

„Wo wollt ihr anfangen zu suchen?“

Darauf wusste Kojiro keine Antwort, und kurze Zeit senkte sich Stille über das Wohnzimmer.

„Sollen….wir deinen Eltern Bescheid sagen?“, fragte Taro dann zögernd, und Tsubasa schüttelte den Kopf.

„Nein.“

„Sicher…?“

„Ja.“

Die Entscheidung war vermutlich dumm, aber die geschockten Gesichter seiner Eltern sehen zu müssen, war mehr als er im Moment aushalten konnte. Nur seinetwegen…

„Wir sollten auf jeden Fall die anderen dazu holen.“, redete Kojiro nach ein paar Sekunden weiter. „Zu dritt… also, eigentlich zu zweit, was das suchen angeht, erreichen wir überhaupt nichts.“

Die anderen dazu holen…. Tsubasas Blick fiel auf sein Handy, und mit einem Mal erinnerte er sich an das Summen, das er wegen der eingeschlagenen Scheibe und Daichis Verschwinden sofort wieder vergessen hatte. Eine SMS? Zeitgleich mit dem Stein…? Nach kurzem Zögern griff er danach. Tatsächlich eine SMS, Rufnummer unterdückt. Als er die Nachricht aufrief, erschien eine kurze Nachricht auf dem Display, gefolgt von einer Zahlenreihe. Alone. 1 hour. Nachdem er die Nachricht ein paar Sekunden lang angestarrt hatte, hob er wieder den Kopf. Taro und Kojiro waren immer noch am Diskutieren, wie man die anderen am schnellsten mobilisieren konnte, aber sie verstummten beide, als er ihnen das Handy hinhielt.

„Wir müssen nicht mehr suchen.“

„Was?“

Kojiro starrte ihn perplex an, dann nahm er ihm das Handy ab und warf einen Blick darauf. „Was soll das jetzt schon wieder? Ist die von…?“

„Vermutlich ja. Ich wüsste nicht von wem sonst.“

„Aber…. Was soll das?“, wiederholte jetzt auch Taro. „Was sind das für Zahlen?“

„Ich tippe auf Längen- und Breitengrade.“

„Was?!“

Für ein paar Augenblicke herrschte perplexes Schweigen, dann stand Kojiro auf. „Ihr habt einen Atlas hier irgendwo, oder?“

„Ja, hinten im Regal.“

Kojiro musste nicht lange suchen, wenige Sekunden später kehrte er mit dem großformatigen Atlas zurück und schlug ihn auf, während er immer wieder prüfende Blicke auf das Handy-Display warf. Nach gut fünf Minuten war er fündig geworden und schob den Atlas in die Mitte des Tisches, so dass auch Tsubasa und Taro die Karte sehen konnten.

„Ähm…“, meinte Taro zögernd. „Sieht das nur für mich so aus, oder ist das der neue Fußballplatz?“

„Zumindest ganz in der Nähe.“, bestätigte Kojiro. „So genau sieht man das hier nicht, aber es müsste in etwa hinkommen.“

Fußball. Immer wieder Fußball…. Wobei, falls wirklich Kenjis Bruder dahinter stecken sollte, überraschte das in diesem Fall nicht sonderlich.

„Damit ist klar, was wir jetzt machen.“, meinte Kojiro nach einer neuen kurzen Pause. „Wir trommeln die Anderen zusammen und fahren da hin. Sofort. Wenn wir uns beeilen, sind wir 30 Minuten da, das lässt uns eine gute halbe Stunde, um den Mistkerl eine Falle zu legen.“

Tsubasa schüttelte den Kopf und deutete wieder auf das Handy. „Kommt gar nicht in Frage. Er will, dass ich alleine komme. Wenn er euch sieht…“

„Er wird uns nicht sehen, wir kennen das Gelände besser als er. Und wenn wir gerade dabei sind, es wäre sowieso das Beste, wenn du nicht mitkommst und hier bleibst.“

Tsubasa starrte ihn an. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“

„Doch, mein voller Ernst.“ Kojiro erwiderte den Blick ungerührt. „Wir spielen nicht nach seinen Spielregeln. Wenn er dich auf dem Fußballplatz haben will, solltest du definitiv nicht dort sein! Wer weiß, was er für dich geplant hat. Eine Schussverletzung reicht. Mal ganz abgesehen davon, dass du eh noch nicht fit bist und nicht so viel laufen solltest.“

„Aber wenn ich nicht auftauche….“

„Bis er das merkt, ist es schon längst vorbei. Ich sehe definitiv keine andere Lösung….“

„Ich sehe definitiv keine andere Lösung.“ Kojiro suchte einen Zettel aus der Hosentasche und schrieb sich die Koordinaten ab, um hundertprozentig sicher zu sein. „Du bleibst hier, Tsubasa. Überlass das uns, wir holen Daichi zurück und erteilen dem Typen nebenbei noch eine Lektion, die er sein ganzes Leben nicht mehr vergessen wird. Und danach holen wir die Polizei.“

Tsubasa schüttelte den Kopf, langsam wurde er wütend. „Das kommt überhaupt nicht in Frage, du kannst nicht…“

„Und ob ich kann!“

Kojiro ignorierte ihn und wandte sich an Taro. „Du bleibst besser auch hier, nur zur Sicherheit. Ruf Izawa, Ryo, Taki und Kisugi an. Ich übernehme den Rest. Wir treffen uns in einer halben Stunde auf dem Fußballplatz, und sie sollen sich beeilen!“

Taro blickte ihn perplex an, überrumpelt von der Geschwindigkeit, in der sich das alles entwickelte. „Ähm…okay, aber…“

„Wir haben keine Zeit für weitere Diskussionen, mach es einfach.“

„Ich bleibe auf gar keinen Fall hier!“ Tsubasa griff nach den Krücken und versuchte aufzustehen, aber Kojiro packte ihn kurzerhand an den Schultern, drückte ihn wieder nicht gerade behutsam wieder zurück und nahm ihm die Krücken aus der Hand.

„Und ob du hier bleibst! Ich sorge dafür, dass du gar keine andere Wahl hast!“

Damit wandte er sich zum Gehen und nahm die Krücken kurzerhand mit. Taro war so perplex, dass er ihm nur mit offenen Augen und Mund hinterher starrte, Tsubasa dagegen wurde nun richtig wütend.

„Hey! Spinnst du? Komm sofort zurück!“

Kojiro dachte gar nicht daran. Anstelle einer Antwort fiel die Haustür ins Schloss, kurze Zeit später startete ein Motor. Kojiro war weg.

Köder

Köder
 

Gute fünfzehn Minuten waren seit Kojiros überhastetem Aufbruch vergangen. Taro hatte sich in die Küche zurückgezogen und versuchte, die ihm aufgetragenen Anrufe zu erledigen, was sich aber als nicht so einfach herausstellte. Mal abgesehen davon, dass er Ryo und Izawa gleich mehrfach anrufen musste, weil sie bei den ersten Versuchen nicht ans Handy gingen, erwies es sich als recht schwierig, ihre Aufregung und ihre Fragen soweit wieder einzudämmen, dass sie sich ohne weitere Diskussionen auf den Weg zum neuen Fußballplatz machten. Als er endlich wieder ins Wohnzimmer kam, fühlte er sich auf eine seltsame Art erschlagen, mal ganz abgesehen von dem mulmigen Gefühl, ob Kojiros Plan wirklich so eine gute Idee gewesen war. Tsubasa saß nach wie vor auf dem Sofa – er hatte ja keine andere Wahl – und ein kurzer Blick auf ihn genügte, um deutlich zu machen, dass seine Wut sich keinesfalls verflüchtigt hatte.

„Kojiro hat es nur gut gemeint.“, meinte Taro zum wiederholten Male, während er sich setzte.

„Darum geht es nicht! Er hat kein Recht, dass alleine zu entscheiden.“

Das war dieselbe Antwort wie die Male zuvor. Taro seufzte und sagte nichts mehr, an Tsubasas Stelle ginge es ihm vermutlich auch nicht anders. Genau genommen, ging es ihm auch jetzt nicht wirklich anders. Wahrscheinlich fiel es ihm deswegen auch so schwer, Argumente für Kojiros Handeln zu finden – abgesehen von „Er hat es nur gut gemeint“. Immerhin war er genauso überrumpelt worden wie Tsubasa. Sein Blick fiel auf den Wohnzimmertisch und er runzelte leicht die Stirn. Auf der Tischplatte lag ein leeres Tablettenröhrchen, das vorher definitiv noch nicht dagewesen war.

„Hast du Schmerzmittel genommen? Hast du Probleme mit deinem Bein?“

„Ja und nein. Rein vorbeugend – ich will mich wenigstens halbwegs bewegen können. Dank Kojiro würde ich das ohne Betäubung im Moment kaum schaffen, und der Gedanke, hier festzusitzen, ist auch so schon schlimm genug.“

Das beruhigte Taro natürlich keineswegs. „Okay…. Aber ich hoffe, du planst keine Dummheiten?“

Tsubasa lächelte bitter. „Was denn? So was wie „im Alleingang zum Fußballplatz gehen“, oder wie? Keine Sorge, das schaffe ich auch mit den Schmerzmitteln nicht. Und du wirst mir wohl kaum helfen, oder? Ist ja gegen Kojiros Anordnung.“

„Jetzt wirst du unfair. Ich kann nichts dafür, dass er so überstürzt aufgebrochen ist und uns hier sitzen gelassen hat, und selbst wenn ich wollte, könnte ich uns nicht zum Fußballplatz bringen, ich habe kein Auto und kann so schnell auch keins organisieren.“

Kurze Zeit herrschte Schweigen, dann seufzte Tsubasa und fuhr sich kurz mit den Händen über das Gesicht. „Ich weiß. Tut mir leid.“

„Schon gut.“ Taro schwieg kurz, dann redete er weiter. „Mach dir um Daichi keine Sorgen, die Anderen tun sicher nichts, was ihn gefährdet. Und Kojiro hat immerhin insofern recht, dass es viel zu gefährlich ist, wenn du den Anweisungen von diesem Irren folgst, wer weiß, was er plant.“ Er zögerte. „Wir könnten höchstens wirklich versuchen, die Polizei hinterherzuschicken oder wenigstens deine Eltern doch noch anzurufen….“

Tsubasa schüttelte den Kopf. „Dazu ist es jetzt auch schon zu spät. Meine Eltern würden wahnsinnig werden vor Sorge, und machen können sie auch nichts…. Außer eben die Polizei holen, und das ist für Daichi viel zu gefährlich….“

„Sie könnten auch hinfahren….“

„Und was dann? Noch mehr Leute, die da eigentlich nicht sein sollten, und nur ich, der eigentlich da sein sollte, bin nicht da, und meine Eltern werden auch sicher den Teufel tun und das ändern.“

Taro seufzte wieder und schwieg. Es war sinnlos, mit dieser Diskussion drehten sie sich nur im Kreis. Schließlich deutete er auf das Tablettenröhrchen.

„Wie viele?“

„Drei.“

Auf Taros leicht geschockten Gesichtsausdruck hin lächelte Tsubasa schwach. „Keine Sorge, bis zu drei sind erlaubt. Und mittlerweile vertrage ich sie auch ganz gut.“

Das stimmte nicht ganz. Bis zu drei Tabletten waren zwar erlaubt, allerdings pro Tag. Tsubasa wusste nicht, ob drei auf einmal schädlich sein konnten oder nicht, Dr. Sudo hatte in der Hinsicht nichts erwähnt, aber vermutlich war er auch nicht auf die Idee gekommen, dass Tsubasa drei auf einmal brauchte. Im Moment war ihm das aber auch herzlich egal. Was zählte, war, dass er sich im Notfall zumindest halbwegs auf den Beinen halten konnte. Auf der Couch rumsitzen zu müssen und sich gar nicht großartig rühren zu können, gefiel ihm absolut nicht.

Taro runzelte leicht die Stirn und Tsubasa hatte den Verdacht, dass das Thema noch nicht erledigt war, aber genau in diesem Moment klirrte es wieder laut und vernehmlich. Dieses Mal kam es aus dem zweiten Stock.

„Was?“ Taro blickte leicht verunsichert nach oben zur Decke, und Tsubasa folgte seinem Beispiel. Stille senkte sich über das Wohnzimmer, keiner der beiden sagte etwas. Auch oben blieb es ruhig.

„Ich….glaube, das kam aus deinem Zimmer, oder?“, fragte Taro schließlich leise, und Tsubasa nickte.

„Ja, möglich….“

Genau genommen, wahrscheinlich….

Taro räusperte sich kurz und stand auf. „Ich glaube, ich sollte nachsehen, oder?“

Seinem Tonfall zu urteilen gefiel ihm das nicht. Und Tsubasa genauso wenig, aus irgendeinem Grund behagte es ihm nicht, seinen Freund allein nach oben gehen zu lassen, aber es half nichts…. Wieder kroch Wut auf Kojiro in ihm hoch. Wenn er wenigstens seine Krücken hätte… Unwillkürlich ballten sich seine Hände zu Fäusten, aber er zwang sich, sie sofort wieder zu entspannen. Wahrscheinlich reagierten sie jetzt eh beide über. Das einzige, was Taro vorfinden würde, war ein Stein auf dem Teppichboden, genau wie immer. Aber trotzdem….

„Sei vorsichtig, in Ordnung?“

„Klar.“ Taro zwang sich zu einem Lächeln und nahm sein Handy vom Tisch. „Ich bin in einer Minute wieder da.“

Damit verließ er das Wohnzimmer und Tsubasa konnte hören, dass er die Treppe nach oben stieg. Auch nach den Jahren in Sao Paolo war er immer noch der Lage, anhand der leisen Schritte von oben, Taros Weg einigermaßen nachzuverfolgen. Offenbar ging Taro langsam, bemüht, kein Geräusch zu machen. Tsubasas Zimmer lag am Ende des Ganges… Die Schritte verstummten, es wurde für kurze Zeit still – dann gab es einen dumpfen Knall, gefolgt von einem heftigen Aufschlag. Tsubasa zuckte zusammen und starrte nach oben, die nächsten Sekunden zogen sich in der nun wieder folgenden Stille beinahe endlos hin. Schließlich tastete Tsubasa nach seinem eigenen Handy auf dem Tisch – zu seiner eigenen Überraschung zitterten seine Hände so sehr, dass er es im ersten Moment kaum zu fassen bekam. War das ein Schuss gewesen? Klangen so Schusswaffen? Er versuchte sich daran zu erinnern, ob er am Strand einen Schuss gehört hatte, ob der Klang Ähnlichkeit hatte zu dem Geräusch vor wenigen Sekunden, aber es gelang ihm nicht…. Nur das Gewitter war in seinem Gedächtnis hängen geblieben… Mittlerweile hatte er es geschafft, Taros Nummer zu wählen, das Freizeichen ertönte…und wurde im nächsten Moment abrupt beendet und vom Besetztzeichen abgelöst. Tsubasa legte auf, versuchte es erneut – Mailbox. Jemand hatte Taros Handy ausgeschaltet… Tsubasa schloss für eine Sekunde die Augen und zwang sich zum Durchatmen. Jetzt keine Panik…damit war niemandem geholfen, ihm nicht und Daichi und Taro genauso wenig. Vielleicht gab es ja auch eine absolut harmlose Erklärung. Taros Handy war aus, weil der Akku leer war. Das Poltern war ein umgefallener Bücherstapel gewesen, oder ein Regal…. oder ein Menschenkörper…. Unwillkürlich schob sich wieder ein anderes Bild vor seine Augen, Sanae in ihrem eigenen Blut auf der Straße. Taro, der ihn an beiden Armen gepackt hielt und ihn beinahe mit roher Gewalt von ihrer leblosen Gestalt wegzerrte, dabei auf ihn einredete, ohne dass Tsubasa hörte, was er sagte. Taro blutend auf dem Teppichboden in seinem Zimmer oben, mit starren Augen.…. Daichis regloser Körper…. Mittlerweile hatte sich Tsubasas Hand krampfhaft um das Telefon geschlossen, so fest, dass seine Finger zu schmerzen begannen und sich das Plastik in seine Handfläche bohrte. Er wusste nicht, wie lange er so da saß, aber gerade als sich in seinem Verstand wieder etwas zu regen begann und er zu dem Schluss kam, dass er jetzt keine andere Wahl mehr hatte, als die Polizei zu rufen – vibrierte das Handy in seiner Hand. Vor Schreck ließ er es beinahe fallen. Wieder eine SMS….
 

„10 minutes or you will miss them both. You know where.”
 

Fassungslos starrte er den kurzen Text an. Was sollte das heißen? Zehn Minuten? Wie sollte er es in zehn Minuten zum Fußballplatz schaffen, das war sogar mit zwei gesunden Beinen unmöglich. Seine Gedanken überschlugen sich, und Tsubasa zwang sich erneut zur Ruhe und einigermaßen logisch über die Sache nachzudenken. Punkt 1: Taro war am Leben, das war zumindest wahrscheinlich. Punkt 2: Der Typ war hier. Entweder das, oder es waren zwei, aber aus irgendeinem Grund glaubte Tsubasa nicht daran. Punkt 3: Wenn er hier war, konnte er nicht auf dem Fußballplatz sein. Das bedeutete, Daichi war auch nicht auf dem Fußballplatz. Damit war die erste SMS falsch und das erklärte die zehn Minuten. Punkt 4: Wenn der Typ hier war, wusste er, dass Tsubasa hier war. Es gab keinen anderen Grund, Taro anzugreifen… Der Stein oder was auch immer war vermutlich wieder ein Ablenkungsmanöver gewesen, um seinen Freund nach oben zu locken. Punkt 5: Der Typ wollte Tsubasa hier im Haus haben. Allein. Um… ja, um was? Mit einem Mal kam ihm ein äußerst beunruhigender Gedanke, unwillkürlich wandte er den Kopf und blickte zu der Tür hinüber, die in die Küche führte. Dann sah er auf die Uhr. Drei Minuten von den zehn waren um. Sieben blieben ihm noch. You know where. Er wusste nicht, ob er für seine Vorahnung, die ihn veranlasst hatte, die Tabletten zu schlucken, dankbar sein sollte. Sein Bein war zumindest in ruhiger Haltung angenehm taub, das Mittel wirkte. Blieb nur zu hoffen, dass die Nebenwirkungen ausblieben. Und dass er sich nicht irrte. Wobei, wenn er sich irrte, würde er es niemals schaffen, in zehn Minuten dort zu sein, wo der Typ ihn haben wollte. Schon allein deswegen, weil er dann keine Ahnung hatte, wo der Typ ihn haben wollte. Die Aussicht, sich nicht zu irren, war jedoch mindestens genauso schlimm. Er packte die Lehne der Couch und zwang sich langsam und mühsam nach oben. Sein verletztes Bein protestierte wie erwartet schon bei der Bewegung mit einem dumpfen Pochen, aber die Tabletten hielten die Schmerzen in Grenzen. Trotzdem versuchte er, es so wenig wie möglich zu belasten, stützte sich so weit es ging an Möbeln und der Wand ab, während er sich langsam in Richtung Küche vorarbeitete. Wieder verfluchte er Kojiro innerlich für seinen überhasteten Aufbruch und den Diebstahl der Krücken. Der Weg schien endlos, und als er die Tür endlich erreichte und sich zumindest für ein paar Augenblicke am Türrahmen festhalten konnte, um dem verletzten Muskel wenigstens eine kurze Ruhepause zu gönnen, fühlte er bereits kalten Schweiß auf seiner Haut. Er achtete nicht darauf, sondern warf statt dessen einen Blick auf die große Küchenuhr an der Wand. Noch vier Minuten. Sein Blick glitt an der Uhr vorbei in Richtung Kellertür. Sie stand offen. Heute Nachmittag war sie nicht offen gewesen, Tsubasa war sich sicher. Seine Mutter ließ die Tür niemals grundlos offen stehen. Meistens war sie sogar abgeschlossen. Aber jetzt stand sie offen, weit und einladend. Den Raum unten am Fuß der Treppe konnte er von seiner Position aus nicht sehen, nur so weit, dass auch die zweite Tür geöffnet und der Raum dahinter dunkel war. Tsubasa schloss wieder für ein paar Sekunden die Augen. Er fror mit einem Male, und das hatte sicher nichts mit seiner Verletzung oder mit den Tabletten zu tun, genauso wenig wie das Zittern seiner Hände, die sich immer noch fest an das Holz des Türrahmens klammerten. Er zwang sich, an Taro und Daichi zu denken, dann humpelte er die letzten paar Meter bis zur Kellertreppe hinüber, wieder jede Möglichkeit nutzend, um sich abzustützen. Noch drei Minuten….. An der ersten Stufe blieb er wieder kurz stehen und starrte ihn die gähnende Öffnung unter ihm, dann machte er sich an den langsamen, mühsamen Abstieg.

Brüder

War der Weg vom Wohnzimmer in die Küche schon endlos gewesen, so dehnten sich die wenigen Treppenstufen nach unten noch einmal zu einer gefühlten Ewigkeit. Die vier Minuten schienen sich zu 40 auszudehnen, und als Tsubasa endlich unten ankam und direkt vor der gähnend schwarzen Türöffnung stand, kostete es seine ganze Überwindung, mit einem letzten Schritt über die Schwelle zu treten. Die Dunkelheit schien ihn sofort vollständig zu verschlucken, und für einen kurzen Moment wurde die Panik so stark, dass er sich beherrschen musste, um den Raum nicht sofort wieder fluchtartig zu verlassen. Stattdessen zwang er sich weiter nach vorn, und die Dunkelheit wurde noch tiefer. Für ein paar Sekunden konnte er absolut nichts sehen, dann schälten sich Umrisse heraus – Regale und Kisten – und eine kleine Gestalt, die in der hintersten Ecke auf dem Fußboden lag. Daichi? Noch bevor er sich weiter orientieren konnte, hörte er mit einem Mal Schritte hinter sich, hastige und schwere Schritte. In der nächsten Sekunde bekam er von hinten bereits einen heftigen Schlag gegen die Schläfe – auf die linke Seite, genau wie damals auch schon. Für ein paar Sekunden wurde die Welt noch schwärzer. Er spürte wie von weiter Ferne, dass ihn jemand grob an den Schultern packte, bevor er fallen konnte und ihn weg zerrte, in welche Richtung konnte er nicht sagen. Das Pochen in seinem Kopf wurde nur durch das schmerzhafte Stechen in seinem malträtierten Bein übertroffen, insbesondere als der Unbekannte ihm einen kräftigen Stoß versetzte, so dass Tsubasa erst mit dem Rücken gegen die Wand prallte und dann unsanft auf dem Boden landete. Er stöhnte erstickt und krümmte sich unwillkürlich zusammen, beide Hände gegen die Verletzung gepresst. Wieder war er dankbar für die Schmerzmittel….insbesondere, als er etwas Feuchtes und Warmes an seinen Fingern spürte. Die Wunde blutete wieder…. Die Schritte ertönten aufs Neue, dieses Mal langsam, ruhig. Zufrieden. Der Unbekannte ging Richtung Tür und schloss sie. Der Schlüssel klackte leise, und wieder wurde die Panik für einen Moment so stark, dass Tsubasa seine ganze Selbstbeherrschung aufbringen musste. Er zwang sich erneut, seine Gedanken auf die kleine Gestalt zu richten, die er hinten in der Ecke gesehen hatte, und richtete sich mit etwas Mühe wieder auf. Langsam, ganz langsam wurde der stechende Schmerz wieder zu einem dumpfen Pulsieren. Der Schlag auf den Kopf schien dieses Mal zum Glück nicht allzu schlimm gewesen sein, die Stelle tat zwar weh, aber als er mit der Hand vorsichtig danach tastete, spürte er kein Blut. Wenigstens etwas…. Tsubasa zuckte zusammen, als mit einem Mal das Licht angeschaltet wurde, und bedeckte geblendet die Augen mit dem Arm.

„Du bist pünktlich. Sehr vernünftig von dir.“

Die Stimme war vertraut und fremd gleichzeitig. Tsubasa blinzelte gegen das Licht an und senkte den Arm langsam wieder, so dass er endlich einen Blick auf die Gestalt werfen konnte, die neben der Tür stand und ihn mit einem zufriedenen, kalten Lächeln ansah. Die Ähnlichkeit mit Kenji war unverkennbar. Etwas größer, vielleicht ein bis zwei Jahre älter, von der Statur her gedrungener als Kenji es gewesen war. Der Fremde erwiderte Tsubasas Blick gelassen, beinahe entspannt, immer noch mit dem kalten Lächeln und mit einem Ausdruck in den Augen – Kenjis Augen - , die ihm eine Gänsehaut den Rücken hinunter jagte. Ein paar Sekunden sagte keiner von beiden etwas, und der Unbekannte war es letzten Endes, der das Schweigen wieder brach.

„Weißt du, wer ich bin?“

Tsubasa antwortete nicht sofort, sein Blick glitt wieder in die Ecke hinüber, wo er die kleine Gestalt im Dunkeln hatte ausmachen können. Es war in der Tat Daichi. Er lag auf einer Decke, reglos und mit geschlossenen Augen, aber zumindest dem ersten Anschein nach unverletzt.

„Dem Kleinen fehlt nichts.“, meinte der Fremde, als er Tsubasas Gedanken erriet. „Ich hab ihm Mohnsaft gegeben, damit er keine Schwierigkeiten macht. Wenn du mitspielst, ist alles vorbei, bis er aufwacht. Also….“ Er ging ein paar Schritte auf Tsubasa zu, blieb dann wieder stehen, und seine Stimme klang eine Spur kälter, als er weitersprach. „Weißt du, wer ich bin?“

Dieses Mal betonte er jede einzelne Silbe. Tsubasa riss den Blick von seinem kleinen Bruder los und sah den Unbekannten wieder an.

„Ja.“ Zu seiner Überraschung gehorchte ihm seine Stimme sofort, sie klang lediglich etwas heiserer als sonst. Er hatte eigentlich geglaubt, keinen Ton herausbringen zu können. „Kenjis Bruder.“

Der Mann nickte, das kalte Lächeln veränderte sich nicht. Jetzt erst bemerkte Tsubasa die Schusswaffe in seiner rechten Hand. Wahrscheinlich hatte er ihm den Griff gegen die Schläfe geschlagen, jetzt dagegen war der Lauf entspannt auf den Boden gerichtet. Der Fremde folgte wieder seinem Blick, das Lächeln wurde breiter.

„Falls du dir jetzt Sorgen um deinen Freund oben machst, keine Sorge. Ich habe kein Interesse daran, mir an ihm die Hände schmutzig zu machen. Er hat dieselbe Komfort-Behandlung bekommen wie du gerade eben und liegt schön verschnürt oben in deinem Zimmer. Vermutlich wird er Kopfschmerzen haben, wenn er aufwacht, aber er wird es überleben. Vorausgesetzt natürlich, du willst, dass es so bleibt.“

Tsubasa schwieg, aber den Fremden schien das nicht zu stören. Er durchquerte mit wenigen Schritten den Raum bis zu der Stelle, an der Tsubasa saß, und ließ sich mit etwas Abstand ihm gegenüber nieder, die Beine im Schneidersitz verschränkt. Seine ganze Körperhaltung verriet immer noch vollkommene Zufriedenheit, als er die Waffe mit einer ruhigen Bewegung auf den Fußboden legte, so dass der Lauf jetzt direkt auf Tsubasa gerichtet war.

„Ich heiße Hideo.“, meinte er anschließend und blickte ihm direkt in die Augen. „Mir ist wichtig, dass du das weißt. Und Kenji war mein kleiner Bruder. Du hast ihn umgebracht.“

Es war eine Feststellung, und Hideos Stimme blieb dabei ruhig und sachlich. Anders als seine Augen, deren beunruhigender Ausdruck sich bei diesen Worten zu einem unbeschreiblichen Hass steigerte.

Tsubasa sagte immer noch nichts, aber Hideo schien das auch nicht zu erwarten, er redete direkt weiter.

„Ich habe mich sehr lange auf dieses Gespräch gefreut, glaub mir. Wir haben einiges zu klären.“ Hideos Tonfall veränderte sich immer noch nicht. „Und falls du dir in dieser Hinsicht irgendwelche Hoffnungen machst, wir werden für eine Weile völlig ungestört sein. Es dauert noch mindestens eine halbe Stunde, bis deine sogenannten Freunde auf dem Fußballplatz überhaupt merken, dass sie umsonst warten. Und was deine Eltern angeht, die haben einen höchst interessanten Anruf von einem Polizisten bekommen, dass wieder auf dich geschossen wurde. Direkt durch das Wohnzimmerfenster, stell dir das vor. Dieses Mal ist es eine Bauchwunde. Schlimme Sache, so was. Und der Kleine hat auch was abbekommen, nichts dramatisches, aber nun ja, wie das so ist bei Kleinkindern, man muss immer auf Nummer sicher gehen. Deshalb hat man ihn zusammen mit dir im Rettungshubschrauber in eine chirurgische Spezialklinik gebracht, in der du genau in diesem Moment wieder einmal notoperiert wirst. Ich schätze, deine Eltern dürften zurzeit mitten auf der Autobahn Richtung Tokyo unterwegs sein.“

Hideos Lächeln vertiefte sich, und wieder war ihm anzusehen, wie zufrieden er war. Tsubasa sagte immer noch nichts, er wollte nicht, dass sein Gegenüber die Angst bemerkte, die diese Eröffnungen in ihm auslöste. Langsam wurde ihm das ganze Ausmaß seiner Situation bewusst – hatte er unbewusst doch gehofft, dass in absehbarer Zeit irgendjemand zum Haus zurückkommen würde, so war das jetzt absolut unmöglich. Tokyo war zwei Stunden weit weg, mindestens – und das war nur die Fahrzeit…. Hideo hatte alles bis ins kleinste Detail durchgeplant – er hatte nur warten müssen, bis Tsubasas Eltern das Haus verließen, und hatte Kojiros Reaktion auf das erste Ablenkungsmanöver genau richtig vorausgesehen.
 

„Ich habe lange nachgedacht, wie wir zwei uns am besten in Ruhe unterhalten können.“, fuhr Hideo fort, als hätte er Tsubasas Gedanken erneut erraten. „Ich war lange im Ausland. Sehr lange – bestimmt zehn Jahre. Unsere Eltern haben sich getrennt – unsere Mutter ist mit Kenji hiergeblieben und hat wieder geheiratet, während unser Vater beruflich in die USA musste und mich mitgenommen hat. Seitdem habe ich zu meiner Mutter keinen Kontakt, mein Vater wollte auch weder von ihr, noch von Kenji was wissen. Es war keine sonderlich gute Ehe…. Aber wie auch immer, Kenji hat mir geschrieben, regelmäßig. Und er hat mir alles erzählt. Wie er Kojiro bewundert hat, von seinem Vorsatz, ihm zu helfen und dich gleichzeitig von deinem hohen Roß runterzuholen…. Und dann haben die Briefe auf einmal aufgehört.“

Kenji drehte die Waffe langsam auf dem Boden im Kreis, das Metall knirschte auf dem Betonfußboden. Das Geräusch war ekelhaft. Tsubasa schwieg weiterhin, während seine Gedanken rasten.

„Es hat lange gedauert, bis ich herausgefunden habe, was passiert ist. Mein Vater wurde von meiner Mutter zwar informiert, hat sich aber geweigert, mit mir darüber zu sprechen. Er wollte mich schützen, behauptet er zumindest, aber in Wahrheit war ihm der Kontakt zwischen mir und Kenji schon immer ein Dorn im Auge, mein kleiner Bruder war schon immer ein Hitzkopf und das schwarze Schaf der Familie. Und jetzt erst recht – mit dem Schuldspruch hatte er keine Chance mehr auf einen guten Studienplatz oder eine berufliche Perspektive. Als ich schließlich doch herausgefunden habe, was passiert ist, war es zu spät. Kenji war verurteilt und du schon in Sao Paolo. Ich habe meinen Vater angebettelt, dass er ihn nach seiner vorzeitigen Entlassung rüber holt zu uns, in den USA hätte er vielleicht noch mal neu anfangen können, aber er hat sich geweigert, und wenige Monate später war Kenji tot.“ Zum ersten Mal verriet Hideos Stimme eine Reaktion. Trauer, Schmerz. Hass. Jede Menge Hass. Mindestens genauso viel Hass wie in seinen Augen. „Mit meinen Eltern werde ich darüber auch noch reden müssen. Es war Absicht, weißt du. Weil sie ihn allein gelassen haben, und weil sie mich gezwungen haben, ihn allein zu lassen. Und weil du ihn ins Gefängnis gebracht hast. Während sein Leben den Bach runtergegangen ist, hast du Karriere gemacht, als wäre nichts gewesen. Der junge japanische Star am brasilianischen Fußballhimmel, trainiert vom ehemaligen Nationalspieler Roberto Hongo höchstpersönlich, beste Aussicht auf seinen ersten Vertrag und Aufstieg in die Stammmannschaft, umgeben von Freunden und seiner großen Liebe. Währenddessen steigt mein kleiner Bruder ins Auto und fährt gegen den nächstbesten Baum.“

Hideo beugte sich etwas zu Tsubasa hinüber, seine Stimme zitterte jetzt leicht.

„Glaub mir, ich habe meine Zeit gut genutzt. Du solltest genau verstehen, worum es geht. Weißt du jetzt, worum es geht?“

Tsubasa brachte ein Nicken zustande. Ja, er verstand ganz genau worum es ging. Auge um Auge. Hideo hatte daran gearbeitet, ihm alles wegzunehmen, was sein Leben ausmachte. Neben der Angst und der Panik rührte sich jedoch endlich noch ein anderes Gefühl, als er wieder an Sanaes leblose Gestalt im Krankenhaus dachte, an Taro, der verletzt und gefesselt oben in seinem Zimmer lag, an Daichi in seinem betäubten Tiefschlaf. Wut. Reine, blanke Wut. Und diese Wut machte ihn unvorsichtig.

„Du tust so, als hätte ich Kenji darum gebeten, mich niederzuschlagen und einzusperren. Dummheit und Größenwahn liegt bei euch anscheinend in der Familie.“

Er bereute die Worte, kaum dass sie ausgesprochen waren, aber es war schon zu spät. Hideo musterte ihn nur kalt, ein Muskel in seinem Gesicht begann leicht zu zucken. Dann hob er die Waffe auf, erhob sich abrupt und ging zu Daichi hinüber. Tsubasa musste mit ansehen, wie er seinen kleinen Bruder am Kragen des Schlafanzuges packte und nach oben riss. Durch die unsanfte Behandlung weckte er Daichi aus seiner Betäubung. Er wimmerte leicht, öffnete die Augen und sah sich desorientiert um. Als er Tsubasa an der Wand sitzend entdeckte, wollte er sich aufrappeln und automatisch zu ihm hinüberlaufen, aber mal abgesehen davon, dass die Koordination mit seinen Beinen in seinem halbschläfrigen, benommenen Zustand noch nicht funktionierte, riss Hideo ihn sofort wieder zurück. Daichi begann zu weinen und nach seinem großen Bruder zu rufen, während er die kleinen Hände nach ihm ausstreckte, aber Hideo beachtete ihn nicht weiter. Er blickte zu Tsubasa hinüber. Der war noch blasser geworden als vor einigen Augenblicken und versuchte trotz Verletzung auf die Füße zu kommen, hatte aber keine Chance. Sein verletztes Bein verweigerte den Dienst. Hideo lächelte wieder äußerst zufrieden.

„Ich bin übrigens überrascht. Ich dachte, dein Knie ist irreparabel geschädigt und steif. Dafür bist du ja noch ganz beweglich. Ich hätte gründlicher sein sollen.“, meinte er beinahe nachdenklich, aber seine Stimme hatte sich eindeutig verändert. Die Ruhe war verschwunden, und die Zufriedenheit, die sich immer noch in seiner Miene spiegelte, war einer starren Kälte und Wut gewichen. Der Muskel in seinem Gesicht zuckte immer noch.

Tsubasa zwang sich zum Durchatmen und biss die Zähne zusammen, aber es dauerte ein paar Sekunden, bis er seiner Stimme genug traute, um zu antworten.

„Lass Daichi in Ruhe. Der Kleine hat mit der ganzen Sache absolut nichts zu tun.“

„So? Ich denke, er hat jede Menge damit zu tun. Er ist schließlich dein kleiner Bruder, oder nicht?“ Kenji lächelte wieder, dieses Mal war es schon beinahe ein Grinsen. „Was meinst du? Kleiner Bruder für kleinen Bruder?“

Daichi weinte immer noch, zum Glück schien er die Waffe in Hideos Hand jedoch nicht zu sehen oder zu begreifen, was das bedeutete. Er versuchte weiter sich loszureißen und zu Tsubasa hinüber zu laufen, vergeblich. Hideos Griff war wie eine eiserne Klammer.

„Lass ihn in Ruhe.“, wiederholte Tsubasa mit mühsam unterdrückter Panik. „Ich habe bis vor ein paar Wochen noch nicht mal was von ihm gewusst!“

„Trotzdem ist er dir ans Herz gewachsen, oder nicht? Ich hab dich oft genug beobachtet mit der kleinen Klette hier.“

„Lass ihn in Ruhe!“

„Du wiederholst dich. Warum sollte ich ihn in Ruhe lassen, hm? Hast du Kenji in Ruhe gelassen?“

Das war endgültig zu viel, und Tsubasa verlor die Beherrschung.

„Es waren Kenjis Entscheidungen, nicht meine! Er hat mich angegriffen, nicht ich ihn! Und wenn er meint, mich niederzuschlagen und tagelang hier unten einsperren zu müssen, nur damit sein großes Fußball-Idol bei einem Freundschaftsspiel gewinnen kann, würde ich mich an deiner Stelle fragen, was in seinem Kopf noch alles falsch geschaltet war. Das Urteil hat er sich selbst zuzuschreiben, und ich habe ihn sicherlich auch nicht dazu aufgefordert, sich in dieses Auto zu setzen. Vielleicht hättest du dich auch früher mal nach Japan bewegen sollen, wenn du den Verdacht hast, dass er in Schwierigkeiten steckt. Wäre ja deine Pflicht gewesen als großer Bruder, oder? Aber nein, du bist schön sicher in den USA geblieben. Unwissenheit ist ein Segen, stimmt’s? Weniger Arbeit….“

Auch Hideo war zunehmend blass geworden, je länger Tsubasas Ausbruch dauerte. Jetzt ging er hastig auf ihn zu, den stolpernden und brüllenden Daichi immer noch am Kragen hinter sich her schleifend, und setzte Tsubasa den Lauf der Pistole ohne ein Wort direkt zwischen die Augen. Tsubasa erstarrte sofort.

„Ich würde mir gut überlegen, was du als nächstes sagst.“, meinte Hideo mit einer Stimme, die so leise war, dass man sie unter Daichis Weinen kaum verstand.

Tsubasa starrte Hideo über die Pistole hinweg an und brauchte dieses Mal wirklich zwei Versuche, bis er ein Wort heraus brachte.

„U…und ich würde an deiner Stelle das nächste Mal, wenn ich jemanden bedrohen will, vorher dafür sorgen, dass die Waffe auch geladen ist.“

Er hatte nicht gewagt darauf zu hoffen, aber es funktionierte. Kenji erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde, sein Blick glitt auf die Pistole in seinen Händen. Dabei zog er den Lauf minimal zurück, und Tsubasa reagierte sofort. Er schlug seitlich gegen Hideos Arm, und der war tatsächlich so überrumpelt, dass er viel zu spät reagierte. Die Waffe flog aus seinen Fingern und rutsche schlitternd über den Boden davon, und noch bevor Hideo sich von seiner Überraschung erholen konnte, hatte Tsubasa sich mit dem gesunden Bein schon abgestoßen und sich auf ihn gestürzt.

Kampf

Unter normalen Umständen hätte Tsubasa keine Chance gehabt. Aber der Überraschungseffekt war auf seiner Seite – Hideo hatte offensichtlich nicht mit Gegenwehr gerechnet. Als die Waffe aus seiner Hand geschlagen wurde und sie beide auf den Boden stürzten, setzte Tsubasas Wahrnehmung für ein paar Sekunden aus. Sein Körper reagierte jedoch offensichtlich völlig automatisch, weil das nächste, was er bewusst registrierte, war der kalte Pistolengriff in seiner Hand und die Tatsache, dass die Mündung genau auf Hideo gerichtet war. Hideo rührte sich nicht, aber seine Körperhaltung sprach Bände, genauso wie seine Mimik, in dem Wut und Hass so deutlich abzulesen waren wie in einem Buch. Blut rann ihm aus der Nase, und er war außer Atem. Auch Tsubasas Puls raste, und er versuchte, das dumpfe, protestierende Pochen in seinem Bein zu ignorieren. Ob Hideo ihn während des kurzen Kampfes anderweitig noch verletzt hatte, konnte er im Moment nicht sagen, es interessierte ihn aber auch nicht. Seine Hand mit der Pistole zitterte leicht, es kostete beinahe seine ganze Konzentration, sie weiter auf Hideo gerichtet zu halten. Kurze Zeit herrschte eisiges Schweigen, nur unterbrochen durch Daichis Wimmern. Tsubasa konnte seinen Bruder im Augenblick nicht sehen, aber er hoffte, dass der Kleine die Chance genutzt hatte und in Deckung gegangen war. Aus Hideos Reichweite.

„Und?“, fragte Hideo schließlich nach einigen weiteren Sekunden. Seine Stimme war gefährlich leise. „Worauf wartest du?“

Tsubasa gab keine Antwort. Kurz, für den winzigen Bruchteil eines Augenblicks, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, tatsächlich abzudrücken. Aber der Moment verschwand schnell. Zurück blieben eine leichte Übelkeit und der Gedanke an Sanaes entsetzten Gesichtsausdruck. Er zwang sich in eine halbwegs aufrechte Position, ohne Hideo aus den Augen zu lassen.

„Z…zurück. An die Wand…“

Hideo starrte ihn für einen weiteren, endlosen kurzen Augenblick an, dann lächelte er abfällig.

„Was soll das jetzt werden? Nicht mutig genug, oder wie?“

„Zurück an die Wand! Und halt die Klappe…..“

Hideo grinste jetzt. Aber er wich tatsächlich zurück, bis er mit dem Rücken an die Wand stieß. „Glaubst du ernsthaft, das ändert irgendwas?“

„Du…sollst die Klappe halten….“

Tsubasa biss die Zähne zusammen und schaffte es mit einiger Mühe zurück zu der Stelle, an die Hideo ihn vor einer gefühlten Ewigkeit gegen die Wand gestoßen hatte. Und – wie ihm jetzt bewusst wurde – an der vor fünf Jahren die alte Matratze gelegen hatte, als Kenji den Raum zum Gefängnis umfunktioniert hatte. Rasch schob er den Gedanken wieder zur Seite. Jetzt lag der komplette Raum zwischen ihm und Hideo. Immerhin eine große Verbesserung…. Oder?

Hideo grinste noch breiter, als hätte er seine Gedanken erraten.

„So wie ich die Sache sehe, hast du immer noch ein großes Problem. Mit dem kaputten Bein kommst du hier nicht raus, nicht ohne mich. Und so wie es aussieht, muss ich nur warten.“ Er deutete mit dem Kinn in Tsubasas Richtung. „Ich habe jede Menge Zeit, ganz im Gegensatz zu dir.“

Tsubasa wurde sich mehr denn je dem brennenden Schmerz in seinem Oberschenkel bewusst, und richtete unwillkürlich den Blick auf die Verletzung. Prompt verstärkte sich die Übelkeit. Durch den kurzen Kampf war die Wunde anscheinend endgültig wieder aufgebrochen und blutete stark. Sehr stark. Dank der Medikamente hielt sich der Schmerz wenigstens immer noch in der erträglichen Grenze, das war die gute Nachricht, aber wenn er nicht irgendwas fand, mit dem er die Wunde abbinden konnte…. Und selbst wenn, mit nur einer Hand war das absolut unmöglich…. Tsubasa schloss die Augen für den Bruchteil einer Sekunde, dann zwang er sich, seine Konzentration wieder auf die Waffe zu richten. Er musste nur durchhalten, bis jemand Hideos Spiel durchschaute und zum Haus zurückkam. Ganz einfach. Hideo grinste immer noch.

„Sicher, dass ich dir nicht mit einem Druckverband helfen soll? Wenn du lieb bitte sagst, mache ich das vielleicht sogar.“

„I…ich hab dir vorhin schon gesagt, dass du die Klappe halten sollst….Setz dich hin und rühr dich nicht von der Stelle, verstanden?“

Hideo kicherte in sich hinein, gehorchte aber. Nach dem ersten Schock schien er die Situation richtig zu genießen. Tsubasa biss die Zähne zusammen und presste unwillkürlich die freie Hand gegen die Wunde, bevor er sich suchend nach Daichi umsah. Der Kleine hatte sich in der Tat hinter einem Stapel Getränkekisten versteckt und kauerte dort jetzt als zitterndes kleines Bündel, den Kopf unter den Armen vergraben. Immerhin schien er weiterhin unverletzt zu sein. Tsubasa atmete unwillkürlich auf.

„H…hey. Daichi…. Kleiner…“

Daichi reagierte nicht sofort, aber als Tsubasa ihn ein weiteres Mal ansprach, hob er abrupt den Kopf und blickte sich verstört um. Tsubasa löste die Hand von seinem Bein und streckte sie nach seinem kleinen Bruder aus, ohne Hideo aus den Augen zu lassen.

„Komm her… na los, komm….“

Daichi warf einen ängstlichen Blick auf die andere Seite des Raums, wo Hideo an die Wand gelehnt saß, dann rappelte er sich jedoch auf und rannte so schnell zu seinem großen Bruder hinüber, dass er über seine eigenen Füße stolperte und prompt mit Tsubasa zusammenprallte. Die neue Schmerzwelle, die daraufhin durch sein malträtiertes Bein schoss, ließ ihn zusammenzucken, aber er ignorierte es so gut es ging und legte stattdessen den Arm um Daichis immer noch heftig zitternden Körper. Nur am Rande registrierte er dabei die roten Flecken, die seine blutige Hand auf Daichis Haut und Kleidung hinterließ.

„Schon gut…. Alles ist gut…“

Daichi wimmerte wieder leise und krallte die Hände fest in Tsubasas T-Shirt. Hideo verzog abfällig das Gesicht.

„Wie rührend. Und wie lange glaubst du, dass du ihn schützen kannst? Hm? Zehn Minuten? Ich wette, in spätestens fünf wird dir schon schwindelig.“

„Zum letzten Mal… halt den Mund…“

„Sonst? Wenn du abdrückst, hast du erst recht ein Problem. Ohne mich verblutest du hier unten.“

„Da du mir eh nicht helfen wirst, ist es für mich völlig egal, ob ich abdrücke oder nicht. Du kommst Daichi und mir nicht mehr zu nahe, dafür sorge ich, so oder so…..“

Tsubasa war selbst überrascht darüber, wie abgebrüht das klang – und erleichtert. Hideo runzelte zum ersten Mal leicht die Stirn und schwieg. Tsubasas Finger klammerten sich fester um die Pistole, der Griff wurde zusehends rutschig von seinem eigenen Schweiß, und er musste sich konzentrieren, um das heftiger werdende Zittern seiner Hand zu unterdrücken. Das Adrenalin des Kampfes ebbte ab und hinterließ ein zunehmendes Gefühl der Schwäche. Daichi klammerte sich immer noch an ihm fest, und das war gut so. Der Griff seiner kleinen Finger, die sich in seine Kleidung krallten, half ihm, seine Gedanken zu ordnen. Er konnte niemals so lange durchhalten, bis seine Eltern und Freunde von alleine darauf kamen, dass etwas nicht stimmte. Damit hatte Hideo Recht. Aber wie....? In der nächsten Sekunde hätte er beinahe gelacht, als ihm die Lösung einfiel. Natürlich…..

„Dein Handy.“

Hideo runzelte erneut die Stirn. „Hä?“

„Dein Handy. Ich weiß, dass du eins hast, sonst hättest du mir ja nicht die netten SMS schreiben können heute Abend. Schieb es über den Fußboden hier rüber.“

Hideos Blick verfinsterte sich, und Tsubasa wertete es als ein Zeichen dafür, dass er ins Schwarze getroffen hatte.

„Her damit.“, wiederholte er ein drittes Mal. „Sofort!“

„Und wenn nicht? Holst du es dir dann selbst?“

„Willst du es rausfinden?“ Tsubasas Griff um die Waffe verstärkte sich erneut. „Her mit dem Handy.“

Das Zucken in Hideos Gesichtsmuskulatur war wieder da. Langsam, quälend langsam, griff er in die Brusttasche seines Hemdes und holte ein kleines, schwarzes Mobiltelefon hervor. Er legte es auf den Boden und gab ihm einen Schubs, so dass es über den Fußboden in Tsubasas Richtung rutschte. Zum Glück landete es in Reichweite. Die Pistole schien bereits Zentner zu wiegen, aber er zwang sich, sie weiter auf Hideo gerichtet zu halten, und griff mit der anderen Hand nach dem Handy. Seine Finger zitterten mittlerweile so sehr, dass er zwei Versuche brauchte, bis er die einzige Nummer gewählt hatte, an die er sich gerade erinnern konnte. Hideo beobachtete ihn mit einem verächtlichen Zug um den Mund.

„Und du glaubst ernsthaft, dass irgendjemand rechtzeitig hier ist? Mach dem Knirps nicht unnötig Hoffnung.“

Tsubasa sparte sich die Antwort. Gut möglich, dass Hideo Recht hatte und weder seine Eltern noch seine Freunde rechtzeitig hier sein würden, aber einen Versuch war es allemal wert. Besser, als hier herumzusitzen und nichts zu tun. Schon allein deshalb, weil Hideo nicht damit gerechnet hatte – alles, was sein Konzept durcheinander brachte, war hilfreich. In dem Moment, als er die Ruftaste drücken wollte, war auf einmal ein Geräusch zu hören, dass ihn mitten in der Bewegung erstarren ließ. Waren das….? Unwillkürlich hob er den Kopf zum Fenster, das ihm Unterschied zum letzten Mal nicht mit schwarzen Stoffen verhängt war und einen Blick auf den Rasen draußen vor dem Haus ermöglichte. Auch Hideo rührte sich nicht und lauschte offenbar angestrengt, das Zucken in seinem Gesicht stärker denn je. Sirenen. Und sie kamen rasend schnell näher…. Tsubasa hatte keine Ahnung, wie und warum, aber dem Anschein nach war die Polizei hierher unterwegs! Vor Erleichterung hätte er beinahe gelacht, wenn er nicht bereits so verdammt müde gewesen wäre. Die Polizei war unterwegs…. Und dem Klang der sich rasant nähernden Sirenen nach war sie jeden Augenblick hier. Er ließ das Handy sinken und legte den Arm wieder um Daichi, der sich immer noch zitternd an ihn schmiegte.

„Hörst du das?“, meinte er matt, obwohl Daichi ihn hundertprozentig nicht verstand. „Es dauert nur noch…ein paar Minuten….“

Hideos ganzer Körper war nun angespannt vor Wut, während draußen die ersten Fahrzeuge mit quietschenden Bremsen zum Stehen kamen. Durch das kleine Fenster konnte man sogar zum Teil die Reifen erkennen. Die Sirenen verstummten, dafür wurden Türen aufgerissen, hastige Schritte trampelten über den Rasen in Richtung Haustür, kurz darauf waren sie bereits im Haus. Stimmen riefen durcheinander, und noch bevor Tsubasa darüber nachdenken konnte, sich durch Rufen bemerkbar zu machen, hämmerte es bereits laut gegen die Kellertür.

„Tsubasa? Tsubasa, hörst du mich?!“

Sein Vater….. Da draußen stand tatsächlich sein Vater….. Vor Erleichterung wäre ihm beinahe die Waffe aus der Hand gerutscht, er verhinderte das gerade noch.

„J….ja….. Ich bin hier…. Und Daichi auch….“

Eine Sekunde lang herrschte Stille hinter der Tür. Als Herr Ozora weitersprach, klang auch er erleichtert.

„Gott sei Dank… Wir haben so gebetet, dass wir Recht haben…. Seid ihr in Ordnung? Ist dieser Mistkerl bei euch?“

Tsubasa blickte wieder zu Hideo hinüber, dessen Gesicht vor Wut, Hass und Enttäuschung kalkweiß geworden war.

„Ja….. Er hat die Tür abgeschlossen von innen….. Ich komme nicht an den Schlüssel….“

„Die Polizei kann die Tür aufbrechen. Haltet Abstand und bleib noch ein paar Augenblicke ganz ruhig, wir sind gleich da.“

Jetzt schien auch zu Daichi durchgedrungen zu sein, dass die Stimme zu seinem Vater gehörte. Er hob sein tränenverschmiertes Gesicht und machte Anstalten, sich aus Tsubasas Griff zu lösen und zur Tür zu laufen. Tsubasa konnte ihn gerade noch festhalten, und allein diese Bewegung schien mit einem Mal unglaublich anstrengend zu sein. Daichi wehrte sich und begann wieder zu weinen, aber Tsubasa schaffte es trotzdem, ihn zurück zu ziehen.

„Du… du musst hierbleiben… sonst können die Polizisten die Tür nicht aufmachen….Papa ist gleich da, keine Sorge…..“, meinte er matt, und Daichi wimmerte wieder, machte aber keine Anstalten, sich ein zweites Mal aus Tsubasas Griff zu befreien. Anscheinend hatte er zumindest den letzten Teil des Satzes verstanden.

Draußen waren wieder Stimmen zu hören, dieses Mal fremde, die wild durcheinander redeten. Dann schälte sich eine besonders autoritär klingende heraus.

„Auf drei. Achtung – eins, zwei – drei!“

Die Tür erbebte unter einem heftigen Stoß. Daichi zuckte zusammen und schmiegte sich wieder eng an Tsubasas Oberkörper. Noch ein Schlag gegen die Tür, ein dritter, ein vierter….. Dann ging es mit einem Mal sehr schnell. Im selben Moment, in dem Hideo endgültig die Beherrschung verlor und mit einem wilden Schrei nach vorne schnellte, flog die Kellertür aus den Angeln und der Raum war plötzlich voll mit Menschen. Noch bevor Tsubasa irgendwie reagieren konnte, hatten sich bereits zwei Polizisten auf Hideo gestürzt und rissen ihn äußerst unsanft zu Boden, noch bevor er überhaupt in Tsubasas und Daichis Nähe gekommen war. Er schrie und fluchte, trat wild um sich, aber nichts davon nützte ihm etwas. Ein dritter Polizist tauchte auf einmal in Tsubasas Blickfeld auf, so dass er nicht mehr sehen konnte, was mit Hideo passierte. Der Beamte rief irgendwas von Sanitätern, die gefälligst hier runter kommen sollten, während er bereits die Waffe aus Tsubasas Fingern löste.

Es kostete ihn keine Mühe – um genau zu sein, registrierte Tsubasa erst mit einigen Sekunden Verzögerung, dass er die Pistole nicht mehr in der Hand hielt. Daichi begann wieder zu weinen. Tsubasa hätte ihn gerne irgendwie beruhigt, aber er konnte nicht. Es war, als wäre mit dem Aufbrechen der Tür und dem Abfallen der Spannung endgültig das letzte bisschen Kraft verschwunden, dass er noch hatte aufbringen können…. Es grenzte an ein Wunder, dass er noch aufrecht sitzen konnte. Der Polizist ging bei ihm in die Knie und packte ihn an der Schulter, rüttelte ihn vorsichtig.

„Hey. Verstehst du mich?“

„J…ja….“

„Sehr gut. Dann arbeitest du jetzt mit mir zusammen und bleibst wach, verstanden? Die Sanitäter sind jeden Moment da. Ist der Kleine auch verletzt?“

„N…nein….aber … Taro liegt oben….“

„Wer ist Taro?“

Daichi wurde aus seinem Griff gelöst, er konnte nicht sehen, von wem. Er konnte nur wie durch einen Nebel hören, dass sein kleiner Bruder jetzt erst recht schrie wie am Spieß. Gleichzeitig wurde etwas Weiches gegen die Wunde auf seinem Bein gepresst – er spürte es kaum. In der nächsten Sekunde mischten sich weitere Stimmen in das Durcheinander, die er jetzt wieder zu gut kannte.

„Lassen Sie uns durch, verdammt noch mal. Das sind unsere Kinder!!“

„Sie können uns nicht verbieten….“

„Gedulden Sie sich noch ein paar Minuten bis der Verdächtige abgeführt ist und die Sanitäter die Erstversorgung….

Der Rest der Diskussion wurde vom Nebel verschluckt. Seine Eltern waren hier…. Alle beide. Sie waren hier…. Wieder durchflutete ihn Erleichterung. Der Polizist sprach ihn erneut an, aber Tsubasa reagierte nicht mehr darauf. Er registrierte gerade noch, dass noch mehr Männer in den Raum hasteten, zwei oder drei …. Die Sanitäter. Dann kippte die Welt zur Seite, und es wurde schwarz.

Erinnerung

Selbst für Sao Paolo war der Tag ungewöhnlich heiß. Die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel, und der Fußballplatz war verlassen. Beinahe zumindest. Roberto kannte kein Erbarmen, immerhin war der Termin für die Auswahlspiele nur noch knappe 2 Wochen entfernt. Je näher der Termin rückte, desto anspruchsvoller und länger wurden die Trainingseinheiten, die er für Tsubasa ausgearbeitet hatte.

„Die Konkurrenz ist groß.“, erklärte er jeden Tag aufs Neue. „Der Vorstand hat dich zwar auf diversen Aufzeichnungen schon spielen sehen, aber du hast vorerst nur diese eine Chance, wenn du kein ganzes Jahr warten willst. Also streng dich gefälligst an – ich will nicht, dass du umsonst hierhergekommen bist und Zeit verlierst!“

Tsubasa beschwerte sich nicht und strengte sich an, immerhin war er ganz Robertos Meinung – er wollte kein Jahr warten. Allerdings musste er feststellen, dass sich einiges verändert hatte. Roberto war schon immer streng gewesen, auch damals, als sie sich kennengelernt hatten. Jetzt allerdings bewegten sie sich auf einem ganz anderen Level. Robertos früherer Trainingsplan war trotz seinen damals schon hohen Ansprüchen kindgerecht gewesen, jetzt dagegen trainierte er eindeutig auf Profi-Niveau. Gerade die ersten Tage hatte Tsubasa mehr als einmal geglaubt, irgendwann einfach auf dem Platz umzufallen und liegen zu bleiben. Seine Ausdauer, die er eigentlich immer als gut eingestuft hatte, war bei weitem nicht gut genug, und der Muskelkater, der ihn quasi 24 Stunden lang begleitete, war schmerzhaft. Immerhin fiel er abends wie ein Stein ins Bett und schlief. Traumlos. Das war das gute an der ganzen Sache…. Inzwischen, gute drei Monate später, war es bereits deutlich besser geworden – vermutlich auch, weil er sich an das Klima gewöhnt hatte. Das hatte er zumindest bis heute geglaubt. Als Robertos Trillerpfeife nach gut sechs Stunden das Ende der heutigen Trainingseinheit verkündete, gab Tsubasa dem Impuls zum ersten Mal nach, ließ sich an Ort und Stelle rücklings ins Gras fallen und blieb liegen, während er darauf wartete, dass sich sein rasender Herzschlag beruhigte und er wieder zu Atem kam. Er blinzelte, als Robertos Schatten über ihn fiel.

„Wenn du hier in der prallen Sonne liegen bleibst, wird es sicher nicht besser.“

Roberto klang immer noch streng, aber soweit Tsubasa das gegen das Sonnenlicht erkennen konnte, grinste er leicht.

„Los, hoch mit dir.“

Tsubasa unterdrückte ein Stöhnen, ließ sich aber ohne Widerstand von Roberto auf die Beine ziehen. Sein Körper schien schwer wie Blei.

„Da rüber.“

Roberto dirigierte ihn zu einer schattigen Bank und drückte ihm eine Wasserflasche in die Hand.

„So. Sitzen, viel trinken, dann bist du in ein paar Minuten wieder fit. Wie geht’s dir sonst? Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit?“

Tsubasa schüttelte nur den Kopf und nahm einen großen Schluck aus der Wasserflasche. Roberto nickte zufrieden, während er sich neben ihn setzte.

„Eventuell habe ich es heute bei der Hitze etwas übertrieben, aber auf der anderen Seite musst du dich auch an solche Bedingungen gewöhnen. Das Wetter kennt hier kein Erbarmen, und wenn bei diesen Temperaturen ein Spiel stattfindet, musst du genauso durch wie alle anderen auch.“

„Aber hoffentlich keine sechs Stunden, oder?“

Roberto lachte. „Nein, keine Sorge. Die Leute hier sind fußballverrückt, aber ganz so verrückt dann auch wieder nicht. Wird es besser?“

„Ja, passt schon.“

Die Wasserflasche war bereits so gut wie leer, seine Atmung normalisierte sich zusehends.

Roberto nickte wieder und redete dann weiter. „Du schlägst dich wirklich hervorragend – dass du heute so gut durch hältst hätte ich dich nicht erwartet. Was hältst du von einem freien Tag morgen?“

Das kam so überraschend, dass Tsubasa sich prompt an dem restlichen Wasser verschluckte.

„Wie, frei?“, ächzte er leicht heiser, als er wieder durchatmen konnte. „Ist das dein Ernst?“

„Sicher.“ Roberto schmunzelte. „Das hast du dir nach gut drei Monaten durcharbeiten redlich verdient. Davon abgesehen kann ich mir nicht vorstellen, dass du den ersten Tag, an dem du Sanae wiedersiehst, auf dem Fußballplatz verbringen willst, oder?“

„Ich…äh….nein.“ Tsubasa konnte nicht verhindern, dass er rot wurde. Roberto lachte wieder und schlug ihm leicht auf die Schulter.

„Also abgemacht. Wann kommt sie an, heute Abend noch oder morgen?“

„Morgen früh.“ Tsubasa war immer noch leicht verlegen und überrumpelt. „Danke.“

„Keine Ursache.“ Roberto stand auf. „Ich muss leider los. Wir sehen uns übermorgen zur selben Zeit. Es soll weniger heiß werden, ich denke also, dass wir etwas länger trainieren können und die fehlende Zeit von morgen wieder rein holen.“

Das klang jetzt mehr nach dem, was Tsubasa erwartet hatte. Er lächelte leicht. „Alles klar.“

Roberto grinste wieder, als hätte er Tsubasas Gedanken gelesen, dann wandte er sich zum Gehen – und hielt erstaunt inne.

„Huch?“

Tsubasa folgte seinem Blick und stand ebenfalls perplex auf. Noch bevor er richtig registrierte, wer da auf ihn zu rannte, oder gar die Chance bekam, etwas zu sagen, war Sanae bereits da und fiel ihm dermaßen ungestüm um den Hals, dass er das Gleichgewicht verlor und prompt zum zweiten Mal auf dem Rasen landete.

„Uff! Sanae…..? Wa….“

Sanae ließ ihn nicht ausreden, sie küsste ihn kurzerhand und schnitt ihm dadurch das Wort ab, und mit einem Mal waren die Fragen auch gar nicht mehr so wichtig. Es dauerte einige Zeit, bis Tsubasa sich wieder bewusst wurde, dass er auf einem ziemlich unbequemen Fußballfeld lag und Sanae ihm mit ihrem vollen Körpergewicht doch allmählich die Luft abdrückte. Sanae wurde das anscheinend im selben Augenblick klar. Sie wurde rot bis unter die Haarspitzen und löste sich abrupt von ihm, so dass er wieder durchatmen konnte.

„Hoppla. Entschuldige…. So war das eigentlich nicht geplant.“

„Das kannst du laut sagen….“ Tsubasa richtete sich wieder auf, immer noch mehr als verwirrt. Sanaes Attacke würde ihm vermutlich einige blauen Flecken bescheren, so wie sich sein Körper anfühlte, aber das interessierte ihn im Moment nicht wirklich. „Was machst du hier? Ich dachte, dein Flugzeug geht erst in ein paar Stunden….“

Sanae strahlte ihn an. „Es gab einen Buchungsfehler, irgendein Problem mit dem System…. Die Maschine war überbucht und die Airline hat mir als Entschädigung einen Ersatzflug angeboten, und ich dachte, ich kann dich so überraschen……“

„Das hast du definitiv geschafft.“ Tsubasa wurde sich plötzlich bewusst, dass Roberto vermutlich immer noch in der Nähe war und sie beobachtete, aber als er den Kopf wandte, war der Trainer nicht mehr zu sehen. Anscheinend hatte er sich taktvoll zurückgezogen.

„Es war gar nicht so einfach, dich zu finden.“, redete Sanae weiter. „Ich war zuerst bei der Wohnung, aber du warst nicht zuhause, und dann habe ich einen Nachbar getroffen und der hat mir verraten dass es eigentlich nur einen nennenswerten Fußballplatz hier in der Gegend gibt wo man auch ohne Verein trainieren darf, und dann bin ich mit dem nächsten Taxi hierher…..“ Sie unterbrach ihren Redefluss und holte tief Luft, bevor sie ihn glücklich anlächelte. „Ich bin so unglaublich froh, dich zu sehen. Du hast mir gefehlt….“

„Du mir auch.“

Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr. Als Sanae ihm vor einigen Monaten eröffnet hatte, dass sie keinesfalls im Sinn hatte, ihn alleine nach Sao Paolo gehen zu lassen, war recht schnell klar geworden, dass eine gemeinsame Abreise unmöglich zu organisieren war. Bedingung ihrer Eltern war gewesen, dass sie zumindest den Schulabschluss erfolgreich hinter sich brachte, um auch in Brasilien eine Chance auf eine gute Ausbildung zu haben, und Roberto hatte auf der anderen Seite darauf bestanden, so früh wie möglich anzureisen, damit er ihn optimal auf den Verein vorbereiten konnte. Und so war Tsubasa schweren Herzens einige Monate früher geflogen und hatte in der Zeit wenigstens einiges an Organisation erledigen können. Jetzt kniete Sanae mit geröteten Wangen vor ihm im Gras und lächelte ihn überglücklich an, bevor sie ihm erneut einen kurzen Kuss gab.

„So. Und jetzt musst du aufwachen.“

„Was?“

Tsubasa blickte sie perplex an.

„Du musst aufwachen.“, wiederholte Sanae geduldig, aber deutlich ernster, während sie sein Gesicht mit beiden Händen umfasste. „Sie warten alle schon.“

Tsubasa starrte sie immer noch ungläubig an, aber mit einem Mal wusste er, was hier passierte. Sanae hatte ihn in der Tat in Sao Paolo überrascht, allerdings war es mittlerweile mehrere Jahre her. Sie hatten den freien Tag gemeinsam in der Stadt verbracht, hatten in den nächsten Wochen und Monaten die kleine Wohnung so eingerichtet, dass Sanae sich wohl fühlte. Sie hatte einen Ausbildungsplatz und Freunde gefunden, Tsubasa hatte die Auswahlspiele für den Verein überstanden und war tatsächlich aufgenommen worden. Aber obwohl alles so gut lief, waren Tsubasa im Laufe der Zeit wieder Zweifel gekommen, ob Brasilien tatsächlich der richtige Weg war – für ihn und für Sanae. Er vermisste Japan, mehr als er es sich vorgestellt hatte. Also hatte Roberto ihn beurlaubt und nach Hause geschickt, gemeinsam mit Sanae. Beide hatten sich darauf gefreut, ihre Familien und Freunden wieder zu sehen. Und jetzt lag Sanae im Koma und er….auch? An diesem Punkt gerieten seine Gedanken ins Trudeln. Er erinnerte sich nur zu gut an die letzten Minuten, an das Chaos – Hideos Schreie, Daichis panisches Weinen, die Stimmen seiner Eltern, Polizei, Sanitäter…. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er kein Interesse daran hatte, aufzuwachen. Hier war es besser. Deutlich besser….. Er legte seine Hand über Sanaes, aber bevor er noch irgendetwas sagen konnte, schüttelte sie den Kopf, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

„Du musst aufwachen.“, wiederholte sie eindringlich. „Es ist falsch, dass du hier bist. Sie warten alle.“ Sie lächelte leicht. „Und ich auch.“

Realität

Wie beim letzten Mal waren es die Geräusche, die zuerst zu ihm durchdrangen. Keine Stimmen, niemand der seinen Namen rief, dafür ein stoisches, rhythmisches Piepen. Er zwang sich, die Augen zu öffnen, und ebenfalls wie beim letzten Mal dauerte es einige Zeit, bis er es schaffte, das Bild einigermaßen zu fokussieren. Er blinzelte mehrfach und blickte auf eine weiße, fremde, und gleichzeitig erschreckend vertraute Zimmerdecke. Offenbar war er im Krankenhaus – schon wieder. Nicht besonders verwunderlich. Im Gegensatz zum letzten Mal erinnerte er sich jedoch fast sofort an alles. Mehr, als ihm lieb war. Er erinnerte sich an den Blutgeruch, der im Keller hing, an Hideos Tobsuchtsanfall, an die Stimmen der Polizei und der Sanitäter, die wild durcheinander riefen, an die geschockten und besorgten Blicke seiner Eltern, das kalte Metall der Pistole in seiner Hand…. Es kostete ihn jedoch große Mühe, alles zu sortieren. Es war, als hätte man ihn mitten in einen Wirbelsturm gesteckt. Er konnte nicht mal genau sagen, was davon real war und was nicht. Die Erstversorgung der Sanitäter… war er noch einmal wach geworden? Er hatte den vagen Eindruck, als hätte er gespürt, wie sie seine Lage veränderten, seine Wunde abbanden, mit einem kurzen, stechenden Schmerz etwas an seinem Handgelenk befestigten, wie sie seine Eltern nach seiner Blutgruppe fragten und ihn auch selbst immer wieder direkt ansprachen, ohne dass er irgendwie hätte reagieren können. Er hatte es auch nicht gewollt. Dann die Gesichter seiner Eltern, die plötzlich über ihm auftauchten, beide kalkweiß, seine Mutter den Tränen nah…. Aber war das wirklich real? Alles schien sehr verschwommen und unscharf, womöglich hatte er es auch nur geträumt. Sehr real dagegen war Sanaes Berührung und ihr Gesicht, als sie ihn auf dem Fußballplatz in Sao Paolo anlächelte und ihn aufforderte, aufzuwachen. Sie warten alle. Und ich auch. Einige Minuten lang starrte Tsubasa an die weiße, vertraute und fremde Zimmerdecke. Er fühlte sich nicht in der Lage, irgendetwas anderes zu tun. Sein Bein war taub, ebenfalls genau wie beim letzten Mal, und wieder spürte er jede Menge Elektroden und Kabel an seinem Körper, die mit den Geräten neben dem Bett verbunden waren. Aber trotzdem hatte Tsubasa das Gefühl, dass alles ganz anders war. Dieses Mal war er nicht einfach aus einer Narkose wieder aufgewacht. Schließlich wandte er den Blick zur Seite – allein diese Bewegung kostete unendlich viel Kraft – und sah seinen Vater auf einem Stuhl tief und fest schlafend neben dem Bett sitzend. Dieser Anblick räumte die letzten Zweifel aus dem Weg. Alles war ganz anders. Keine simple Narkose. Sein Vater schien um Jahre gealtert, sein Gesicht wirkte erschöpft und grau. Als hätte er Tsubasas Blick gespürt, rührte er sich mit einem Mal und öffnete die Augen. Ein paar Sekunden lang starrte er seinen Sohn perplex an, dann sprang er unvermittelt auf und fasste Tsubasas Arm.

„Tsubasa! Meine Güte…. Ich… Verstehst du mich?“

Tsubasa brachte nur ein Nicken zustande, aber das reichte vollkommen. Herr Ozora sah aus, als würde er vor Erleichterung jeden Moment anfangen zu weinen, ein Anblick, der Tsubasa mehr als alles andere verwirrte und schockierte. Er konnte sich nicht erinnern, seinen Vater jemals so aufgelöst gesehen zu haben. Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen und ohne Tsubasas Arm loszulassen, drückte Herr Ozora den Knopf, der am Bettgestell angebracht war.

„Dr. Kimura kommt bestimmt sofort.“, meinte sein Vater anschließend leicht heiser. „Er hat gesagt, ich soll sofort Bescheid sagen, wenn du wach wirst….“ Er brach ab, schüttelte leicht den Kopf und lächelte dann. „Ich bin so unglaublich froh….“

Endlich formulierte sich eine Frage in Tsubasas Kopf, eine sehr wichtige.

„W…. wie lange?“

Er erkannte seine eigene Stimme kaum, das Sprechen schmerzte im Hals.

Herr Ozora zögerte – offensichtlich überlegte er, wieviel er Tsubasa zumuten konnte. Dann seufzte er leicht und setzte sich wieder auf den Stuhl.

„Beinahe eine Woche. Du warst eine Weile intubiert, versuch nicht zu viel zu sprechen.“

Eine Woche?! Das übertraf Tsubasas schlimmste Erwartungen. Noch während er seinen Vater geschockt anstarrte, wurde die Tür aufgerissen und Dr. Kimura hastete in den Raum. Auch er wirkte gestresst und übernächtigt. Als er entdeckte, dass Tsubasa wach war, breitete sich jedoch ein erleichtertes Lächeln auf seinem Gesicht aus.

„Na endlich, das wurde auch Zeit!“

Er durchquerte den Raum und wandte sich dabei an Herrn Ozora.

„Wie lange ist er wach?“

„Noch keine fünf Minuten, glaube ich…“

„In Ordnung.“ Dr. Kimura beugte sich jetzt über das Bett, so dass er Tsubasa wie beim letzten Mal direkt in die Augen sehen konnte. „Du kennst mich noch, Tsubasa, ja?“

Tsubasa brachte wieder ein Nicken zustande, und Dr. Kimura wirkte zufrieden.

„Sehr schön. Das ist ein guter Anfang. Und du erinnerst dich auch daran, was passiert ist?“

Wieder ein Nicken. Dr. Kimura begann mit der Routine-Untersuchung, an die Tsubasa sich ebenfalls nur zu gut erinnerte. Pupillen-Reflexe, Atmung, Motorik…. Dabei erklärte er – ebenfalls wie beim letzten Mal – als könnte er den Fragenkatalog erahnen, der sich in Tsubasas Kopf ausbreitete. Vermutlich konnte er das auch. Solche Situationen gehörten wahrscheinlich zu seinem beruflichen Alltag.

„Dass du wieder in derselben Klinik bist wie vor einigen Wochen, hast du dir vermutlich schon selbst zusammenreimen können. Eingeliefert worden bist du vor rund 6 Tagen, in der Zeit warst du durchgehend bewusstlos und nicht ansprechbar. Die Blutung haben wir wie beim ersten Mal durch eine Notoperation stoppen können, und so wie es aussieht hattest du wieder mehr Glück als Verstand. Ich denke nicht, dass du bleibende Schäden behalten wirst, jetzt, wo du aufgewacht bist. Allerdings hast du uns dieses Mal wirklich einen gehörigen Schrecken eingejagt, es war verdammt knapp. Die Sanitäter hatten vor Ort große Schwierigkeiten, dich zu stabilisieren, du bist ihnen ständig weggerutscht…. Der Schock, der Blutverlust und die verdammte Überdosis….. Drei Tabletten auf einmal, warum zum Teufel….“ Er brach ab, dann schüttelte er seufzend den Kopf und blickte kurz zu Herrn Ozora hinüber, der bleich und schweigend neben dem Bett saß und zuhörte. „Zum Glück ist dieser andere Junge - Taro, glaube ich – rechtzeitig aufgewacht und hat uns davon erzählt. Danach konnten die Sanitäter entsprechend mit Medikamenten reagieren und mit einer neuen Blutspende vor Ort von deinem Vater waren sie sich dann endlich einigermaßen sicher, dass du die Fahrt hierher schaffst.“ Dr. Kimura seufzte wieder. „Nun ja, das Wichtigste ist, dass du über den Berg bist jetzt. Aber du wirst viel Ruhe brauchen, stell dich am besten gleich darauf ein, dass du länger unser Gast sein wirst. So schnell lasse ich dich dieses Mal nicht aus den Augen! Man sollte das Glück besser nicht herausfordern…. Wie fühlst du dich, hast du irgendwo Schmerzen, oder Taubheitsgefühle, außer deinem Bein?“

Tsubasa schüttelte benommen den Kopf. Der Gedanke daran, wie haarscharf es dieses Mal anscheinend gewesen war, ließ ihn unwillkürlich frösteln. „N….nein. Nur müde….“

„Gut. Das ist sehr gut.“ Dr. Kimura nickte ernst, wirkte aber zufrieden. „Wir warten noch ein bis zwei Stunden, dann solltest du vielleicht schon probieren, eine Kleinigkeit zu essen. Es ist wichtig, dass du wieder zu Kräften kommst. Willst du es jetzt schon mit etwas Wasser versuchen?“

Wasser. Unwillkürlich erinnerte er sich an die Wasserflasche, die ihm Roberto an diesem Tag in Sao Paolo in die Hand gedrückt hatte, an die gleißende Sonne und an Sanaes Geruch, als sie ihm strahlend um den Hals fiel und sie beide zu Boden riss.

„Tsubasa?“

Er zuckte leicht zusammen und blickte Dr. Kimura verwirrt an, der die Stirn runzelte und erneut nickte.

„Du hast noch Schwierigkeiten, dich zu konzentrieren, vermute ich? Keine Sorge, das ist bis zu einem gewissen Grad auch völlig normal. Hast du meine Frage vorhin verstanden? Sollen wir es mit etwas Wasser versuchen?“

Dieses Mal nickte Tsubasa wieder, und das war die richtige Entscheidung. Das Wasser brannte zwar in seinem geschundenen Hals, aber es half ihm, einen klareren Kopf zu bekommen. Dr. Kimura nickte erneut zufrieden und wandte sich an Herrn Ozora.

„Ich schaue in ein bis zwei Stunden noch einmal vorbei. Rufen Sie mich, falls vorher etwas sein sollte, aber ich denke, Sie müssen sich keine Sorgen mehr machen.“ Damit drückte er kurz die Schulter seines Vaters – eine Geste, die Tsubasa erneut irritierte – und verließ das Zimmer. Als sich die Tür hinter ihm schloss, herrschte ein paar Sekunden lang Schweigen.

„W…war es wirklich so schlimm?“

Das Sprechen war immer noch unangenehm, ging zu Tsubasas Erleichterung jedoch bereits deutlich besser. Sein Vater antwortete nicht sofort, und als er es schließlich doch tat, klang er leicht belegt. Er räusperte sich.

„Denk nicht darüber nach. Du bist wach und kommst wieder auf die Beine, das ist das wichtigste….“

„Papa….“

Herr Ozora schwieg wieder, dann seufzte er schließlich. „Wir… wir haben zeitweise mit dem Schlimmsten gerechnet. Die ersten drei Tage warst du auf der Intensivstation, sie haben dich rund um die Uhr überwacht und mussten auch deine Atmung unterstützen…. Und auch als du stabiler warst und auf die normale Station verlegt worden bist…. Wir hatten Angst, dass du nicht mehr zurück findest, oder….“ Er stockte, und Tsubasa dachte wieder an den Traum, an den sonnigen Tag in Sao Paolo, Sanaes Lächeln und die plötzliche Gewissheit, dass er eigentlich absolut kein Interesse daran hatte, aufzuwachen. Er sagte nichts, und auch sein Vater schwieg, bevor er sich erneut räusperte und wieder nach Tsubasas Arm griff.

„Wie gesagt, denk nicht zu viel darüber nach…. Du bist wach. Deine Mutter wird so froh sein, und Daichi erst….“

Mit einem Mal verblassten die Bilder an den Fußballplatz und wurden durch andere, deutlich weniger angenehme ersetzt. Als Herr Ozora Tsubasas veränderten Gesichtsausdruck bemerkte, schien er zu ahnen, was in ihm vorging, und beeilte sich, weiterzureden.

„Mach dir keine Sorgen. Deine Mutter ist mit Daichi zuhause – er ist körperlich wohlauf, nur immer noch ziemlich verstört, im Moment schläft er nur wenn einer von uns bei ihm ist. Ich denke, das ändert sich aber, sobald er dich gesehen hat… Wir wollten ihm nicht auch noch zumuten ihn hierher zu bringen, und er hat ständig nach dir gefragt und nicht verstanden wo du bist. Taro hat auch alles unbeschadet überstanden, er hatte eine leichte Gehirnerschütterung und ist längst wieder auf den Beinen. Er war auch jeden Tag zusammen mit den anderen hier und hat nach dir gefragt….“ Er brach wieder ab. Tsubasa ahnte, warum. Jetzt betraten sie wohl langsam gefährliches Terrain. Ihm wurde bewusst, dass vermutlich alle darauf brannten herauszufinden, was in dem Kellerraum überhaupt passiert war. Daichi konnte es ihnen schlecht sagen, Taro genauso wenig, der war schließlich nicht dabei gewesen. Auf der anderen Seite wollte Tsubasa wissen, was außerhalb von dem Kellerraum passiert war. Warum seine Eltern gemeinsam mit der Polizei plötzlich vor dem Haus aufgetaucht waren. Gleichzeitig fühlte er sich allein bei dem Gedanken daran, all das erzählen und sich anhören zu müssen, wieder unglaublich müde. Und sein Vater schien genau das ebenfalls zu ahnen und zu spüren.

„Wir können später darüber reden.“, meinte Herr Ozora leise und ernst. „Es war eine verdammt anstrengende Zeit für alle, aber jetzt ist es vorbei. Endgültig. Sieh zu, dass du wieder gesund wirst, dann sehen wir weiter.“

Anstrengende Zeit für alle. Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Tsubasa hätte beinahe gelacht, aber auch dafür war er noch zu müde.

„Die Polizei….wird sicher nicht noch länger warten wollen, oder?“

„Dr. Kimura wird schon dafür sorgen, dass sie warten, und wenn nicht sind immer noch deine Mutter und ich da.“ Herr Ozora lächelte dünn. „Die Presse wird sicher auch noch mal vorstellig werden, sobald sie mitkriegen, dass du aufgewacht bist, aber das Interesse ist in der Woche schon deutlich wieder abgeflaut, vielleicht haben wir wenigstens in der Hinsicht Glück. Wie gesagt, kümmer du dich nur darum, dass du wieder gesund wirst, und mach dir keine Sorgen.“

„Was haben sie mit Hideo gemacht?“

Herr Ozoras Blick verdüsterte sich, auch darüber wollte er offensichtlich nicht gerne sprechen. „Lass uns wie gesagt später darüber reden. Er ist sicher verwahrt und kann keinen Schaden mehr anrichten, also zerbrich dir über ihn nicht den Kopf.“

Das war leichter gesagt als getan, aber Tsubasa sagte nichts. Er wartete auf ein Gefühl der Erleichterung, aber es kam nicht. Nur die bleierne Müdigkeit wurde stärker. Herr Ozora lächelte plötzlich.

„Wir haben übrigens zwei Überraschungen für dich. Roberto ist hier.“

Das war in der Tat eine Überraschung. Tsubasa starrte seinen Vater verdattert an.

„Was? Warum?“

Herr Ozora schnaubte. „Da fragst du noch? Ich habe natürlich mit ihm gesprochen, und sobald er gehört hat, was passiert ist… na ja, du kannst dir den Rest sicher denken. Er war fuchsteufelswild und ist sofort mit dem nächstbesten Flugzeug angereist. Er war sogar bis vor zwei Stunden noch hier, dann wollte er zurück und nach deiner Mutter und Daichi sehen.“

Tsubasa starrte ihn immer noch verdattert an. Nein, so wirklich überraschend war das nicht, wenn er näher darüber nachdachte. Aber trotzdem…..

Herr Ozoras Griff um Tsubasas Arm verstärkte sich, und er lächelte wieder. „Über die zweite Überraschung wirst du dich bestimmt noch mehr freuen. Sanae….“

„Ist wach.“

Jetzt war es an seinem Vater, ihn verdutzt anzustarren. „Ja… aber woher weißt du das?“

Tsubasa lächelte müde und schloss die Augen. „Lange Geschichte….“

Rückblick

Sechs Tage zuvor….

Stau. Seit 20 Minuten hatte sich die kilometerlange Schlange nicht einen Meter vorwärts bewegt. Herr Ozora starrte geradeaus, auf die roten Rücklichter des LKWs direkt vor ihm, seine Hände so fest um das Lenkrad gekrampft dass seine Knöchel weiß hervortraten. Seine Frau auf dem Beifahrersitz versuchte bereits zum zehnten Mal, jemanden in der Klinik ans Telefon zu bekommen, vergeblich.

„Besetzt.“, meinte sie tonlos und starrte auf das Display des Telefons. „Ich verstehe das nicht. Warum ist da ständig besetzt? Irgendjemand muss uns doch sagen….“

Sie brach ab, und Herr Ozora warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. Sie war kreidebleich, hatte aber nicht geweint. Der Anruf des Polizisten hatte sie mitten beim Dessert auf der Geburtstagsfeier erreicht. Ein Herr Yamamoto, der ihnen nüchtern verkündet hatte, dass ihre beiden Söhne in die chirurgische Spezialklinik in Tokyo eingeliefert worden waren. Ein Unbekannter hatte direkt durch das Wohnzimmerfenster geschossen und Tsubasa im unteren Bauchbereich getroffen. Er wurde bereits notoperiert, sein Zustand war äußerst kritisch. Ein Nachbar hatte den Schuss gehört und Polizei sowie Notarzt alarmiert. Daichi ging es den Umständen entsprechend anscheinend gut, er hatte nur eine Schramme an der Wange, möglicherweise von einem Glassplitter, als der Schuss durchs Fenster geschlagen war, aber da man ihn auch schlecht alleine im Haus hatte lassen können und Vorsicht besser war als Nachsicht, hatten sie ihn kurzerhand gemeinsam mit Tsubasa im Rettungshubschrauber in die Klinik nach Tokyo gebracht. Dieser Anruf war eine gute halbe Stunde her. Seitdem versuchte Frau Ozora ununterbrochen, besagtes Krankenhaus zu erreichen, um mehr über den Zustand ihrer Söhne herauszufinden, ohne Erfolg – während Herr Ozora das Lenkrad umklammerte und die Autos vor sich anstarrte.

„Ich verstehe das immer noch nicht.“, meinte seine Frau leicht erstickt. „Ich meine, warum war Daichi im Wohnzimmer? Ich hab ihn doch ins Bett gebracht! Und wo sind Taro und Kojiro? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie…. Ich dachte, sie bleiben, bis wir wieder da sind…..“

Herr Ozora zuckte hilflos mit den Schultern. Dieselbe Frage stellte er sich auch wieder und wieder. Leider gab es keine Möglichkeit, mit den beiden Kontakt aufzunehmen, sie hatten keine Handy-Nummern. Frau Ozora begann jetzt doch zu weinen, stumme Tränen liefen ihr die Wangen hinunter.

„Wir hätten nicht auf diesen dämlichen Geburtstag gehen sollen….“

Auch dieser Gedanke drehte sich wieder und wieder in Herrn Ozoras Kopf. Er fasste die Hand seiner Frau und drückte sie leicht. Die Autos rückten immer noch keinen Millimeter vorwärts. Just in diesem Moment klingelte das Handy, und das unerwartete Geräusch ließ beide zusammenzucken. Nach der ersten Schrecksekunde tastete seine Frau fahrig nach dem richtigen Knopf und nahm ab.

„Ja?“ Ihre Augen weiteten sich. „Was….?“ Sie stockte und blickte ihren Mann an, der sie gespannt und besorgt anstarrte. „Moment.“ Sie nahm das Telefon vom Ohr und stellte es auf laut. Jetzt war Ryos Stimme im ganzen Auto zu hören.

„Sorry für die Störung, ich hoffe ich platze nicht mitten in die Feier….“

„Wir sind schon lange nicht mehr auf der Feier.“ Offensichtlich wusste Ryo nichts von dem Vorfall, und kurz schoss Frau Ozora der Gedanke durch den Kopf, ob es besser wäre, ihn zu schonen und die Neuigkeiten erst mal für sich zu behalten. Allerdings verwarf sie ihn gleich wieder. Ryo hatte die Wahrheit verdient, genau wie alle anderen, die mit Tsubasa befreundet waren.

„Du….hast noch nichts von dem Schuss gehört?“, fragte sie daher und versuchte dabei ihre Stimme so gut es ging unter Kontrolle zu halten.

In der Leitung herrschte für kurze Zeit Stille.

„Was für ein Schuss? Wann?“, fragte Ryo dann, und Frau Ozora holte zitternd Luft, bevor sie die Nachricht des Polizisten weitergab. Danach herrschte wieder kurz Stille.

„Wir wissen noch nichts genaueres … Die Autobahn ist voll gesperrt und wir stecken fest, und im Krankenhaus erreichen wir niemanden…“ , redete sie dann weiter, aber in der nächsten Sekunde fiel Ryo ihr bereits ins Wort.

„Das kann nicht sein.“

Wieder Schweigen. Herr und Frau Ozora tauschten einen verdutzten Blick.

„Wie meinst du das?“

„Das kann nicht sein.“, wiederholte Ryo und klang nun seinerseits sehr aufgeregt. „Das passt zeitlich nicht! Als dieser angebliche Schuss abgefeuert worden ist, waren Kojiro und Taro noch bei den Beiden. Da ist nicht geschossen worden! Kojiro steht hier neben mir und hört mit, er ist sich hundertprozentig sicher, dass das nicht stimmen kann!“

„Ja….. aber…..“ Frau Ozora stockte verwirrt, und jetzt schaltete sich ihr Mann ein.

„Warum rufst du an? Wo seid ihr, warum ist Kojiro nicht mehr in unserem Haus? Was zum Teufel ist hier los?“

Ryo zögerte einen kurzen Augenblick, dann hörten sie ihn ebenfalls tief Luft holen. „Ich rufe an, weil Tsubasa und Taro seit gut zehn Minuten nicht mehr per Handy erreichbar sind. Es gab einen neuen Zwischenfall, jemand ist ins Haus eingebrochen und hat Daichi entführt….“

Das Handy rutschte aus Frau Ozoras tauben Fingern, aber ihr Mann fing es auf und fasste mit der freien Hand wieder nach ihrem Arm, ohne das Telefon dabei jedoch aus den Augen zu lassen. Ryo redete jetzt immer schneller.

„Tsubasa hat eine SMS bekommen, dass er zu dem neuen Fußballplatz kommen soll, wenn er Daichi lebend wiedersehen will….alleine, ohne uns und ohne Polizei. Kojiro wollte das verhindern, er hat uns zusammentrommeln lassen und ist zum Fußballplatz gefahren, um dem Typen eine Falle zu stellen…. Taro ist bei Tsubasa geblieben, und ich wollte die beiden gerade anrufen um sicherzugehen dass alles ok ist, und keiner nimmt ab! Taros Handy ist tot, und Tsubasa geht nicht ran. Ich hab es bestimmt schon fünf Mal versucht….“

„Kann es sein, dass er das Klingeln nicht hört?“

„Nein.“ Ryo zögerte wieder. „Kojiro hat die Krücken mitgenommen, um sicher zu gehen, dass Tsubasa keine Dummheiten macht und im Haus bleibt, er kann nicht großartig weg vom Wohnzimmer. Und das Handy lag direkt neben ihm…. Wir waren uns nicht sicher, was wir machen sollen. Izawa und ich wollten schon zurück und nachsehen, aber Kojiro meint, wir müssen hier bleiben, weil dieser Typ hier auftauchen könnte. Darum dachte ich, ich rufe Sie wenigstens an…“

„Das war genau richtig.“

Herr Ozoras Gedanken rasten, Erleichterung und neue Panik rangen miteinander. Falls es stimmte und Tsubasa tatsächlich nicht im Krankenhaus war – wo war er dann? Warum nahm er nicht ab? Wo war Daichi? Seine Entscheidung fiel in Sekundenbruchteilen. Ohne sich um den erschrockenen Aufschrei seiner Frau zu kümmern, riss er das Steuer herum, lenkte den Wagen auf den Standstreifen und gab Gas.

„Was ist los?“, fragte Ryo erschrocken.

„Nichts ist los. Wir nehmen eine Abkürzung. Ryo, hör zu, ihr bleibt genau wo ihr seid! Beobachtet den Fußballplatz, und falls der Typ auftaucht oder ihr Daichi findet, ruft ihr sofort wieder an. Verstanden?“

„Ja….okay….aber….“

Herr Ozora beendete das Gespräch, ohne sich um Ryos Einwand zu kümmern, und drückte seiner Frau das Handy in die Hand, die immer noch wie erstarrt auf dem Beifahrersitz saß.

„Ruf die Polizei. Los!“

„A….aber…wohin…?“

„Nach Hause! Erinnerst du dich nicht mehr an das letzte Mal?“

Frau Ozora starrte ihn immer noch mit schreck geweiteten Augen an, dann verstand sie und wählte mit zitternden Fingern den Notruf. Herr Ozora ließ den Standstreifen vor sich nicht aus den Augen, drückte wieder und wieder die Hupe, um die anderen Fahrzeuge zu warnen. Ein Auffahrunfall war das letzte, was sie noch brauchen konnten! Dennoch ging er nicht vom Gas. Die Ausfahrt kam näher und näher…..

„Was….was ist wenn Kojiro sich doch irrt und die Beiden in Tokyo….“, setzte Frau Ozora zögernd an.

„Dann können wir ihnen eh nicht helfen. Zumindest Tsubasa nicht.“, meinte Her Ozora mit zusammengebissenen Zähnen. „Falls sie in der Klinik sind, sind sie in guten Händen, und das schlimmste Szenario für Daichi ist, dass wir ihn eine Stunde später abholen. Falls nicht…“ Er ließ den Satz offen, und seine Frau sagte nichts mehr, stattdessen drückte sie auf die Ruf-Taste. Das Gespräch mit der Polizei verlief sehr kurz. Mit der Information, dass mehrere Streifenwagen unterwegs waren und auch ein Notarzt-Team verständigt werden würde, brachten sie den Rest der Strecke in angespanntem Schweigen hinter sich. Herr Ozora kümmerte sich nicht um Geschwindigkeitsbegrenzungen, es war reines Glück, dass sie unfallfrei und ohne Schwierigkeiten mit Radarkontrollen in Nankatsu ankamen. Schon von weitem hörten sie die Sirenen der anrückenden Einsatzkräfte. Sie erreichten das Grundstück fast gemeinsam. Herr Ozora kam mit quietschenden Bremsen auf dem Bürgersteig zum Stehen, kümmerte sich aber nicht darum, sondern sprang augenblicklich aus dem Auto. Die zerbrochene Fensterscheibe in der Küche fiel ihm fast sofort ins Auge. Er biss die Zähne zusammen, rannte los und achtete weder darauf, ob seine Frau ihm folgte, noch auf die Polizisten und die Sanitäter, die ihn voller Einsatzmontur um ihn herum ausschwärmten und die Haustür auftraten. Offensichtlich war sie nur angelehnt gewesen, das war kein gutes Zeichen. Oder doch? Immerhin bestätigte es seinen Verdacht. Nach kurzem Zögern lief er nicht ins Wohnzimmer – was er dort vorfinden würde, konnte er sich nach den „Gesichert!“-Rufen der Polizei, die sich mittlerweile in fast alle Räume verteilt waren, schon denken. Tsubasa war nicht da. Falls doch, hätte er sich bestimmt irgendwie bemerkbar gemacht. Auch das bestätigte seinen Verdacht. Herr Ozora wandte sich ohne weiteres Zögern zur Küche.

„Hey! Warten Sie mal….“ Dieses Mal packte ihn in der Tat ein Polizist am Arm. „Sie gefährden den ganzen Einsatz! Ich kann verstehen, dass Sie aufgeregt sind, aber überlassen Sie das besser uns! Warten Sie draußen, bis wir alles gesichert haben!“

„Von wegen gesichert!“ Er riss sich los. „Ich weiß genau, wo Tsubasa ist, und mit etwas Glück ist Daichi auch da, also sagen Sie mir nicht, dass ich mich zurückhalten soll!“

Damit drängelte er sich nicht gerade sanft an dem Mann vorbei und lief weiter zur Kellertreppe, die Proteste des Beamten ignorierend. Er hörte am Rande etwas von „zur Not auch gewaltsam entfernen“, aber das war ihm im Moment auch egal.

„Er ist hier unten! Ich bin sicher, dass er hier unten ist….“

In der Tat war er sich mit jedem Schritt sicherer. Die obere Kellertür stand offen. Sie stand niemals grundlos offen, nicht nach der Geschichte vor fünf Jahren. Der Polizist hatte es offenbar aufgegeben, ihn belehren zu wollen, und folgte ihm stattdessen dicht auf den Fersen. Herr Ozora kümmerte sich nach wie vor nicht darum. Er hastete die Treppe nach unten und hämmerte gegen die Kellertür.

„Tsubasa? Tsubasa, hörst du mich?“

Es vergingen ein paar angstvolle Sekunden, während derer Herr Ozora erneut spürte, dass er am Arm gepackt wurde. Der Polizist machte gerade Anstalten, ihn wieder zurück zu ziehen, als sie die Antwort hörten.

„J….ja….. Ich bin hier…. Und Daichi auch….“

Der Polizist erstarrte mitten in der Bewegung, Herr Ozora bekam vor Erleichterung weiche Knie und musste sich an der Tür abstützen.

„Gott sei Dank… Wir haben so gebetet, dass wir Recht haben…. Seid ihr in Ordnung? Ist dieser Mistkerl bei euch?“

„Ja….. Er hat die Tür abgeschlossen von innen….. Ich komme nicht an den Schlüssel….“

Herr Ozora blickte zu dem Polizisten hinüber, der mittlerweile hastig ein paar leise, kurze Befehle in sein Funkgerät sprach und anschließend zwei weiteren Kollegen ein Zeichen gab. Offenbar hatte er den Einsatzleiter neben sich, gut – das konnte die Sache nur Beschleunigen.

„Die Polizei kann die Tür aufbrechen. Haltet Abstand und bleib noch ein paar Augenblicke ganz ruhig, wir sind gleich da.“

Der Polizist nickte bestätigend. Offenbar wollte er so dicht vor der Tür nicht mehr sagen als nötig, solange nicht sicher war, wie die Situation im Raum aussah. Aber dass Tsubasa so frei antworten konnte, war hoffentlich auch ein gutes Zeichen. Als Herr Ozora dieses Mal von dem Beamten mit bestimmtem Druck in Richtung Treppe geschoben wurde, wehrte er sich nicht und machte den Polizisten, die mit einem kleinen, tragbaren Rammbock nachrückten, bereitwillig Platz. Fast das ganze Einsatzkommando hatte sich mittlerweile in der Küche versammelt. Auch Frau Ozora war da und schien inzwischen am Rande eines Nervenzusammenbruchs, sie zitterte am ganzen Körper. Mit einem leicht schlechten Gewissen, das er sich nicht früher um sie gekümmert hatte, hastete er zu seiner Frau hinüber und legte stützend den Arm um sie.

„Schsch. Sie sind alle beide hier, und ich glaube, Tsubasa hat die Situation unter Kontrolle…. Keine Sorge, gleich ist es vorbei….“, meinte er leise und drückte ihr sanft einen Kuss gegen die Schläfe. Frau Ozora gab keine Antwort, stattdessen schlang sie die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. Er strich ihr beruhigend über den Rücken und blickte dann zur Treppe hinüber. Die Polizisten waren auf Position, es wurde still – dann hob der Einsatzleiter die Stimme.

„Auf drei! Eins – zwei – drei!“

Als der Rammbock auf das Holz traf, hallte der Schlag durch das ganze Haus. Die Polizisten holten ein zweites Mal aus, dann ein drittes und ein viertes Mal – dann gab die Tür mit einem ohrenbetäubenden Krachen nach, und mit einem Mal explodierte das Chaos. Alles passierte gleichzeitig. Die Beamten stürmten den Keller, Daichi weinte, jemand schrie wutentbrannt – als Herr Ozora registrierte, dass es sich dabei nicht um Tsubasa handelte, atmete er erneut erleichtert auf – aber nur solange, bis einer der Polizisten sehr energisch nach den Sanitätern zu rufen begann. Gleichzeitig begann Daichi wie am Spieß zu schreien. Das brachte auch in seiner Frau neue Energie-Reserven zum Vorschein, sie löste sich mit einem Ruck aus seiner Umarmung und hastete in Richtung Treppe. Er folgte ihr ohne nachzudenken. Dieses Mal traten ihr jedoch gleich mehrere Polizisten in den Weg, während sie von Sanitätern überholt wurden, die in den Kellerraum hasteten.

„Sie bleiben hier oben, bis wir die Lage unten vollständig unter Kontrolle haben!“

„Lassen Sie uns durch, verdammt noch mal! Das sind unsere Kinder!“ Frau Ozora wollte sich an den Beamten vorbei schieben, hatte aber keine Chance.

„Gedulden Sie sich noch ein paar Minuten, bis der Verdächtige abgeführt ist und die Sanitäter die Erstversorgung vorgenommen haben! Wenn Sie die Kollegen bei der Arbeit behindern, macht es das nur schlimmer!“

„Aber….“

„Sie können entweder hier warten, oder in einem Einsatzwagen unter Bewachung! Ihre Entscheidung!“

„Sagen Sie uns wenigstens, was los ist!“, flehte Frau Ozora. In der nächsten Sekunde erschien ein Beamter auf der Treppe, der Daichi trug. Er hatte es nicht leicht, den Kleinen festzuhalten, er schrie immer noch wie am Spieß und trat wild um sich. Herr und Frau Ozora gefror das Blut in den Adern, als sie das Blut auf Daichis Kleidung und in seinem Gesicht registrierten.

„Der Kleine ist okay.“, versicherte ihnen der Polizist und gab Daichi an seine Mutter weiter. „Unverletzt, zumindest sagt ihr ältester Sohn das. Bringen Sie ihn nach draußen, zwei weitere Sanitäter werden sich um ihn kümmern und sicher gehen, dass ihm nichts fehlt. Möglicherweise braucht er auch ein Beruhigungsmittel…“

Frau Ozora nahm Daichi automatisch in den Arm und drückte ihn schützend an sich. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er registrierte, dass seine Mutter jetzt da war, dann wurde sein Schreien zu einem erstickten Wimmern, während er die Hände fest in ihre Bluse krallte.

„Was ist mit Tsubasa?“, wollte Herr Ozora besorgt wissen, ohne den Blick von seinem jüngsten Sohn zu lösen. Wenn das Blut auf Daichis Kleidung nicht von ihm selbst stammte, dann…. Und warum hatte er von Tsubasa selbst nichts mehr gehört, seit die Tür aufgebrochen worden war?

„Die Sanitäter kümmern sich um ihn, keine Sorge – er ist in guten Händen….“

„Soll mich das jetzt beruhigen? Sagen Sie uns zum Teufel noch mal, was los ist! Lassen Sie uns nach unten!“

„Sie würden die Kollegen nur behindern…“

Herr Ozora hatte genug, er schob den Polizisten zur Seite und kämpfte sich erneut einen Weg nach unten. Dieses Mal schaffte er es, seine Frau dicht auf den Fersen. Sobald er den Kellerraum betreten konnte, stockte ihm der Atem. Zum einen waren da die beiden Polizisten, die auf einem sich heftig wehrenden jungen Mann knieten und ihm zu zweit die Arme auf den Rücken drehten. Er war dermaßen in Rage, dass seine Flüche und sein Schreien nur als unartikulierte Laute wahrzunehmen waren. Schlimmer war jedoch Tsubasas Körper, der leichenblass und leblos vor der Wand lag, umgeben von drei Sanitätern, die bei ihm auf dem Fußboden knieten und sich dabei nicht um das viele Blut kümmerten, das sich ausgehend von Tsubasas Bein auf dem Boden ausgebreitet hatte.

„Oh Gott….“ Frau Ozora wimmerte erstickt und drückte Daichi unwillkürlich fester an sich. Herr Ozora trat geschockt einen Schritt näher. Tsubasa reagierte nicht auf die Ansprech-Versuche der Sanitäter, während sie einen Druckverband anlegten und die ersten Zugänge für die Medikamente vorbereiteten. Er hatte die Augen zwar geöffnet, aber sein Blick war unfokussiert und ging apathisch ins Leere.

„Oh Gott….“, wimmerte Frau Ozora wieder, und dieses Mal brachte ihre Stimme Herrn Ozora zur Besinnung. Er drehte sich zu ihr um und schob sie sanft aus dem Raum.

„Bring Daichi hier raus – wenn er das sieht, wird es für ihn noch schlimmer, als es ohnehin schon ist.“, meinte er heiser. „Ich bleibe hier. Los, geh schon…. Kümmer dich darum, dass er gut versorgt wird….“

Seine Frau gehorchte automatisch, und Herr Ozora wandte sich wieder zu seinem ältesten Sohn um. Die Sanitäter wirkten immer noch hochkonzentriert und ließen sich rein äußerlich nicht aus der Ruhe bringen. Inzwischen hatten sie Tsubasa behutsam auf den Rücken gedreht, so dass sie seine Beinwunde leichter versorgen und ihn an diverse medizinische Geräte anschließen konnten. Auch darauf reagierte er nicht. Die Geräusche, die diese Geräte von sich gaben, ließen Herrn Ozora unwillkürlich frösteln. Er war kein Arzt, aber sogar für ihn klang das leise, immerhin regelmäßige Piepen, das Tsubasas Herzschlag anzeigte, deutlich zu langsam. Die Tatsache, dass die Sanitäter ihm mittlerweile zusätzlich noch eine Sauerstoffmaske über Mund und Nase pressten, war vermutlich ebenfalls kein gutes Zeichen. Herr Ozora schloss für den Bruchteil einer Sekunde die Augen, dann ging er zu den drei Männern hinüber.

„Sagen Sie mir, wie ich helfen kann.“

Wiedersehen

Als Tsubasa erneut die Augen aufschlug, fühlte er sich immer noch ziemlich benommen, gleichzeitig aber auch deutlich entspannter. Er hatte wie üblich keine Ahnung, wie lange er geschlafen hatte – das Zimmer war immer noch hell und sein Bein immer noch taub. Der einzige Anhaltspunkt, dass überhaupt Zeit vergangen war, war der neue Besucher im Raum. Roberto hatte es sich auf dem Stuhl bequem gemacht, auf dem Tsubasas Vater das letzte Mal gesessen hatte, und musterte ihn ernst, ohne ein Wort zu sagen. Die medizinischen Geräte waren mittlerweile wohl auf stumm gestellt – Tsubasa hörte nichts, spürte die Kabel allerdings nach wie vor. Die Stille, die im Zimmer lastete, war keinesfalls unangenehm, sie wirkte im Gegenteil fast beruhigend. Als Roberto das Schweigen schließlich brach, war Tsubasa schon beinahe wieder eingeschlafen.

„Erinnere mich daran, dass ich dich nie wieder in Urlaub schicke. Noch einmal machen meine Nerven das nicht mit.“

Seine Stimme klang leicht heiser. Auch er wirkte übernächtigt und erschöpft. Noch bevor Tsubasa eine Antwort zustande brachte, redete Roberto bereits weiter.

„Wie fühlst du dich?“

Tsubasa brauchte ein paar Sekunden, bis sich ein klarer Satz in seinem Kopf formuliert hatte, aber dann lächelte er schwach. „Nicht….wirklich erholt. Aber sonst ganz gut….“

Roberto blinzelte ihn einen Augenblick lang stumm an, dann schüttelte er den Kopf und verkniff sich ein Grinsen.

„Na, immerhin…..“

„W… wie lange sitzt du schon hier?“

„Eine gute Dreiviertelstunde. Dein Vater musste dringend ein paar Stunden schlafen…. Und aus irgendeinem Grund wollen deine Eltern dich nicht wirklich aus den Augen lassen im Moment.“ Roberto wurde wieder ernst und musterte Tsubasa erneut. „Was ich gut verstehen kann. Die Tapete hat mehr Farbe als du...“ Er beugte sich nach vorne und packte Tsubasas Arm. „Ich hoffe, dir ist klar, was immer noch auf dem Spiel steht? Du hältst dich an die Anweisung der Ärzte, verstanden?“

Tsubasa blickte ihn leicht irritiert an, dann registrierte er die Sorge, die sich immer noch in Robertos Miene spiegelte.

„Ja… Ich bin brav…. Versprochen….“

„Gut. Wenn nicht, fessele ich dich höchstpersönlich ans Bett.“ Roberto ließ ihn los und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, bevor er seufzend den Kopf schüttelte. „Als ich dich nach Japan geschickt habe, habe ich zwar ernsthaft daran gezweifelt, ob du zurückkommst, aber an so etwas habe ich dabei definitiv nicht gedacht. Da lässt man dich ein paar Wochen aus den Augen, und dann das….“

„Hast… hast du Ärger im Verein meinetwegen?“

Jetzt war es an Roberto, ihn irritiert anzuschauen. „Ärger? Wieso?“

„Weil...weil du einfach so hierhergeflogen bist….“

Roberto schnaubte. „Ach, Schwachsinn. Erstens habe ich genauso das Recht auf Urlaub wie jeder andere auch, und ich habe schon seit Jahren keinen mehr eingereicht. Zweitens war der ganze Verein geschockt, sobald sie gehört haben, dass du schon wieder im Krankenhaus liegst…“ Er brach ab, dann redete er weiter. „Deine Teamkameraden waren zum Teil selbst schon kurz davor, ins nächste Flugzeug zu springen…. Letzten Endes war es für den Vorstand besser, dass sie mich offiziell beurlaubt und hierher geschickt haben, dadurch haben sie eine größere Fahnenflucht verhindert. Wobei ich so oder so geflogen wäre. Das habe ich dir ja schon am Telefon gesagt. Also mach dir darüber keinen Kopf. Alles in Ordnung.“

Tsubasa wusste nicht wirklich, was er darauf antworten sollte – es dauerte wieder einige Sekunden, bis er in der Lage war, wirklich alles aufzunehmen, was Roberto gesagt hatte. Es fiel ihm immer noch schwer, sich länger auf etwas zu konzentrieren, außerdem wurde er schon wieder müde. Im Moment schien es nichts Schöneres zu geben als zu schlafen…. Fast nichts. Anscheinend war ihm genau das deutlich anzusehen.

„Schlaf ruhig.“ Robertos Stimme klang bereits sehr weit weg. „Du kannst es brauchen.“

Tsubasa schüttelte den Kopf, aber Roberto redete weiter, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Schlaf, Tsubasa. Mach dir um Sanae keine Sorgen, sie schläft auch und erholt sich. Wir haben ein Auge auf sie, bis du wieder zu Kräften gekommen bist und zu ihr kannst.“

„Wenn…..wenn sie es auch will, würde… würde ich sehr gerne in Sao Paolo bleiben….“

Das kam so plötzlich, dass Roberto ihn perplex anstarrte, dann lächelte er leicht und drückte wieder Tsubasas Arm. „Darüber reden wir, wenn ihr beide wieder gesund seid. Schlaf jetzt….“

Das hörte Tsubasa bereits nicht mehr. Roberto blieb noch ein paar Minuten sitzen, bis er sicher sein konnte, dass er auch wirklich tief und fest schlief, dann erhob er sich und verließ das Zimmer, um Dr. Kimura zu suchen. Ihm war eine Idee gekommen…..
 

***
 

Das nächste Mal wurde Tsubasa durch eine Bewegung an seinem Bett geweckt und durch ein leichtes Ziepen an seinem Handrücken. Er zuckte zusammen und öffnete die Augen. Die Krankenschwester, die sich halb über ihn gebeugt hatte und sich gerade wieder aufrichtete, lächelte ihn halb entschuldigend, halb beruhigend an.

„Ich wollte dich nicht aufwecken, tut mir leid. Schlaf ruhig weiter, wenn du willst.“

Tsubasa blickte sie leicht verwirrt an, dann glitt sein Blick von der Kanüle an seinem Handgelenk zu der neuen Infusion, die am Bettgestell aufgehängt worden war.

„Das ist nur eine Nährstofflösung.“, meinte die Krankenschwester immer noch lächelnd und kontrollierte alles ein letztes Mal, bevor sie den Zugang öffnete. „Ich glaube, das kennst du ja schon…. Dr. Kimura wollte dich lieber so viel wie möglich schlafen lassen und den Versuch mit dem Essen noch ein bisschen aufschieben, bis du etwas kräftiger geworden bist. Kein Grund zur Besorgnis….“ Sie warf einen prüfenden Blick auf die immer noch stumm geschalteten Geräte und nickte dann zufrieden. „Wunderbar. Alles im grünen Bereich….“

Tsubasa blickte sie immer noch verwirrt an und sagte nichts. Das Lächeln der Krankenschwester vertiefte sich, als sie sich wieder etwas zu ihm hinab beugte.

„Du hast übrigens Besuch.“, meinte sie gedämpft, dann zwinkerte sie ihm zu und verließ das Zimmer wieder. Tsubasa sah ihr hinterher, jetzt erst recht verwirrt, dann wandte er den Kopf zur anderen Seite – und erstarrte. Er war in der Tat nicht allein. Sanae lag direkt neben ihm, die Augen geschlossen. Auch bei ihr waren die Geräte stumm geschaltet, sie wirkte immer noch sehr blass und zerbrechlich, aber ihre Miene war völlig entspannt und sie atmete tief und gleichmäßig. Ihr Bett stand so dicht neben seinem, dass er die Hand ausstrecken und sie berühren könnte. Es dauerte allerdings gute fünf Minuten, bis er sich wirklich dazu überwand. Als seine Finger schließlich auf Sanaes Hand trafen, zuckte sie ebenfalls leicht zusammen und schlug die Augen auf. Es dauerte auch bei ihr einige Sekunden, bis sie verstand wo sie war – und dass es sich keinesfalls um eine Halluzination handelte. Genau wie Tsubasa sagte sie kein Wort, aber als die Erkenntnis bei ihr durch sickerte, dass er wirklich hier war, dass sie ihn in der Tat berühren konnte, trat ein Leuchten in ihre Augen. Offensichtlich fiel es ihr schwer, die Finger zu bewegen, aber als sie wenige Minuten später wieder einschliefen – immer noch ohne ein Wort zu sagen, das war nicht nötig – waren ihre Hände so fest ineinander verschränkt, als wollten sie sich nie wieder los lassen.

Comeback

Das Stadion war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Das Publikum toste. Die Gesänge und Sprechchöre waren sogar im Inneren der Umkleidekabine zu hören, wo Tsubasa auf einer Bank saß, den Kopf an die kühle Wand gelehnt und die Augen geschlossen. Er war im Moment allein, aber das störte ihn nicht, im Gegenteil. Er hatte es sich in den letzten Jahren angewöhnt, sich vor den Spielen für ein paar Minuten einen stillen Platz für sich zu suchen, um seine Gedanken zu sammeln und sich ganz auf die nächsten eineinhalb Stunden einstellen zu können. Seine Teamkameraden kannten das und ließen ihn meistens in Ruhe. Und dieses Mal brauchte er diese Minuten dringender denn je. Je lauter die Zuschauer schon jetzt auf der Tribüne tobten, je stärker ihre Gesänge und ihr Klatschen und Stampfen in dem kleinen Raum zu hören waren, desto unwirklicher erschien ihm das Ganze. Eigentlich konnte er kaum realisieren, dass er hier saß und auf den Startpfiff wartete, der in guten fünfzehn bis zwanzig Minuten durch das Stadion hallen würde. In Anbetracht der letzten Monate erschien ihm die Situation geradezu grotesk und surreal. Es war beinahe so, als wäre Hideos Amoklauf gar nicht passiert. Aber es war passiert. Daran erinnerten ihn die orthopädische Sportbandage an seinem Bein, die den Muskel entlasten sollte und ihm noch eine ganze Zeit lang erhalten bleiben würde – mit etwas Pech sogar für immer – und der schmale silberne Ring an seiner Hand.

„Hey.“

Tsubasa zuckte zusammen, hob den Kopf und öffnete die Augen. Gerade noch rechtzeitig – er griff reflexartig zu und fing die kleine Flasche auf, die Carlos ihm zugeworfen hatte.

„Selbstgemacht, wie immer.“ Carlos setzte sich neben ihn. „Mit vielen Grüßen von Maria.“

Tsubasa blickte auf die Flasche in seinen Händen und lächelte unwillkürlich. Zitronen-Limonade. Daran hatte er überhaupt nicht mehr gedacht – auch das war eine Art Ritual geworden vor jedem Spiel, bei dem sie gemeinsam auf dem Platz standen.

„Danke.“

Carlos winkte ab, auch wie jedes Mal, dann musterte er Tsubasa mit leichter Neugier.

„Und, wie geht’s dir? Nervös?“

Tsubasa zuckte mit den Schultern und stellte die Flasche neben sich. „Nicht mehr wie sonst, glaube ich.“

„Ehrlich? Respekt!“

„Warum?“

Carlos starrte ihn an. „Da fragst du noch? Dein erstes Spiel nach der ganzen Sache, dazu ein ausverkauftes Stadion plus die stärkste Mannschaft in der Region als Gegner – ach ja, und natürlich die Anwesenheit von allen Sponsoren und der Presse. Also ehrlich…. Wenn es um meinen Vertrag gehen würde….“

Tsubasa lächelte leicht. „Tut es ja nicht. Also kannst du dich beruhigt entspannen.“

Carlos starrte ihn immer noch an. „Also du tust nicht nur so, ja? Du bist wirklich nicht nervös?“

„Doch, schon. Aber eben nicht mehr als sonst. Es ist immerhin nur ein Spiel. Ein wichtiges zwar, aber eben nur ein Spiel.“

Das war ein Vorteil der ganzen Geschichte. Fußball war Fußball. Nicht mehr, nicht weniger. Tsubasa freute sich darauf, wieder auf dem Platz zu stehen, und er wusste, dass heute einiges auf dem Spiel stand, sowohl für ihn, als auch für Sanae. Aber es war nun einmal nur Fußball. Was konnte da schon schlimmes passieren?

„Ein Spiel.“, wiederholte Carlos ungläubig und schüttelte den Kopf. „Und das von dir. Na ja. Vermutlich ist es ja eine gute Sache, dass du so entspannt da rangehen kannst. Entspannte Spieler spielen immer besser als gestresste. Aber….“ Er zögerte.

„Du musst dir wegen der Verletzung keine Sorgen machen, es ist ausgeheilt. Ich habe grünes Licht vom Sportarzt, vom Physio-Therapeuten und von Roberto.“

Zumindest mehr oder weniger. Alle hatten ihm geraten, noch ein bis zwei Wochen zu warten. Er trainierte erst wieder seit gut zwei Monaten und davon erst knappe zwei Wochen gemeinsam mit der Mannschaft. Davor hatte Roberto mit Erlaubnis des Vorstands separate Trainingseinheiten für ihn ausgearbeitet, um bei Bedarf auf seine Verletzung Rücksicht nehmen zu können und auch seine Kondition und die restliche Muskulatur schonend wieder aufzubauen. Aber länger warten kam nicht in Frage, dafür hing zu viel von diesem Vertrag ab. Sanae war immer noch in Japan in Behandlung. Die Kopfverletzung und das lange Koma hatten zwar keine bleibenden Schäden hinterlassen, was an ein kleines Wunder grenzte, aber sie musste vieles von Grund auf neu lernen. Am schlimmsten war ihre Feinmotorik betroffen ebenso wie ihre Beine. Sie machte zwar gute Fortschritte – seit kurzem konnte sie zumindest kleinere Strecken beinahe wieder ohne Hilfe laufen – aber es war immer noch ein weiter Weg, und Tsubasa wollte, dass sie jede Unterstützung und medizinische Versorgung bekam, die sie brauchte. Und das kostete Geld. Zum Glück hatten sie die letzten Jahre in Sao Paolo sehr sparsam gelebt und zumindest fürs erste mussten sie sich um die finanzielle Absicherung keine Sorgen machen, aber ewig würde das nicht reichen - unter anderem auch deswegen, weil Tsubasa im Augenblick ständig zwischen Japan und Brasilien hin und herreisen musste und weitere Kosten auf sie zu kamen. Er brauchte diesen Vertrag. Wieder wurde er sich dem schmalen, schlichten Ring an seiner Hand bewusst. Niemand hatte bis jetzt etwas gemerkt – zumindest hatte ihn niemand darauf angesprochen, und das war gut so. Wenn es sich zu schnell herum sprach, würde früher oder später vermutlich doch die Presse darauf anspringen, und das war jetzt, wo das Interesse endlich wieder abgeklungen war, das letzte, was sie brauchen könnten.

Sie hatten geheiratet, kaum dass sie beide die Erlaubnis bekommen hatten, die Klinik zumindest temporär zu verlassen. Nur ihre allerengsten Freunde wussten davon – Taro, Ryo, Izawa, Kojiro, Yukari. Und natürlich ihre Familien. Es gab keine Feier, nicht einmal einen Heiratsantrag. Sie hatten nicht einmal großartig vorher darüber gesprochen. Für beide war klar gewesen, dass es nach dieser Geschichte genau das war, was sie wollte. Davon abgesehen war es so einfacher für Tsubasa, Sanaes Behandlung zu bezahlen. Aber dieser rationale Grund war ihnen ironischerweise erst ein, zwei Wochen nach der Hochzeit bewusst geworden, als es an das Ausfüllen der Formulare für Sanaes Verlegung in ein Rehabilitationszentrum ging.

„Tsubasa?“

Er zuckte wieder leicht zusammen und wandte den Kopf. Carlos blickte ihn mit leicht gerunzelter Stirn an.

„Sicher, dass alles okay ist?“

„Ja, alles bestens. Ich war nur in Gedanken.“

„Aha.“ Carlos wirkte nicht vollständig überzeugt, beließ es aber dabei. „Ich vermute, dass du heute Abend schon wieder zurück fliegst?“

„Ja. Ich fahre direkt nach dem Spiel zum Flughafen.“

„Und übermorgen für das nächste Spiel bist du wieder hier?“

„Ja.“

Carlos schüttelte leicht den Kopf. „Ich an deiner Stelle würde das nicht durchhalten. Sicher, dass du nicht lieber noch mal Urlaub nehmen willst, bist sich bei dir alles wieder normalisiert hat? Mit dem Umzug und so? Nicht dass es dich wieder umhaut, so kurz nach…“ Er brach ab. „Na ja, du weißt, was ich meine.“

Tsubasa lächelte schwach. Das war ein interessantes Phänomen. Niemand redete großartig darüber. Nicht, dass ihm das etwas ausgemacht hätte, im Gegenteil – aber die meisten seiner Teamkameraden hier schienen eine stumme Übereinkunft getroffen zu haben, ihn nach Möglichkeit unter keinen Umständen an die ganze Geschichte zu erinnern und ihn in Ruhe zu lassen. Und niemandem schien das so schwer zu fallen wie Carlos. Auch das war wiederum kein Wunder, immerhin war Carlos der erste, mit dem er sich hier angefreundet hatte. Ein einziges Mal, gute zwei Wochen, nachdem Tsubasa nach Sao Paolo zurück gekehrt war, hatte Carlos seinen Mut zusammen genommen und ihn gefragt, ob die Gerüchte stimmten und wie es Sanae ging. Danach nie wieder. Genau genommen war jetzt das zweite Mal, dass er es zumindest indirekt ansprach.

„Ich schaffe das schon, keine Sorge. Ich will nicht schon wieder Urlaub, ich war lange genug weg.“ Davon abgesehen war das Wort „Urlaub“ im Moment noch eindeutig negativ behaftet. In der Hinsicht hatte Roberto mit seiner halb ironisch gemeinten Bemerkung im Krankenhaus gar nicht unrecht gehabt….

„Trotzdem.“, beharrte Carlos. „Ich meine, du fliegst so oft nach Japan im Moment, und oft am selben Tag dann wieder zurück. Der Jetlag muss mörderisch sein! Und dazu hast du die Sachen für deine Familie hier organisiert und für diesen Freund von dir – wie hieß er noch mal?“

„Taro.“

„Ah, richtig. Wann kommt der eigentlich?“

„Mit mir zusammen, wenn ich am Sonntag zurückfliege.“

„Ah.“ Carlos schwieg kurz, dann redete er weiter. „Na ja, was ich sagen wollte – es wäre viel einfacher, wenn du frei hättest.“

„Das passt schon so.“

„Aber…“

Carlos wurde unterbrochen, als Roberto die Kabine betrat.

„Noch fünf Minuten. Carlos, die Anderen wärmen sich schon auf dem Platz auf, besser, du fängst auch damit an.“

Carlos zögerte, aber nur für eine Sekunde. Dann drückte er kurz Tsubasas Schulter. „Na dann. Dein letztes Spiel als Reserve-Spieler. Viel Glück!“

Damit verließ er die Kabine, und Tsubasa war mit Roberto allein, der ihn prüfend musterte.

„Du bist dir sicher?“

„Ja.“

„Du weißt, dass du noch warten könntest. In vier Wochen wäre vermutlich die nächste Chance…“

Tsubasa schüttelte nur den Kopf, und Roberto beließ es dabei.

„In Ordnung. Denk daran, dass du unnötige Sprints vermeidest – teil dir deine Kräfte gut ein und halt dich an das, was wir gestern im Training durchgesprochen haben. Dann dürfte eigentlich alles gut gehen. Die Sponsoren haben dich schon öfter spielen sehen und ich denke nicht, dass sie deine Aufnahme in die Stamm-Mannschaft von einem Sieg abhängig machen. Aber es würde die Sache natürlich erleichtern.“

Tsubasa nickte wieder, dann stand er ebenfalls auf und verließ die Kabine, Roberto dicht hinter ihm. Mit jedem Schritt wurde das Getöse auf dem Stadion lauter, und mit einem Mal kam ihm ein neuer Gedanke. Kenji und Hideo hatten genau das hier verhindern wollen. Der Gedanke, dass sie in mehr als einer Hinsicht gescheitert waren, erfüllte ihn mit einer Art grimmigen Befriedigung. Sie hatten sein Leben nicht unbedingt positiv beeinflusst, aber trotzdem hatten sie es nicht geschafft, ihm das wegzunehmen, was es ausmachte. Ganz im Gegenteil – er wusste jetzt, was ihm wirklich wichtig war, und er würde dafür sorgen, dass es so blieb. Und mit diesem Gedanken atmete er ein letztes Mal tief durch und betrat das Fußballfeld. Das letzte Spiel als Reserve-Spieler, und dann zurück zu Sanae…..

Zukunft

Sooooo - das letzte Kapitel. Zugegebenermaßen etwas komisch für mich - darum wollte ich mich hier kurz noch mal zu Wort melden :) Als ich die Fortsetzung angefangen habe, hab ich nicht damit gerechnet, dass ich so lange daran schreiben werde. Ich habe weder damit gerechnet, dass es bei mir privat so turbulent wird und ich jahrelang eine Schreibblockade bekomme, noch dass die Geschichte so wächst. Ich weiß im Moment nicht, ob ich noch einmal eine FanFiction hier veröffentlichen werde, darum wollte ich auf jeden Fall mal Danke sage an alle, die über die Jahre hinweg treu geblieben und mit gelesen habe, an alle, die erst die letzte Zeit dazu gestoßen sind, an alle die kommentiert haben und an alle die einfach im Hintergrund gelesen haben - und ganz wichtig auch an Dragonohzora, die mich immer mal wieder ermutigt hat und auch immer als Testleserin zur Verfügung stand :) Also danke danke danke ^^ Und ich hoffe, ihr hattet mit der Geschichte viel Spaß! Hier ist jetzt wie versprochen das letzte Kapitel :-)
 


 

Als Tsubasa das Klinikgelände erreichte, war es bereits später Nachmittag, zwei Stunden später als eigentlich vorgesehen. Dummerweise war sein Flugzeug bereits mit einer guten Stunde Verspätung gestartet, eine weitere Stunde hatte ihn dann eine Verzögerung beim Landeanflug gekostet. Immerhin hatte er nur Handgepäck, so dass ihm das Warten an der Ausgabe erspart blieb. Manchmal hatten diese Kurztrips durchaus etwas Gutes. Den Weg durch den großen Klinikkomplex kannte er mittlerweile auswendig. Das meiste Personal, dem er begegnete, kannte ihn schon, auch das sparte Zeit. Er erfuhr ohne Nachfragen, dass Sanae sich auf der großen Sonnenterrasse aufhielt, die zum Gelände gehörte, und lenkte seine Schritte in die entsprechende Richtung. Sein Bein protestierte bei jeder Bewegung mit einem dumpfen Pochen. Das Spiel war letzten Endes doch anstrengender geworden als gedacht – immerhin die erste lange, intensive Belastung nach gut mehreren Monaten, dazu ein unfreiwilliger Sturz, als er mit einem gegnerischen Spieler zusammengeprallt war. Unmittelbar nach dem Schlusspfiff hatte er kaum auftreten können, so dass Roberto sich kurzerhand geweigert hatte, ihn ohne gründliche Untersuchung durch den Sportarzt zum Flughafen zu lassen. Der Befund war jedoch zum Glück den Umständen entsprechend unauffällig – keine neuen bzw. alten Verletzungen. Mit der strengen Auflage, sich die nächsten Tage wieder mehr zu schonen und das Bein im Idealfall die nächsten Stunden hochzulegen, war Tsubasa wieder in Gnaden entlassen worden. Auch wenn der lange Flug von der Körperhaltung her nicht die idealste Lösung gewesen war, hatte die Ruhephase her doch insoweit gut getan, dass er wieder halbwegs normal auftreten konnte und lediglich ein leichtes Humpeln zurück geblieben war. Im Moment war ihm das herzlich egal. Es gab zu viel zu tun…

Trotz des schönen Wetters waren nicht mehr viele Leute auf der Terrasse, er fand Sanae sofort. Sie lag in einem der Liegestühle, in eine warme Decke eingehüllt und ein Buch auf den Knien, ohne zu lesen. Offensichtlich hatte sie auf ihn gewartet, sie entdeckte ihn ebenfalls fast augenblicklich und begann zu strahlen. Als er näher kam, schlich sich jedoch auch Sorge in ihren Blick.

„Du humpelst.“, meinte sie statt einer Begrüßung, und Tsubasa unterdrückte ein Lächeln.

„Ich weiß. Nicht schlimm, keine Sorge. Das Spiel war nur heftiger als gedacht. Gibt sich wieder….“

„Hast du….“

„Ja, habe ich. Roberto hat mich höchstpersönlich zum Sportarzt geschleift, alles gut.“

Sanae atmete auf, während Tsubasa sich einen der freien Besucherstühle heranzog und sich dicht neben sie setzte. Sie legte ihm ohne ein weiteres Wort die Arme um den Hals, und Tsubasa erwiderte die Umarmung ohne zu zögern.

„Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“, meinte Sanae leise und schmiegte das Gesicht an seinen Hals. „Was war los?“

„Verspätung am Flughafen. Tut mir leid….“

Sanae schüttelte nur leicht den Kopf und schmiegte sich noch stärker an ihn. „Hauptsache du bist da.“

Tsubasa sagte nichts mehr, er hielt sie einfach nur fest, und ein paar Minuten blieben sie so sitzen. Auch das war ein Ritual geworden in den letzten Wochen.

„Wie lange kannst du bleiben?“, wollte Sanae schließlich wissen, als sie sich wieder von ihm löste.

„Leider nicht lange. Ich muss nach Nankatsu weiter, heute werden die letzten Umzugskisten und Möbel abgeholt.“

„Heute schon? Ich dachte erst nächste Woche?“

„Das war der ursprüngliche Plan. Es hat sich alles ein bisschen beschleunigt – das Haus in Sao Paolo ist früher fertig geworden, der Käufer in Nankatsu will noch einiges umbauen und renovieren, von daher ist es für alle Beteiligten besser so. Vor allem für Daichi. Mein Vater wollte sogar eventuell noch Flüge für dieselbe Maschine buchen, mit der ich zurück fliege – ob das geklappt hat, weiß ich aber noch nicht.“

Sanae nickte, wirkte aber mit einem Mal leicht niedergeschlagen. „So viel zu tun, und ich sitze hier herum….“

„Du musst wieder gesund werden, das ist das wichtigste.“

Sanae schnaubte. „Das ist eigentlich mein Text. Das ist dir schon klar, oder?“

Tsubasa lächelte leicht und strich ihr ein paar widerspenstige Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Na ja. Wenn du es so sehen willst – willkommen in meiner Welt.“

Sanae musste ebenfalls lachen und schmiegte sich erneut an ihn. „Können wir heute trotzdem gehen, oder ist die Zeit zu kurz?“

„Nein, das reicht auf jeden Fall. Bist du fit genug?“

Sanae schnaubte wieder. „Hey, ich bin nicht derjenige, der humpelt. Und so aussieht, als würde er im Stehen einschlafen.“

Tsubasa sagte nichts dazu. Er war müde, das war nicht zu leugnen – der Jetlag war in der Tat mörderisch, Carlos hatte in diesem Punkt Recht behalten. Das ständige Hin- und Her hatte seinen Biorhythmus komplett durcheinander gebracht, und der große Organisationsaufwand im Zusammenhang mit dem Umzug tat sein Übriges. Vom Fußballtraining ganz zu schweigen.... Aber auch das war fürs erste egal. Falls er zum Schlafen kam, war er immerhin so müde, dass er wie ein Stein ins Bett fiel und sich am nächsten Morgen an keinen einzigen Traum erinnern konnte. Das war gut. Träumen war nach wie vor meistens nicht gut.

Ohne auf Sanaes letzten Kommentar einzugehen, gab er ihr einen kurzen Kuss und stand auf. „Ich melde uns auf der Station ab, anschließend können wir los. Der Weg durch den Garten ist kürzer als vorne herum.“

„Okay.“

Als Tsubasa zurück kam, stand Sanae bereits neben der Liege. Obwohl sie sich mit beiden Händen an der Lehne festhalten musste und sie noch recht wackelig auf den Beinen wirkte, strahlte sie ihn stolz an.

„Ich hab die ganze Woche trainiert.“, verkündete sie, noch bevor Tsubasa auch nur ein Wort sagen konnte. „Heute schaffe ich die Strecke ohne Rollstuhl, du wirst sehen! Wir lassen ihn gleich hier.“

„Bist du sicher, dass….“

„Ja, bin ich. Wir lassen ihn hier.“

Sanae ließ die Lehne los und machte zwei recht unsicher wirkende Schritte in seine Richtung. Tsubasa widerstand dem Impuls, ihr entgegen zu gehen, er wusste, dass jeder noch so kleine Erfolg für sie unglaublich wichtig war. Noch vor zwei Wochen hatte sie kaum alleine aufstehen können. Also beließ er es dabei, ihr die Hände entgegen zu strecken, und in der Tat schaffte Sanae die kurze Strecke, ohne zu stolpern oder zu stürzen. Als sie seine Hände ergreifen und sich haltsuchend an ihm festklammern konnte, strahlte sie erneut, war aber gleichzeitig schon völlig außer Atem.

„Es…. Es sind 500 Meter. Die schaffe ich.“, meinte sie entschlossen. „Du wirst sehen! Ich hab mir das vorgenommen für heute! Du hast deine Prüfung, und ich meine.“

Tsubasa dachte an die letzten 100 Meter der Strecke, die von weichem Sand bedeckt und mit dem Rollstuhl schon immer schwierig gewesen waren. Aber er sagte nichts. Das letzte was er wollte, war Sanae zu entmutigen.

„Halt dich aber an mir fest, hörst du?“, meinte er ernst. „Wenn du hinfällst, bekomme ich von der Stationsschwester vermutlich eine Tracht Prügel.“

Sanae kicherte. „Der Drachen soll sich nicht so haben.“

Trotzdem wehrte sie sich nicht, als Tsubasa ihr den Arm um die Taille legte und sie auf diese Art so gut es ging stützte. Sie hielt zusätzlich an ihm fest, dann setzten sie sich langsam in Bewegung. Sehr langsam. Sie sprachen nicht – Sanae brauchte ihre ganze Konzentration, um einen Fuß vor den anderen zu setzen, und nach ein paar Metern war sie bereits schweiß gebadet. Aber sie ging verbissen weiter, machte nur zwei kurze Pausen, in denen sie Luft holen musste, bevor sie sich wieder in der Lage sah, den nächsten Schritt zu machen. Tsubasas stützender Griff um ihre Taille veränderte sich die ganze Zeit über nicht, und das gab ihr zusätzliches Selbstvertrauen. Als sie den weichen Sand erreichten, war es jedoch vorbei. Bereits der erste Schritt in dem nachgiebigen Untergrund brachte sie aus dem Gleichgewicht, so dass sie beinahe gestürzt wäre, wenn Tsubasa sie nicht festgehalten hätte. Beim zweiten Schritt war endgültig klar, dass sie keine Chance hatte. Der Sand war zu weich, gab zu viel nach, und verlangte ihrer strapazierten Beinmuskulatur zu viel ab. Sie schaffte es nicht. Weder von der Motorik her, noch von der Kraft. Als ihr das bewusst wurde, sackte sie ihn Tsubasa Griff leicht zusammen.

„Ich… tut mir leid…“

Tsubasa sagte gar nichts. Sanae quietschte überrascht und leicht erschrocken auf, als er kurzerhand den Arm unter ihre Kniekehlen schob und sie hoch hob. Der Schmerz in seinem angeschlagenen Beinmuskel flackerte unter der Belastung kurz und heftig auf, wurde aber unter den nächsten Schritten wieder zu dem beinahe vertrauten, dumpfen Pochen. Sanae hatte ihm reflexartig die Arme um den Hals geschlungen und starrte ihn perplex an, während er sie die letzten paar Meter zu ihrem Stammplatz trug. Mit eine Besonderheit der Klinik war, dass ein Strand zum Gelände gehörte und bei gutem Wetter sogar Sand und Wellengang zu physiotherapeutischen Übungen benutzt wurden – natürlich nur bei Patienten, die körperlich schon wieder einigermaßen zu Kräften gekommen und gesund genug waren. Tsubasa und Sanae kamen an jedem Wochenende hierher, wenn das Wetter es zuließ, und saßen eine gute Stunde auf einer Liege in der Nähe des Wassers. Heute war außer ihnen niemand da, und Sanae war froh darüber. Tsubasa setzte sie behutsam auf der Liege ab und ging anschließend kurz zu dem kleinen Häuschen hinüber, in denen Decken, Kissen und Sonnenschirme aufbewahrt wurden. Es war während der Besuchszeit nie abgeschlossen, außer Patienten und deren Familienangehörigen kam niemand hierher. Sanae ließ ihn nicht aus den Augen. Sein Humpeln war natürlich nicht besser geworden, aber zum Glück auch nicht schlimmer. Wenn ihretwegen seine Verletzung wieder aufgebrochen wäre….. Unwillkürlich musste sie lachen, und Tsubasa, der mit einer Decke in der Hand wieder zurückkam, runzelte leicht verwirrt die Stirn.

„Was?“

„Es ist absurd.“, kicherte Sanae. Sie konnte einfach nicht aufhören zu lachen. „Wir sind nur noch damit beschäftigt, uns Sorgen um den anderen zu machen.“ Eigentlich war ihr im Moment nicht zum Lachen zu Mute, aber sie kicherte immer noch. „Ich will alleine zum Strand laufen, du machst dir Sorgen um mich, dann behältst du recht, musst mich deshalb die letzten Meter tragen, und darum mache ich mir wieder Sorgen um dich….“ Erst zu spät bemerkte sie, dass ihr Tränen in den Augen standen und die ersten bereits ihre Wangen hinunter rannen.

Tsubasa sagte nichts, stattdessen legte er ihr die Decke um, setzte sich anschließend hinter sie und zog sie dicht an sich. Sanae kuschelte sich sofort in seine Arme. Ihr Lachen ging endgültig in Weinen über.

„Tut mir leid. Ich dachte wirklich, ich schaffe das….“

„Sanae, so wie die Dinge stehen, bin ich unendlich dankbar, dass ich mir Sorgen um dich machen kann. Und das ich dich tragen kann.“ Tsubasas Stimme war sehr leise. „Du hast alle Zeit der Welt. Ich bin da.“

Mehr sagte er nicht, und auch Sanae schwieg, schmiegte sich nur noch mehr an ihn, so fest sie konnte. Unwillkürlich erinnerte sie sich wieder an die Dinge, die sie während ihrer Zeit im Koma gesehen und gehört hatte – besser gesagt, zu sehen und zu hören geglaubt hatte. Das Gefühl, dass Tsubasa ganz in ihrer Nähe war, dass er nach ihr rief, sie ihn aber weder sehen noch ihm antworten konnte, dann auf einmal die Gewissheit, dass er von ihr weggerissen worden war und ihre Hilfe brauchte….. Dass sie ihn suchen musste und auch gefunden hatte.... Seitdem ertrug sie es kaum mehr, nicht in seiner Nähe zu sein, und die paar Stunden, die er jedes Wochenende mit ihr verbrachte und für die er extra jedes Mal aus Brasilien anreiste, waren in manchen Wochen das einzige, was ihr in den schlechten Momenten ein bisschen Antrieb gab. Sie atmete seinen Geruch tief ein und versuchte nicht daran zu denken, dass er schon bald wieder aufbrechen musste.

„Wie….wie lief das Spiel?“, fragte sie nach ein paar Minuten schließlich leise, als sie glaubte, sich wieder einigermaßen ohne Kontrolle zu haben - ohne sich aus seinem Griff zu lösen.

Tsubasa antwortete nicht sofort. „Der Vertrag ist schon unterschrieben.“

„Ernsthaft?“ Sanae löste sich jetzt doch von ihm und drehte sich halb um, so dass sie ihn ansehen konnte. „Es hat geklappt?“

„Ja. Das Spiel lief nicht ganz so optimal insgesamt, nur unentschieden, aber der Vorstand hatte trotzdem keine Bedenken, mir einen Vertrag für die nächsten drei Jahre anzubieten, und ich habe ihn auch sofort angenommen. Ab dem nächsten Monat bin ich ein vollwertiger Stammspieler.“

Sanae begann augenblicklich zu strahlen. „Wahnsinn. Wissen deine Eltern schon Bescheid? Und die Anderen?“

„Nein, ich bin direkt vom Spiel zum Flughafen und vom Flughafen hierher. Ich erzähle es ihnen nachher.“ Tsubasa lächelte leicht. „Zumindest in dem Punkt kannst du dir jetzt also aufhören, Sorgen zu machen.“

Sanae lächelte ebenfalls, kuschelte sich erneut an ihn und richtete den Blick wieder aufs Meer.

„Erzähl mir noch mal von dem Haus.“

„Schon wieder? Was willst du denn wissen?“

„Alles.“, meinte Sanae kurzerhand, und Tsubasa seufzte, konnte sich ein erneutes Lächeln aber nicht verkneifen. Auch das war ein Ritual. Er musste ihr das Haus jedes Wochenende beschreiben, wieder und wieder, in allen Details. Also begann er von vorn. Sanae hörte ihm schweigend zu, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen und ohne den Blick vom Meer abzuwenden. Irgendwann hörte er auf zu reden, und auch Sanae schwieg weiter. Als sie sich nach ein paar Minuten der Stille wieder halb zu ihm umwandte, stellte sie fest, dass er eingeschlafen war. Kein Wunder….. Sie lächelte leicht, immer noch ohne ein Wort zu sagen, und schmiegte sich erneut fest in seine Umarmung, bevor sie ebenfalls die Augen schloss.
 

***
 

Gute drei Stunden später erreichte Tsubasa sein ehemaliges Zuhause. Der Umzug war bereits in vollem Gange. Ein großer LKW parkte unmittelbar vor dem Haus, drei Umzugsarbeiter waren damit beschäftigt, Kisten und Möbelteile heraus zu tragen und im Laderaum zu verstauen. Seine Mutter stand mit Daichi auf dem Arm im Vorgarten und beobachtete schweigend, wie nach und nach die Einrichtung in den Tiefen des LKWs verschwand. Sein Vater war damit beschäftigt, zwei Koffer und mehrere kleine Taschen im Kofferraum seines Autos zu verstauen. Daichi bemerkte Tsubasa zuerst. Er begann augenblicklich zu schreien und sich gegen den Griff seiner Mutter zu wehren. Als sie sich umwandte und Tsubasa ebenfalls entdeckte, lächelte sie nur und stellte ihren Jüngsten auf den Boden. Daichi rannte so schnell ihn seine kleinen Beine trugen zu Tsubasa hinüber. Tsubasa rollte leicht mit den Augen, ging aber trotzdem in die Knie, so dass Daichi ihm ohne Schwierigkeiten um den Hals fallen und sich an ihm fest klammern konnte. Wie üblich war die Begrüßung so stürmisch, dass ihm kurz die Luft weg blieb und er beinahe das Gleichgewicht verlor. Auch das war ein Ritual.

„Gute Güte.“, meinte er leicht atemlos, während er sich wieder aufrichtete und Daichi dabei auf den Arm hob. „Ich freu mich ja auch, dich zu sehen, aber irgendwann musst du dir mal angewöhnen, mich nicht jedes Mal halb zu erwürgen.“

Daichi antwortete nicht und kuschelte sich nur fest in seine Umarmung. Er war in den letzten Monaten ein gutes Stück gewachsen, war aber immer noch relativ klein für sein Alter und auch etwas zu dünn. Außerdem sprach er nur wenig. Alle hofften, dass das in Sao Paolo besser werden würde.

Mittlerweile hatte Tsubasa seine Eltern erreicht, seine Mutter umarmte ihn mitsamt Daichi etwas fester, als sie es früher getan hatte, und lächelte ihn glücklich an.

„Du bist spät dran, wir dachten schon, du kommst nicht mehr.“

„Und du humpelst.“, ergänzte sein Vater, während er ihn ernst musterte. „Alles in Ordnung mit deinem Bein?“

„Ja, alles bestens.“ Tsubasa sparte sich dieses Mal weitere Erklärungen und blickte zu den Umzugshelfen hinüber, ohne seinen Griff um Daichi zu lockern. Sein kleiner Bruder klammerte sich immer noch an ihm fest wie ein Ertrinkender. Auch das war trauriger Weise nichts Neues. „Klappt alles?“

Herr Ozora nickte. „Ja. Wir sind dem Zeitplan sogar ein gutes Stück voraus, in einer guten halben Stunde müssten wir fertig sein. Anschließend könnten wir noch in Ruhe essen. Welchen Flug hast du noch mal gebucht?“

„Morgen früh, 9.30 Uhr. Kommt ihr schon mit?“

Dieses Mal nickte seine Mutter. „Wir haben noch drei Plätze bekommen, waren uns aber nicht sicher, ob es wirklich die gleiche Maschine ist.“

Sie blickte zu dem Haus zurück, und Tsubasa konnte ihr genau ansehen, was sie dachte. Für sie war die Entscheidung, das alles hier zu verkaufen, am schwersten gewesen. Trotzdem bereute sie es nicht, das wusste er. Wieder und wieder hatten sie in den letzten Monaten alles durchgesprochen. Genau genommen war es die Idee seiner Eltern gewesen, sie hatten ihn noch im Krankenhaus mit dem Vorschlag überrascht, alles in Nankatsu hinter sich zu lassen und ebenfalls nach Sao Paolo zu ziehen. Nach allem, was passiert war, wollten Tsubasa im Augenblick nicht länger als nötig aus den Augen lassen, und davon abgesehen hatten sie in dem Haus selbst auch keine ruhige Minute mehr. Den Keller hatte niemand mehr seitdem betreten. Mit der Hauptgrund für die Entscheidung war allerdings Daichi. Der Kleine hatte die Vorfälle zwar relativ gut verkraftet und an manchen Tagen merkte man ihm kaum etwas an, allerdings war er sehr stark auf Tsubasa fixiert und konnte regelrecht ausrasten, wenn er seinen großen Bruder zumindest nicht mehrfach am Tag per Telefon hörte. Das Geld aus dem Verkauf des Hauses und des Grundstücks hatte zusammen mit ihren Ersparnissen gereicht, um ein kleines Mehrfamilienhaus in Sao Paolo zu kaufen, mit zwei separaten Wohnungen, von denen eine im Erdgeschoss lag und behindertengerecht war. Sanae würde erst in einigen Monaten gesund genug sein, um die Reise nach Brasilien zu schaffen, und auch dann würde es noch einige Zeit dauern, bis sie ohne Hilfe im Alltag zurechtkam. Frau Ozora hatte sofort angeboten, sich solange um sie zu kümmern und sie zu unterstützen, gleichzeitig war Daichi in Tsubasas Nähe, und so war allen am besten geholfen. Herr Ozoras Bitte um die Versetzung in den Innendienst war abgelehnt worden, also hatte er kurzerhand gekündigt und sich mittlerweile in Sao Paolo bereits um einen neuen Job gekümmert. Seine vielen Auslandskontakte, die sich während seiner vielen Reisen angesammelt hatten, waren ihm hier zu Gute gekommen. In manchen Augenblicken drehte sich Tsubasa ob der vielen Veränderungen der Kopf, aber meistens blieb ihm keine Zeit zum Nachdenken. Er hatte sich in Brasilien weitestgehend allein um die Renovierung des Hauses gekümmert, nur zwei Mal war sein Vater ebenfalls hingeflogen, um ihm zu helfen, dazu die regelmäßigen Besuche mit Sanae und die Unterstützung, die er Taro versprochen hatte. Anscheinend hatte ihn Hideos Amoklauf ebenfalls insofern beeinflusst, dass er kein großes Interesse mehr hatte, länger als nötig in Japan zu bleiben. Dass Marie ihr Auslandsstudium vorzog und ebenfalls die nächsten zwei Jahre in Sao Paolo verbringen würde, spielte wohl zusätzlich eine Rolle. Tsubasa half ihm bei der Organisation mit Portugiesisch, soweit es ging, und hatte bereits mit Roberto gemeinsam in die Wege leiten können, dass er zumindest bei den nächsten Auswahlspielen antreten konnte. Um eine Wohnung kümmerte sich Marie. Alles ging so rasant schnell….

„Triffst du dich nachher noch mal mit den anderen?“, riss ihn sein Vater aus seinen Gedanken. „Wann musst du wieder los?“

„In einer guten Stunde.“ Tsubasa bemühte sich nun doch, denn schraubstockähnlichen Griff seines kleinen Bruders um seinen Hals zu lockern. „Wir sind bei Taro verabredet, er will sich auch von allen noch verabschieden, das passt dann ganz gut.“

„Kommt Kojiro auch?“

„Ich denke ja.“

„Aber ihr spielt hoffentlich kein Fußball, oder? Du….“

„Nein, ich denke nicht, keine Sorge….. Daichi, lass los! Ich würde gerne atmen!“

Frau Ozora schmunzelte, während sie Tsubasa half. Daichi protestierte halbherzig und streckte gleich wieder die Arme nach seinem großen Bruder aus, aber dieses Mal ignorierte er es und massierte sich leicht den Hals.

„Wir müssen uns auf jeden Fall um einen Familientherapeuten kümmern, sobald wir uns einigermaßen eingelebt haben.“, meinte Herr Ozora mit einem Seitenblick auf seinen Jüngsten, der langsam wieder ruhiger wurde, am Daumen lutschte und sich an seine Mutter kuschelte. „Ich glaube, das tut uns allen gut.“

Tsubasa schwieg dazu. Er wusste, dass sein Vater Recht hatte, aber das war eine Veränderung, auf die er sich nicht unbedingt freute. Wobei, wenn es ihm half, endlich mal wieder eine Nacht durchzuschlafen, ohne sich vorher völlig auf dem Fußballplatz verausgabt zu haben…

„Hey, Tsubasa.“

Tsubasa wandte überrascht den Kopf und bemerkte Ryo, Izawa und Kojiro in einiger Entfernung auf dem Gehweg stehen. Nach einem kurzen Blick zu seinen Eltern, um sich zu vergewissern, dass es für sie in Ordnung war, ging er zu seinen Freunden hinüber. Ryo hatte die Stirn gerunzelt.

„Du humpelst….“

Tsubasa ignorierte ihn. „Was macht ihr hier, ich dachte, wir treffen uns in einer Stunde erst….“

„Wir waren in der Gegend und dachten, wir schauen, ob du schon da bist…“, meinte Kojiro ungerührt und log offensichtlich. Tsubasa zog leicht die Brauen hoch.

„Aha?“

„Wir wollten noch mal in Ruhe mit dir reden, ohne den Trubel später.“, meinte Izawa schließlich. „Wer weiß, wann wir uns das nächste Mal sehen. Dieses Mal brichst du ja wirklich alle Zelte hier ab….“

Tsubasa schwieg ein paar Sekunden leicht überrascht, dann lächelte er schließlich. „Strand?“

Seine Freunde lächelten ebenfalls und nickten. Tsubasa ging kurz zu seinen Eltern zurück, um ihnen Bescheid zu sagen dass das Abendessen ausfiel oder sich zumindest verschob, dann machten sie sich ohne Worte auf den Weg. Das war vermutlich Hideos größte Leistung. Worte waren nicht mehr wichtig.



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Von:  Kittykate
2019-06-18T21:42:57+00:00 18.06.2019 23:42
hey hey. es ist vollbracht! bin dir in den letzten Jahren etwas treulos gewesen.

vielen Dank für die Geschichten. Auch wenn es nicht ganz happy end ist so läuft alles in die richtige Richtung.

wie schön!

Hast du gut gemacht :-)

lg
Von:  Hallostern2014
2018-01-16T10:10:38+00:00 16.01.2018 11:10
Huhu, schaffe es endlich ein Kommi da zulassen.❤

😢😢😢😭😭

Schade, dass es schon zu Ende ist hätte gerne noch viele Viele Kaps gelesen.

Ich freue mich für Tsubasa, dass er es in der Stammmannschaft aufgenommen wurde.
Auch wenn das Spiel nicht ohne war. Der Arme.

Ich finde es volll süß wie er sich um deine große Liebe kümmert und wirklich alles versucht es ihr alles so angenehm zu machen wie möglich.
Dass sie aber erst später nach Brasilien gehen kann ist für beide nicht leicht. Aber Gesundheit geht halt vor.
Wie groß die Liebe zwischen den beiden ist merkt man, dass Sanae als sie in Kummer lag, merkte das Tsubasa sie braucht um nicht aufzugeben.

So. Er fährt mit seiner ganzen Familien. Ich kann sehr gut nach vollziehen. Auch für.Daichi ist es am besten..er kann endlich zur ruhe kommen. Und muss keine Angst mehr haben. Irgendwie hat die Sache die beide Brüdern.zusammen geschweißt. Dass er Tsubasa nicht mehr los lassen will und Theater macht, dass er ihn jeden Tag Hören will zeigt. Hier auch die Brüder Liebe. Und Tsubasa geht es wohl auch nicht anderes.

Ich finde es gut, dass sein Vater es wahr gemacht hat und gekündigt hat. Als sein Antrag abgelehnt wurde. Und das Taro jetzt auch früher fährt voll kommen verständlich.

Die Beschreibung vom Haus hört sich richtig gut an. Ich konnte es mir Bildlich vorstellen.

Als die Jungs Tsubasa abgeholt. Und der Letzte satz war sehr traurig. 😢 es war das Ende der FF.

Ich hätte schon gerne gewußt wie es mit Sanae und Tsubasa im Brasilien weiter geht. Wie Sanae sich dort wieder eingelebt hat. Und vorallem. Wie Daichi sich dort macht.

Vielleicht schreibst ja dazu auch ne Fortsetzung oder vielleicht sogar eine ganz neue..Ich würde mich auf jedenfall freuen und es fleißig Lesen😍😍

Gannnz liebe grüße und vielleicht bis zum nächsten mal ❤
Von:  Hallostern2014
2017-12-20T18:54:10+00:00 20.12.2017 19:54
Sooo nun komme ich dazu es endlich zu kommentieren.

Da ist ja wirklich viel passiert. Tsubasa darf also wieder spielen. Das ist gut. Und wie sich es anhört wollen beide in Brasilien bleiben, kein wunder nach dem beide sowas mit erleben musste.

Sanae hat also keine folgen davon getragen, sie muss nur alles wieder neu erlernen. Das schaffen die beiden auch noch.
Beide haben nach dem Ereignisse geheiratet zwar in einen kleinen Kreis. Aber wenn die beide anwesenden sind ist es doch am wichtigtens. .

Ich bin gespannt wie das Spiel ausging. Und natürlich darauf wie es mit unsern Traumpaar weiter geht.
Schade das es denn auch mit dem nächsten Kap zu Ende geht. Aber jede gute FF hat nun mal ein Ende und wer weiß vilt schreibst du wieder eine TsubixSanae FF😍.

Ganz liebe grüße 😘❤
Von:  Hallostern2014
2017-10-06T19:04:39+00:00 06.10.2017 21:04
Aiiiii, danke nochmal fürs bescheid sagen habe es total vergessen zu sagen.😍

Aiii auch wenns Kurz war, es war sooo tolll vorallem der Schluss.

Also Roberto hat recht er soll sich und Sanae erstmal ruhe gönen, beiden sollten Gesund werden erst dann sollten sie reden wohin sie wollen. Und vorallem sollten beide wieder erstmal die Zeit zur 2 genießen, vorallem nach dem was passiert ist.

Das Ende wie gesagt war einfach nur WoW.

Die haben also Sanae an seinen Bett geschoben, wie toll, es werden beide gut tun zu wissen, dass sie wieder zusammen sind und nicht in getrennte Zimmer. Das beide sich nicht mehr los lassen wollen ist sehr vständlich.

Ich freue mich für beide. Das sie wieder einander haben. Und nun zusammen gegen alles Kämpfen können.

Freue mich rieeeesig aufs nächste Kap.
Ganz liebe grüße 😍🌷
Von:  Hallostern2014
2017-08-02T07:45:56+00:00 02.08.2017 09:45
So bun wissen wir endlich wie seine Eltern darauf gekommen sind das, dass wohl ein Fakeanruf war. Bzw sein Dad ist nach den Anruf von Ryo darauf gekommen.

Man seine Armen Eltern, dass war ein Schock das alles mit zu erleben :(.

Aber verständlich das er nicht auf die Anweisungen von den Polizisten hören wollte er will halt zu seinen Söhnen.

Ich bin auch sehr gespannt wie es weiter geht und vielen dank fürs tolle kap und fürs Bescheid sagen.

Ganz liebe grüße :)
Von:  Naruto_1988
2017-08-01T23:55:47+00:00 02.08.2017 01:55
Super Kapitel macht Freude auf mehr.
Ich bin schon gespannt wie es weiter geht.
Von:  Naruto_1988
2017-07-26T15:55:54+00:00 26.07.2017 17:55
Hab die FF vor ein paar Tagen entdeckt sie war so spannend ich hab sie auf einmal durchgelesen. Ich könnte garnicht mehr aufhören. Super geschrieben und spannend. Ich hoffe es kommt bald das neue Kapitel.
Von:  Dragonohzora
2017-05-12T09:27:44+00:00 12.05.2017 11:27
hallo meine Liebe, so nun schaffe iches endlich mal mein Kommi dazulassen, hatte schon ein ganz schlechtes Gewissen, aber immer ist etwas dazwischen gekommen, so das ich nie die Ruhe hatte.

So nun aber zum Kapitel:)

Endlich ist Tsubi bei bewusstsein, wobei ich ja gerne noch ein paar Traumsequenzen gehabt hätteXD Ja, da spricht das Tsubi sanae Fangirlie in mir XD

Endlich ist der Täter gefasst, so das Tsubi keine Angst mehr ahben mussXD

Die doofe Presse, soll tsubi wirklich noch etwas Ruhe gönnen, für mich ist es wirklich ein Wunder, wnen Tsubi wirklich absolut keien Schäden davon tragen würde. Sein armes Bein hat ja wirklich extrem viel mitgemacht, aber vermutlich wird es die Zeit zeigen, ob da wirklich keine Folgeschäden sien werden.

Ich mag mir garnicht ausmalen, wie sehr Tsubasa Papa froh ist, das sein Sohn endlich aufgewacht ist:)

Hach, es ist aber schön, das tsubasa seinen Traum so deutet, das er einfach weiß, das Sanae aufgewacht ist, nur wie sieh es mit ihr aus? Sie war ziemlich lange im Koma. Hat sie Folgeschäden davon getragen? Hat sie auch so einen Traum gehabt? Sie hat es trotz allem wieder geschafft Tsubi zurückzuholen:)

ich hoffe so sehr, das dies nicht der Fall ist.

Nun soll Tsubasa aber erstmal vernünftig sein und einigermaßen wieder fit werden.

Tsubasa hat seinen Bruder gerettet udn hat sich nun wirklich etwas Ruhe und frieden verdient. Ich mag mir garnicht ausmalen, welche psychischenSchäden Tsubasa trortz allem wieder verarbeiten muss, so eine Geschochte qausi zwiemal zu erleben, geht nicht spurlos an einem vorbei.

hau in die Tasten, ich kann es kaum erwarten wie es weiter geht, es war wie immer ein Genuss deine Zeilen zu lesen. Du schreibst einfach fesselnd und süchtigmachend, so das ich immer mehr und mehr lesen möchte:)

Glg:)
Von:  Hallostern2014
2017-05-06T07:47:35+00:00 06.05.2017 09:47
*____* freu das es so schnell ging

Buh zum glück ist er wieder wach aber das es wirklich so knapp war zum glück wurde Taro rechtzeitig wach und hat Bescheid gesagt...

Mich interessiert es auch was die Jungs auf dem Fußballfeld gedacht haben als der Irrre nicht kam und wie seine Eltern so schnell da waren.

Armer Daichi :( kann ihn verstehen das er nicht alleine schlafen mag er musste es ja schließlich alles mit bekommen was im Keller passiert ist aber sein großer Bruder Tsu wird ihn bestimmt helfen darüber weg zu kommen...

Und das Roberto gekommen ist finde ich auch klasse...was aber wohl keinen wundert er ist ja schließlich auch eine Bezugsperson für ihn..

Hoffentlich lässt sich Tsu auch wirklich zeit für seine Genesung und will nicht gleich wieder entlassen. Und zum glück keine folge schäden..

Juhu Sanae ist wach *_* aber wie geht's es ihr...?

Freue mich schon aufs nächste Kap *_*

Glg :)
Von:  Dragonohzora
2017-05-04T07:43:10+00:00 04.05.2017 09:43
Huhu, so jetzt komme ich dazu dir meinen Senf zu schreiben;)

Natürlich finde ich das Kapitel kurz *smile*, aber der Schluss ist perfekt, genau da hätte ich wohl auch Schluss gemacht.

So und nun zum Kapitel:) Wie ich shcon sagte, du schaffst mich. Das Kapitel war eifach toll, so eins musste jetzt bei all der Dramatik mal kommen. Eins mit Tsubasa und Sanae. Ich bin hin und weg. Die Anfänge in Brasilien, die Zeitsprünge....

Man merkt auch, das Tsubasa in japan ein Wunderkind war/ist, aber in dre roßen wieten Welt fliegt ihm eben nicht alles zu! Ohne Fleiss kein Preis. Wobei er natülich das Talent schlecht hin hat, unser Tsubi:)

Roberto war ja auch Taktvoll:)

Aber es kribbelt alles in mir. tsubasa Traum, was bedeutet dieser? Schwebt Tsubi in lebensgefahr? Hört er also die englein singen? Bedeutet es am Ende, das sanae doch zu sich gekommen ist und nun wie eh udn je bei Tsubi sitzt? hat sanae keine Schäden davon getragen? Ahhhh..es sidn soviele Fragen noch offen.

Ein wunderbares Kapitel, ich kannes kaum erwarten wieter zu elsen. Du könnetst noch hunderte von seiten Schreiben und ich wäre nicht müde sie zu elsne. Ich fiebere richtig mit.

Die Sequenzen in Tsubasas Bewusstsein, sind wirklich toll, und einfach nur shcön. Die beiden in trauter Zweisamkeit, ich hätte nichts dagegen noch etwas mehr vorm Schluss davon zu lesen.

Ich bin restlos begeistert von diesem Kapitel. beide Daumen nach oben.

Super!!!!!

Schreib bitte ganz ganz schnell weiter. Hach sowas schönes *schwärm*

Glg
:)




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