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Die Blutfinke

Wenn die Phantasie zur Waffe wird
von

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Zorn

Marie-Louise verlangsamte ihren Schritt. Sie weinte. Mit zittrigen Fingern kramte sie in den Taschen ihres Kleides nach einem Taschentuch und zog es zitternd heraus. Sie schnäuzte sich und rang nach Luft. Dann überkam sie nochmals ein Krampf voller Tränen.

„Wie kann sie so etwas tun? Für Mich? Ich habe das Gefühl den Eltern ein Parasit zu sein!“ klagte sie.

Ihr war, als würde der Boden weich werden und sie drohte darin zu versinken. Was hatte sie gesehen? Was gehört? Die Worte der Mutter gingen ihr immer wieder durch den Kopf. So konnte sie ihre Mutter doch gar nicht! Sie sah sie vor sich, am Schreibtisch, am Computer, eifrig tippten ihre Finger einen Bericht oder einen Brief. Die Haare sorgfältig frisiert, die Kleidung modern und von den besten Designern, das war die Mutter die Marie-Louise kannte. Ihre kritischen Blicke in den Spiegel, wie sie ihr Make-up nachbesserte, stets auf dezente Farben achtend, die ihren Aussehen die nötige Seriosität verliehen, die sie in ihrem Beruf brauchte. Natürlich betrachtete die Mutter auch ihre Tochter genau, beriet sie beim Kauf der Kleidung, sorgte dafür, dass ihr Kind optisch einen guten Eindruck machte.

Jetzt steht sie als Nutte da! schrie Marie-Louise in Gedanken. Verdiente sie und der Vater denn nicht genug? Hatten sie nicht beide gut bezahlte Posten in der Firma? Sie hatten sich neulich über ein BMW-Coupé informiert. Die Mutter war selbst sehr begeistert davon, dass sie den Vater zum Kauf des Autos gedrängt hatte. Bedeutete das nicht, dass genug Geld vorhanden war?

Eine... Marie-Louise schüttelte sich. „Eine Prostituierte“, gab sie laut von sich. Ihre Mutter war doch immer so auf Sittlichkeit bedacht. Wie oft hatte sie ihre Tochter ermahnt, sich nicht jedem Flirt leichtsinnig hinzugeben. Sie sah sie vor sich, wie sie bei Kleidungskauf ihre Tochter kritisch beobachtete und sofort reklamierte, wenn ein Dekolte` zu sehr ausgeschnitten, oder ein Rock zu kurz war. `Meine Tochter läuft nicht so herum!‘ forderte sie. Das Mädchen erinnerte sich daran, dass die Mutter für die Leute am Rande der Gesellschaft nur mitleidige Verachtung übrig hatte. Schnell beurteilte sie so manche Mitmenschen als arbeitsscheu und faul; sollte auch jemand wegen harter Schicksalsschläge in Not geraten sein, so war dies für sie keine Entschuldigung um von Prostitution oder Bettel zu leben. Diese Mutter kannte Marie-Louise.

Sie atmete tief durch. Das Gefühl zu ersticken liess sie nicht los. Wie konnte ein Mensch so gegensätzlich sein? Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, rieb die nassen Hände an der Kleidung trocken. War es nur ein Trugbild wie das Marmeladeglas? Sie drehte sich um, doch sie sah ihre Mutter nicht mehr, denn die Straße machte eine Kurve. Soll ich zurück laufen? überlegte sie sich.

In ihrem Innern verkrampfte sie. Die Erinnerung an die Begegnung liess sie wütend werden. Die Worte der Mutter wider halten so gehässig in ihren Ohren. „Wie soll ich denn sonst deine Förderkurse bezahlen? Du bist ja nicht so begabt, wie wir zuerst angenommen hatten!“ Worte wie Peitschenhiebe. Marie-Louise kostete ihren Eltern viel Geld. ... Und... sie war nicht intelligent genug. Sie entsprach nicht den Erwartungen der Eltern.

Die Tochter schluchzte laut. Was das Lernen nicht genug? Die Nachhilfestunden? Die zusätzlichen Schulungen und Weiterbildungskurse? Dieser ewige Druck, etwas recht machen zu wollen, um ... warum eigentlich? Weil sich die Eltern selbst so viel Mühe gaben um erfolgreich zu sein? Weil sie selbst im Leben etwas erreichen wollte? Ein Gedanke erschien ihr zwischen all den Dingen, die sie glaubte erfüllen zu müssen: Als sie klein war, hatte sie an einem Wettbewerb der Schule teil genommen. Sie konnte schon ein wenig Geige spielen, und es hiess sie sei ein begabtes Mädchen. Die Bekannten lobten und lächelten sie an, dass sie schüchtern die Hände vor das Gesicht hielt, so schwer fiel es ihr einst im Mittelpunkt vor all den Erwachsenen zu stehen. Die Mutter reichte ihr lächelnd die Geige und sie betrat mit zitternden Knie die Bühne. Alle Blicke waren auf sie gerichtet, sie atmete tief durch, dann setzte sie die Geige ans Kinn und begann ihre Vorführung. Sie gewann den ersten Preis. Alle gratulierten ihr, doch das war ihr nicht wichtig, denn sie sehnte sich nur an den Lob zweier Menschen: Die Mutter und den Vater. So, wie sie es sich gewünscht hatte, war es auch: sie wurde hoch gehoben und geknuddelt. DAS war ihr schönster Moment. Das wollte sie immer wieder erleben.

Wenn sie nun an die Mutter unter der Straßenbeleuchtung dachte, ergriff ein grausiges Würgen ihre Kehle und die Brust verengte sich mit unzähligen Nadelspitzen, die direkt in ihr Herz stachen. Was hatte sie getan?

Zu wenig. Zu wenig gelernt, sich zu wenig Mühe gegeben. Die Zensuren waren nicht so hervorragend ausgefallen wie erhofft. Die Eltern nahmen es seufzend zur Kenntnis, fragten die Tochter, ob denn die anderen Mitschüler auch so mittelmäßig abgeschnitten hatten. Ganz naiv hatte sie geantwortet, es gäbe immer den einen oder die andere, die auch die schwierigste Aufgabe lösen könne. ‚Die sind wirklich gut.‘ bemerkte die Mutter gelegentlich; als hätte man sie beleidigen wollen, versank sie darauf hin in ein bedrückendes Schweigen und wandte sich von ihrer Tochter ab. Marie-Louise nur da und schwieg.

Sie hatte ihre Eltern enttäuscht! Daher war die Mutter wütend auf sie. Sie sollte sich bei ihrer Mutter entschuldigen.

Dennoch wollte sie nicht umkehren und sich nochmals mit dem Anblick der Mutter in knapper Kleidung konfrontieren. Die Erinnerung an ihren Anblick regte sie zu sehr auf, denn es war so anders als sie sonst ihre Mutter vor sich sah. Wie hätte sie ihr erklären können, wie sehr sie ihr mangelnde schulische Leistung bedaure? Eigentlich nützte es gar nichts, darüber zu reden, denn das würde nichts daran ändern, dass sie Nachhilfe benötigte, um den hohen Erwartungen der Eltern zu entsprechen.

Etwas zupfte an ihr. Sie schaute an sich herab. Der kleine Junge schaute mit großen Augen zu ihr hoch.

„Was machst du bloss hier? Warum rennst du mir nach? Was soll ich mit dir machen? Ich komme ja selbst nicht klar“, klagte sie. „Du hast ja gesehen, was Mutti macht!“

Sie hielt inne. „Mensch! Ich hätte sie nach dir fragen sollen“, stöhnte sie. „Aber ihr Anblick hat mich so aufgeregt. Dass sie so etwas macht!“ Sie rang nach Luft. „Ich muss mit ihr reden.“ Sie zögerte. „Jetzt nicht... es ist mir zu heftig... zu Hause dann.“

Sie zwängte sich ein Lächeln auf. „Komm wir gehen nach Hause.“ Sie hielt dem Jungen die Hand entgegen.
 

Er hatte wieder etwas gezeichnet. Es war ein ähnliches riesiges Kopfwesen wie vorher; und davor ein kleineres Ding mit Knopfaugen, dieses zeigte unter den Augen einen weiteren augenähnlichen Fleck, als würde das Wesen schreien.

Marie-Louise schaute kurz darauf, doch sie verstand es nicht. „Du kannst ja überall zeichnen“, bemerkte sie freundlich. Dann wandte sie sich ab und ging weiter.
 

„Ich geh nicht mehr in die Schule. So!“ entschied sie.

Sie marschierte durch die Straße, an den Straßenlampen vorbei. Am Ende der Straße befand sich ein verwahrloster Park.

„Wie soll ich auch damit leben, dass sie anschaffen geht, um mir meine Schule zu bezahlen? Wie könnte ich nur? Bin ich ein Zuhälter?“ Sie putzte sich die Nase. „Das kann ich gar nicht zulassen. Ich MUSS die Schule aufgeben.“ erklärte sie sich selbst. Sie dachte an das stundenlange Lernen, jeden Tag und spät bis in die Nacht. Sie sehnte das Ende heran.

„Aber dass sie sich zu so etwas hat entschließen können... Wie verrückt muss jemand sein? Eine normale Oberschule hätte es doch auch getan! Und die wahnsinnsguten Noten beim Aufnahmetest habe ich doch auch nur bekommen, weil ich geschummelt hatte... So gescheit bin ich doch gar nicht. Ich wollte meinen Eltern doch nur eine Freude machen. ... Ich hab es ja eh kaum geschafft, den Unterricht zu folgen ... Das hat nun ein Ende!“ erklärte sie sich. Es beruhigte sie, ihre entschlossene Stimme zu hören. Diese Entscheidung könnte alles ändern, vielleicht würde die Mutter auch wieder glücklich sein. Hätte sie doch früher erfahren, was mit der Mutter los war! Doch die Liebe einer Mutter schien keine Grenzen zu kennen. Sie hatte nie daran gedacht, welche Opfer die Eltern aufbringen mussten, um ihr die Ausbildung zu bezahlen. Nun schämte sich die Tochter, diese Liebe missbraucht zu haben. Es lag an ihr, die Dinge zu verändern. Voller Tatendrang schritt sie voran.
 

Da hörte sie einen grellen Schrei.



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