Zum Inhalt der Seite

Die Blutfinke

Wenn die Phantasie zur Waffe wird
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Eile

Marie-Louise eilte durch die enge Gasse. Ihre hastigen Schritte halten an den dunklen Fassaden der dreistöckigen Häuser wider. Da und dort war ein Fenster schwach beleuchtet, ihre Bewohner hatten die Vorhänge zu gezogen um die Helligkeit in den Wohnungen zu halten, oder um die Dunkelheit nicht hinein zu lassen. Die Straßenlampe gab nur spärliches Licht von sich und erhellte widerwillig die Pflasterung der Gasse.

Sie keuchte und presste den Geigenkasten an sich um leichter laufen zu können. Ihre langen Haare wippten im Takt ihrer Schritte. Sie war spät! Sehr spät!

Der Bus würde nicht warten. Und sie musste ihn noch erreichen, denn er wäre der letzte gewesen.

Die Gasse öffnete sich und mündete in eine Seitenstrasse, die von einem Park flankiert wurde. Marie-Lousie rannte über die Straße, bog ab und eilte über die Wiese, beachtete nicht das „Betreten-Verboten“-Schild und sprang über einen kleinen Zaun. Unter ihren Sohlen knirschte der Kies, als sie flink über den Weg huschte.

Durch die Bäume hindurch sah sie die Beleuchtung des Linien-Bus. „Er ist noch da“, dachte sie sich. Und hastete weiter.

Da hörte sie das Starten des Motors. Sie beschleunigte so gut sie konnte, sie schoss auf die Haltestelle zu.

Der Linienbus fuhr ab.

Marie-Louise konnte nur mehr den Schlusslichtern nachsehen. Sie winkte und rief noch „Halt!“ aber es nützte ihr nichts.

Keuchend stand sie da.

Der letzte Bus war weg.

Sie hatte vorher zu sehr getrödelt, sah sie ein. Sie blickte um sich und biss sich in die Lippen. Was sollte sie tun? Sie musste nach Hause!
 

Sie atmete die feuchte Abendluft ein. Allmählich beruhigte sich ihre Atmung wieder und sie begann zu frösteln. Ihre Hände klammerten sich um den Griff des Geigenkastens.

„Di di diiii“, summte sie. Gerade jetzt fiel ihr die Melodie ein, die sie im Unterricht nicht gekonnt hatte. Es klang doch so einfach! Aber sie hatte nicht begriffen, wie sie sie korrekt ausführen sollte...

Seufzend verdrängte sie diese Gedanken wieder. Sie musste nach Hause!

Marie-Louise hörte von fern ein Motorengeräusch. Sie gab acht. Das Geräusch verstummte wieder. Jemand ist in eine andere Richtung gefahren.

Sie wartete.

„Di, di diii, di di ...“

Nun ließ sie die Melodie zu. „Es wird doch wohl noch jemand hier vorbei fahren“, überlegte sie sich.

Sie summte die Melodie weiter.

Nach einer Weile Stehens in der Dunkelheit des Parks hörte sie wieder ein Motorengeräusch.

Sie schaute erwartungsvoll in die Richtung aus der das Fahrzeug kommen sollte. Die Lichtkegel huschten über die Wände der Häuser und das Brummen wurde immer lauter.

Ein Auto bog aus der Gasse, umrundete den Park und fuhr auf die Bushaltestelle zu.

Sofort reckte Marie-Louise die Hand hervor und bog den Daumen in die gewünschte Richtung. Aufgeregt stand sie da. Eigentlich hatte man ihr das verboten...

Verkrampft lächelte sie den Fahrer entgegen. Die Lichter blendeten sie und sie konnte nicht erkennen, ob er oder sie allein im Auto saß.

Ein Ruck und das Auto hielt vor ihr an.

Sie zuckte zusammen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass jemand sofort halten würde. Sie lief zur vorderen Seitentür und öffnete sie aufgeregt.

„D-danke, dass Sie mich mitnehmen wollen“, stotterte sie.

„Wohin?“ fragte die Stimme hintern Steuer.

Sie atmete erleichtert auf, als sie eine freundliche Frauenstimme hörte. Freudig erklärte sie der Frau, die dem Aussehen nach wohl eine Geschäftsfrau um die 50 war, wo sie wohnte. Sie setzte sich neben die Fahrerin und schloss die Wagentür. Umständlich gurtete sie sich an, den Geigenkasten hatte sie sich zwischen die Beine geklemmt. Die Geschäftsfrau erklärte sich bereit, einen kleinen Umweg zu nehmen, damit Marie-Louise sicher zu Hause ankam. Diese bedankte sich vielmals.

Das Auto, ein Mercedes neueren Typs, fuhr sanft an und glitt elegant durch die Straßen. Die Scheinwerfer streiften flüchtig den dunklen Asphalt, huschten über Menschen am Gehsteig, streichelten am Straßenrand parkende Autos und suchten unbeirrt ihren Weg und durch die nächtlichen Stadt.

Marie-Louise nahm schüchtern die Mahnung entgegen, dass es gefährlich sei, per Anhalter zu fahren. Sie hätte ein Taxi nehmen oder sich bei den Eltern melden sollen, mahnte die Frau.

Marie-Louise schaute in die Dunkelheit jenseits der Windschutzscheibe, an das Taxi hatte sie nicht gedacht, und die Eltern anrufen ... nein! Schuldbewusst nickte sie und hielt sich am Geigenkasten fest. „Das mache ich sonst auch nie“, versicherte sie der Fahrerin, „aber ich muss unbedingt heute Abend noch zu Hause sein.“

Wissen

Der Mercedes hatte die Innenstadt hinter sich gelassen. Er erreichte ein Viertel mit Ein- und Zweifamilienhäusern. Gärten umfassten die Gebäude und die hohen Heckenzäune ließen jedes einzelne von ihnen wie eine kleine Festung erscheinen.

Vor einer Villa mit einer besonders hohen Hecke blieb der Wagen stehen. Marie-Louise stieg aus, zerrte den Geigenkasten nach und drehte sich zur Fahrerin um. Sie bedankte sich noch mal für die Großzügigkeit. Dann schloss sie die Tür und das Auto fuhr weg.

Tief durchatmend stand sie allein vor dem Eingangstor. Sie umfasste wieder mit beiden Händen den Griff des Geigenkastens und schaute ihr Elternhaus an. Alle Fenster starrten schwarz ins Dunkel. Nur die Wohnzimmerfenster waren schwach beleuchtet. Sie folgerte daraus, dass nur die Leuchte bei der Sitzlandschaft eingeschaltet war. Ein wechselnder Lichtreflex am Fenster verriet, dass Fern gesehen wurde.

Marie-Louise seufzte und holte den Schlüssel aus der Tasche.
 

„Ich bin wieder da!“ rief sie nachdem sie die Haustür hinter sich geschlossen hatte. Sie schaltete das Licht ein und lauschte. Keine Antwort. Aus dem Wohnzimmer hörte sie die Stimmen des Fernsehers.

Marie-Louise legte den Geigenkasten auf ein Beistelltischchen und ging vorsichtig zum Wohnzimmer. Sie öffnete die Tür und trat ein.
 

Die Eltern waren nicht da.

Das Zimmer war nur schwach beleuchtet und der Fernseher lief, ohne dass jemand anwesend war. Sie schaute flüchtig auf den Bildschirm.

Mal wieder eine Talkshow, dachte sie. Der Moderator interviewte eine schlicht gekleidete Frau, die ein buntes Halstuch trug. Marie-Louise stach es ins Auge. Wie altmodisch, fuhr es ihr durch den Kopf.

„Worin manifestiert sich also diese ... ‚Blutfinke‘?“ fragte der Moderator.

„Das sind die ‚Stimmen des Blutes.’“ erklärte die Frau. „Wir, mein Team und ich, haben es bei Kindern entdeckt.“

„Wie kamen Sie darauf?“

„Wir hatten am Anfang nur seltsame ,Zufälle“, sie deute beim Zufall mit ihren Zeige- und Mittelfingern Gänsefüsschen. Marie-Louise wollte ausschalten, aber irgendwie fesselte sie der Bericht. „ ... Es waren eigenartige Begebenheiten, die uns aufschauen ließen: Von all den hier erwähnten grausamen Fällen von Kindesmisshandlungen haben einige Fälle etwas gemeinsam: Die Täter kamen um. Nicht durch Krankheiten oder Unfälle, sondern durch Selbstmorde und Morde! Wie war das möglich? Neigen solche Täter zu Selbstmord? Geraten sie leicht in Rage und ziehen andere zu Gewalt neigende Menschen an? Das liegt alles im Bereich des Möglichen, und es gibt auch Belege dazu. Soweit haben viele schon vor uns gedacht und haben damit ihre Forschungen abgeschlossen. Doch wir haben uns auch mit den Opfern beschäftigt. So haben wir eine Gruppe von besonderen Vorfällen isolieren können: Wir haben auf der einen Seite Verbrecher, die ein grausames Ende gefunden haben und auf der anderen Seite ihre kleinen wehrlosen Opfer, ...und diese haben gegen Ende ihres Martyriums Zeichnungen angefertigt, die den Tod ihrer Peiniger darstellten.“

Die Frau schwieg um ihren Worten eine besondere Bedeutung zu geben. Der Moderator schaute sie erwartungsvoll an. Im Publikum war es mucksmäuschenstill.

„Und ...“ hauchte der Moderator.

„Diese Kinder haben NICHT gesehen, wie der Täter umkam!“ Sie riss die Augen auf. „Sie waren Gefangene in Kellern, Zimmern, in Kisten! Sie hatten mit einer Farbe, mit einem Kugelschreiber, mit Dreck oder mit einem rostigen Nagel die Bilder auf Zeitungen oder Holzbretter gemalt. Manche hatten kaum genug Licht um zu sehen, was sie gemalt haben. Sie haben ihren Wunsch aufgezeichnet: Der Täter soll umkommen, damit er sie nicht mehr quälen kann!“

Sie schwiegen.

„Die Bilder zeigen wie der Täter umkommt. In einem Fall…“ Sie holte eine Blatt hervor und hielt es vor sich. „Hier sehen Sie den Täter.“ Die Kamera zoomte das Bild heran, der Zeigefinger der Forscherin umkreiste eine Figur, krakelig gezeichnet, aber als eine menschliche Figur mit überdimensional großen Händen gezeichnet, die auf dem Bauch lag. Die Gestalt war mit vielen kleinen dicken Stichen gespickt, das sie aussah wie ein Igel. „Diese Striche hier, sie sehen aus, als würde etwas im Menschen stecken, sehen Sie? Wir haben mit dem Kind bald nach seiner Auffindung gefragt, was dies zu bedeuten habe. Das sagte es, so würde der ‚böse Mann’ sterben. Da wusste es nicht das es tatsächlich so geschehen war: Der Täter hatte die Wohnung verlassen, war auf der Straße von einer Gruppe betrunkener Männern aufgehalten worden, sie hatte sich gestritten dann wurde er von ihnen niedergestochen. Sollte das ein Zufall sein? Nein, wir fanden noch mehre Fälle dieser Art!“

Sie zog eine weitere fotokopierte Zeichnung hervor. Diesmal war eine Figur mit dicken Stäben durchstochen. „Ein anderer Täter stürzte sich in eine Grube mit Alteisen, in dem Eisenstangen in die Höhe ragten. Er hatte sich selbst aufgespießt. Dieser Fall zeigt ganz deutlich die Zusammenhänge: der kleine Junge, der verschleppt worden war, kannte den Schrottplatz und die Grube. So hatte er den Täter dorthin geführt. Und ihm zum Selbstmord verleitet ...“

„Wie konnte er den Täter zu dieser Grube ,führen‘, wie Sie es nennen?“ fragte der Moderator.

„Das ist eben das von uns entdeckte psychologische Phänomen,“ betonte sie mit erhobenen Zeigefinger. „Das ist das, was wir ,Blutfinke‘ nennen: Eine psychische Macht, die manche Kinder in größter Not entwickeln. So können sie sich von ihrem Peinigern befreien. Es sind Kinder, die trotz der Erniedrigungen ein starkes Selbstbewusstsein entwickeln und sich nicht die Schuld für die Qualen geben. Es sind Kinder, die genau wissen: Der Täter ist der Böse, nicht ich!“ Die Forscherin stach mit dem Zeigefinger in die Luft.

Der Moderator runzelte die Stirn. „WIE bringt so ein gequältes Kind den Täter dazu sich zu töten oder sonst irgendwie um zu kommen? Mir erscheint dies etwas unglaublich. Das Kind sagt wohl nicht: ,Spring in den Fluss‘ und er macht es, oder? ...“

„Nein. Das macht er sicherlich nicht. Das Kind ist sich dieser Macht nicht bewusst. Es wünscht nur dass die Qualen ein Ende haben. Wenn sich das Kind den Täter schwach und verloren vorstellt, dann kann es in der Phantasie über den Täter triumphieren. So kann es sich wünschen, dass dem Täter etwas Schlimmes zustößt. Also wünscht sich das Kind, dass er in den Fluss springt. Der Wunsch verselbstständigt sich und beeinflusst den Täter, so als wäre er ferngesteuert, daher geschehen keine Unfälle, in dem Sinne, dass dem Täter ein Dachziegel auf dem Kopf fällt, sondern Morde oder Selbstmorde. Denn die Gegenstände leben nicht. “ Die Forscherin fieberte vor Aufregung. „Wir haben ...“

Marie-Louise wandte sich kopfschüttelnd ab. Welchen Hokuspokus sie im TV doch immer bringen, sagte sie sich, aber damit verdienen sie ja viel Geld.

Sie schaltete den Fernseher aus und verließ das Zimmer.

Essen

Seufzend ging Marie-Louise in die Küche und holte einen Teller und Besteck aus dem Schrank. Es war noch kalter Tee da, sie trank davon und ging zum Kühlschrank. Sie vermutete, dass noch etwas Streichkäse darin war, vielleicht auch noch ein Stück Gurke?

Sie öffnete die Schranktür und eisige Luft schlug ihr entgegen. Sie fühle die Kälte auf der Haut, während ihr Blick über die Regale schweifte. Die Eltern hatten die Vorräte nach gefüllt, es gab Käse Wurst, Butter, Gemüse, Marmelade.

Die Marmelade ... sie beugte sich vor. Sie griff nach dem ersten der drei Gläser und zog es heraus. Es war seltsam. Welche Früchte waren darin? Sie achtete nicht auf die Etikette, sondern drehte den Behälter um die roten Früchte hintern Glas zu erkennen. Sie sah kleine Arme, Beinchen, Köpfchen, glasige Augen...

Ein spitzer Schrei durchdrang ihre Kehle. Sie riss die Arme hoch und ließ das Glas fallen.
 

Ein übler Brechreiz kroch in ihr empor, ihr war, als legte sich eine eiserne Hand um ihren Hals und drückte kräftig zu. In der Ferne hörte sie das Glas am Boden zerbersten.

Im Ekel erstarrt stand sie da, die Hände verkrampft vor ihrem Gesicht, rang sie nach Atem.
 

Allmählich entspannte sie sich wieder. Der Atem gehorchte ihr wieder. Die Hände lockerten sich. Sie lächelte. Was hatte sie da gesehen? Tote Föten? Noch dazu in einem Marmeladeglas vom Supermarkt? Das war doch unmöglich!

Sie senkte den Kopf und ihr Blick glitt zu Boden. Da lag das Marmeladeglas. Zerbrochen. Aus dem Bruch waren Erdbeeren gequollen.

Zeichnen

Über sich schmunzelnd räumte sie den Schaden weg. Sie musste sich eingestehen, dass sie sehr müde war, außerdem wurde in der Schule erst über das Thema Abtreibung gesprochen. Die anderen hatten es ganz cool hingenommen, aber ihr war es nahe gegangen. „Ich bin wohl doch ein Weichei, wenn mich alles so sehr bewegt“, sagte sie sich scheltend.

Dann machte sie sich das gewünschte Käsebrot mit Gurke.

Der Appetit war zurückgekehrt. Sie nahm das Brot und die Hand, lächelte und führte es zum Mund und öffnete den Mund.

Applaus ertöte.

Sie hielt inne.

Es kam vom Wohnzimmer. Die Talkshow lief noch im Fernsehen.

Aber Marie-Louise hatte doch den Apparat ausgeschaltet!

Sie legte das Brot nieder und ging energisch in das Wohnzimmer.

„Huch!“
 

Erschrocken stand sie da.

Da war ein Kind.

Ein kleiner Junge.

Er sah armselig aus, der Pullover war übergroß und löchrig, die Hose schmutzig und abgetragen. Er trug keine Schuhe, die Füße steckten in dicken Socken. Seine Hände waren schmutzig, die strähnigen Haare umrahmten ein bleiches Gesicht und fahlen Augen, die sie stechend musterten.

Wie kam er her?

Der kleine Junge saß auf dem Teppich. Über den ausgestreckten Beinchen hatte er einen großen Ringblock liegen und in der rechten Hand hielt er einen roten Kugelschreiber, den er wie einen Stock mit allen Fingern umklammerte.

Marie-Louise rang nach Luft. Dann fasste sie sich halbwegs und hauchte die Frage: „Wie kamst du hier herein?“ Sie schätzte sein Alter auf sechs bis sieben Jahre.

Der Junge schaute sie mit großen Augen an. Sein Blick hatte nichts kindliches, ihr war, als hätten seine Augen schon unendlich viel gesehen. Dann wandte er den Block zu und kritzelte er über das Papier. Sie erschauderte.

„Haben dich meine Eltern herein gelassen? Wie heißt du denn?“

Er antwortete nicht.

Sie wurde gereizt. „Kannst du nicht antworten?“

Er schwieg und fuhr mit dem Kugelschreiber hektisch über das Papier. Er überzog es mit roten Wirbeln.

Sie beugte sich vor und fasste ihn an der Schulter. Er zuckte zusammen. Er hielt kurz inne, dann raste er noch heftiger über den Block. Ein heftiger roter Sturm wütete und riss das Papier auf, der Kugelschreiber pflügte über das darunter liegende Blatt.

Sie ließ ihm los und trat zurück.

Sie beobachtete ihn schweigend. Dann drehte sie ab und ging in die Küche um zu Essen. Sie war überrascht, dass ihre Eltern ein Kind nach Hause gebracht hatten ohne es ihr zu sagen. Überhaupt war es sonderbar, dass ihre Eltern ein fremdes Kind herein gelassen hatten.
 

Sie hielt inne. War er eingebrochen? Sollte sie die Polizei rufen?

Marie-Louise ging zur Tür. Diese hatte sie beim Eintreten auf geschlossen. Waren Fenster offen? Sie schritt durch das leere Haus. Sie betrat die einzelnen Zimmer, sie ging in den Keller und in die Garage, sie rüttelte an den Fenstern. Alles war abgeschlossen.

So wie immer. So wie es die Eltern verlangt hatten. So, wie sie es ihr immer befohlen hatten sorgfältig alles abzuschließen, denn Einbrecher lauerten überall…

Nur eine Tür war halb offen. Der rechte Türflügel des großen Biedermeierschrankes im Flur zur Garage stand offen. Dahinter leuchteten die Bretter der Rückwand des Schrankes. Im gemaserten Holz starrte sie die dunkle Astmaserung wie Augen an.

Sie drückte die Tür zu. Dann kehrte sie in die Küche zurück.
 

Als sie ins Brot gebissen hatte, richtete sie ihren Blick zur Küchentür. Der Junge stand vor ihr. In der Hand hielt er ein Blatt Papier.

„Für mich?“ Sie lächelte ihn flüchtig an.

Er reichte ihr das Blatt. Sie nahm es freundlich ab. Darauf war ein Gesicht gezeichnet; so deutete sie die Wirbel auf roten Kugelschreiber. Ein großer Kreis, die Umrisslinie hastig gezogen, darin zwei kleinere Wirbel, in ihrem Zentrum stark verdichtet. Dicke Striche zu Balken verdichtet, führten von diesen Flächen parallel aus dem großen Kreis heraus, auch hier hatte die Kinderhand leidenschaftlich gewütet, dass das Papier an manchen Stellen durchgedrückt war.

Marie-Louise schaute sich das Bild an. Ein weinendes Gesicht? Aber war es denn ein Gesicht? Nase und Mund fehlten und die „Augen“ füllten den Kreis nahezu aus. Unter dem großen Kreis gingen vier dünne Linien aus als wären es Gliedmaßen eines Tintenfisches. Sollte es ein Tier sein?

Sie schaute den Jungen in die Augen. Das verunsicherte ihn und er drehte sich weg.

„Kannst du sprechen?“

Er reagierte nicht.

Sie seufzte. Wie sollte sie mit ihm reden können wenn er nicht darauf reagierte? Oder hörte er nicht? Warum hatte er dann den Fernseher ein geschaltet?

Ah! Sie begriff. Damit SIE ihm wahr nahm! Also konnte er nicht sprechen, folgerte sie.
 

„Magst du etwas Essen?“ Marie-Louise deute auf ihr Brot. Die Zeichnung hatte sie auf die Ablage gelegt.

Er schüttelte den Kopf und kehrte zurück ins Wohnzimmer. Sie zuckte mit den Schultern und nahm das Brot in die Hand. Nun wollte sie sich nicht mehr stören lassen.

Blut

Sie biss ins Brot und kaute den Bissen sorgfältig. Die Mutter hatte ihr immer gesagt, sie solle ordentlich die Nahrung zerkauen um sie gut zu verdauen. Auch würde das langsame Essen verhindern dass sie zu viel verzehren und zu dick werden würde. Sie lächelte. Immerhin konnte sie trotz ihrer Körpergröße Kleidung für schlankere Mädchen tragen.

Sie schluckte den Bissen und schaute auf ihr Brot. Zwischen den beiden Hälften breitete sich etwas Rotes aus. Der fettige Streichkäse sonderte die Röte in zwei Hälften; die Gurkenscheiben schimmerten bräunlich hindurch.

Sie leckte an den Lippen. Irgendwie schmeckten sie metallisch...

Sie dachte nach. Hatte sie sich gebissen?

Sie fühlte keinen Schmerz. Sie fühlte sich nicht übel.

Auch das Kind im Wohnzimmer bekümmerte sie nicht.

Sie biss ins Brot. Dieser Bissen schmeckte nun eindeutig nach Eisen. Sie im Kauen inne und blickte aufs Brot. Nun drang mehr rote Flüssigkeit zwischen Brot und Streichkäse hervor. Rote Tropfen perlten ab und fielen auf dem Teller.

Sie hörte ein Pfeifen in den Ohren. Der Fernseher im Wohnzimmer hörte sich eigenartig fern an. Sie legte das Brot auf dem Teller.

Sie sprang auf und rannte ins Bad. Klodeckel auf. Dann hörte man sie würgen.

Der Junge schaute mit großem Augen durch den Türspalt in den Flur. Er trat hervor und ging zur Badezimmer Tür. Drinnen keuchte Marie-Louise. Dann hörte man sie gurgeln und sich den Mund ausspülen.

Der Junge trat zurück. Sie kam bleich heraus. Er schaute zu ihr hoch.

Sie lächelte: „Das macht nichts, ich kotze öfters mal.“
 

Sie kehrte zurück in die Küche. Das Brot war wie immer. Streichkäse und Gurke.

Marie-Louise schüttelte den Kopf. Ihre Hände zitterten. Sie rieb sich übers Gesicht. Ich muss hier raus, dachte sie und lief zur Wohnungstür.

Kühle Luft

Sie hatte sich eine Jacke angezogen und verließ nahezu fluchtartig das Haus. Ich wäre beinahe verrückt geworden, dachte sie. Marie-Louise war derart aufgebracht, dass sie vergessen hatte die Haustür ab zu schließen.

Der kleine Junge klemmte seinen Block unter den Arm und krallte den Kugelschreiber fest in seine kleine Hand. Er lief ihr nach. Die Haustür blieb offen. Er musste beim Laufen immer wieder die übergroße schlottrige Hose hochziehen.

Sie beachtete ihn nicht.
 

Die kühle Luft erfrischte Marie-Louise. Sie sog sie tief ein und atmete langsam aus. Die Kühle der Nacht benetzte ihre Haut und haftete sich an ihre Kleidung. Die Dunkelheit umhüllte sie sanft.

Von den umliegenden Häuser drang kein Lärm auf die leere Straße, manche Fenster wurden schwach von Innen erhellt. Die Nacht war sternenklar und geleitete das Neonlicht der Straßenlampen.

Marie-Louise blickte um sich. Sie war selten einmal um diese Zeit auf den Straßen; sie musste doch immer um diese Zeit zu Hause sein. Nun erschienen ihr die bekannten Straßen und Gegenden kalt und fremd.

Der Junge eilte ihr hinterher.

Hatte sie ihn bemerkt? Er ging sehr leise, denn er trug nur Socken. Sie drehte sich nicht um.
 

Was war denn heute Abend los, fragte sich Marie-Louise. Warum kamen ihr diese ... Halluzinationen? Warum dachte sie, in der Marmelade und im Brot wären tote Embryonen? Lag es an den Film in der Schule? Sie möchte unter keinem Fall abtreiben, aber in der Schule hieß es, dann könne jedem Mädchen geschehen ... Sie fühlte sich so machtlos.

Sie schwitzte. Eigentlich verspürte sie Müdigkeit, aber sie wollte nicht zu Hause sein. Wenn die Eltern schon weg waren, weshalb sollte sie dann daheim sitzen? Sicher, den Eltern wäre es nicht recht gewesen, dass sie allein durch die Nacht eilte, aber sie würden es nicht erfahren, grinste sie trotzig.

Sie schaute um.

Der Junge war folgte ihr!

Sie sah ihm in der Dunkelheit, sein Zeichenblock scheuerte beim Gehen ein Wenig an seiner Hose.

„Warum bist du mir nach?“ fragte sie. „Du hättest doch zu Hause bleiben sollen, bis meine Eltern kommen.“

Der Junge kam keuchend näher. Kaum hatte er Marie-Louise erreicht, ging sie weiter.

„Was soll ich bloß den Eltern sagen? Ich weiß ja nicht einmal woher du kommst“, zeterte sie. Ihre Stirn lang in Runzeln. Sie würden von ihr Erklärungen verlangen, die sie nicht wusste. Dann würden sie ihr sagen, wie oberflächlich sie sei und dass sie damit im Leben nie Erfolg hätte…

Er keuchte hinter ihr her. Mühsam hielt er sich den Zeichenblock vor die Brust und kritzelte etwas. Es sah aus wie ein Gesicht mit Beinen, daneben eine senkrechte Linie mit einer strahlenden Kugel an der Spitze. Er lief vor und zeigte ihr seine Zeichnung.

„Was soll das sein?“ fragte sie.

Er konnte nichts sagen.

Sie wandte sich ab und schritt weiter.

Zorn

Marie-Louise verlangsamte ihren Schritt. Sie weinte. Mit zittrigen Fingern kramte sie in den Taschen ihres Kleides nach einem Taschentuch und zog es zitternd heraus. Sie schnäuzte sich und rang nach Luft. Dann überkam sie nochmals ein Krampf voller Tränen.

„Wie kann sie so etwas tun? Für Mich? Ich habe das Gefühl den Eltern ein Parasit zu sein!“ klagte sie.

Ihr war, als würde der Boden weich werden und sie drohte darin zu versinken. Was hatte sie gesehen? Was gehört? Die Worte der Mutter gingen ihr immer wieder durch den Kopf. So konnte sie ihre Mutter doch gar nicht! Sie sah sie vor sich, am Schreibtisch, am Computer, eifrig tippten ihre Finger einen Bericht oder einen Brief. Die Haare sorgfältig frisiert, die Kleidung modern und von den besten Designern, das war die Mutter die Marie-Louise kannte. Ihre kritischen Blicke in den Spiegel, wie sie ihr Make-up nachbesserte, stets auf dezente Farben achtend, die ihren Aussehen die nötige Seriosität verliehen, die sie in ihrem Beruf brauchte. Natürlich betrachtete die Mutter auch ihre Tochter genau, beriet sie beim Kauf der Kleidung, sorgte dafür, dass ihr Kind optisch einen guten Eindruck machte.

Jetzt steht sie als Nutte da! schrie Marie-Louise in Gedanken. Verdiente sie und der Vater denn nicht genug? Hatten sie nicht beide gut bezahlte Posten in der Firma? Sie hatten sich neulich über ein BMW-Coupé informiert. Die Mutter war selbst sehr begeistert davon, dass sie den Vater zum Kauf des Autos gedrängt hatte. Bedeutete das nicht, dass genug Geld vorhanden war?

Eine... Marie-Louise schüttelte sich. „Eine Prostituierte“, gab sie laut von sich. Ihre Mutter war doch immer so auf Sittlichkeit bedacht. Wie oft hatte sie ihre Tochter ermahnt, sich nicht jedem Flirt leichtsinnig hinzugeben. Sie sah sie vor sich, wie sie bei Kleidungskauf ihre Tochter kritisch beobachtete und sofort reklamierte, wenn ein Dekolte` zu sehr ausgeschnitten, oder ein Rock zu kurz war. `Meine Tochter läuft nicht so herum!‘ forderte sie. Das Mädchen erinnerte sich daran, dass die Mutter für die Leute am Rande der Gesellschaft nur mitleidige Verachtung übrig hatte. Schnell beurteilte sie so manche Mitmenschen als arbeitsscheu und faul; sollte auch jemand wegen harter Schicksalsschläge in Not geraten sein, so war dies für sie keine Entschuldigung um von Prostitution oder Bettel zu leben. Diese Mutter kannte Marie-Louise.

Sie atmete tief durch. Das Gefühl zu ersticken liess sie nicht los. Wie konnte ein Mensch so gegensätzlich sein? Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, rieb die nassen Hände an der Kleidung trocken. War es nur ein Trugbild wie das Marmeladeglas? Sie drehte sich um, doch sie sah ihre Mutter nicht mehr, denn die Straße machte eine Kurve. Soll ich zurück laufen? überlegte sie sich.

In ihrem Innern verkrampfte sie. Die Erinnerung an die Begegnung liess sie wütend werden. Die Worte der Mutter wider halten so gehässig in ihren Ohren. „Wie soll ich denn sonst deine Förderkurse bezahlen? Du bist ja nicht so begabt, wie wir zuerst angenommen hatten!“ Worte wie Peitschenhiebe. Marie-Louise kostete ihren Eltern viel Geld. ... Und... sie war nicht intelligent genug. Sie entsprach nicht den Erwartungen der Eltern.

Die Tochter schluchzte laut. Was das Lernen nicht genug? Die Nachhilfestunden? Die zusätzlichen Schulungen und Weiterbildungskurse? Dieser ewige Druck, etwas recht machen zu wollen, um ... warum eigentlich? Weil sich die Eltern selbst so viel Mühe gaben um erfolgreich zu sein? Weil sie selbst im Leben etwas erreichen wollte? Ein Gedanke erschien ihr zwischen all den Dingen, die sie glaubte erfüllen zu müssen: Als sie klein war, hatte sie an einem Wettbewerb der Schule teil genommen. Sie konnte schon ein wenig Geige spielen, und es hiess sie sei ein begabtes Mädchen. Die Bekannten lobten und lächelten sie an, dass sie schüchtern die Hände vor das Gesicht hielt, so schwer fiel es ihr einst im Mittelpunkt vor all den Erwachsenen zu stehen. Die Mutter reichte ihr lächelnd die Geige und sie betrat mit zitternden Knie die Bühne. Alle Blicke waren auf sie gerichtet, sie atmete tief durch, dann setzte sie die Geige ans Kinn und begann ihre Vorführung. Sie gewann den ersten Preis. Alle gratulierten ihr, doch das war ihr nicht wichtig, denn sie sehnte sich nur an den Lob zweier Menschen: Die Mutter und den Vater. So, wie sie es sich gewünscht hatte, war es auch: sie wurde hoch gehoben und geknuddelt. DAS war ihr schönster Moment. Das wollte sie immer wieder erleben.

Wenn sie nun an die Mutter unter der Straßenbeleuchtung dachte, ergriff ein grausiges Würgen ihre Kehle und die Brust verengte sich mit unzähligen Nadelspitzen, die direkt in ihr Herz stachen. Was hatte sie getan?

Zu wenig. Zu wenig gelernt, sich zu wenig Mühe gegeben. Die Zensuren waren nicht so hervorragend ausgefallen wie erhofft. Die Eltern nahmen es seufzend zur Kenntnis, fragten die Tochter, ob denn die anderen Mitschüler auch so mittelmäßig abgeschnitten hatten. Ganz naiv hatte sie geantwortet, es gäbe immer den einen oder die andere, die auch die schwierigste Aufgabe lösen könne. ‚Die sind wirklich gut.‘ bemerkte die Mutter gelegentlich; als hätte man sie beleidigen wollen, versank sie darauf hin in ein bedrückendes Schweigen und wandte sich von ihrer Tochter ab. Marie-Louise nur da und schwieg.

Sie hatte ihre Eltern enttäuscht! Daher war die Mutter wütend auf sie. Sie sollte sich bei ihrer Mutter entschuldigen.

Dennoch wollte sie nicht umkehren und sich nochmals mit dem Anblick der Mutter in knapper Kleidung konfrontieren. Die Erinnerung an ihren Anblick regte sie zu sehr auf, denn es war so anders als sie sonst ihre Mutter vor sich sah. Wie hätte sie ihr erklären können, wie sehr sie ihr mangelnde schulische Leistung bedaure? Eigentlich nützte es gar nichts, darüber zu reden, denn das würde nichts daran ändern, dass sie Nachhilfe benötigte, um den hohen Erwartungen der Eltern zu entsprechen.

Etwas zupfte an ihr. Sie schaute an sich herab. Der kleine Junge schaute mit großen Augen zu ihr hoch.

„Was machst du bloss hier? Warum rennst du mir nach? Was soll ich mit dir machen? Ich komme ja selbst nicht klar“, klagte sie. „Du hast ja gesehen, was Mutti macht!“

Sie hielt inne. „Mensch! Ich hätte sie nach dir fragen sollen“, stöhnte sie. „Aber ihr Anblick hat mich so aufgeregt. Dass sie so etwas macht!“ Sie rang nach Luft. „Ich muss mit ihr reden.“ Sie zögerte. „Jetzt nicht... es ist mir zu heftig... zu Hause dann.“

Sie zwängte sich ein Lächeln auf. „Komm wir gehen nach Hause.“ Sie hielt dem Jungen die Hand entgegen.
 

Er hatte wieder etwas gezeichnet. Es war ein ähnliches riesiges Kopfwesen wie vorher; und davor ein kleineres Ding mit Knopfaugen, dieses zeigte unter den Augen einen weiteren augenähnlichen Fleck, als würde das Wesen schreien.

Marie-Louise schaute kurz darauf, doch sie verstand es nicht. „Du kannst ja überall zeichnen“, bemerkte sie freundlich. Dann wandte sie sich ab und ging weiter.
 

„Ich geh nicht mehr in die Schule. So!“ entschied sie.

Sie marschierte durch die Straße, an den Straßenlampen vorbei. Am Ende der Straße befand sich ein verwahrloster Park.

„Wie soll ich auch damit leben, dass sie anschaffen geht, um mir meine Schule zu bezahlen? Wie könnte ich nur? Bin ich ein Zuhälter?“ Sie putzte sich die Nase. „Das kann ich gar nicht zulassen. Ich MUSS die Schule aufgeben.“ erklärte sie sich selbst. Sie dachte an das stundenlange Lernen, jeden Tag und spät bis in die Nacht. Sie sehnte das Ende heran.

„Aber dass sie sich zu so etwas hat entschließen können... Wie verrückt muss jemand sein? Eine normale Oberschule hätte es doch auch getan! Und die wahnsinnsguten Noten beim Aufnahmetest habe ich doch auch nur bekommen, weil ich geschummelt hatte... So gescheit bin ich doch gar nicht. Ich wollte meinen Eltern doch nur eine Freude machen. ... Ich hab es ja eh kaum geschafft, den Unterricht zu folgen ... Das hat nun ein Ende!“ erklärte sie sich. Es beruhigte sie, ihre entschlossene Stimme zu hören. Diese Entscheidung könnte alles ändern, vielleicht würde die Mutter auch wieder glücklich sein. Hätte sie doch früher erfahren, was mit der Mutter los war! Doch die Liebe einer Mutter schien keine Grenzen zu kennen. Sie hatte nie daran gedacht, welche Opfer die Eltern aufbringen mussten, um ihr die Ausbildung zu bezahlen. Nun schämte sich die Tochter, diese Liebe missbraucht zu haben. Es lag an ihr, die Dinge zu verändern. Voller Tatendrang schritt sie voran.
 

Da hörte sie einen grellen Schrei.

Wahnsinn

Sie starrte angespannt in die Dunkelheit. Zuerst schien der verwahrloste Park eine einzige dunkle Masse, doch allmählich erkannte die Bäume und Sträucher. Die Pflanzen waren eins mit der Dunkelheit, nur hinter ihnen flackerte ein fahles Neonlicht. Die schwarzen Äste und Blätter zerpflückten das Licht, brachen es, lösten es in kleine flimmernde Punkte auf, die keinen Kraft hatten gegen die Finsternis anzukämpfen.

Dort war doch jemand.

Weiter drüben, hinter den Bäumen. Der Schein einer Leuchtreklame formte eine Gestalt. Ein Mann? Etwas hält er in den Händen und schüttelt es.

Ein kläglicher Laut klang herüber.
 

Marie-Louise erschrak. Was ging da? Hielt der Mann ein Kind? Ihr Atem stockte.

Sie bekam Angst, aber sie wollte nicht zurück weichen. Sie wollte etwas tun!

Mutig schritt sie durch das hohe Gras, fegte mit den Armen herab hängende Äste zur Seite, und näherte sich der Gestalt.
 

Ein neues Grauen überkam sie.

Der Mann hatte dem Kind die Kleidung vom Leib gerissen und beleckte es. Sein Anzug roch nach Schweiß. Der scharfe, beißende Geruch ekelte sie, Brechreiz kroch in ihr hoch und schnürte ihr die Kehle zu. Sein teures Toilettenwasser verstärkte zusätzlich die Übelkeit; diesen Geruch mochte sie schon zu Hause nicht.

„Vati!“ brüllte sie.

Er schaute zu ihr. „Oh, mein Balg, du wärest einmal auch so süß...“, flüsterte er und grinste lüstern.

„Das darfst du nicht!“ brüllte sie.

Er wollte noch etwas sagen, aber sie stürmte auf ihm. „Ihr beide seit ja nur noch schrecklich!“

Sie stürzte sich auf ihm.

Nichts

Sie fiel ohne Widerstand ins hohe Gras.

Der Aufprall raubte ihr den Atem. Sie rappelte sich hoch und drehte sich um. Ihr Vater war weg. Kein Kind.

Doch ... aber der Junge mit dem Zeichenblock weiter hinten.

„Vati?“

Marie-Louise blickte um sich. Niemand. Der verwahrloste Park stand finster und leer da. Die Neoleuchtreklame überwand die Dunkelheit und sandte mattes gelbliches Licht über die Gräser und Sträucher. Grillen zirpten.

Sie holte tief Luft.

Was war geschehen? Sie blickte verwirrt. Im Gras erkannte sie keine Spuren außer ihre eigenen.

Hatte sie geträumt?
 

Regungslos verharrte sie eine Weile. Dann lachte sie. „Ach, Marie, was ist heute los mit dir?“ fragte sie sich. Tränen liefen ihr über die Wangen.

„Heute ist nicht mein Tag. Aber wie es scheint, habe ich geträumt. Der Vater ist gar nicht da. ... Mama ist wohl auch nicht echt gewesen. Wäre ich doch zu ihre zurück gegangen, ich hätte erkannt, dass niemand da war!“

Sie holte tief Luft. Ja, es ist alles nicht wahr, dachte sie erleichtert. Ich werde noch wahnsinnig! Ich bin froh, wenn bald die Ferien kommen, dann kann ich mich mal ausruhen.

Sie ging durchs Gras zurück auf die Straße. „Alles nur geträumt! Der ganze Abend war nicht real. Ich wache gleich zu Hause im Bett auf und alles ist wie immer. Und die Schule muss ich auch nicht aufgeben.“

Die Schülerin schritt durch eine andere Straße. Sie kannte den Stadtteil nicht, aber sie vermutete, dass sie in dieselbe Richtung zurück ging, von der sie her gekommen war, auch wenn sie eine andere Straße nahm. Sie wollte nicht in die Straße zurück, in der die Mutter ihre „Beschäftigung ausübte.“ Die Vorstellung von der Mutter als Prostituierte ängstigte sie immer noch, obwohl sie hätte feststellen können, dass es eine Illusion war. Zu Hause würde alles so sein wie immer, beruhigte sie sich, sie würde weiterhin fleißig lernen und versuchen ihre Eltern glücklich zu machen. Eines Tages sollten sie stolz auf sie sein, dafür lohnten sich doch die Entbehrungen, und wären sie noch so groß! Sie lächelte müde, aber erleichtert.

Plötzlich kicherte sie. Wie verrückt war sie denn, dass sie sich ihre Eltern als eine Hure und einen Kinderschänder vorstellte? Sie waren doch ganz anders, stets um gute Manieren und Sitten bemüht, nahmen sie sogar an ehrenamtlichen Wohltätigkeitsprojekten teil um die Welt schöner zu machen. Die Menschen, die sie kannten, wussten ihre Güte und Großzügigkeit zu schätzen; man fragte sie sogar um Rat, da sie über soviel Weitsicht verfügten und dort noch Auswege sahen, wo andere aufgegeben hatten. Wie konnte Marie-Louise nur so hässliche Dinge von ihnen denken? Egal! Sie wollte nach Hause, ab ins Bett und morgen würde die Welt wieder in Ordnung sein.

Der Junge stolperte hinter ihr her. Seine kurzen Beine hatten mühe ihr zu folgen. Er keuchte und wischte mit dem Ärmel den Rotz von der Nase.

Sie beachtete ihn nicht mehr. Er war auch nicht real, entschied sie.

Überlegungen

Die schmale Straße endete am Tor zu einem Friedhof.

Marie-Louise blieb stehen und schaute um sich. Ihr Blick erhellte sich. Hier war ich ja schon öfters, fiel ihr auf. Sie erkannte die Bäume und die Grabreihen und wusste, dass es der Friedhof war, in dem ihre Vorfahren begraben lagen. Sie öffnete das gusseiserne Tor und trat ein. Sie blickte zum Jungen zurück und hielt ihm den Torflügel auf. Er folgte ihr.

„Du machst mit mir ja ganz schön was mit“, gestand sie. „Allerdings verstehe ich nicht weshalb du mir nachläufst.“

Der Junge blickte sie an, und als ihre Augen seine trafen wandte er sich schüchtern ab. Seine kleinen Hände umklammerten sich den Block und den roten Kugelschreiber.

Das Mädchen betrachtete den Jungen. Wie war es möglich, dass ihm seine Eltern allein im Haus liessen? Warum hatten sie nichts gesagt? Marie-Louise überlegte noch mal, ob sie nicht doch ein mögliches Schlupfloch im Haus übersehen hatte und der Junge war von außen eingedrungen und die Eltern hatten nichts damit zu tun. Ratlos wandte sie sich ab, sie hätte eben doch die Polizei benachrichtigen sollen, mahnte sie sich. Eigentlich könnte sie es noch immer tun. Aber wie könnte sie den Polizisten erklären, dass sie durch die Stadt geirrt war, mit grässlichem Halluzinationen im Kopf? Man würde sie für verrückt erklären! Am besten wäre es, den Junge den Eltern zu zeigen.

Ich kenne mich hinten und vorne nicht aus, klagte sie zu sich. Ich hätte mich ganz anders verhalten sollen, aber ich wusste nicht, was tun. Sie strich sich durch die Haare. Was würden bloss die Eltern von ihr denken? Und was die Polizisten? Möglicherweise war der Junge in Gefahr und sie unternahm nichts um ihm zu helfen!

Düsteres Grauen stieg in ihr hoch. Was war sie doch für ein Dummkopf! Wieso war es ihr nicht möglich gewesen, sofort auf den Jungen ein zugehen? Wenn jemand in Not ist, dann MUSS man doch helfen, egal ob man Lust dazu hat oder nicht! tadelte sie sich. Eine Verpflichtung wie so viele andere. Wer weiss, vielleicht sucht schon jemand verzweifelt noch dem Jungen! Aber...

Warum trug er so schäbige Kleidung? Wäre er einer Familie davon gerannt, trüge er doch hübsche Kleidung, genau passend für ein Kind seines Alters, in niedlichen Mustern und Motiven, dazu Schuhe oder Pantoffeln, falls die Eltern wünschten, dass das Kind zu Hause Pantoffeln trägt um die Füsse gesund wachsen zu lassen. Natürlich wären auch die Haare sorgfältig frisiert und gewaschen.

Marie-Louise drehte sich dem Junge zu. Sie deute auf ihrem Mund. „Verstehst du mich?“ Der Junge schaute sie ernst an.

Sie deutete auf ihre Ohren. „Hörst du mich?“

Der Knabe reagierte nicht darauf. Er schaute zu ihr hoch, doch es gelang ihr nicht seinen Blick zu deuten.

„Hast du Hunger?“ Sie deutete auf ihrem Bauch. Nichts.

Die Schülerin seufzte. Er reagierte nicht. Verstand er ihre Sprache nicht? War er nicht nur stumm, sondern auch taub? Wenn er taubstumm ist, überlegte sie, warum kann er nicht die Zeichensprache? Weshalb unternahm er nichts, um sich verständlich zu machen?

Doch... Die Zeichnungen! Sie deutete auf seinen Block. „Malst du mir etwas?“

Er zuckte zusammen und wich zurück.

„He, ich nehme dir doch nichts weg. Ich möchte nur, dass du mir etwas zeichnest. Das hast du doch vorher schon gemacht.“ Mit einem Lächeln fügte sie hinzu: „Zeig mir doch, was du gemacht hast.“

Er blickte sie trotzig an und bewegte sich nicht.

„Komm schon“, sie ging vorsichtig auf ihm zu. Er ging rückwärts von ihr weg. Sie beugte sich vor,„Warte doch!“ Ein Satz und er sprang hinter ein Grab und lief in die Dunkelheit. Marie-Louise sah wie er darin verschwand. Sie richtete sich auf.

Auch das noch. Jetzt ist er weg, ärgerte sie sich. Was nun? Wenn ihm etwas zustösst? Sie ging durch die Grabreihen, stolperte ab und zu an eine steinerne Umfassung der Gräber, dass ihr die Zehen schmerzten, hinkend tastete sie sich von Grab zu Grab weiter. Ihre Augen streiften durch die Dunkelheit, ihre Ohren lauschten in die Stille. Eine sanfte Brise säuselte durch die Äste der großen Bäume, ein kleines Tierchen huschte im Schein einer Straßenlampe an den Gräbern vorbei. Ringsum schliefen die Häuser der Morgendämmerung entgegen. Im Zwielicht ragten die Kreuze, Engel und Stelen grotesk in die Kühle. Doch vom Jungen konnte sie aber nichts erkennen.

Am Grab

Plötzlich stand sie vor dem Grab ihrer Familie. Auch wenn sie vollkommen von der Dunkelheit umhüllt war, lag die Marmorplatte breit und mächtig da. Marie-Louise erahnte ihre Umrisse, und als sie noch einen Schritt vor trat, stiess ihre Schuhspitze an harten Stein. Über den Block beugte sich ein großer Engel, seine scharfen Umrisse schnitten in das fahle Morgengrau. Das Haupt, stilisiert und ohne Details wie der gesamte Körper, verneigte sich vor den Toten. Das Mädchen hatte diesen Engel noch nie gemocht, nicht nur wegen des sterilen Kunststils, sondern weil er sie als kleines Kind an die böse Hexe eines Märchens erinnert hatte.

Auf der Grabplatte glänzten fahl die metallenen Lettern, die die Verstorbenen der Reihe nach auflisteten. Die Großeltern väterlicherseits, deren Eltern, alle waren große Gründer und vornehme Leute. Marie-Louise hatte als Kind sich viele Geschichten angehört, was diese Vorfahren alles erreicht, wie geschäftstüchtig und vorausschauend sie auch in Notzeiten gewirkt hatten. Damals hatte Marie-Louise diese Geschichten noch interessiert, doch dann hörte sie sie immer wieder und allmählich nervten sie: Mahnten die Eltern sie doch häufig, diese Vorfahren, denen sie den Wohlstand und die angesehene Stellung in der Gesellschaft verdankten, als Vorbild zu nehmen. So wurde ihr der Besuch des Grabes zu einer lästigen Pflicht, die des häuslichen Friedens willen, mit aufgesetzter Freude absolviert wurde.

Die Eltern legen viel Wert auf diese Tradition, doch ihrer Tochter kam es wie eine leere Hülse vor. Sie hatte die Großeltern nie kennen gelernt, sie konnte sich kein lebendiges Bild von ihnen machen. Trotzdem sollte sie ihnen nacheifern, fleissig studieren und lernen sich durch zusetzten um selbst einmal die Firma zu übernehmen und sie erfolgreich führen. Sie seufzte, eine Szene schwebte ihr vor, damals als ein Schulfreund von ihr abgeschrieben hatte und die bessere Note als sie bekommen hatte. Sie war so überrascht darüber, dass sie ihren Eltern davon erzählte. Die Mutter hielt ihr vor, dass sie ihre Leistung verschenken würde, der Vater lachte über sie, denn der Freund hatte offensichtlich ihre Fehler bei sich ausgebessert. Die Mutter ärgerte sich, und wies darauf hin, dass sie Freunde hatte, die sie ausnützten und ihr nicht halfen. Die Folge war, dass ihr Schulfreund nicht mehr zu ihr nach Hause kommen durfte, da er wohl nur bei ihr abschrieb. Die Eltern waren zufrieden, aber die Schülerin wurde von einem Tag auf den andern nicht nur von diesem Mitschüler, sondern auch noch von seinen Freunden gemieden und bespöttelt.

Diese Episode war eine von mehreren, in denen es ihr nicht gelang dauerhafte Freundschaften zu schliessen, denn immer gaben die Mitschüler ihr zu verstehen, dass sie „anders“ war, reicher, strebsamer, ...eingebildeter? Ein Paradebeispiel war ja ihr fünfzehnter Geburtstag. Die Eltern hatten ihr erlaubt, sämtliche Schüler ihrer Klasse einzuladen. Marie-Louise mochte aber nicht die Mitschüler bei sich haben, die in der Klasse über sie gelacht hatten. So verteilte sie die Einladungen nur an einen Teil der Schüler. Zuerst schienen sich die eingeladenen zu freuen, doch als der Abend der Party gekommen war, saß sie allein da! Die Frechen waren beliebter als sie.

Damit liess sie es bleiben und zog sich zurück. Sie hatte ohnehin nicht mehr viel Zeit mit Gleichaltrigen Spaß zu haben, denn ihre Noten verschlechterten sich und sie musste in ihrer Freizeit Kurse besuchen. Lernen, lernen, forderte die Mutter und der Vater bezahlte die Kurse, damit sie „gut“ wurde. Gut war sie allerdings schon; sie sollte sehr gut werden. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie für die Prüfungen lernte bis sie die Materie auswendig konnte, dennoch fiel das Ergebnis nicht mit Auszeichnung aus. Enttäuscht machte sie sich daran weiter zu lernen. Das Aufnehmen von Wissen wurde zum Lebensinhalt, alles begann sich darum zu drehen, morgens beim Aufstehen bis abends im Bett, und selbst wenn ein Alptraum sie nachts hochschreckte, dachte sie an ihre Aufgaben, die noch zu erledigen, oder vielleicht zu verbessern wären.
 

Marie-Louise setzte sich auf die Grabplatte, die Kälte drang ihr durch das Gewand an die Haut und liess sie frösteln. Doch die Schülerin war in ihren Gedanken gefangen, denn da war noch ein Ereignis, dass sie ärgerte: Der Umstand, dass sie ihr Können nicht verbessern konnte. Die Auszeichnung schien ihr unerreichbar. Die Mathematikarbeit hatte sie nur mit einem gut abgeschlossen, die Enttäuschung schnürte ihr damals die Kehle zu, sie saß schnüffelnd und mühsam die Tränen verbergend, an ihrer Schulbank. Sie schaute sich die Fehler mehrmals an, und konnte nicht begreifen, wie sie ihr unterlaufen waren. Beim Üben hatte sie diese Fehler längst nicht mehr gemacht.

Beim nächsten Mal hatte sie sogar Spickzettel gemacht. Doch die Aufgaben, die ihr schwer erschienen, machte sie richtig, und die Fehler unterliefen ihr bei denen, die sie eigentlich sehr gut konnte. Irgendetwas in ihr blockierte die weitere Entwicklung, vermutete sie, doch die Eltern verlangen noch mehr Nachhilfestunden.

Sie drückte das heisse Gesicht auf den kalten Stein. Ihr war als hätte sie Fieber, ihr Herz raste. Warum gelingt es mir nicht alles zu können, klagte sie in Gedanken, warum ging ihre Leistung nicht weiter nach oben?

Neulich hatten ihr auch die Eltern diese Frage gestellt. Sie war wütend geworden. Flapsig gab sie zur Antwort, dass sie überall eine ausreichende Benotung habe, weshalb kein Anlass zur Beunruhigung bestehe. Die Mutter war sofort gekränkt, und der Vater hielt ihr die Ausgaben für die Kurse vor. Dieser Streit war einer von mehreren in letzter Zeit. Das Lernen nervte sie in zunehmenden Maße, sie schwindelte öfters, kam zu spät zum Geigenunterricht oder nach Hause.

Die Eltern monierten ein solches Verhalten, und bestanden auf Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, sie duldeten auch kein „langes Gesicht“, denn was taten sie nicht alles für ihre Tochter! Marie-Louise beteuerte Reumütigkeit, doch so schnell war die Mutter nicht zu besänftigen, noch Tage später sprach sie ihre Tochter mit säuerlicher Miene darauf an.

Dies waren die Momente, in denen sich die Tochter am liebsten in ihr Zimmer zurück zog und froh war, wenn sie niemand störte. Ein beengendes Gefühl legte sich im ihr Herz und raubte ihr den entspannten Atem. Sie begriff sich selbst nicht. Sie regte sich über das Verhalten der Eltern auf, aber im nächsten Moment bedauerte sie es, ihrer Familie gegenüber aufmüpfig gewesen zu sein. Die Eltern wollten nur das Beste für ihre Tochter - leider konnte sie es ihnen aus irgend einen Grund nicht geben. Sie schaffte nicht die beste Leistung.

Sie biss an der Lippe. Es fühlte sich schlecht an, das Gefühl zu Versagen überfiel sie und trieb ihr die Tränen in die Augen.

Das Mädchen weinte.

Zwei Tage später

Marie-Louise lag wach im Bett und starrte zur Decke hoch. Sie konnte es noch nicht glauben. Sie fühlte sich so machtlos.

An ihren Bettende saß der Junge und beobachtete sie. Stumm und mit neugierigen Augen. Er war kaum wieder zuerkennen, neue Kleider, passend für einen Jungen seines Alters, gepflegte Hände, geschnittene und frisierte Haare. Und einen Namen hatte er auch: Philipp. Jedes Mal, wenn sie ihm anschaute, deute er nach unten. Er trug Schuhe, neue, moderne Schuhe. Er wurde nicht müde, daran zu erinnern.

Marie-Louise lächelte zögernd. Er gehörte tatsächlich zur Familie, das hatte sie nicht gewusst.
 

Begonnen hatte alles, als sie vor zwei Tagen im Friedhof schlafend auf gefunden worden war. Sie hatte sich eine Unterkühlung zugezogen und wurde ins Krankenhaus gebracht.

Inzwischen war der verwahrloste Junge durch die Straßen geirrt, die ersten Pendler, die frühmorgens auf die Linienbusse warteten, hatten ihn entdeckt und aufgehalten. Da er auf nichts zu reagieren schien, verständigten sie die Polizei und den Krankenwagen.

In der Notaufnahme lagen sie gegenüber: Marie-Louise und der kleine Junge. Sie war nicht richtig bei Bewusstsein, deutete auf den Jungen und stammelte der Ärztin, er sei ihr gefolgt. Den freundlichen Polizisten erklärte sie, der Junge sei bei ihr zu Hause aufgetaucht und sei ihr nachgelaufen.

Die Eltern waren überrascht, dass ihre Tochter im Krankenhaus sei. Hatten sie ihr Verschwinden nicht bemerkt? Sie wäre öfters mal weg, wehrte die Mutter ab, ihre Entschuldigung klang aufgesetzt und die Polizisten fragten nach den Jungen. Die Eltern beteuerten nichts davon zu wissen. Ihr Verhalten überzeugte nicht, sie wirkten zu nervös um das Wegbleiben der Tochter und die Anwesenheit die Jungen zu verharmlosen.

Eine alte Geschichte wurde hervor geholt. Der Vater hatte eine Schwester, die depressiv und Medikamente süchtig war. Sie starb vor fünf Jahren in der brennenden Wohnung, sie hatte einen kleinen, einjährigen Sohn. Seine Leiche war nie gefunden worden. Der geheimnisvolle Junge könnte im selben Alter wie der Verschwundene sein...

So kam alles ans Tageslicht: Die Eltern verstrickten sich in Widersprüchen und gestanden schliesslich. Sie hatten die Schwester tot in ihrer Wohnung aufgefunden, so verwahrlost, wie alles war, hatten sie sich entschlossen, die Wohnung in Brand zu setzten, um nicht den Gespött der „halben Stadt“, wie sie es nannten, ausgesetzt zu sein. Der stummen Jungen nahmen sie mit und hielten ihm zu Hause in einer winzigen Kammer, vor dessen Eingang ein riesiger Biedermeier Schrank zur Tarnung gestellt wurde. Seine Rückwand baute der Vater zu einer Tür um, so ahnte niemand dass es einen verborgenen Raum im Haus gab. Ihrer Tochter hatten sie nichts gesagt. Warum sie den Jungen dort gefangen hielten? Er war nicht vollkommen, gaben sie zur Antwort, aber sie konnten auch nicht so einfach ein Kind töten...
 

Marie-Louise kam es vor, als wäre der Boden unter ihr eingebrochen. Ihre Welt gab es nicht mehr. Die unendliche Leere in ihr liess sie verzweifeln. Die Ärzte und Psychologen sprachen ihr Mut zu, doch nichts tröstet sie. Wie sollte ihr Leben weiter gehen?

Philipp ... wie sollte sie mit ihm umgehen? Nach all dem was er erleiden musste? Etwas in ihr wollte die Eltern nach dem Jungen fragen, doch es widerstrebte ihr sich danach zu äußern. ‚Das Mädchen ist wie der Junge verhaltensauffällig‘, hatten die Ärzte diagnostiziert. Marie-Louise stöhnte, jedes Mal wenn sie daran dachte. Obwohl sie ihr versprochen hatten zu helfen, klang es so vernichtend. Schluchzend legte sie die Hände über das Gesicht.

Durch den Schleier der Tränen fühlte sie eine Berührung bei den Füssen. Philipp machte sich bemerkbar.

Ein neues Leben könnte beginnen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (13)
[1] [2]
/ 2

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  EzraGallagher
2011-01-08T13:33:12+00:00 08.01.2011 14:33
Hier kommt jetzt mein zusammenfassender Eindruck zur gesamten Geschichte. Erstmal möchte ich die Dinge aufzählen die mir an der Geschichte gefallen haben. Da wäre einmal die meistens sehr gute Rechtschreibung, obwohl noch ein paar kleinere Fehler vorhanden waren. Ich fand die Geschichte auch an manchen Stellen sehr spannend, und die Stelle mit dem Marmeladenglas fand ich richtig gruselig.
Jetzt kommen die Dinge, die mir an deiner Geschichte nicht so gefallen haben. Da wäre zum einen die manchmal komplett unlogischen Verhaltensweisen der Charaktere. Ich könnte ja verstehen, wenn eine arme Mutter anschaffen gehen würde um ihren Kinder eine bessere Ausbildung zu ermöglichen. Aber bei einer reichen Frau, die auch noch sehr auf ihren Ruf bedacht ist kann ich das irgendwie nicht. Ich meine, dort am Strassenrand kann sie ja jeder sehen auch ihre Bekannten und Nachbarn die zufällig vorbeikommen, und das wäre ja viel rufschädigender als eine Tochter die nur "gute" Noten hat.
Auch fand ich die Becshreibungen der Umgebung und der Handlungen manchmal einfach zu ausführlich, da sie eher vom wichtigen Geschehen abgelenkt haben.
Alles im Allem fand ich die Geschichte jedoch ganz gut.
Von:  EzraGallagher
2011-01-08T13:06:20+00:00 08.01.2011 14:06
Ganz spannend, obwohl ich mich wundere warum Marie Louise das Brot erst noch weiter isst, obwohl Blut rauskommt;)
Von:  EzraGallagher
2011-01-08T13:02:56+00:00 08.01.2011 14:02
In diesem Kapitel fand ich Marie Louises Reaktion auf das fremde Kind ein bisschen ungewöhnlich, denn normalerweise würde man doch eher versuchen mit seinen Eltern oder vielleicht auch der Polizei Kontakt aufzunehmen, wenn plötzlich ein kleines Kind, was auch noch ein bisschen verwahrlost aussieht, in der Küche auftaucht. vor allem wenn man gerade noch eine Sendung über Kinder mit paranormalen Fähigkeiten im fernsehen geguckt hat.
Das hat mich an dem Kapitel ein bisschen gewundert. Sonst fand ich es ganz gut, und auch ein bisschen unheimlich:)
Von:  EzraGallagher
2011-01-08T12:52:28+00:00 08.01.2011 13:52
spannend geschrieben:) Die Idee finde ich bis jetzt sehr gut, und die Umsetzung auch. Nur die meiner Meinung nach an manchen Stellen zu genauen Beschreibungen stören manchmal den Lesefluss, aber es hat mir trotzdem gut gefallen:)
Von:  EzraGallagher
2011-01-08T12:43:54+00:00 08.01.2011 13:43
Das hört sich ganz interessant an:) Ich mag es, dass du auch die Umgebung so genau beschreibst, nur an manchen Stellen finde ich es ein bisschen übertrieben( wie zum Beispiel an der Stelle mit den Autoscheinwerfern), aber im Ganzen finde ich es doch ziemlich gut geschrieben.
Von: abgemeldet
2008-11-07T11:02:29+00:00 07.11.2008 12:02
Hallo ^^

Ich hab aus lauter Neugier jetzt mal in deine Geschichte reingelesen, weil ich eigentlich auch beim WB teilnehmen wollte, aber es aus privaten Gründen nicht geschafft habe ;_;
Also, wie du die Blutfinke umgesetzt hast, finde ich sehr interessant!
Aber es gibt noch einige Mankos.
Da diese Geschichte ja schon abgeschlossen ist (nehme ich an, immerhin war sie ja für den WB), kannst du es hier nicht mehr ändern (obwohl, kannst schon).
Ich komm mal zum Punkt *lach*
Dein Schreibstil ist sehr holprig und leider fehlt das gewisse etwas ...
Es fesselt einen nicht wirklich, leider, denn was du dir da ausgedacht hast ist so eigentlich interessant.
Aber deine Sätze sind sehr kurz und durch die dauernde Wortwiederholung "Sie, Sie, Sie, der Junge, der Junge etc." wird es schnell langweilig. Du solltest etwas Abwechslung reinbringen. Beispielsweise: Das Mädchen ließ erschrocken das Marmeladenglas fallen, während ihr Mund zu einem entsetzten Schrei geöffnet wurde, der die Stille des Hauses durchbrach.
Oder so was in der Art.
Arbeite die Sätze und vorallem die Gefühle mehr aus.
Was denkt das Mädchen in diesem Moment?
Was geht in ihr vor?
Auch die Sache mit dem Jungen. Das ist irgendwie ganz schön kurios. Wer geht schon wieder in die Küche, wenn ein schmutziger, kleiner Junge plötzlich im Wohnzimmer steht?
Du hättest das alles mehr ausschweifen lassen müssen.
Natürlich musstest du wie alle anderen die vorgegebenen Seitenzahlen einhalten, aber dann sollte man lieber an anderen Stellen kürzen.
Es liest sich nämlich so, als würdest du die Handlung einfach nur vorantreiben wollen.
Ich hoffe ja, dass es noch gruselig wird, denn das war es bisher leider noch nicht.
Auch muss ich [[nufan2039]] recht geben. Es klingt teilweise ehrlich gestellt, als hättest du versucht irgendein hochgestochenes Wort zu verwenden.
Nicht gut.
Benutz lieber die einfachen Wörter, das ist auch keine Schande und liest sich oft viel besser, als wenn man dann so was hat und die ganze Geschichte dadurch irgendwie ins stocken gerät, weil man sich so über das Wort wundert, was da so gar nicht hinpasst.
Weißt du, was ich meine?
Ich hoffe ich kann dir mit diesen Tipps ein wenig weiter helfen und du bist mir nicht böse für meine Ehrlichkeit! ÓÒ
Ich bin eine sehr anspruchsvolle Leserin und immer knochenhart ehrlich v_v°
Immerhin will ich ja auch selbst ehrliche Kommentare bekommen und finde es gut, wenn ich Tipps kriege.
Also, auf vllt bald.

LG [[Kaichi]]
Von:  nufan2039
2008-11-05T08:30:22+00:00 05.11.2008 09:30
Bin gespannt, wie es weiter geht. ^^
Von:  nufan2039
2008-10-31T12:35:25+00:00 31.10.2008 13:35
Hm. Ich finde es immer noch spannend, aber auch merkwürdig, wie sie darauf reagiert, dass da ein fremdes Kind ist. Will definitiv wissen, wie es weiter geht. ^^
Was mir aufgefallen ist, manche Worte wirken gekünselt, gestellt. So als hättest du umbedingt gewählte Worte nutzen wollen. Dadurch wirkt es manchmal gestellt. Aber die Story find ich interessant!
Von:  nufan2039
2008-10-31T12:30:02+00:00 31.10.2008 13:30
Ich finde, dass es eine unerwartete Wendung ist. Find ich gut. Und es geht noch weiter, nicht? o.O
Von:  nufan2039
2008-10-31T12:26:01+00:00 31.10.2008 13:26
Die Idee finde ich echt gut! Bin noch immer gespannt, wie es weiter geht.
An manchen Stellen jedoch wirkt es etwas holprig, nicht störend holprig, sondern nur nicht ganz so fließend...


Zurück