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Der Sprung

von

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Joseph blickte in die Tiefe. Das laut Dröhnen der Motoren versetzte seinen ganzen Körper in Schwingungen. Ihm wurde übel, dennoch ignorierte er es einfach. Er war wie im Rausch.

Die gähnende Tiefe schrie nach ihm, dass säuseln einer wunderschönen sanften Stimme rief ihn zu sich. Er hatte das Gefühl sie verstehen zu können.

„Komm zu mir Joseph! Fürchte dich nicht!“, säuselte sie.

Joseph, Jo wie ihn alle seine Freunde nannten, streckte seinen rechten Fuß in die Leere, doch eine innere Stimme rief ihn zurück. Plötzlich hatte er Angst. Er verstand es selbst nicht. Jo war sich die ganze Zeit so sicher gewesen. Er hatte es gewollt, so sehr wie er selten in seinem Leben etwas gewollt hatte. Er war der festen Überzeugung gewesen, dass dies das richtige war und nun packte ihn die Panik. Höhenangst hatte der schlanke Mann nie gekannt, aber in diesem Moment war sie einfach da. Er fand nicht die Kraft sie niederzuringen oder auch nur auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Er wich einen Schritt zurück. Unsanft prallte er gegen die Metallwand hinter sich. Er schüttelte den Kopf, als könne er auf diesem Weg seine Benommenheit und seine Angst vertreiben. Die Benommenheit verging, die Angst jedoch blieb. Langsam breitete sich eine Gänsehaut auf seinem Körper aus und er begann zu Zittern. Auch wenn der Wind hier bei weitem nicht mehr so stark war, durchwirbelte er trotzdem sein Haar und riss an seiner Kleidung. Jo fror, trotz des warmen gefütterten Overrolls, den er trug. Zwar hatte er festen Boden unter den Füßen, dennoch hatte er das Gefühl der Wind wolle ihm zu seinen Spielzeug machen.

Er taumelte erneut auf den Abgrund zu und erstarrte mitten in der Bewegung. Er seufzte resignierend; noch vor wenigen Augenblicken hatte sein Entschluss so festgestanden, nun aber wusste er nichts mehr.

Hinter ihm trat jemand heran, Jo bemerkte ihn erst, als er die Hände vor dem Mund zu einem Trichter formte und gegen das Getöse der Maschinen anschrie: „Joseph, sie müssen das nicht tun. Kommen sie zurück. Es gibt immer eine zweite Chance!“

Joseph verstand ihn kaum, er erriet die Worte mehr als das er sie hörte, dennoch antwortete er dem hageren Mann, der ihn besorgt ansah.

„NEIN!“, schrie Jo zurück, ohne sich umzudrehen und den Mann anzublicken. Sicherlich hatte der Mann recht: Für einen normalen Menschen mochte es einen zweite Chance geben, aber Jo war nicht normal. Nicht mehr! Er starb, langsam aber sicher. In diesen Momenten die er hier stand, nur einen Schritt von dem Sprung entfernt, war er der festen Überzeugung, dass es nicht mehr lange dauern konnte, ehe er sterben würde. Nicht durch einen Unfall oder weil jemand ihm nach dem Leben trachtete. Gut das stimmte nicht ganz, es gab jemanden der ihm nach dem Leben trachtete. Sein eigener Körper nämlich ermordete ihn, Tag für Tag und Stück für Stück. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er nur noch ein vor sich hin vegetierendes Wesen sein würde, dass zwar aussah wie ein Mensch, atmete wie ein Mensch, aber die Bezeichnung Mensch nicht mehr verdient hatte. Ihm blieben nicht mehr viele Chancen, diese hier war vielleicht die letzte.

„Lassen sie mich es tun. Ich will es so!“, forderte er. Er wusste nicht ob der Mann ihn verstanden hatte, aber es war ihm auch egal. Dieser Sprung war seine letzte Chance, er würde es sich nicht nehmen lassen. Sollte der Mann doch versuchen ihn davon abzuhalten, Jo würde ihn nicht siegen lassen. Er musste das hier einfach tun.

Der Mann sah Jo einen Moment besorgt und zweifelnd an. In seinem Gesicht arbeitete es. Er hatte schon viele Leute hier oben stehen sehen, ähnlich verwirrt wie Joseph. Einige hatte er aufhalten können, die anderen nicht. Er fragte sich zu welcher Sorte dieser Mann vor ihm gehörte. Einige Augenblicke sah er ihn regungslos an, dann trat er jedoch, wider bessern Wissens zurück und ließ den jungen Mann gewähren.

Noch einmal kehrte Jo zu seinen Gedanken zurück. Die Angst war noch immer da, stärker noch als vor wenigen Augenblicken, aber es hatte sich noch etwas zweites dazu gemischt. Etwas, das in Jo eine ungeahnte Kraft aufbaute. Es war die Überzeugung, dass dies die einzige Chance war, die er hatte. Diese Überzeugung konnte die Angst zwar nicht besiegen, aber sie drängte sie soweit in Jos Gedächtnis zurück, dass er die Gewalt über seinen Körper zurück erlangte. Neuen Mut schöpfend, trat er erneut an die Kante heran, die ihm vom Abgrund trennte. Im Vergleich zum ersten Mal erstarrte er jedoch nicht. Der Wind begann wieder stärker an seiner Kleidung zu reißen und Jo wurde es noch kälter, als ihm eh schon war. Er warf einen letzten Blick in die Tiefe, da unten lag wonach er sich sehnte. Seine Angst war noch immer da und noch immer stark, aber es war nicht mehr wichtig. Er befreite sich von der Angst, in dem er sie herausschrie, in dem Moment in dem er sich fallen ließ. Die Luft wurde von dem unglaublichen Druck, der auf seinen Körper einwirkte, aus den Lungen gepresst. Gleichzeitig riss ihn die Schwerkraft der Erde entgegen und der Wind schien ihn nach oben zu drücken. Das Adrenalin pumpte durch seinen Körper, sein Herz setzte einen Moment lang aus, nur um im nächsten Augenblick härter und schneller weiter zu rasen. In seinen Ohren rauschte das Blut, während er der Erde entgegen raste. Jo hatte einen Moment lang, das Gefühl dass es für jedes seiner Probleme eine Lösung gab.

Dann jedoch zog er die Reißleine seines Fallschirms und mit einem Ruck erlahmte der Fall. Sanft glitt er dem Boden entgegen. Jo fühlte sich so gut, wie lange nicht mehr.
 

ENDE

© Manuela Schmohl, 2008



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  sweet-kirara
2008-11-15T16:47:55+00:00 15.11.2008 17:47
Wow, was for eine Wendung! Ich bin anfangs recht skeptisch gewesen. Selbstmordgedanken zu lesen, ist nicht grad meine Vorliebe. Aber wie man sich da täuschen kann. Du hast es echt toll geschrieben. Vor allem in so einem kurzen Text so viele Emotionen unterzubringen, das ist genial!

Nicole


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