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be my magician

von

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1870: Wohin meine Stimme reicht

1870

5. Wohin meine Stimme reicht
 

Es war ein blasser fast voller Mond, der sie in sein milchigweißes Licht einhüllte und ihnen die Zeit raubte, alles still und kalt machte. Die Sorgfalt, mit der die Hände immer wieder über das Gesicht des Zauberers strichen, die Tränen, die sie begleiteten. Der Schatten des jungen Wächters, der eben noch energisch und laut den Dämonenprinzen an einem Gegenangriff gehindert hatte, sah in diesem Moment wieder so schmal aus wie eh. Und als er aufblickte zu Master Zenon, der noch immer ebenso fassungslos und kreidebleich da stand, war es nicht Hass oder Wut, welche er ihm entgegen brachte, sondern viel mehr tiefe Verbundenheit. Wir beide fühlen dasselbe, oder nicht? Denselben Schmerz, denselben Verlust … Oh ja, dachte Zenon. Zu groß. Viel zu groß. Die restlichen Zauberer hatten bis jetzt geschwiegen, aus Respekt, Betroffenheit und Angst vor dem Dämon, doch jetzt erhob sich von weit hinten eine Stimme, so unerwartet und hell, dass alle erschreckt auffuhren. »Harmony!!« rief es. Und zwischen den nach und nach auseinanderweichenden Männern drängte sich ein Junge mit fast weißem Haar. »Harmony!« rief er erneut, stolperte vorbei an dem ebenfalls verblüfften Zenon ohne ihn zu beachten.

»Cecil!« Reflexartig wischte sich Harmony die Tränen aus dem Gesicht.

Der jüngere wankte einige Augenblicke angesichts des toten Körpers mit dem bekannten Gesicht, riss sich dann aber zusammen. »Geht es dir gut? Was wirst du jetzt tun?«

Harmony schaute ihn an, dann wieder hinab zu Master Rue. Schließlich nickte er. »Es geht schon.« Er griff nach dem Schwert seines Meisters, befestigte es an seinem Gürtel neben dem eigenen, murmelte noch kurz ein paar Worte, dann stand er auf und richtete sich an Zenon. »Sie werden für eine anständige Bestattung sorgen, nicht wahr, Master Zenon? Vergessen Sie nicht die Rosen.«

Dieser nickte.

»Harmony, wohin wirst du gehen?« fragte Cecil erneut mit großen Augen.

Der Wächter lächelte, hell und sanft wie das Mondlicht, aber warm. »Nach Hause.« Kurz noch wandte er sich an den jüngeren. »Danke, dass du nach mir gerufen hast.« Dann drehte er ihnen den Rücken zu und lief dem Dämonenprinzen entgegen. »Lass uns gehen, Juval!« hörten sie ihn noch sagen, bevor beide in der Dunkelheit verschwanden, doch zurück blieb ein leichter Wind, den nur wenige bemerkten.

Master Zenon trat nun endlich an die Leiche seines Freundes, kniete sich neben ihn und strich ihm ebenso übers Gesicht wie es zuvor Harmony getan hatte. Das kristallisierte Blut auf der Brust funkelte im Mondlicht. »Es tut mir leid, mein Freund«, murmelte er. »Es tut mir leid.« Nach einer Weile richtete er sich wieder auf und nickte Cecil zu, der noch immer neben ihnen stand. Es war schon erstaunlich wie sehr er Rue ähnelte, obwohl sie nur dieselbe Haar- und Augenfarbe hatten. Er wandte sich um zu den anderen. Eine Gestalt hatte sich von der Gruppe gelöst und stand dort mit den Händen in den Taschen des langen schwarzen Mantels. Es war Servas. Zenon atmete auf. Seine Anwesenheit half ihm. Er strich sich kurz die Haare hinters Ohr und erhob die Stimme. »Ihr habt es gehört, ihr habt es gesehen, es ist vorbei. Harmony Snow bleibt Wächter des Holy Dark und die RA hält sich bis auf Weiteres von ihm fern. Und was Master Rue betrifft …« Er machte eine Pause. »Bahrt ihn vorsichtig auf und bringt ihn nach Hause, bitte.« Während sich die Zauberer ordneten, einige verschwanden, andere sich um Rue kümmerten, ging Zenon hinüber zu Servas, Cecil folgte ihm. Unterwegs kam ihm Gavin Lewis, der Todesschütze, entgegen gelaufen. Er machte ein furchtbar besorgtes Gesicht und zupfte nervös an seinen Ärmeln. »E-Es tut mir so leid, Master Zenon«, stotterte er. »Das … Ich …«

Zenon legte ihm nur die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. »Natürlich. Sie haben nur getan, was Sie für richtig hielten.« Doch seine Miene musste anderes sagen. Denn Lewis, der hinter ihm zurück blieb, sah noch elender aus als vorher.

»Jemand sollte später in Ruhe mit ihm reden«, meinte Zenon, als sie Servas erreichten.

Dieser zuckte nur mit der Braue. »In solchen Fällen bist das normalerweise du. Aber ihm ist sowieso nicht mehr zu helfen.« Und auf Zenon’s fragenden Blick hin fuhr er fort: »Der Dämon hat ihn berührt. Selbst wenn wir ihm sagen „alles ist gut, mach dir keine Gedanken“ und die Dämonensaat in ihm nicht wächst, sobald er das Gebiet der RA verlässt, erwischt er ihn doch.«

»Du denkst, er würde soweit gehen für den Wächter?« In der Ferne schulterten die anderen gerade den Leichnam Master Rue’s.

»Sicher. Du hast es doch gesehen. Frag mich nicht warum, aber der Dämonenprinz scheint einiges für den Wächter zu tun.«

»Hmm … Wir sollten herausfinden, wer aus der Gruppe eigentlich angefangen hat.«

»Das und wer dafür gesorgt hat, dass Augustine nicht dabei war. Ein Ereignis wie dieses ohne Chronologist …«

War so gut wie nie geschehen. Zenon legte den Kopf in die Hand. Warum hatte er nicht eher daran gedacht. Es war alles geplant gewesen.

Servas blickte seinen Freund an, dann hinunter zu Cecil, der nur stumm zugehört hatte. Sein Gesicht schien blass im Mondlicht. »Gehen wir auch nach Hause.«

Wenige Augenblicke später traten sie durch das große eiserne Tor der RA und liefen entlang des Schulgebäudes vorbei an Bibliothek und Hof auf das Hauptgebäude zu, in dem sich Zenon’s und Servas’ Räume befanden. Die Fackeln, die an den Mauern befestigt waren, brannten hell und warm. Trotz der fortgeschrittenen Stunde waren noch viele Zauberer unterwegs. Die Einladung des Wächters hatte für Aufregung gesorgt. Jetzt als Master Zenon zurückkehrte, hingen ihm dutzende Augenpaare nach, die zu ergründen versuchten, was geschehen war. Doch wie Zenon gut im Umgang mit Menschen war, war Servas Essex besonders gut darin, sie fernzuhalten. Seine Erscheinung in einer Nacht wie dieser war ausreichend für den durchschnittlichen Zauberer sich mit Schauder abzuwenden, wie Cecil nicht ohne Erstaunen feststellte. Sie betraten das Hauptgebäude durch den Eingang der Kapelle, in welcher in wenigen Minuten Master Rue aufgebahrt werden würde. Durch die großen Fenster in der Höhe schien das Mondlicht und hüllte den Altar in neblig weißes Licht. Sie bogen durch eine schmale Tür in einen Gang und folgten diesem eine Weile und ein paar Treppen hinauf. Irgendwann nickte Zenon den anderen zum Abschied. Er würde Lord Ardath noch einen Kurzbericht abgeben bevor er auch zu Bett ging. Alles Weitere musste Zeit haben bis zum Morgen. Der Morgen.

Servas schloss die Tür zu seinen Gemächern auf und hinter sich wieder ab. Cecil war neben ihm hindurch geschlüpft, schlurfte jetzt hinter ihm her ins Schlafzimmer und hockte sich dort auf den Stuhl neben der Tür. »Wird dieser Mann sterben?« fragte er den älteren.

Dieser zündete ganz in Ruhe die Lampe an, bevor er antwortete. »Wahrscheinlich.«

»Aber wenn das durch den Dämon ist, kannst du ihn dann nicht retten?«

Er machte ein gelangweiltes Gesicht. »Vielleicht könnte ich das. Aber ich will nicht.«

»Ich dachte, das ist genau was Zauberer machen.«

Servas grinste und hängte seinen Mantel an einen Haken am Schrank. »Sollten sie zumindest. Aber ich gehöre nicht zu dieser Sorte Zauberer. Du kannst sagen, ich bin vom alten Schlag.« Und er schien sich sichtlich in seiner Rolle zu gefallen. »Gavin Lewis dagegen wollte so ein Zauberer sein. Und er hat die Regeln gebrochen und einen Menschen getötet. Soll er dafür die Konsequenzen tragen. Außerdem war Rue ein Freund von Zenon.«

Das war es. »Dann ist es okay, für eine Freundschaft andere Menschen sterben zu lassen?«

Servas stellte einen Fuß auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und begann die Schnürsenkel zu lösen. »Weiß ich nicht. Ich halte nur mein Versprechen.«

»Versprechen?« hakte Cecil nach, aber Servas schien nicht weiter darauf eingehen zu wollen. »Meinst du, Harmony und ich hätten Freunde werden können, wenn das damals anders gelaufen wäre?«

Der Zauberer blickte ihn aus dunkelgrünen Augen an und lachte ihn aus. »So wie du früher warst, hättest du im Leben nie einen Freund gefunden.«

Der Junge plusterte die Backen und legte sein Kinn auf die angezogenen Knie. »Du bist wirklich so fies, wie man sagt.«

Doch Servas lachte nur weiter, zog sich den zweiten Schuh aus und stellte beide unter seinen Mantel vor den Schrank. »Irgendwann …«, begann er während er sein Hemd aufknöpfte. »Werdet ihr sicher miteinander auskommen. Wenn ihr beide en bisschen reifer seid. Heute war doch ein guter Anfang, oder?« Er zog das Hemd aus und hängte es über die Stuhllehne. Dann fuhr er sich durch das kurze zersauste Haar und überlegte.

»Wie ist das eigentlich passiert?« fragte Cecil und meinte eine dunkle dünne Narbe die einmal rund um Servas’ linken Oberarm reichte.

»Was denkst du? Von einem Kampf mit den Dämonenkönig. Dämonenschwerter sind gefährlich.« Schließlich entschied er sich doch für den Kamm, der auf dem Schreibtisch lag.

»War der Arm ab?« fragte Cecil weiter.

»Vollkommen«, erklärte Servas. »Und ohne Master Fio wäre er das auch geblieben. Die Magie damals war noch großartig. Ein einziges Wort konnte die Welt verändern …« Er hielt einen Moment gedankenvoll inne, doch im nächsten war er wieder in der Gegenwart und beantwortete die Frage des Jungen, ohne dass dieser sie stellen musste. »Master Fio war Schriftgelehrter und Dämonenjäger. Der Meister von Harmony’s Meister Ellary Mare.«

»Wirklich?!« Cecil war überrascht.

»Wirklich.« Der ältere schickte ihm einen missbilligenden Blick. »Und jetzt raus, ich geh schlafen.«

»Hööö«, machte Cecil und versuchte ein ähnliches Gesicht zu ziehen. »Und wie geht es jetzt weiter? Was besprecht ihr morgen in der Ratssitzung?«

Servas ließ sich seufzend auf seinem Bett nieder. »Kannst du die paar Stunden bis morgen früh nicht einfach abwarten? Wieso willst du jetzt wissen?«

»Du hast mir grad vorhin erst gesagt, ich solle selbst denken und meinen eigenen Weg finden und so weiter. Jetzt mach ich mir halt Gedanken.«

Servas schaute ihn einen Moment lang an, als wollte er fragen „Wieso nimmst du alles, was ich sage, gleich so ernst?“, begann dann aber auszuführen. »Die Sache mit Holy Dark und Dämonenprinz hat sich wohl vorerst erledigt. Es bleibt natürlich abzuwarten, wie es sich weiter entwickelt. Aber im Moment zumindest scheint es keine bedrohliche Situation zu sein und ich denke, der Rat wird jetzt genauso entscheiden. Wenigstens der personelle Wechsel wird sich bemerkbar machen. Womit wir zu einem anderen Problem kommen …« Er blickte erstaunlich ernst. Seine Gesichtszüge waren zwar immer recht unlustig, aber man merkte gewöhnlich an seiner Art, dass ihn die meisten Dinge nicht besonders berührten und er vieles eben nicht so ernst nahm, wie andere es gern hätten. Diesmal war es anders. »Einer der beiden freien Plätze wird mit Sicherheit mir zufallen. Der andere geht wahrscheinlich wieder an einen Rabenstein. Hoffentlich. Aber der nächste freie Sitz wird nicht lange auf sich warten lassen, Master Rozen tritt bald seines Alters wegen zurück. Und wenn nicht bis dahin ein Wunder geschieht, hat Lirith May seinen permanenten Platz im Inneren Rat sicher, was mir persönlich absolut widerstrebt.«

»Lirith May?« fragte Cecil, sichtlich um Verständnis bemüht.

»Der Leiter der Wizardry.«

»Aber als Leiter der Wizardry hat er doch im Rat nichts verloren, oder? Was will er da?«

»Wenn ich das wüsste, fühlte ich mich wohler … oder wahrscheinlich eher nicht. Denn genau das ist es. Er plant etwas und aus irgendeinem Grund lässt Ardath ihn gewähren.«

Der Junge nickte bedächtig. »Woher weißt du, dass es etwas Schlechtes wird?«

»Mein Gefühl.« Tatsächlich war Servas recht gut darin, die Intentionen von Menschen abzuschätzen. Und diese Art von kühler Planung, die er in Lirith May entdeckte, war ihm nur allzu vertraut. »Wenn du ihn triffst, weißt du, was ich meine.« Er fuhr sich durch die Haare und stand wieder auf. »Jetzt ist genug«, sagte er schließlich und schob Cecil aus der Tür. Der Junge wehrte sich nicht, aber er sah auch nicht gerade glücklich aus, als er zu seinem Zimmer hinüber schlurfte. Servas blickte ihm nach und seufzte. »Du wirst heute Nacht sicher keine Alpträume haben. Die haben andere.« Dann schloss er die Tür, löschte das Licht und fiel in sein Bett.

Cecil stand dort noch eine Weile. Durch die großen Fenster fiel das Mondlicht auf Sofa und Tisch und das Glas einer Vitrine. Master Servas hatte manchmal eine seltsame Art sich um andere zu kümmern. Aber Cecil war froh, dass er es überhaupt tat. Im Gegensatz zu seinen Eltern oder seinem Meister, der ihn verstoßen hatte seit dem Vorfall vor zwei Jahren. Seitdem schauten Zenon und Servas nach ihm. Für Zenon war das normal, er leitete schließlich die Schule der RA, die jetzt auch Cecil besuchte. Eigensinnig und spröde wie er war, blieb Servas’ Fall aber etwas Besonderes. Cecil öffnete die Tür zu seinem Zimmer. Seinem Zimmer oder besser dem Raum, den er benutzen durfte, wenn er hier schlief, denn sein eigentliches Zimmer hatte er drüben im Internat bei den anderen Schülern. Die Luft war staubig wie immer. Es gab kein Fenster. Der ganze Raum war gefüllt mit aufeinander gestapelten Kisten voll Papier. Nur in einer Ecke lag auf ein paar Kisten eine Matratze. Das war das Bett. Andere Menschen hätten sich angesichts der Situation vielleicht für die Couch draußen im Salon entschieden, doch nicht so Cecil. Er mochte sein Zimmer. Ordentlich faltete er seine Sachen und legte sie auf eine Kiste nahe dem Bett, dann krabbelte er in jenes hinein und schnüffelte. Es war angenehm. Der Staub roch gut. Nach Hause, hatte Harmony gesagt. Er fragte sich, ob das auch so ein Ort war wie dieser. Umgeben von Kisten voller Papier, auf dem die Daten hunderter Zauberer aufgezeichnet waren. Irgendwo war sicher auch seine Akte, dachte sich der Junge. Er mochte diesen Ort, das Hauptquartier der RA. Wo so viele Zauberer ein und aus gingen. Obwohl sie ganz woanders auf der Welt lebten und arbeiteten, immer wieder hierher zurückkehrten. Es war ein guter Ort. Es war sein Zuhause. Die alten Herren sollten nicht leichtfertig mit ihm und den Menschen umgehen dürfen nur um ihre eigenen Interessen zu verwirklichen. Und auch die jungen nicht. Beschloss er, verabschiedete sich von Master Rue und dachte daran, was Servas über Lirith May von der Wizardry gesagt hatte.
 

*
 

Harmony saß auf der Treppe vor seinem Haus. In eine Decke gehüllt beobachtete er den Sonnenaufgang. Er saß regungslos. Die ganze Nacht hatte er dort gesessen und geschaut. Als die Sonnenstrahlen begannen warm zu werden, erhob und streckte er sich und ging in die Küche um Korb, Zeitung und Schaufel zu holen. Wenig später schnürte er sich den Korb, in dem sich jetzt einer von Rue’s Rosensträuchern befand, auf den Rücken und machte sich auf den Weg über die Felder ins nächste Dorf. Der Himmel war blau und weiße Wolken türmten sich vom Horizont her auf. Ein warmer Wind fuhr durch das heranwachsende Getreide und vereinzelte Baumkronen. Ihr Rauschen vermischte sich mit dem Surren von Insekten und dem Knirschen des Sandes bei jedem Schritt. Die ersten Schmetterlinge schwebten eifrig auf und ab. Ohne Zweifel, es war Sommer. Harmony schaute in die Ferne. Soweit er sehen konnte, strahlte alles und die Sonne kribbelte auf seiner Haut. Es war wirklich irritierend, so unendlich schön konnte die Welt an einem Tag wie diesem sein. Als er endlich den Schatten eines kleinen Hains trat, setzte er den Korb ab und wischte sich die Augen. Ein paar Minuten blieb er dort stehen bis Juval ihm bestätigte, dass sie nicht mehr rot waren. Dann verließ er den Wald und erreichte bald das Dorf und den Lebensmittelladen, in dem seine Meister immer eingekauft hatten. Es war gerade die Zeit, dass die Leute begannen geschäftig zu werden.

Harmony schlüpfte durch ein Tor neben dem Laden in den Garten zur Hintertür und klopfte dort ein paar Mal.

Schließlich öffnete sich die Tür erst einen Spalt breit, dann plötzlich sehr schwungvoll. »Harmony!! Du warst ja Ewigkeiten nicht mehr hier!!« begrüßte ihn die Tochter des Hauses, ein Mädchen in seinem Alter mit langen braunen Zöpfen und roten Backen. »Was verschafft uns denn die Ehre und auch noch so früh am Morgen?!«

»Das hier.« Er stellte den Korb vor ihr ab.

Sie hockte sich davor. »Und das ist?«

»Ein Rosenstrauch.«

Sie blickte ihn von unten fragend an.

»Es gibt niemanden mehr, der auf sie aufpassen kann. Also wenn ihr wenigstens den einen … Vor dem Haus sind noch mehr, wenn ihr wollt. Nur die meisten sind angebrannt …«

»Was meinst du, es gibt niemanden mehr? Und überhaupt …« Sie stand wieder auf. »Du siehst furchtbar aus! Was ist mit deinen Augen?! Hast du geweint?!!«

»Hab ich nicht!!« entgegnete Harmony sofort. Doch nach einer kurzen Pause »Meine Meister sind beide gestorben, was denkst du, was ich mache?«

Sie wurde blass. »Gestorben? Aber ich hab Master Rue doch vorgestern noch gesehen …«

»Es war gestern Abend.«

»So … Und Master Ellary«

»Ein paar Wochen.«

»Ein paar Wochen?« echote sie und ging ein paar Schritte rückwärts. »W-wie ist es passiert?«

Harmony überlegte kurz. »Master Ellary durch sein Alter vermutlich und bei Rue war es ein Unfall …«

Dicke Tränen rollten über ihre Wangen. »Entschuldige«, schluchzte sie. »es muss viel schlimmer für dich sein und trotzdem weine ich so viel.«

»Ist okay … Kümmert euch nur gut um Rue’s Rosen.« Er wandte sich zum gehen.

»Harmony!!« rief sie und hielt ihm am Ärmel fest. »Was wirst du jetzt machen?«

»Ich gehe zu einem Freund.«

»Du kannst immer hier her kommen, wenn du willst. Immer!«

»Danke dir.« Lächelnd löste er ihre Hand von seinem Arm. »Aber ich denke nicht, dass ich jemals hier her zurückkehren werde. Pass auf dich auf«, sagte er und verließ den Garten zur Straße Richtung Wald.

Der Lebensmittelhändler, der gerade draußen Obst auftrug, sah ihn noch und rief ihm zu. »Yo, Harmony, guten Morgen!!«

Der Junge drehte sich noch einmal um und winkte. Dann verschwand er zwischen den Bäumen.

Als der Mann gerade noch überlegte, ob er sich wundern sollte, tauchte neben ihm seine Tochter mit verquollenen feuchten Augen auf und versetzte ihn in einen ordentlichen Schrecken.

Dem jungen Zauberer fiel der Weg zurück trotz fehlendem Gepäck schwerer als der Hinweg. Statt der Blätter und Insekten hörte er nur noch das Rauschen in seinen Ohren und der tiefblaue Himmel war unerbittlich. Abschiede lagen ihm nicht. All das zurücklassen, was ihn so viele Jahre lang begleitet und glücklich gemacht hatte, kam ihm vor wie Verrat. »Wahrscheinlich laufe ich nur davon«, sagte er zu sich selbst.

Und Juval antwortete. »Das machen alle Menschen so, oder?«

Harmony seufzte. »Damit hilfst du mir auch nicht.«

»Ich bin ein Dämon. Ich kann sagen, eure Trauer schmeckt nach Salz und eure Angst nach Erdbeeren. Aber deswegen verstehe ich noch lange nicht, woher das eine kommt oder wie das andere wieder weggeht. Und meistens interessiert es mich auch nicht.«

Meistens. Harmony betrachtete schweigend den Jungen, der jetzt vor ihm durchs Gras lief, und fragte sich, wie es wohl war, nichts zu fühlen. Einsam?

»Ich weiß nicht, wie sich einsam sein anfühlt.«

»Natürlich nicht.« Sie erreichten den kühlen Schatten der ersten Bäume ihres Grundstücks. »Ich denke, es schmeckt nach Flieder.«

Juval drehte sich um. »Flieder? Wie schmeckt Flieder?«

»Ich weiß nicht.« Aber das Lila sah sehr einsam aus.

Er blieb stehen. Auf der Treppe in der Sonne saß jemand mit langem, weißem Mantel. Als er die beiden sah, erhob er sich und kam auf sie zu. »Guten Morgen, Harmony. Verzeih, dass ich hier so einfach auftauche.« Es war Zenon French. »Ich komme wegen der Rosen.«

»Hmm«, machte Harmony. »Nehmen Sie so viele Sie wollen.«

»Es tut mir leid, dass es so gekommen ist. Es war meine Schuld.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ändern können wir jetzt auch nichts mehr.« Er beobachtete die Schmetterlinge.

»Wenn irgendetwas ist, egal was, kannst du dich immer an mich wenden …«

Der Junge blinzelte ihn an. »Wie das? Sie sind von der RA.«

»Rue war ein guter Freund von mir.« Er griff in seinen Mantel und holte einen Umschlag hervor. »Eugène Grandis, der jüngste Postbote der RA, liefert diskret alles an jeden, egal ob RA oder nicht. Damit kannst du ihn rufen.«

Harmony nahm den Umschlag entgegen. »Danke.«

Zenon’s Blick verweilte noch kurz auf dem Jungen. »Ich verabschiede mich dann erst mal. Ich werde später mit Hilfe wiederkommen, um die Rosen abzuholen.«

»Wie es Ihnen gefällt. Ich werde dann nicht mehr hier sein.«

Zenon verstand. Er nickte ihm und dem Dämon mit traurigen dunkelgrünen Augen zu, bevor er sich abwandte und nach ein paar Schritten verschwand.

Der junge Wächter stand noch eine Zeit lang in dem Garten vor dem Haus, in dem er so viele Jahre seiner Kindheit verbracht hatte. Mit seinem grimmigen Meister Ellary und seinem freundlichen Meister Rue. Es hatte ihm Spaß gemacht, als sie drei noch als fahrende Zauberer durch Europa gereist waren, durch England und Portugal und Deutschland und allen dazwischen. Doch als sie hier einzogen, war es, als wäre er zurückgekehrt. Der sichere Ort, der sich niemals veränderte … Er ging in die Hocke und schlug die Arme über den Kopf. Vor seinen Augen war der Strand vor Tante Jinnee’s Haus aufgetaucht, mit den Schilffeldern und Möwen, die zwischen den Felsen nach Fischen pickten. Fische … Der sichere Ort, der sich niemals veränderte.

Harmony schluchzte. »Ich hab ihnen gesagt, ich ginge nach Hause, aber an den einzigen Ort, den ich noch so nennen kann, kann ich nicht mehr zurück.«

»Wieso nicht?« wunderte sich Juval und ging einen Kreis um den kauernden Jungen.

»Weil es dann aufhören würde, mein Zuhause zu sein.« Unverändert. Golden.

»Huh.« Juval schaute und ging den Kreis noch einmal in die andere Richtung. »Was ist das überhaupt, ein Zuhause?«

Harmony blickte zu ihm auf. »Ein Ort, an dem du gerne bist, wo sich dein Herz warm anfühlt und sicher … denke ich …«

Der Dämon betrachtete ihn von oben. Er mochte kein Salz. Aber er mochte frischgebackenes Brot. »Dann lass uns dorthin gehen.«

»Huh?«

»Nach Hause. Du hast ihnen auch erzählst, du gehst zu einem Freund. Ich habe auch ein Zuhause.«

Harmony stand auf und sah ihn mit großen, meerblauen Augen an. »In die Dämonenwelt?«

»Ja.«

»Aber wie …«

Juval lächelte und tippte ihm auf die Brust. »Wie du sagtest, dort wo es sich warm anfühlt. Der Eingang zur Dämonenwelt ist in jedem Menschen.«

Der Zauberer machte ein überraschtes Gesicht. »Ich verstehe. Ich denke, das kann ich.« Er warf einen letzten Blick auf Master Ellary’s Haus, dann nahm er Juval’s Hand, schloss seine Augen und wanderte tief hinein in seine eigene Dunkelheit. Bis zu dem Punkt, an dem es anfing warm und angenehm zu werden. Er stellte sich vor, wie die Feder seines Meisters über das Papier kratzte, der Geruch von Tinte und Tee und die Geschichten, die Master Rue ihm vorgelesen hatte, als er noch ein Kind gewesen war, im Sessel vor dem Kamin mit der Schafsdecke. Und noch tiefer, wo es wieder still wurde, nur das regelmäßige Atmen einer Person neben ihm, ihren dünnen Arm um ihn gelegt. Weich und warm und der Geruch von Lavendel … Ein solcher Ort wäre schön. Er öffnete die Augen und hob den Kopf. Ein Ort zum Zusammensein. Was war das über ihm? Er versuchte durch die Dunkelheit zu sehen. Ein seltsame Dunkelheit, da er sehen konnte und auch wieder nicht. Was war das dort oben? Er lächelte. Ein Ort, um zusammen die Sterne anzuschauen.

»Willkommen zu Hause«, sagte Juval und folgte Harmony’s Blick. »Und das sind …«

»Das ist, was ich mir gewünscht habe«, antwortete dieser glücklich. »Sind sie nicht wunderschön?« Tränen standen in seinen Augen und er schniefte. »Die schönsten Sterne, die ich seit langem gesehen habe.«

Der Dämonenprinz wunderte sich. Er weinte, aber es war nicht der übliche Geschmack nach Salz, mehr der von Sahne, die er so sehr mochte. Doch er hatte noch nicht gelernt, wie man andere als salzige Tränen behandelte. Aber Tränen waren immer noch Tränen und er entschied sich, dasselbe zu versuchen wie sonst auch. Er legte seine Arme und den schmalen Jungen und drückte ihn fest. »Warum weinst du?« fragte er.

»Weil ich glücklich bin.«

»Es gibt auch glückliche Tränen?«

»Mh. Ich bin auch furchtbar traurig, aber gerade viel mehr auch glücklich. Dass ich noch am Leben bin und dass ich hier sein darf … mit dir … du bist warm.« Es war das erste Mal.

»Das ist, was du dir gewünscht hast?«

»Mh.«

Er löste die Umarmung. »Danke, dass du sie mitgebracht hast. Wir werden sie bewahren als das erste Geschenk, das wir je erhalten haben.«

»Mit Vergnügen.« Sie grinsten sich an.

»Du weißt, wie es hier läuft, oder? Mach es dir bequem«, sagte Juval und wandte sich ab.

»Sicher. Wohin gehst du? Was ist mit den anderen Dämonen?«

»Nur etwas Arbeit, die ich noch zu erledigen habe.« Er machte eine Handbewegung und aus der Dunkelheit formten sich zwei Silhouetten. »Die zwei werden bis auf Weiteres auf dich aufpassen.«

»Danke.« Der Junge blickte in die Dunkelheit, aber da er Dämonen nicht fürchtete, waren sie schwer zu erkennen, weil sie so keine spezielle Form annahmen.

»Fresst ihn nicht«, sagte Juval noch und war schon verschwunden. Die beiden Gestalten blieben. Der junge Zauberer konnte sie nicht sehen, aber er fühlte ihre Existenz, ebenso wie die dutzender oder sogar hunderter anderer Kreaturen, die hier herum lungern mussten. Na gut, niemals allein, dachte er und hatte sich schon daran gewöhnt, da es keinen Unterschied machte zu den Stimmen des Holy Dark. Welche, wie er bemerkte, ziemlich ruhig waren. Aber er wusste schon wieso und musste erneut lächeln. Das erste Mal, seit er das Holy Dark hatte, blickte er etwas voller Erwartung entgegen. Er wusste noch nicht, was es war, aber er würde es wissen, sobald es ihm begegnete. Im Moment fühlte er sich nur als hätte er all den Schmerz des letzten Monats endlich hinter sich gelassen. Ein bisschen würde für immer bleiben und er wollte, dass es blieb, und noch waren seine Auge feucht. Aber es fühlte sich so viel leichter an als zuvor. So leicht, dass er sich auf den Rücken fallen ließ und einfach da lag und in den Himmel schaute. Das Gras zwischen den Fingern lauschte er all den Klängen dieser Welt, die so lange ungehört geblieben waren.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  mikar
2009-06-29T15:39:18+00:00 29.06.2009 17:39
So, nach einer Ewigkeit konnte ich endlich weiter lesen. Gut, Erdbeeren waren keine Hoffnung, sondern Angst xD. Ein bisschen was anderes...
Aber ich fang schon wieder am falschen Ende des Kapitels an. Mir gefällt der erste Satz. Der passt irgendwie einfach... keine Ahnung, wie ich das beschreiben soll. Der ist einfach tollig.
Und dann ist mir da mal wieder etwas aufgefallen. Das "Es war alles geplant gewesen" hat mich ein wenig stutzig gemacht. Was war geplant gewesen? Der Tod von Rue? Oder irgendetwas anderes, wofür man einen Chronologisten gebraucht hätte?
In dem Zusammenhang fällt mir auch das "Versprechen" ein, das Servas Cecil gegenüber erwähnt... Hat er versprochen, Gavin Lewis sterben zu lassen? Und wenn ja, wem und warum?
Zusätzlich gibt es da noch das "Es war meine Schuld" von Zenon French.
Insgesamt ein Kapitel mit mehr aufgeworfenen Fragen als Antworten. Es gefällt mir also. Ich glaub, ich les sofort weiter *-*


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