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Portrait

David x Adam
von

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Ich traf David zum ersten Mal an meinem neunzehnten Geburtstag. Ich war gerade ein Jahr zuvor mit der Schule fertig geworden und gleich von zu Hause ausgezogen. Die Kleinstadt, in der ich aufgewachsen war, hatte mir meinem Gefühl nach einfach nichts mehr zu bieten gehabt, also hatte ich gleich nach meinem Abschluss meine Sachen in mein altes Auto gepackt, meine kümmerlichen Ersparnisse zusammengekratzt und war einfach drauflos gefahren – so lange, bis ich endlich New York erreicht hatte; die Stadt, die für mich jugendlichen Tunichtgut so unglaublich bunt, schillernd und vielversprechend ausgesehen hatte. Und dort war ich praktisch gestrandet.
 

Meine Eltern waren – verständlicherweise, das muss ich zugeben – nicht besonders begeistert davon gewesen, aber da ihnen mein Sturschädel nur zu gut bekannt gewesen war, hatten sie nicht lange protestiert. Natürlich hatte meine Mutter mich bei jedem meiner seltenen Anrufe gebeten, endlich nach Hause zu kommen, und auch mein Vater hatte von mir verlangt, "endlich erwachsen und vernünftig" zu werden, aber ich hatte mich standhaft geweigert und war – ob aus Trotz oder um ihnen zu beweisen, dass ich es auch ohne ihre Hilfe schaffen konnte, weiss ich nicht mehr – geblieben.
 

Ein halbes Jahr lang schlug ich mich mit allen möglichen Jobs durch, weil ich einfach Angst hatte, etwas zu verpassen, wenn ich mich festlegte. Ich war Tellerwäscher, verkaufte Burger, lieferte Pizza und Pakete aus. Es war kein zu gutes und kein zu schlechtes Leben, aber es war mein Leben. Es war das Leben, das ich zu diesem Zeitpunkt führen wollte – jedenfalls dann, wenn ich nicht gerade vollkommen abgebrannt war.
 

Irgendwann bekam ich einen Job als Aushilfe an einem kleinen College. Es war nichts Besonderes, nur ein Job wie jeder andere auch. Das dachte ich zumindest bis zum Abend meines neunzehnten Geburtstags. Aber von diesem Abend an – es war ein Donnerstag – veränderte sich mein ganzes Leben, denn ich sah ihn zum ersten Mal.
 

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt nur sehr wenige Freunde und da die meisten von ihnen selbst auch noch arbeiteten, hatte ich ihnen vorgeschlagen, dass sie am Freitagabend zu mir kommen könnten, um mit Pizza und einem oder zwei Sixpacks – ich hatte noch nie sonderlich viel von Alkohol gehalten, wollte aber auch kein totaler Spielverderber sein – ein bisschen feiern zu können.
 

In Gedanken schon bei meiner geplanten Party war ich gerade auf dem Weg zum Kunstraum, um Professor Hawkins noch einige Unterlagen zu bringen, als mich urplötzlich eine tiefe, dunkle Männerstimme von hinten ansprach. "Entschuldigen Sie, könnten Sie mir wohl sagen, wie ich zum Kunstseminar komme?", erkundigte die Stimme sich und ich erschrak so sehr, dass mir die Unterlagen, die ich in der Hand gehalten hatte, entglitten und sich über den Boden verteilten.
 

"Ich ... ähm ...", stammelte ich und bückte mich, um die Papiere wieder aufzuheben. Als ich aufblickte, wurde ich geradezu überwältigt von den grünen Augen des Mannes, der mich angesprochen hatte. Ein leichtes Lächeln zierte seine Züge und ich nahm fahrig die restlichen Zettel entgegen, die er mir entgegenhielt.
 

"Ich wollte Sie nicht erschrecken", entschuldigte er sich und ich war froh über meine etwas längeren Haare, denn diese verdeckten zu meinem Glück, dass meine Ohren zu glühen begonnen hatten. Ich war noch nie der Typ gewesen, der im Gesicht errötete, aber an meinen Ohren hatte man mir schon immer ansehen können, wann mir etwas peinlich war.
 

"Schon okay", nuschelte ich und rappelte mich mit der Hilfe des Fremden, der mir seine Hand entgegenhielt, wieder auf. "Ich... muss auch zum Kunstraum. Ich kann Ihnen also zeigen, wo Sie hinmüssen", fügte ich hinzu und ohrfeigte mich im Stillen dafür. Normalerweise war ich nicht auf den Mund gefallen – was jeder, der mich kannte, hätte bestätigen können –, aber irgendetwas an diesem Mann, der kaum älter sein konnte als ich, machte mich unheimlich nervös. Ich wusste nicht, was es war, aber meine Hand kribbelte dort, wo er sie berührt hatte.
 

Schneller, als es nötig gewesen wäre, führte ich ihn den Flur entlang, öffnete die Tür zum Kunstraum und liess ihn eintreten. "Da wären wir", erklärte ich ihm überflüssigerweise und er lächelte mir noch einmal zu, bevor er an mir vorbeiging. Ich ertappte mich dabei, wie ich ihm einen Augenblick lang nachstarrte und seine geschmeidigen Bewegungen bewunderte. Schnell riss ich meine Augen von ihm los und trat zu Professor Hawkins ans Pult, um ihm die Unterlagen zu reichen.
 

Als ich mich das nächste Mal umdrehte, glaubte ich, meine Sinne würden mir einen Streich spielen. Der Mann, den ich ein paar Minuten zuvor hergeführt hatte, war gerade damit beschäftigt, sich sämtlicher – und ich meine wirklich sämtlicher – Kleidung zu entledigen.
 

"Danke, dass Sie David hergeführt haben, Adam. Ich wollte ihn eigentlich selbst abholen, aber ich hatte noch einige Dinge vorzubereiten." Professor Hawkins Stimme riss mich aus meiner unschicklichen Betrachtung des nackten jungen Mannes und ich nickte nur, während meine Ohren gleich noch mehr zu brennen begannen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir noch nie Gedanken darüber gemacht, ob ein anderer Mann attraktiv sein könnte oder nicht, aber in dem Moment, in dem ich David so vollkommen unbekleidet gesehen hatte, wie ihm seine schulterlangen schwarzen Haare in weichen Wellen über den Rücken fielen, fand ich zum ersten Mal in meinem Leben irgendeinen Menschen nicht nur gutaussehend oder hübsch, sondern wirklich schön.
 

"Warum ...?", setzte ich zu einer Frage an und Professor Hawkins, der meinen Blick zu David ganz offenbar bemerkt hatte, deutete zur Tafel, die sich hinter ihm befand. "Dieser Kurs beginnt heute mit Aktzeichnen", erklärte er mir dennoch. Ich nickte schnell, nahm die von ihm unterschriebenen Unterlagen und wollte mich gerade zum Gehen wenden, als die Stimme des Professors mich aufhielt.
 

"Hatten Sie nicht gesagt, dass Sie auch gerne zeichnen, Adam? Wollen Sie nicht noch etwas bleiben und vielleicht teilnehmen?" Ich war hin und hergerissen. Einerseits schmeichelte es mir, dass der Professor sich tatsächlich noch daran erinnerte, dass ich einmal erwähnt hatte, dass ich gerne zeichnen würde, aber andererseits war mir gerade das Thema, um das es hier ganz offenbar ging, eben wegen meines auffälligen Starrens unglaublich peinlich. Andererseits hatte ich in ein paar Minuten Feierabend und an diesem Tag nichts weiter vor, also sagte ich schliesslich zu und versprach, wiederzukommen, sobald ich meine Arbeit beendet hätte.
 

Eine knappe halbe Stunde später hatte ich mich tatsächlich dazu durchgerungen, wieder zum Kunstraum zu gehen. Eigentlich hatte ich schon vor beinahe zwanzig Minuten Feierabend gehabt, aber ich hatte lange mit mir gehadert. Konnte ich mich wirklich einfach so in einen Kurs von Kunststudenten schmuggeln? Ich gehörte nicht dazu, studierte nicht hier. Durfte ich wirklich einfach so teilnehmen? Nahm ich nicht vielleicht einem Anderen seinen Platz weg? Schlussendlich hatte ich mich allerdings doch selbst davon überzeugt, dass eine einzige Lektion ja wohl nicht schaden könnte. Dass diese Entscheidung hauptsächlich daran lag, dass ich David unbedingt noch einmal sehen wollte, verdrängte ich.
 

Professor Hawkins nickte mir nur kurz zu, als ich die Tür öffnete. Der Kurs war offensichtlich schon in vollem Gange, also nahm ich auf dem letzten Stuhl Platz, der noch frei war. Vor mir stand eine Staffelei, wie ich sie zu Hause auch gehabt hatte. Ich hatte sie bei meinem Auszug nicht mitgenommen und falls meine Eltern sie nicht in der Zwischenzeit weggeworfen hatten, stand sie sicher noch in meinem alten Zimmer zu Hause.
 

Ich hatte schon immer gerne und viel gezeichnet, aber noch nie zuvor hatte ich einen Menschen gezeichnet, der vollkommen nackt war. Sicher, ich hatte ein Bild für meine ältere Schwester gezeichnet, auf dem sie nur im Bikini zu sehen gewesen war – ich hatte es ihr zu ihrem achtzehnten Geburtstag vor zwei Jahren geschenkt –, aber das hier war etwas anderes. Sarah war meine Schwester, aber David war nicht mit mir verwandt. Und er war ein Mann. Noch nie zuvor hatte ich einen nackten Mann gezeichnet.
 

Mehr als zehn Minuten lang traute ich mich nicht, meinen Blick zu heben, um David anzusehen. Ich hatte nicht vergessen, wie er ausgesehen hatte, als ich ihn zum ersten Mal an diesem Abend gesehen hatte. Ich hatte auch nicht vergessen, wie er ausgesehen hatte, nachdem er seine Kleidung abgelegt hatte. Er war ein Mann wie ich und eigentlich hätte mir das Sicherheit geben sollen, aber ich war trotzdem gehemmter, als ich hätte sein sollen.
 

Es erschien mir wie eine Ewigkeit, bis ich mich dazu durchringen konnte, die bereitliegende Zeichenkohle zu nehmen und meinen Blick über den Skizzenblock zu heben. Ich war unendlich froh und unendlich enttäuscht zugleich, dass Davids Augen nicht auf mich gerichtet waren. So war es zwar leichter für mich, ihn zu zeichnen, aber ich fühlte mich auch auf eine unbestimmte Art und Weise betrogen – ein Gefühl, das ich von mir nicht kannte. So etwas war mir noch nie passiert.
 

Völlig vertieft in meine wirren Gedanken – warum glaubte ich, ein Anrecht auf Davids Blick zu haben, wo ich von ihm doch nicht mehr wusste als nur seinen Vornamen? – bemerkte ich nicht einmal, wie ich die Zeichenkreide immer wieder über das Papier führte. Ich skizzierte Davids Arme, seine Beine, seine Brust, seinen Bauch, seine Hände, sein Gesicht, sein Haar – einfach alles von ihm. Dennoch, als ich schliesslich zum Ende kam, war ich von mir enttäuscht. Ich hatte David zwar durchaus getroffen – was mir auch Professor Hawkins' Lob klarmachte, als er durch den Raum ging und sich die Arbeiten ansah –, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, als wäre etwas an diesem Bild vollkommen falsch.
 

Dadurch, dass ich nicht zufrieden war, sondern immer weiter nachbesserte, war ich schliesslich der Letzte – mit Ausnahme von Professor Hawkins und David –, der noch im Kunstraum saß. Und erst, als der Professor mich antippte und mir sagte, es wäre genug, sah ich von meinem Bild auf und blickte zum zweiten Mal an diesem Abend in die intensiven grünen Augen Davids, die mich und meine Zeichnung abwechselnd musterten.
 

"Mir scheint, der junge Mann hat Talent, Lester", wandte er sich an den Professor und dieser nickte. "Ich wünschte, einige meiner Stundenten wären wenigstens halb so begabt wie Adam", seufzte er und lächelte mir dann aufmunternd zu. "Möchten Sie nicht morgen Abend wiederkommen?", fragte er mich dann und ich schluckte schwer. Wollte ich? Konnte ich?
 

"Morgen Abend kann ich leider nicht, Professor", murmelte ich, als mir meine Freunde und meine Geburtstagsfeier wieder einfielen. "Morgen feiere ich meinen Geburtstag", fügte ich erklärend hinzu, als ich das enttäuschte Gesicht des Professors sah. Täuschte ich mich oder hatte David auch etwas enttäuscht ausgesehen?
 

"Sie haben morgen Geburtstag?", erkundigte der Professor sich und ich schüttelte den Kopf. "Nein. Eigentlich habe ich heute Geburtstag, aber meine Freunde haben erst morgen Zeit", erwiderte ich und im nächsten Moment gratulierten mir erst Professor Hawkins und dann auch David. Wieder spürte ich dieses Kribbeln und der Blick, den ich aus seinen grünen Augen auffing, liess mich schwindelig werden. Was geschah hier bloß mit mir?
 

"Nun, das ist natürlich schade, Adam. Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Abend und hoffe, Sie nehmen sich vielleicht nächste Woche die Zeit, meinen Kurs wieder einmal zu besuchen", murmelte der Professor und verabschiedete sich mit einem Winken, nachdem ich ihm versprochen hatte, mir auf jeden Fall den nächsten Donnerstagabend freizuhalten und wiederzukommen.
 

Mir fiel erst auf, dass ich nun mit David alleine war, als er sich leise räusperte. "Ich denke, wir sollten jetzt auch langsam gehen", schlug er vor. Ich nickte und verliess gemeinsam mit ihm den Kunstraum. Draussen auf dem Parkplatz sah ich mich suchend um – es war inzwischen schon reichlich spät und dementsprechend dunkel –, aber ich konnte ausser meinem Auto keinen anderen Wagen erkennen.
 

"Werden Sie abgeholt?", erkundigte ich mich leise, doch David schüttelte den Kopf. "Nein. Ich laufe nach Hause. Wie immer", erklärte er und ich starrte ihn aus großen Augen fassungslos an. Er wollte nach Hause laufen? Ganz alleine? In dieser Stadt? Mitten in der Nacht?
 

"Entweder sind Sie wahnsinnig mutig oder total verrückt!", sprach ich meinen ersten Gedanken laut aus, aber anstatt wütend auf mich zu sein, lachte David nur. "Wahrscheinlich ein bisschen von beidem", antwortete er dann und ich schüttelte energisch den Kopf. "Das kann ich nicht zulassen. Ich fahre Sie nach Hause", beharrte ich und wieder wurden meine Ohren rot, während David nur lächelnd nickte.
 

"Ich wäre ein Idiot, wenn ich dieses Angebot ausschlagen würde", sagte er leise, kletterte auf den Beifahrersitz meines Wagens und nannte mir seine Adresse, während ich mich anschnallte. Ich fuhr schweigend los, doch kaum war ich zum ersten Mal abgebogen, riss mich Davids Stimme aus meiner Konzentration auf den nächtlichen Verkehr.
 

"Sie schienen mir nicht sehr zufrieden zu sein mit dem, was Sie heute gezeichnet haben." Es war eine Feststellung und keine Frage, aber ich nickte trotzdem. "Bin ich auch nicht. Ich kann es besser, das weiss ich. Irgendwas an dem Bild ist falsch, aber ich weiss nicht, was es ist." Diese Tatsache ärgerte mich über alle Maßen. Ich hasste es, wenn mich etwas störte und ich es nicht benennen konnte. Das hatte ich schon als Kind gehasst und es hatte sich nicht geändert.
 

"Ich verstehe." David fragte nicht, was mich an dem Bild störte, und ich war froh darüber. Ich hätte es ihm nicht erklären können. Irgendetwas war daran einfach falsch, aber eine Begründung dafür hatte ich nicht. Es war nur ein Gefühl, mehr nicht.
 

Der Rest der Fahrt verlief schweigend und ich ertappte mich immer wieder dabei, wie ich aus den Augenwinkeln zu David hinübersah. Er blickte aus dem Fenster und ich konnte nur sein Profil sehen. Das Licht der Straßenlaternen, Ampeln oder von entgegenkommenden Autos huschte über sein Gesicht und hinterliess sekundenlang verschlungene Muster auf seiner Haut, die ich nur zu gerne gezeichnet hätte – jedoch nicht mit Zeichenkohle auf Papier, sondern mit meinen Fingerspitzen auf seiner Haut.
 

Erschrocken über meine Gedanken war ich froh, als ich schliesslich die Adresse erreichte, die David mir genannt hatte. Die Gegend wirkte weder besonders gut noch besonders schlecht und mir ging kurzzeitig durch den Kopf, dass er einfach nicht hierher gehörte. Er schien in dieser Gegend genauso deplaziert zu sein wie meine Zeichnung von ihm auf dem Papier. Irgendetwas an dem Bild, das ich hatte – sei es das selbst gezeichnete oder das von ihm gezeigte – erschien einfach unpassend.
 

Obwohl ich den Wagen schon geparkt hatte, machte David keine Anstalten, auszusteigen und zu gehen. Stattdessen saß er noch immer auf dem Beifahrersitz, sein Blick war nach draussen gerichtet und er schien zu überlegen. Ich war so damit beschäftigt, ihn dabei zu beobachten, dass mich erst der überraschende Kontakt mit seinen grünen Augen wieder in die Wirklichkeit zurückholte.
 

"Ich wusste zwar weder, dass wir uns begegnen würden, noch, dass heute Dein Geburtstag ist, aber ich denke, ich habe trotzdem ein Geschenk für Dich." Der Klang von Davids Stimme liess mich schwer schlucken. Ich wusste nicht, was er vorhatte, aber ich ahnte, dass dieses Geschenk, das er mir geben wollte, mein ganzes bisheriges Leben auf den Kopf stellen würde. Aber war ich nicht aus meinem alten Leben ausgebrochen, um ein neues zu beginnen? Was also hatte ich zu verlieren?
 

David löste seinen und meinen Anschnallgurt und zog mich aus meinem Wagen. Ich folgte ihm in seine Wohnung, ohne auf irgendetwas anderes zu achten als nur auf ihn. Hier, in diesem Augenblick war für mich nichts anderes wichtig als nur er.
 

In dieser Nacht bereitete David mir den Himmel auf Erden, zeigte mir bis zum Morgengrauen das Paradies. Ich verlor meine Unschuld, aber ich bedauerte es nicht. David schenkte mir eine nie gekannte Freiheit und die Flügel, die ich brauchte, um diese neugewonnene Freiheit auch voll und ganz auskosten zu können. Und am nächsten Morgen, als ich wach wurde, wusste ich mit plötzlicher Klarheit, was meinem Bild gefehlt hatte: Eine Seele.
 

So leise wie möglich, um David nicht zu wecken, zog ich mich an, hinterliess ihm eine Nachricht mit meiner Adresse und meiner Telefonnummer und fuhr nach Hause in meine Wohnung. Ich war glücklich, denn ich wusste jetzt, wie ich meinem Bild von ihm das Leben einhauchen konnte, das ich am Vorabend so vermisst hatte.
 

Kaum zu Hause angekommen, rief ich mein Freunde an, sagte ihnen für den Abend ab und stürzte mich dann förmlich auf meinen eigenen Skizzenblock. Ich suchte mir ein leeres Blatt, nahm meine Zeichenkohle zur Hand und begann zu arbeiten. Im Gegensatz zum letzten Abend ging mir dieses Mal jeder einzelne Strich leicht von der Hand. Als ich Davids Brust, seinen Bauch und seine Arme zeichnete, erinnerte ich mich daran, dass ich dies in der letzten Nacht schon mit meinen Händen getan hatte. Als ich seine Lippen auf das Papier bannen wollte, fielen mir seine Küsse wieder ein und als ich seinen Augen Gestalt verlieh, war es, als würde er mich von dem Block aus geradewegs ansehen. Dieses Mal, das wusste ich, hatte ich es richtig gemacht. Dieses Bild von David lebte.
 

Ich brannte geradezu darauf, ihm das Bild zu zeigen, also packte ich es vorsichtig ein, als ich es beendet hatte, schnappte mir meinen Autoschlüssel und fuhr zum College. Ich war sicher, David und Professor Hawkins dort vorzufinden, doch als ich völlig ausser Atem den Kunstraum erreichte, sah ich nur den Professor. Von David keine Spur.
 

"Professor, ich habe das Bild von gestern noch einmal überarbeitet. Ich wollte es Ihnen unbedingt zeigen. Ihnen und David", rasselte ich die Erklärung für meine Anwesenheit herunter, als der Professor mich fragend ansah. "Ich konnte einfach nicht bis nächste Woche warten", schob ich noch hinterher und er lächelte mich an – ganz so, als hätte ihn mein Auftauchen nicht wirklich überrascht.
 

Noch während Professor Hawkins sich das Bild ansah, betrat auch David den Raum. Er lächelte mir zu und ich erwiderte sein Lächeln mit gleicher Münze. Er fragte nicht, warum ich gegangen war, sondern trat neben mich und betrachtete gemeinsam mit dem Professor die Zeichnung. "Adam, das ist erstaunlich!", meldete dieser sich zu Wort und ich spürte, wie ich förmlich zu strahlen begann.
 

"Ich wusste ja gar nicht, wie talentiert Sie sind! Sie müssen auf alle Fälle in meinem Kurs bleiben!", verlangte Professor Hawkins und meine Ohren begannen wieder einmal zu glühen. "So ein Talent wie Ihres darf nicht verschwendet werden. Ich werde gleich mit dem Dekan sprechen. Darf ich mir das Bild kurz ausleihen?" Ich nickte nur und im nächsten Moment war der Professor auch schon aus dem Raum gestürmt, so dass David und ich alleine zurückblieben.
 

"Bist Du jetzt zufrieden mit dem, was Du gezeichnet hast?", fragte er mich und ich nickte erneut und ziemlich hektisch. "Ja, bin ich. Jetzt ist es so, wie es sein soll", antwortete ich und spürte im nächsten Moment Davids Lippen auf meinen – eine Geste, die mir so natürlich und so richtig erschien, dass ich sie nicht einen eine Sekunde lang infrage stellte.
 

In den nächsten drei Monaten wurde David immer mehr zu meiner Muse. Er inspirierte mich immer wieder. Ich bekam auf Professor Hawkins Drängen und dadurch, dass meine Noten immer recht gut gewesen waren, zumindest ein Teilstipendium und konnte tatsächlich ein Kunststudium beginnen. Ich lernte eine Menge Neues dazu, zeichnete nicht mehr nur mit Kohle, sondern malte auch Aquarelle oder Ölgemälde. Auch war David nicht mehr mein einziges, aber dennoch noch immer mein liebstes Motiv. Ich konnte mich einfach nicht an ihm satt sehen. Immer fand ich neue Posen, in denen ich ihn malte oder wenigstens Skizzen anfertigte. Meine Wohnung quoll förmlich über, aber ich konnte einfach keins der Bilder von ihm wegwerfen.
 

Dennoch, egal, wie glücklich ich war und egal, wie viel ich gemalt habe, meine Zeit mit David war begrenzt. Ich lernte auf die harte, unangenehme Tour, dass nichts ewig währt, denn als ich eines Tages zu seiner Wohnung kam, waren seine Sachen weg und er war einfach nicht mehr da. Er hatte mir keine Nachricht hinterlassen, wohin er gegangen war oder warum. Ich verstehe das bis heute nicht, denn wir hatten keinen Streit. Es gab nichts, was eine Trennung gerechtfertigt hätte. Er ist einfach verschwunden.
 

Und das ist bis heute so geblieben. Meine Zeit mit David liegt inzwischen schon mehr als eineinhalb Jahre zurück. Mittlerweile habe ich mich einigermaßen damit abgefunden, dass ich wahrscheinlich nie erfahren werde, warum er mich verlassen hat. Ich werde ihn wahrscheinlich niemals wiedersehen, aber auch damit habe ich zu leben gelernt.
 

Ich male noch immer und auch heute noch ist er eines meiner liebsten Motive. Ich male ihn so, wie er in meiner Erinnerung ist. Und auch, wenn ich nicht weiss, wo er jetzt ist, was er tut oder wen er im Augenblick lieben mag, bin ich ihm trotz allem dankbar. Er hat mir geholfen, meinen Bildern Leben einzuhauchen und ihnen eine Seele zu geben.
 

So seltsam es auch sein und so naiv es vielleicht auch klingen mag, ich bin mir absolut sicher, dass er mich geliebt hat, solange er mit mir zusammen war. David mag fortgegangen sein, aber sein Vermächtnis – meine Bilder – sind immer noch bei mir. Und solange ich meine Erinnerung an ihn noch habe, werde ich auch weiterhin malen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  moonlily
2010-06-23T18:52:32+00:00 23.06.2010 20:52
*durchatme*
Was für eine Geschichte. *_____________*

Ein schönes Zusammentreffen der beiden. Adam ist süß, wie er sich erschreckt. ^^ Davids Aussehen erinnert mich verdammt stark an unseren lieben Duke.

Jedenfalls ist es schön, dass Adam der Einladung des Professors gefolgt ist und an der Stunde teilnimmt. Er hat eindeutig Talent zum Zeichnen und sollte unbedingt öfter kommen.

Nein, wie niedlich! *____* Adam weigert sich, ihn allein nach Hause gehen zu lassen und wird schon wieder rot.
Ich weiß nicht, wen von beiden ich mehr mag, David könnte ich auch knuddeln. Mit so einem Geburtstagsgeschenk hat Adam sicher nicht gerechnet.

Das neue Bild würde ich zu gern sehen. Den guten Professor hat es ja förmlich aus den Schuhen gehauen, so schnell wie er zum Dekan gerannt ist.
Es freut mich sehr, dass er zumindest ein Teilstipendium bekommen hat.

Aber jetzt, da ich das Kapitel fertig habe, würde ich David gern hauen! >.< Den armen Adam einfach ohne ein Wort zu verlassen, pfui!

*zum nächsten Kapitel wusel*

Von: abgemeldet
2010-04-21T20:29:54+00:00 21.04.2010 22:29
Q-Q
Das Ende ist echt toll!
Obwohl ich normalerweise mehr auf HappyEnds stehe.
David war wohl wirklich einfach Adams Musse..und als er ihn nicht mehr "gebraucht" hat ist er einfach verschwunden, wie er aufgetaucht ist.. ;)
Vielleicht wurde er aber auch von der new Yorker Mafia entführt und in einem See versenkt ;d
Das bleibt wohl ein Geheimnis ;D
Von:  Kura-sama
2008-11-27T01:07:34+00:00 27.11.2008 02:07
Oh mein Gott..
Das war so schön ;_;
Und so was hast du so lange vorbehalten?
Du Schüft! xD
*dich auf schulter hau*
Ne, jetzt mal ehrlich..
Es kam mir fast so vor, als hätte jemand oder etwas David geschickt um Adam zu helfen
So zu sagen, um ihn auf den richtigen Weg zu bringen..
Gut, dass Ende ist etwas traurig, passt aber auch gut zum Rest der Geschichte.
Alles in allem, fand ich es wirklich sehr gelungen^^
*knuddel*
Von:  bereth_is_mordo
2008-11-26T17:47:24+00:00 26.11.2008 18:47
schöne geschichte xD
echt die gefällt mir wirklich gut..
ich sollte vielleicht auch mal aktzeichnen gehen,wenn da so schnuckelige typen rumlaufen ;)
aber warum is der david denn verschwunden ????
hast du da n antwort drauf oder willst du das net sagen???
würde mich aber wirklich sehr interessieren!!!!!!
LG
bereth


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