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Fight the Future

Jeremiah's Odyssey
von

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Warm welcome in New Boston

Das Geräusch der hochhackigen Schuhe dröhnte regelrecht von den Wänden des metallenen Flures wider, wie ein dumpfer Herzschlag.

Iris Blake hasste diese Schuhe, genau wie den engen Rock der Uniform, der nur kurze Schritte zuließ. Immer wenn sie diese Kluft trug, fühlte sie sich wie eine Sekretärin. Fehlte nur noch die strenge Hochsteckfrisur und eine Nickelbrille und sie konnte als ihre eigene Vorzimmerdame durchgehen. Diese, genau genommen ihre Assistentin, hetzte neben ihr her, denn trotz der kurzen Schritte legte Iris ein beachtliches Tempo vor.

„Denken Sie nicht, dass ich Doktor Choker über ihre Ankunft informieren sollte?! Er wird wütend sein und...“

„Das ist mir herzlich egal!“, schnappte Iris, „Und wenn ihm vor Wut der Stirn ein paar Äderchen platzen. So eine himmelschreiend Inkompetenz ist mir noch nicht untergekommen! Das ist doch nicht zu fassen!“

„Aber ich glaube, Doktor Choker tut alles um...“

„Was Sie glauben, Elisabeth...“

“Ich heiße Claudia.“, wagte sie einzuwerfen, schwieg aber schnell wieder.

„Wie auch immer, was Sie denken zählt wohl wenig.“

Vor den Fenster war es Nacht, auch wenn es im Inneren der zentralen Neustadt niemals dunkel wurde. Scheinwerfer beleuchteten die dichte Wolkendecke und immer noch schwirrten leuchtende Gleiter wie Blutkörperchen durch einen gigantischen Organismus. Iris Blake kannte keine normalen Arbeitszeiten und kein Privatleben, ihre Liebschaft war die Arbeit, ihr Heim ihr Büro und das Labor.

In der zentralen Stadt herrschte das Luxusleben, Shopping Center, Apartmenthäuser, künstliche Parks, so ziemlich alles woran es in den Ruinen der Slums fehlte, konnte man hier finden. Die Schere zwischen Arm und Reich war größer denn je, doch auch so etwas scherte Iris Blake wenig. Was sie allerdings störte war, wenn sie von oben Druck erhielt. Was genau oben war, wusste selbst sie nicht und sie stand weit oben in der Hierarchie von Future Techs. Aber auch über den scheinbaren Firmenchefs gab es jemanden und diese Leute war nicht erfreut über den Verlust des letzten Testobjekts. Mittlerweile hatte sich sogar noch herausgestellt, dass eine komplette Truppe von Elitesoldaten ausgelöscht worden war. Offenbar waren sie in der verbotenen Zone über C5 gestolpert und hatten den Kürzeren gezogen. Regierungstruppen... Iris schnaubte bei dem Gedanken. Sie waren kaum mehr als Hampelmänner mit automatischen Waffen. Immer den Finger am Abzug aber kein Gehirn unter dem Helm. Ihre Forschungen würden sicher auch solche Idioten endgültig überflüssig machen.

Sie klopfte noch nicht einmal an und riss die Tür zu Chokers Büro einfach auf. Er hatte keine Sekretärin aber wenn hätte diese es sicher nicht gewagt, sich Doktor Blake in den Weg zu stellen.

„Und daher komme ich zu dem Schluss, dass... was zum Teufel?!“ Choker sah ärgerlich auf und beendete die Aufnahme seines digitalen Diktiergerätes. „Iris! Was für eine erfreuliche Überraschung!“

Seine Stimme sagte genau das Gegenteil.

„Ein persönlicher Besuch und das obwohl wir im ganzen Gebäude holographische Kommunikatoren haben. Ich sollte mich geschmeichelt fühlen.“

„Ihre Witzeleien werden Ihnen bald im Hals stecken bleiben, Choker! Seit einer Woche ist C5 verschwunden und die von oben wissen nun davon! Und ich sehe nicht ein, dass man mir auf die Füße tritt, nur weil Sie und Doktor Filburt hanebüchene inkompetente Volltrottel sind!“

„Au contraire, mademoiselle,“, lächelte Choker kalt, „ich bin keinesfalls ein inkompetenter Volltrottel, aber auf Filburt trifft das durchaus zu. Können Sie sich das vorstellen? Fällt der Mann doch einfach aus dem Gleiter, genau auf dem Weg von Anlage elf hierher. Ich habe ihm gesagt, dass er still sitzen soll. Leider war ihm nicht mehr zu helfen. Tragisch.“

Iris kannte den Mann vor sich nur zu genau. Choker war ebenso genial wie geisteskrank und es brauchte kein Genie, um zu erkennen, was genau in diesem Gleiter vorgefallen war.

„Wenn Sie damit fertig sind, Ihr Personal zu ermorden, Choker, erwarte ich Ergebnisse! Denn wenn Sie sich erinnern, ich stehe über Ihnen.“

„Das weiß ich nur zu gut, meine Liebe, und ich versichere Ihnen, C5 wird bald wieder hier sein. Meine Leute haben seine Spur verfolgt.“

Choker war aufgestanden, er überragte Iris um ein Stück und hielt ihrem kühlen Blick mühelos stand.

„Von dem Massaker in diesem Regierungsbunker aus, hat sich C5 offenbar in die Kanalisation begeben.“

„Was?!“

„Nun lassen Sie sich mal keine grauen Haare wachsen, meine Liebe, wenn er mit einer ganzen Truppe von Regierungstrotteln fertig wird, dürften ein paar Mutanten auch kein größeres Problem sein. Meine Leute durchkämen den Untergrund und sie wissen, dass es besser ist, ein Mutant frisst sie, als vor mir mit leeren Händen zu stehen.“

Iris war davon nicht so überzeugt. Sie drehte sich um und ging zur Tür. „Wir werden sehen.“

Damit knallte die Tür wieder hinter ihr zu und die Schritte der Stöckelschuhe verschwanden den Gang hinab.

„Elende Schlampe!“, knurrte Choker und schlug heftig auf den Tisch.
 

Der dunkle Nachthimmel spannte sich über dem schwarzen Wasser des breiten Flusses. Kein Stern war zu sehen, die dicken Wolken aus Smog deckten alles ab. Es war totenstill bis auf das beständige Rauschen des Wassers.

Jerrys Blick hing wie gebannt an der grotesken Skyline während er Isaac aus dem Wasser zerrte. Cassiopeia kam eben angeschwommen, wenigstens schien sie die Bewegung in diesem Element zu beherrschen. Im Gegensatz zu anderen Leuten, die wie eine Bleiente untergegangen waren...

Die Stadt war eine abstruse Ansammlung gewaltiger Wolkenkratzer, die hell erleuchtet waren. Lichtkegel von Scheinwerfern tanzten über die Wolkendecke. Diese Insel aus Licht erhob sich in einem Meer aus verfallenen Gebäuden, zwischen denen hundertfach der Schein von Feuern loderte. Es sah aus als sei eine kleine hoch entwickelte Zivilisation inmitten einer zerstörten anderen entstanden. Lichtpunkte düsten zwischen den hellen Gebäuden umher, der Luftraum in der Ruinenstadt war leer.

„Willkommen daheim“, würgte Cassiopeia hervor, während sie sich mühsam aus dem Wasser hievte und gen Ufer schleppte. „Und der erste, der auch nur spekuliert, was in dem Wasser sein könnte, das ich gerade literweise verschluckt habe, verdient sich eine linke Gerade auf die Nase.“

Sie ließ sich schwer neben Jerry fallen. Ihre Haare klebten in ihrem Gesicht, sie hatte ihre Tasche und einen Schuh verloren und Wasser lief fast in kleinen Bächen an ihr herab. „Du scheiße, das war jetzt wirklich nicht geplant“ schnaufte sie und spuckte einen Schwall des trüben Wassers aus. „Alle Mann noch am Leben?“

„Beinahe...“, grummelte Jerry und zerrte Isaac an sich heran. „Er atmet nicht. Kann der eigentlich irgendetwas? Nicht einmal schwimmen!“

Mit diesen Worten setzte er zu einer rabiaten Wiederbelebung an, er tat zwar gleichgültig, aber in seinen Augen stand etwas anderes. Den Tod wünschte er dem jungen Mann sicherlich nicht. Cassiopeia half ebenso. Schließlich hatten sie Erfolg und Isaac spuckte in hohem Bogen Brackwasser aus, bevor er röchelnd nach Atem rang. Jerry hatte eben zur Mund zu Mund Beatmung ansetzen wollen und hatte den Wasserschwall beinahe abbekommen.

„Willst du... etwa... knutschen...?“, murmelte Isaac.

„Idiot!“ Jerry ließ abrupt von ihm ab und ihn damit auch links liegen. Sein Blick wanderte wieder zur Stadt hinüber.

Die junge Frau musste trotz des Ernstes der Lage verhalten grinsen. „Willkommen zurück unter den Lebenden.“ Dann ließ sie den Blick über den Horizont schweifen und pfiff anerkennend durch die Zähne. „Donnerwetter, sieht aus, als wären wir direkt nach NewBoston gespült worden. Wir haben offenbar eine Abkürzung erwischt…“ Eine Abkürzung, bei der sie allesamt fast ertrunken wären. Genau genommen konnte sich Cassiopeia an nichts zwischen dem Sturz und dem Auftauchen erinnern. Ob sie bewusstlos bewesen war? Egal, sie waren alle drei hier. Lebendig.

Isaac rappelte sich mühsam auf, immer noch hustend und Wasser spuckend. Seine Augen suchten die Szenerie ab als erwarte er gleich die nächste Katastrophe.

„Ich war lange... nicht hier...“

Jerrys Blick war wie gebannt. „Das... das kann nicht echt sein...“

„Dass gerade du mit echt und nicht echt kommst, verwundert mich“, antwortete Cassiopeia mürrisch und machte sich daran, ihre triefnasse Kleidung auszuwringen. „Und eins kann ich mal sagen, Leute – wir hatten verdammtes Glück. Wir sind nicht ertrunken, haben die Grenzkontrollen unterschritten und wurden nicht gefressen. Wäre ich gläubig, würde ich jetzt einen gesamten Rosenkranz beten.“

Sie richtete ihren Blick in Richtung der Hochhäuser vor ihnen. Sie waren im Osten der Stadt, direkt im Industrieviertel – kein Wunder, diese ewig breiten und langen Kanäle transportierten wohl das Abwasser aus den Fabriken und frisches Wasser hinein. Und offensichtlich wurden sie kaum überwacht.

„Ich weiß nicht... ich weiß nicht ob wir weiter sollten...“ Etwas in Isaacs Stimme klang merkwürdig und es war nicht das raue Krächzen vom Schlucken des Brackwassers.

„Bitte?“ Jerry sah ihn über die Schulter an.

„Ich meine ja nur... also... da ist...“, druckste der Hehler herum.

Die junge Frau hörte nur mit halbem Ohr zu, da sie versuchte, sich zu orientieren und sich den ungefähren Stadtplan ins Gedächtnis zu rufen, sie war meistens nur im Marktviertel unterwegs. Isaacs Stottern bemerkte sie dann aber doch, sie wandte ihm halb den Kopf zu und hob eine Augenbraue. „Nun spuck’s schon aus, wir fressen dich schon nicht.“

„Da ist so ein Problem... also es hat eigentlich sogar einen Namen. Johnny Maloy... ich schulde ihm noch einiges an Geld.“

Maloy zählte zu den Köpfen der örtlichen Unterweltsyndikate, die durch den großen Mangel an eigentlich allem, der in allen Bezirken außerhalb der reichen Gegenden herrschte, zu ungekannter Macht und Größe gewachsen waren.

Cassiopeia klopfte mit schiefem Lächeln auf seine Schulter. „Hey, falls es dich beruhigt… von all unseren Problemen ist Maloy garantiert das Allerkleinste.“ Aber sofort wurde sie wieder ernst und blickte stirnrunzelnd von Jerry zu Isaac und wieder zurück. „Das heißt wohl, dass wir nicht allzu viele Chancen haben, unerkannt durch die Ghettos zu schleichen, wenn der Kerl sowieso schon Ausschau nach dir hält. Sag mal… wie viel Geld schuldest du ihm denn nun?“, fügte sie mit besorgter Stimme hinzu.

„50.000 Dollar...“, presste Isaac zwischen den Lippen hervor.

Cassiopeia klappte der Kiefer runter. „Fünfzig Riesen? Meine Fresse!“ Sie vergrub das Gesicht in den Händen. „Wie zur Hölle hast du das denn geschafft?“

„Ich hatte ne todsichere Wette laufen und da war dieser Auftrag von ihm... eine Geldwaschangelegenheit... ich hab das Geld davon für die Wette genommen. Es war todsicher, aber dann hat der eine Spieler gefoult und... na ja, ihr könnt euch den Rest denken. Auf jeden Fall hat er gedroht, mir die Eier abzuschneiden, wenn er mich in die Finger kriegt... in der Zone war ich sicher.“

Jerry fing an zu lachen. Er konnte nicht anders, die Situation war nicht einmal passend, aber er lachte schallend, ungeachtet Isaacs böser Blicke.

Auch Cassiopeia blieb überraschend ernst. „Wenn es um Geld geht, machen Leute von Maloys Schlag keine Scherze, soviel ist sicher.“ Sie hatte diesen zwar nie persönlich kennen gelernt, aber sie konnte sich schon vorstellen, was er für einer war. „Nun gut, aber es ist ja nicht so, als seiest du Staatsfeind Nummer 1. Wenn wir vermeiden, zuviel gesehen zu werden, wird wohl nicht so viel passieren.“ Hoffe ich, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Mit einer tickenden Zeitbombe wie ihm sind wir sicher sehr unauffällig!“

„Vielleicht hätte ich dich ersaufen lassen sollen!“, knurrte Jerry, „Hör endlich auf mit dem Gestänker, ich hab dir jetzt schon mehrfach den Arsch gerettet, du Niete!“

„Und das macht den Mordversuch wett...“ Isaac schien ebenso seinen Standpunkt nicht verlassen zu wollen.

„Macht weiter so und man hört euch bis hinauf in die Nobelviertel“, warf Cassiopeia gereizt ein und marschierte an ihren beiden Begleitern vorbei. „Das hatten wir vorhin auch schon und dann sind diese verdammten Turbo-Junkies aufgetaucht. Die nächsten, die auftauchen, sind womöglich bewaffnet, also beherrscht euch mal!“ Sie verschränkte die Arme. „Männer!“, fauchte sie leise, mehr zu sich selbst.

„Ich sehe einfach nicht ein, warum ich mir von ihm alles bieten lassen muss!“

„Gott, ihr Schwulen seid vielleicht Zicken! Heul doch, das würde noch fehlen! Du bist doch bei dieser Tour der Klotz an unserem Bein!“ Jerry ballte die Fäuste.

„Okay! Das reicht! Endgültig!“ Einen Moment lang sah es so aus, als wolle sich Isaac auf den anderen Mann stürzen, doch dann drehte er sich schwungvoll um und stapfte über den fast schwarzen Boden des Ufers davon.

„Renn doch weg! Das kannst du am besten!“, rief ihm Jerry nach, bekam dafür aber nur einen hoch in die Luft gehobenen ausgestreckten Mittelfinger von dem jungen Hehler. Er drehte sich nicht einmal um.

„Wunderbar, Jungs“, fauchte Cassiopeia auf, verdrehte die Augen und breitete seufzend die Arme aus. Sie fühlte sich hin und her gerissen – sollte sie nun Isaac begleiten oder Jerry? Jerry hatte keine Ahnung von dieser Welt, also war es wohl vernünftiger, auf ihn aufzupassen, aber Isaac konnte sie auch nicht einfach alleine lassen. „Isaac, du beleidigte Leberwurst, bleib gefälligst hier!“, rief sie ihm nach, mehr hilflos als bissig. Aber er schien sie nicht hören zu wollen.

„Lass ihn doch...“ Jerry fuhr sich durch die immer noch klammen Haare. „Wir sind ohne ihn doch sowieso schneller. Die ganze Zeit hat er nur Probleme gemacht...“

Seine Stimme klang aber nicht ganz so überzeugend, wie sie wohl sollte.

Cassiopeia setzte zu einer Antwort an, sagte dann aber doch nichts. So geladen, wie sie waren, hatte das jetzt keinen Sinn. Sie vertraute darauf, dass Isaac von selbst zurückkommen würde, nachdem er sich beruhigt hatte. Blieb nur zu hoffen, dass er sich bis dahin nicht zu sehr entfernt hatte und in keine Schwierigkeiten geraten war.„Hm“, machte sie deshalb nur eintönig. „Zuerst müssen wir trockene Kleidung finden. Und dann überlegen wir, was wir als Nächstes machen.“
 

~~~
 

Isaac grummelte immer noch vor sich hin, während er immer weiter in die verfallenen Vororte von NewBoston hineinstapfte. Rund um ihn herum war nichts als Verfall und Armmut. Die Leute in den Vororten lebten meist von der Hand in den Mund und verdingten sich als Schatzsucher in den Ruinen, doch nach all diesen Jahren waren in den bewohnbaren Zonen kaum noch Schätze irgendwelcher Art zu finden. Selbst die Goldzähne an in den Trümmern verborgenen Leichen, mittlerweile kaum mehr als Skelette, waren nicht mehr vorhanden. Die Vororte waren früher ein Teil des alten Boston gewesen, nun waren sie eine der vielen Zonen, in die diese schöne neue Welt eingeteilt war. Reich, arm, Mutant, das war das Gefälle entlang der einzelnen Stadtbereiche.

Der Wind pfiff unangenehm durch die Straßen und brannte in den Augen, die Abgase der zentralen Stadt sammelten sich hier und es gab nur wenige Filteranlagen, die dafür sorgten, dass die Bewohner dieses lauschigen Fleckchens nicht elend erstickten. Isaac fror in seinen immer noch klatschnassen Sachen und nicht einmal die kochende Wut konnte ihn wärmen. Was bildete sich dieser Freak nur ein?! Sollten er und seine neue beste Freundin doch zum Teufel gehen! Er kam auch allein zurecht.

Allein...

Es wurde ihm nun doch bewusst, wie allein er hier war und er beschleunigte seine Schritte. Vielleicht würde einer seiner alten Kumpel ihn noch aufnehmen.

Als wäre dieser Gedanke ein Kommando gewesen, ertönte plötzlich ein joviales „Isaac, du alte Hackfresse!“ von der Seite. Mit breitem Grinsen trat ein dürrer Mann mit Adlernase aus einer Seitengasse und breitete einladend die Arme aus. „Die Welt ist doch ein Kaff! Was machst du nach so langer Zeit hier in deinem alten Geschäftsbezirk?“ Er trat näher, aber sein breites, zahnlückiges Grinsen verschwand auf einmal und seine Stimme wurde leiser. „Hey, ich sag’s nur ungern, aber Maloy is’ immer noch schwer angepisst von deiner Aktion damals. Ich würde mich nicht so öffentlich rumtreiben…“

Isaac rang sich ein gequältes Lächeln ab. Von allen Leuten ausgerechnet er.

„Hi, Clive...“ Er sah sich um. Die Aussage seines ehemaligen Geschäftspartners hatte ihn noch unsicherer gemacht.

„Hör zu.“ In der Not fraß der Teufel ja Fliegen. „Ich weiß, ich sollte eigentlich gar nicht hier sein! Die Sache is’ die: Meine Bleibe ist quasi... in die Luft gegangen... und ich hab den Anschluss zu meiner... Reisegruppe“, Ein besseres Wort fiel ihm nicht ein, „verloren und nun... bin ich hier etwas verloren. Da sind zwar immer noch die fünfzig Dollar Schulden von der letzten Pokerrunde, aber du wärst nicht zufällig in der Lage, mich irgendwo unterzubringen?“

Clive stocherte mit einem seiner Spinnenfinger irgendwo an seinem Zahnfleisch herum, bevor er antwortete. „Nja… ich hab da ’nen alten Schuppen in der Nähe, da könnte ich dich verstecken, zumindest kurzfristig. Die fünfzig Dollar arbeitest du eben nachher bei mir ab – bin übrigens auf Nahrungsmittelhandel umgestiegen. Is’ inzwischen sehr einträglich, das glaubste nich’.“ Er wies auf die Gasse hinter sich. „Is’ nicht weit weg. Ein wenig dreckig, aber besser, als an Maloys Schläger zu geraten, was?“

„Ja, ganz sicher...“ Für Clive arbeiten würde die Hölle werden. „Danke, du bist ein echter Kumpel.“

Isaac zupfte an seinen nassen Kleidern. „Können wir dann? Mir ist ganz schön kalt.“

„Natürlich, natürlich.“ Clive spuckte aus und winkte Isaac, ihm zu folgen. „Du musst nämlich wissen, du hast einiges verpasst. Maloy hat Rafferty und Oldman umgelegt und regiert jetzt quasi das gesamte Viertel allein. Is’ ein Ding, was?“ fügte er hinzu, als Isaac nicht antwortete. „Vorher gab es zumindest drei verschiedene Familien, die die Geschäfte kontrolliert haben, aber jetzt ist er fast Alleinherrscher. Vorsicht, Stufe.“

„Dass du so etwas in einem Atemzug mit „Vorsicht Stufe“ erwähnen kannst!“, grummelte Isaac und besah sich die heruntergekommene Hütte näher. Ungemütlich aber zumindest windgeschützt, es gab kein Licht und nur ein paar Kisten in einer Ecke.

„Wie lauschig. Aber besser als draußen bei Maloy. Ich muss aus dieser Stadt raus, Clive, schneller als schnell...“

„Raus geht nur über die Kanäle oder mit den Füßen voran, mein Jungchen“, gluckste Clive und schob ein paar Kisten beiseite. „Du musst versuchen, in die Bezirke zu gelangen, in denen Maloy keine Macht hat – die Snobviertel, zum Beispiel. Oder das Militär. Wär das nix für dich?“

„Militär?“ Isaac grinste ein wenig verkniffen. „Klar, die lieben Kerle wie mich da. Besonders in den langen einsamen Stunden in den Baracken...“ Er hielt inne. „Also wenn ich so drüber nachdenke... ach Unsinn!“

Das kam begleitet mit einem heftigen Kopfschütteln. „Ich bin Pazifist, leben und lasst mich leben, das ist mein Motto! Aber du bist ein echter Freund, mich hier zu verstecken, Clive.“

„Ja… ne?“, lautete Clives überraschend eintönige Antwort und für einen Moment wirkte er fast verlegen. „Kann dich ja nicht einfach in dein Verderben rennen lassen.“ Er wandte sich ab und schob die Kisten weiter herum, warum auch immer. „Sieh dir das mal näher an, meinst du, du kannst dir hier ein Versteck basteln?“

„Wo meinst du? Ich denke, ich kann es mir überall verhältnismäßig bequem machen.“ Er kam näher, um sich die Ecke anzusehen, von der Clive redete.

„Was genau meinst du? Ich denke, da könnte ich mir ein Bett hinbasteln.“ Isaac beugte sich an Clive vorbei und besah sich die staubige Ecke hinter dem Kistenstapel.

„Tja… jedenfalls tut es mir echt leid“, kam es von Clive, aber bevor Isaac sich umdrehen und fragen konnte, was er damit meinte, rammte eine alte Holzlatte wuchtig seinen Hinterkopf und ließ ihn bewusstlos zu Boden stürzen. Clive stand noch einen Moment da und starrte stumm auf die regungslose Gestalt hinab und auf den dünnen Blutfaden, der ihren Hals hinab lief. Dann ließ er die Holzlatte fallen und setzte sich seufzend auf eine Kiste, fischte eine Zigarette aus einer Tasche und zündete sie an. Kopfschüttelnd sah er noch mal Isaac an. „Oh Mann, was für ne Scheiße“, brummte er. „Möge Gott deiner Seele gnädig sein…“
 

~~~
 

Als Isaac langsam wieder zu sich kam, dröhnte sein Schädel höllisch. Vor seinen Augen verschwamm alles wieder und wieder und es fiel ihm äußerst schwer, auch nur für wenige Sekunden einen Punkt klar zu fixieren.

Irgendetwas stimmte nicht. Er konnte sich nicht bewegen, wie auch immer er sich bewegte. Zwar waren seine Bewegungen noch fahrig und schwach, aber er spürte dennoch durch den Nebel in seinem Kopf, dass er weder Arme noch Hände aus ihrer Position am Rücken wegbewegen konnte.

Eine wuchtige Ohrfeige riss ihn urplötzlich in die Realität zurück. „Komm zu dir, du Penner!“

„Lass das“, kam es aber in der nächsten Sekunde gedehnt aus dem Hintergrund. „Er soll erst einmal wieder alle seine Sinne zusammenfinden, sonst hat das hier ja keinen Sinn…“

Der Kerl, der Isaac geohrfeigt hatte, brummte nur etwas und schritt nur um den Stuhl herum, an den er offenbar festgebunden worden war. Probeweise rüttelte er an den Fesseln, die schmerzhaft in Isaacs Gelenke schnitten, und schien dann zufrieden mit dem Ergebnis.

„Gut so“, kam es wiederum aus dem Hintergrund. „Jetzt drehe ihn in meine Richtung…“

Isaac hatte sich heftig auf die Zunge gebissen und schmeckte überall Blut im Mund. Mühsam hob er den Kopf und spähte durch seine wirr ins Gesicht hängenden blonden Haare.

Für einen Moment wurde die Welt klar, bevor wieder alles verschwamm, aber dieser Moment hatte gereicht. Isaac wurde schlecht.

„Ma...Maloy...“, stammelte er.

„Ah. Du erinnerst dich noch an mich. Das ist schön.“ Maloy trat langsam ins Licht… oder besser, er schleppte sich dorthin. Sein linkes Bein schien noch steifer zu sein als das letzte Mal, als Isaac ihm begegnet war, auch schien er noch dicker geworden zu sein. Sein Hals ging nahtlos in seinen Kopf über, immer noch blass wie eine Leiche, glatzköpfig, ohne Augenbrauen, eine hässliche Narbe im Mundwinkel, die sich bis hinauf zu seinem Ohr zog. Ächzend blieb er vor Isaac stehen, lächelte messerdünn und ließ sich dann selbst auf einem Stuhl nieder, der ihm gegenüberstand, das steife Bein kerzengerade nach vorne ausgestreckt. „Wie geht es dir, mein Freund?“

„Kopfschmerzen...“, presste Isaac hervor und lächelte leicht verkniffen. Er durfte jetzt keinen Fehler machen, das war ihm selbst in seinem vernebelten Zustand klar.

Clive, diese Ratte...

„Wollte... dich eh... besuchen...“

„Freut mich, das zu hören“, nickte Maloy verträumt und drehte ein großes, klobiges Gerät in seinen Händen, das sich bei näherer Betrachtung als Nagelpistole entpuppte. „Weißt du, da stellt sich mir aber die Frage… warum bist du nicht gleich zu mir zurückgekommen, nachdem du fünfzigtausend Dollar in den Sand gesetzt hast?“ Maloys Tonfall änderte sich nicht, aber sein Blick wurde lauernd. Die Nagelpistole klackte leise.

Langsam wurde Isaac klarer, es war das Adrenalin, das wie eine Droge durch seine Adern pumpte. Sein Herz schlug wie wild, er meinte man müsse es schon hören können.

„Moment... ich wollte das Geld... also beschaffen, weißt du? Ich konnte doch nicht so etwas... also bei dir... ich wollte dir das Geld wiederbeschaffen...“

Maloy erhob sich, mit einem Keuchen, das sich anhörte, als stemme er Gewichte. Tat er genau genommen auch. Er machte zwei Schritte auf Isaac zu und wiegte seine Nagelpistole sorgsam in den Händen. „Oh, dass du das wolltest, glaube ich dir gerne…“, summte er. „Aber versteh doch, mein Freund… es geht mir weniger um das Geld. Du hast mich tief getroffen, als du geflohen bist. Du hättest mir deinen Fehler wirklich sofort beichten sollen, das wäre für uns alle viel leichter gewesen…“Hinter Isaac lachte jemand schnaubend, aber Maloy brachte ihn mit einem eiskalten Blick zum Schweigen.

„Dann hättest du mich doch umbringen lassen!“, entfuhr es Isaac. Er sah sich um, fand aber keine Fluchtmöglichkeit.

„Hör zu, ich hatte dein Geld... ich hatte soviel Zon gehortet, ich hätte dir das Doppelte geben können... aber mein Versteck ist... also... explodiert.“

„Explodiert?“ Nun explodierte noch etwas, die Bombe Maloy ging los. „EXPLODIERT?!“ Er wurde auf einmal so puterrot, dass Isaac schon fast hoffte, er würde gleich an einem Herzinfarkt krepieren.

„Fällt dir nichts besseres ein?! Dein Versteck ist EXPLODIERT?!“ Er schien mit dem Schreien des Wortes dessen Glaubhaftigkeit steigern zu wollen. „Du bist ja wohl nicht ganz dicht!“

Plötzlich drückte sich etwas kühles auf Isaacs linken Handrücken, es klackte und im nächsten Moment wurde sein etwas wacherer Geist von einer Welle des Schmerzes erfasst. Es krachte als der Nagel sich in die Armlehne des Stuhles bohrte, direkt durch Isaacs Hand hindurch. Es blutete nicht mal wirklich, tat aber höllisch weh. Isaac stiegen die Tränen in die Augen.

„Bitte.... bitte, ich sage die Wahrheit!“

„Boss, der flennt wie ein Mädchen!“, grinste einer der Männer im Hintergrund.

„Schnauze!“ Maloy drückte die Nagelpistole gegen Isaacs Wange. „Wohin als nächstes? Vielleicht in den Schritt, mein Freund?“

„Bitte...“ Isaac weinte immer heftiger. „Bitte nicht... das ist die Wahrheit. Ich sage die Wahrheit! Da war dieser Kerl, den hat eine Freundin angeschleppt! Er war komisch! Und dann kamen Soldaten und alles ging in die Brüche!“ Er schnappte nach Luft. „Er hat sie alle umgebracht!“

„Du kleine, miese, verlogene...“

Maloy bedachte ihn mit einem Blick, als würde er ein Insekt betrachten. „Also dann, die nächste geht in deinen Schwanz.“ Er hob die Nagelpistole, Isaac schrie in Panik auf, doch er kam nicht dazu, sein Werk zu vollenden.

Der Schuss krachte grauenhaft laut durch den Raum, es folgte ein weiterer. Und noch einer. Isaac hatte das Gefühl, um ihn herum würde ein Gewitter niedergehen. Er schrie wie am Spieß und spürte, wie sich in seinem Schritt Wärme ausbreitete, er hatte sich eingenässt.

Dann war es vorbei, alles wurde still. Maloy und drei seiner Männer lagen tot am Boden. Isaac war sich sicher, dass nun er dran war, als hinter ihm der Schütze ins Licht trat.

„Du schaffst es auch immer wieder, dich in die Scheiße zu reiten, nicht wahr?“

Isaac traute seinen Augen nicht. Da vor ihm stand eine Figur aus seiner Vergangenheit, aus einer Zeit, die er eigentlich schon lange hinter sich geglaubt hatte. John D. Kenwood.

Der hochgewachsene afroamerikanische Mann steckte die Waffe wieder in den Holster, den er über dem engen blauen Rollkragenpullover trug. Seine Augen wanderten einmal über Isaac.

„Okay. Hand versorgen und die vollgepissten Hosen wechseln. Ich denke das ist erst einmal fällig. Und dann sehen wir weiter.“

„Was... wie...?“

„Halt einfach die Klappe. Ich muss dich hier weg schaffen und dann eine Geschichte überlegen, mit der ich meinem Boss klarmachen kann, warum ich eine monatelange Infiltration schlagartig durch mehrfache Exekution beendet habe... wobei Maloy sowieso schon auf der Abschussliste stand.“

Damit machte er sich einfach daran, Isaac loszubinden.



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