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Kitsch

Kurzgeschichtenarchiv zu Bela B.
von

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Vergissmalnicht

Müde legt er seine Stirn an das Fenster. Das Glas ist kalt. Hinter ihm wird irgend so eine Über-Party gefeiert. Schlechte Musik, billiger Fusel und noch billigere Mädels. Das Leben eben. Sein Leben. Es macht ihm eigentlich nichts mehr aus.
 

Eigentlich.
 

Er hat die Augen geschlossen, schon eine Weile. Versucht durch dumme Gespräche, aufgesetztes Lachen und gespieltes Stöhnen die Klänge der Nacht herauszuhören. Fast glaubt er, das Fauchen einer Katze zu vernehmen. Vielleicht ist es auch nur ein Kratzer in der Schallplatte. Irgendwo fällt ein Glas laut scheppernd zu Boden.
 

«Er fällt.

Unaufhaltsam.

Mit aller Macht.
 

Er will nicht aufgefangen werden.
 

Die Welt zieht an ihm vorbei.

Ein Strudel aus Farben und Formen.

Beinah schön.

Der Boden kommt immer näher.
 

Angst ist anders.
 

Dann der Aufprall.

Hart und weich.

Sein Körper zerspringt in tausend Teile.

Verteilt in einem Radius von zwei Metern.

Scherben glänzen im matten Licht.
 

Irgendjemandem ist er eine letzte Beleidigung wert.»
 

Ein spitzer Ellbogen reißt ihn aus seinen Gedanken. Wie Auftauchen aus Eiswasser und Luftschnappen. Nur andersrum. Er macht sich nicht die Mühe, sich umzudrehen. Es ist egal. Wie alles andere. Diese Party. Die Leute.
 

Was wirklich zählt, ist verloren gegangen. Schon vor langer, langer Zeit. Verschwunden, wie das Lächeln der Grinsekatze ins unbekannte Nichts. Er schüttelt den Kopf. Unsichtbar. Vielleicht sollte er wirklich mit dem Alkohol aufhören.
 

Vielleicht.
 

Hinter ihm hitzen sich die Gemüter auf. Ein Wort gibt das andere, bis Fäuste fehlende Rhetorikkünste ersetzen müssen. Sachen fliegen durch die Gegend. Etwas Weiches trifft seine Schulter, flattert zu Boden. Er hat keine Lust, die Augen zu öffnen. Allein, er hat nichts Besseres zu tun.
 

Eine Bravo. Ausgerechnet. Etwas einem Lächeln Verwandtes huscht über seine Lippen. Zitronen sind süßer. Obwohl sie ganz nett zurechtgemacht ist. Einigen Seiten sind rausgerissen, andere zerschnitten oder angekokelt. Jemand hat sich die Mühe gemacht, die „Coverstars“ etwas zu verschönern. Sein Blick bleibt an einem winzigen Kästchen in der rechten, unteren Ecke hängen. Es ist gänzlich verschont geblieben.
 

Ein bekannt fremdes Gesicht grinst ihm entgegen.
 

Bela geht in die Knie.
 

Es ist keine Trauer. Nur Erinnerung.
 

Er weiß nicht, ob das wirklich besser ist.
 

_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_
 

„Ach, komm schon, Dirk, das wird toll!“
 

„Ich weiß nicht... denkst du wirklich... ich meine; wir reden hier immerhin von der Bravo! Die werden uns nie wieder ernst nehmen.“
 

Beide wussten, wer mit „Die“ gemeint war. Ihr Punkimage würden sie danach an den Nagel hängen können. Wer wäre auch schon doof genug gewesen, ihnen die Schnorrer abzukaufen, wenn sie Hochglanzposter in irgendwelchen Teenieszeitschriften hätten?
 

„Na und?! Dafür hängst du in hunderten... ach, tausenden Mädchenzimmern an der Wand und darfst dich anschmachten lassen. Ist das nichts?!“
 

Blind von der Nacht, sah Dirk zwar nichts, aber er konnte das riesige Grinsen seines Gegenübers geradezu hören. Für ihn war das Spaß. Schon klar. Verwirrung und Unruhe stiften. Geordnetes Chaos verbreiten. Witze, so intelligent, dass selbst Bela manchmal Probleme hatte, ihnen zu folgen. Nur dieses Nagen an der Seele hatte er allein. Ob das nun Zweifel waren oder Ängste. Egal.
 

„Jan, das ist wirklich ernst, okay?“
 

Seine Rolle war es nicht. Die der Vernunft. Er glaubte auch nicht, dass sie ihm außerhalb dieser vier Wände abgekauft werden würde. Selbst hier war es schwer sie an den sprichwörtlichen Mann zu bringen. Immerhin, einen Versuch war es wert. Und später würde man IHM keine Vorwürfe machen können.
 

„Oh, entschuldige, wie es scheint, habe ich die Lage völlig verkannt. Natürlich ist die Sache ernst. Todernst. Wie wäre es, wenn wir ein Meeting dafür ansetzen? Bandintern, versteht sich. Dann können wir auch eine pro- und contra-Liste aufstellen. Oder wir stimmen ab. So ganz demokratisch.“
 

Dirk konnte den Schalk im Nacken des Größeren förmlich kichern hören. Nicht nur, dass er entgegen seiner Natur handeln musste, jetzt wurden sogar schon Scherze auf seine Kosten gemacht!
 

„Jan!“
 

Gerechte Empörung.
 

„Dirk!“
 

Ironische Parodie.
 

„Ach leck mich doch, du verdammter-"
 

Er schaffte es nicht, seinen Fluch zu Ende zu bringen. Schaffte es nie. Nicht bei Jan. Der zog ihn mit einer beängstigenden Leichtigkeit zu sich herüber. Vergrub das Gesicht in Dirks schwarzem Zottelhaar. Die Dunkelheit um sie herum begann zu glühen.
 

„Sei mir nicht böse, al meu conte.“
 

Als ob er das je gekonnt hätte! Allein, wie er seine Hand hielt. Kühles Feuer, das sich unter seine Haut brannte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es einen schöneren Tod gab. Das Requiem gleich dazu. Selbst wenn er es manchmal nicht verstand. Die sanfte, liebestrunkene Stimme reichte.
 

„Wenn du nicht willst, lassen wir es. Ist in Ordnung. Ich will dich zu nichts zwingen. Wir machen es, wie du es sagst. Ich mache es, wie du sagst. Ich tue alles für dich, al meu conte, mein Dirk, mein Herz...“
 

Lippen formten die Worte an seinem Hals, während geübte Finger sich daran machten, ihm den Verstand zu rauben. Und auch wenn er sich nur allzu schnell von diesem zu verabschieden hatte, schaffte Dirk es noch mit enormer Willenskraft, seinem größten Sehnen Ausdruck zu geben.
 

„Sag ihn... sag... sag meinen Namen.“
 

„Dirk... mein Dirk...“
 

_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_
 

„Bela... hey Bela...“
 

Ein sanfter Hauch an seinem Ohr. Der falsche Atem. Der falsche Name. Das Schicksal hat einen seltsamen Sinn für Humor. Er stört sich nicht daran. Nicht wirklich. Nun ja... nur ein wenig.
 

Starke Arme ziehen ihn hoch, legen sich um seine Taille. Es hat nichts Leichtes. Der Körper hinter ihm scheint in Flammen. Bela wünscht sich Kälte. Er bleibt. Trotzdem. Womöglich zerfällt er ja zu Staub. Ein grotesk schöner Gedanke.
 

„Ich hab dich schon überall gesucht. Hatte schon Angst, du fährst wieder ohne mich.“
 

Es soll dahingesagt klingen. Tut es aber nicht. Bela ist es so gleich, dass es fast schon an Grausamkeit grenzt. Er kann kein Mitleid mit dem Anderen haben. Gleich, wenn er ihn nur benutzt, nie lieben und irgendwann stehen lassen wird. So wie alle anderen.
 

„Würde mir doch nie in den Sinn kommen, Roddie.“
 

„Nein, nie im Leben, Belchen.“
 

Er ist zu jung für diese Bitterkeit. Allein, der Drummer hat keine Lust, sich damit auseinanderzusetzen. Den Schmerz hat man für sich allein. Je früher man das lernt, desto besser.
 

Möglich, dass es dann sogar weniger weh tut...
 

... was für ein guter Witz.
 

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„Was? Ich... du... das kann doch nicht... sag mir, dass du das nicht ernst meinst!“
 

Dirk war ruhig. Außer vielleicht seine Stimme. Die hatte etwas vom brodelnden Meer. Jans Blick dagegen war nach unten gerichtet. Versteckte Tränen im Augenwinkel. Ein riesiges Häufchen Elend. Verdrehte Welt.
 

„Dirk, bitte. Ich habe lange nachgedacht und...“
 

„Du hast lange nachgedacht?! DU hast lange nachgedacht?! Hast du dann auch nur einmal an mich gedacht? Was ICH darüber denke?! Was das für MICH bedeutet?! Gott, Jan! Du redest nicht nur davon, mir nichts, dir nichts einen wichtigen Pfeiler unserer Beziehung einzureißen, du vernichtest auch gerade mal so unsere Lebensgrundlage! Und die von vielen unserer Freunde!“
 

Die geliebten Augen hafteten immer noch am Boden. Als besäße dieser eine Lösung. Dirk alleine wusste, dass Jan nach Worten rang. Er wusste nicht, ob er sie hören wollte. Er wusste nicht, ob er sie nicht hören wollte. Am liebsten hätte er geschrien.
 

„Ich... also... du weißt, dass wir auch gut ohne... also die Tantiemen würden problemlos reichen... und... und... also, was das andere angeht...“
 

Eine Kralle um sein Herz. Noch hatte sie nicht zugeschnappt. Trotzdem war der Schmerz schon da. Wie ein Phantom. Vielleicht würde es ja auch als solches wieder verschwinden. Allein, die Hoffnung blieb zuletzt.
 

„Ich... Dirk... ich weiß nicht wie... also... ich...“
 

Jan sollte es nicht sagen. Nicht jetzt. Nicht nachher. Nicht morgen. Nie. Er sollte mit diesem Gestammel aufhören, das überhaupt nicht zu ihm passte. Er sollte die Tränen wegwischen, die ihm nicht standen.

Er sollte ihn in den Arm nehmen und versprechen, dass alles wieder gut werden würde.
 

„Dirk... es... wir...“
 

„Hör auf.“
 

Der Sturm brach los. Die Gefühle tobten in Dirk wie riesige Wellen. Tsunamigleich. Er schwankte leicht. Innerlich. Äußerlich war er eingefroren. Eine Statue kurz vor dem Zerbrechen.
 

„Dirk.“
 

„Hör auf.“
 

Einzig seine Lippen bewegten sich. Die Augen waren blind ins Leere gerichtet. Er wusste nun, was kommen würde. Was kommen musste. Wie hatte er je denken können, dass es ein anderes Ende nähme? Dass es wirklich besser, ECHTER war als andere zuvor.
 

„Dirk.“
 

„HÖR AUF!“
 

Er hörte sich selbst nicht schreien.
 

„Dir- “
 

„HÖR AU- “
 

„Es ist vorbei, Dirk.“
 

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Rod ist verschwunden. Die Schlacht ist verloren. Der Jüngere weiß noch nicht, dass es sich mit dem Krieg genauso handhabt. Welch schnödes Schicksal.

Bela ist wieder allein. Mit sich. Mit der Bravo. Ein zweites Mal geht er in die Knie.
 

Seine Finger blättern sinnlos durch die Zeitung, finden von selbst etwas, von dem er nicht wusste, dass er es suchte. Der Artikel ist eine Farce. Vier, wenn es hochkommt sechs Sätze. Sofort springen ihm zwei Rechtschreibfehler und die Wörter „die Ärzte“ entgegen.
 

Die Informationen sind so spärlich wie das Niveau. Er nennt sich nicht mehr Farin, sondern Jan. Gut, das wusste er schon. Ein neues Album steht an. Genauso wie die zweite Tour. Auch nichts Neues. Alles in allem also ein Reinfall.
 

Nur das Bild.
 

Das hat was.
 

Lässt ihn nicht los.
 

Vorsichtig gleitet er mit den Fingerspitzen über das stumpfe Papier. Die Haare hat er etwas länger. Wilder. Bela gefällt es. Die Klamotten scheinen auch ganz nett. Wobei; hier ist von Jan die Rede. Das Grinsen allein ist dasselbe geblieben. Bela haut es immer noch um.
 

Seufzend streift er noch mal darüber. Er merkt nicht, dass er zittert. Mit einem plötzlichen Ruck entreißt er dem Heft die Seite, versteckt es gut gefaltet in seiner Jeanstasche.
 

Es ist keine Sehnsucht. Nur Erinnerung.
 

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Info:
 

al meu conte= soll angeblich „mein Graf“ heißen, wobei ich mir da nicht so sicher bin... mein Rumänisch ist doch schon arg eingerostet ;)

Delirium

Rodrigo hasst es. Es ist nicht einfach nur Abneigung oder ein wenig Ekel. Es ist richtiger Hass. Und noch mehr hasst Rodrigo es, dass er dem absolut hilflos gegenüber steht.
 

Sie sind mit die Letzten auf der Party. Wie so oft seit einiger Zeit. Der Barkeeper muss sie im wahrsten Sinne des Wortes herausfegen. Eigentlich weiß Rodrigo schon zu diesem Zeitpunkt, worauf es wieder hinausläuft. Allein, er will es nicht sehen. Stellt sich blind.
 

Im Dunkeln braucht man keine Angst vor den Monstern zu haben. Schließlich sieht man sie nicht.
 

Bela schlägt vor, dass sie sich eine neue Örtlichkeit suchen. Die Nacht sei noch jung und überhaupt, es wäre doch viel zu schade, jetzt schon nach Hause zu gehen. Er schwankt dabei bedrohlich. Rodrigo nickt nur. Hinter den Häuserreihen lugen die ersten Sonnenstrahlen hervor. Irgendwo zwitschern ein paar Vögel.
 

Der Drummer weiß noch nicht, dass er verloren ist. Rodrigo wird es ihm nicht sagen.
 

Zwischen abrissreifen Altbauten und einem Schrottplatz entdecken sie etwas, das einem Club ähnlich ist und auch noch offen hat. Ein Loch, in dem die Ratten zur Ruhe kommen. Egal wie.
 

Die Klientel gleicht sich auf eine erschreckend groteske Weise. Allesamt arme Kreaturen, vielleicht gebeutelt vom Leben, doch auf alle Fälle schon davon gezeichnet. Rodrigo zieht Bela weg von der Bar in eine dunkle Nische.

Auch eine Art der Schadensbegrenzung.
 

Glück fließt in goldenen Strömen. Jack, Johnny… die Namen sind einerlei. Rodrigo hält sich an Wasser. Die Ahnung schwebt über ihn wie das Schwert von Damokles. Als Bela sich aufs Klo verabschiedet, saust es auf ihn herunter. Direkt durch ihn hindurch. Manches Blut ist unsichtbar.
 

Der Drummer lässt sich Zeit. Zu viel Zeit. Rodrigos Füße folgen wie von selbst der unsichtbaren Spur des Älteren. Als er die versiffte Tür zur Toilette öffnet, hält der Ekel ihn für einen kurzen Moment in seinem lähmenden Griff. Nicht an alles kann man sich gewöhnen.
 

Rodrigo kennt solche Orte. Auch schon vor Bela. Obwohl sie ihm durch den Drummer wesentlich vertrauter geworden sind. Mit angehaltenem Atem sucht er eine Kabine nach der anderen ab. Ignoriert den Gedanken an die millionen Bakterien und Krankheitserreger, die allein in der Luft schweben müssen. In dem vorletzten Verschlag wird er endlich fündig.
 

Bela liegt mehr auf der Toilette, als dass er sitzt. Die Augen halb geschlossen, das Lächeln verklärt. Rodrigos eigene Miene ist starr.
 

Im Prinzip stört es ihn eigentlich nicht. Immerhin ist es Belas Leben, er ist alt genug und schließlich ist Rodrigo nicht seine Mutter. Wenn er sich nach einer durchzechten Nacht auch noch unbedingt zudröhnen muss, wird Rodrigo ihm bestimmt keine Moralpredigt halten. Dazu ist er auch gar nicht berechtigt.
 

Das, was Rodrigo wirklich ärgert, ist Belas Art, wenn er denn etwas genommen hat. Während Rodrigo nämlich selbst bei Einnahme diverser Stoffe stets noch ruhiger als ohnehin wird und fröhlich phantasierend vor sich hin starrt, wird Bela… komplett anders.
 

Und das auf eine Art und Weise, die nur Rodrigo schmerzt.
 

„Roddi, Roddi… du bist das, nicht wahr, Roddi? Und ich dachte… ich dachte, mein Versteck ist gut. Aber du verrätst mich nicht, oder, Roddi? Schließlich sind wir… sind wir Freunde. Das sind wir doch oder, Roddi? Du wirst ihm doch nicht verraten, wo ich bin, oder Roddi?! Das Suchen ist doch der halbe Spaß!“
 

Wie ein Zuschauer, unbeteiligt und emotionslos, steht Rodrigo neben seinem Bandkollegen, wird Zeuge eines Absturzes, der nicht auf dieser Toilette angefangen hat und auch sicherlich nicht am nächsten Morgen enden wird. Doch dieses Wissen behält er für sich allein.
 

Genau wie seine Kenntnis um „ihn“. Jene Person, die Bela im nüchternen Zustand nicht eines Wortes, vielleicht sogar Gedankens würdigt. Deren Existent er beinah leugnet. Zumindest in seinem Leben.
 

Jedoch Kinder und Betrunkene sagen stets die Wahrheit. In diesem Fall wäre Rodrigo eine Lüge lieber.
 

„Roddi, komm… komm her. Wenn wir uns beide verstecken… dann… dann… muss er länger suchen. Und wenn er uns dann findet… dann erschrecken wir ihn einfach. Ja wir erschrecken ihn. Das wird lustig.“
 

Das Kichern des Drummers ist so unschuldig jungenhaft, dass es fast schon ans Lächerliche grenzt. Rodrigo bleibt stumm. Sagt nichts zu Belas Eskapade, denkt nichts zu dem Stich in seinem eigenen Herzen. Es ist noch nie Rodrigo gewesen, von dem Bela gefunden werden wollte.
 

Eifersucht kann glühend und zerstörerisch sein, ganze Welten ins Chaos stürzen. Manchmal ist sie aber auch nur kalt. Und dann wird Bewegung unmöglich.
 

Aus diesem Grund reagiert Rodrigo auch nicht auf die Hand, die ihm einladend entgegengestreckt wird, das immer wiederkehrende „Komm“, das über Belas Lippen wie Regentropfen perlt. Rodrigo reagiert nicht. Ein Fehler. Doch das bemerkt er erst, als es zu spät ist.
 

„Spielverderber.“ Ersticktes Flüstern. Mehr nicht. Es reicht, um Rodrigos Magen in einem einzigen Krampf zusammenzuziehen, seinen Hals bis zur Atemlosigkeit zu verschnüren. Belas Blick wendet sich nach unten, zum schmutzigen Fußboden, die aufgerollte Klopapierrolle dort breit angrinsend.
 

Rodrigo hat verloren. Die wenige Aufmerksamkeit, die Bela ihm geschenkt hat, verspielt. Ihm bleiben nur zwei Möglichkeiten. Entweder überlässt er den Älteren seinem Schicksal, hoffend, in der nächsten Tageszeitung nicht irgendetwas über eine berühmte Drogenleiche lesen zu müssen. Oder er schleift Bela hier heraus zu seiner Wohnung, einen hysterischen Anfall und eine Menge blaue Flecke riskierend, aber in der Gewissheit, dass wenigstens jemand da ist. So im Notfall.
 

Die Entscheidung ist eigentlich schon gefällt, bevor Rodrigo wirklich darüber nachdenkt.
 

Sich über die trockenen Lippen leckend, sucht er lediglich nach einer Antwort auf die Frage, WIE er das beinah Unmögliche bewerkstelligt. Wird Bela doch nie mit einem 'Spielverderber' mitgehen, sein Versteck verlassen, bevor er standesgemäß enttarnt und gefunden wurde. Natürlich nicht von Rodrigo, sondern von…
 

Während die Gedanken in seinem Kopf rasen, sich beinah überschlagen, hält Rodrigo seinen Blick starr auf dem Älteren. Befindet sich dieser doch in einem Zustand, in dem man wohl keinen Menschen alleine lassen dürfte. Oder unbeobachtet. Manisch- depressive, gefühlskranke Drummer am allerwenigsten.
 

Von weiter weg erklingen die typischen Bar- Geräusche. Irgendetwas klirrt. Vielleicht ein Glas. Vielleicht eine weitere zerbrochene Existenz. Rodrigos Blick wird blind. Er hat Bela in seinem Fokus, und auch wieder nicht. Will einfach nur weg, aus dieser Situation, aus dieser Woche, aus dem Jahr. Berlin. Depp Jones. Und gleichzeitig nirgendwo anders sein.
 

Nur langsam, fast unbemerkt, schleicht sich eine Melodie an Rodrigos Ohren. Leise. Und sanft. So sanft, dass es in Rodrigos Geist schneidet, tiefe Wunden hinterlässt, ihn ausblutet. Es ist Bela, der singt. Und auch wieder nicht. Denn Bela würde NIE ein Lied von IHM singen. Schon gar nicht eins, in dem das Wort ’Liebe’ essenziell zu sein scheint.
 

Dann wieder ein Kichern. Pures Salz in offenen Wunden.
 

„Er hat sich nie getraut, Liebeslieder zu schreiben. Keine Richtigen. Doch seine Texte… so schöne Texte. Er hatte ein ganzes Buch damit voll. Wir haben von keinem daraus ein Lied gemacht… aber wenn… wenn er mich findet… Dann schlage ich es ihm vor… dann darf er so viele Lieder schreiben, wie er will. Alle Lieder. Wenn er mich findet… wenn er…“
 

Rodrigo würde Bela am liebsten den Mund zu halten. Wahlweise anschreien. Dass es niemanden gibt, der ihn finden wird. Dass niemand ihn sucht. Es egal wäre, ob er hier, auf dem Klo irgendeiner dreckigen kleinen Bar, verreckt oder nicht.
 

Er tut es nicht. Natürlich nicht. Stattdessen folgt Rodrigo einem Impuls. Einer Idee, geboren aus der Not, von der sich nicht sicher ist, ob sie alles schlimmer statt besser machen wird. Allein, es ist alles, was Rodrigo bleibt. Ist er doch selbst dem Abgrund nah. Und das ganz ohne ’Stimmungsmacher’. Bela B. sei Dank.
 

„Ich… wir… wir können uns bei mir verstecken… und wenn er uns dort findet… dann… ich habe doch meine Gitarre dort. Dann können wir… ihr… gleich ein paar Lieder schreiben.“
 

Ein strahlendes Lächeln. Es blendet Rodrigo.
 

*
 

Rodrigo steht an der Spüle in seiner Küche. Von draußen scheint die Sonne herein, malt orange Streifen auf weißen Fliesen.
 

Er hat es geschafft, Bela aus der Bar in seine Wohnung zu bekommen. Irgendwie. Wie er den Weg mit dem fast schon halb ohnmächtigen Drummer in seinem Arm gemeistert hat, die Treppen bist hoch ins dritte Stockwerk, das weiß Rodrigo nämlich nicht.
 

Er hat auch keine Kraft mehr, darüber nachzudenken. Denn hatte Rodrigo geglaubt, das Schlimmste überstanden zu haben, so belehrt in die Realität eines Besseren. So wie immer.
 

„Jan?“
 

Es ist nicht der erste Ruf. Für Rodrigo sind es Sehnsuchtsschreie nach einem Monster. Und trotzdem. Was bleibt ihm anderes, als ins Wohnzimmer zu gehen, für Bela dazu sein? Als Einziger von angeblich so vielen. Ihn auf ein ’Irgendwann’ zu vertrösten, das es nie geben wird.
 

„Jan?“
 

Bela erkennt Rodrigo nicht. Selbst als er nur noch einen Meter vor ihm steht. Sieht nur, was er sehen will. Fast ist Rodrigo selbst für den Schmerz zu müde. Für die Wut. Fast.
 

„Jan?“
 

Rodrigo weiß nicht, wann er begonnen hat, den Namen zu verabscheuen. Er bemerkt nicht einmal mehr, wie sich in ihm alles zusammenzieht. Nicht wirklich.
 

Was bleibt, ist der Impuls, dem Druck nachzugeben, dafür zu sorgen, dass der Name nicht noch einmal genannt wird. Egal, mit welchen Mitteln.
 

„Jan, komm mal her!“ Rodrigo schließt die Augen. Vielleicht tut es weniger weh, wenn es ganz schnell geht. Wie ein Pflaster.
 

„Jan!“
 

Rodrigo antwortet, bevor er weiter darüber nachdenken kann. „Ja?“ Er beißt sich auf die Unterlippe. Es tut weh. Jedoch weniger schleichend, beinahe ist es auszuhalten.
 

Wenn er nicht wüsste, was später auf ihn wartet, wenn alles vorbei ist.
 

Der glückliche Blick, der ihm geschenkt wird, ist heilender Balsam. Balsam und pures Salz in offenen Wunden zugleich.



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Kommentare zu dieser Fanfic (7)

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Von:  Science
2010-06-02T15:58:34+00:00 02.06.2010 17:58
Es ist so bitter, und es ist so schön. Und ich würde mich so über mehr davon freuen.
*Schwenkt den Zaunpfahl unkontrolliert herum*
Nein, herrlich. Es sind Sätze wie... aber es sind so viele Sätze, die mich begeistern. Du kennst sie wahrscheinlich schon alle. Sätze, die einen im Kontext schaudern lassen und die herausgerissen nicht halb so viel sagen. Deshalb hier immer mehrere aufeinanderfolgende Sätze, nur Beispiele:

> Als er die versiffte Tür zur Toilette öffnet, hält der Ekel ihn für einen kurzen Moment in seinem lähmenden Griff. Nicht an alles kann man sich gewöhnen.
> Rodrigo kennt solche Orte. Auch schon vor Bela.

> Wie ein Zuschauer, unbeteiligt und emotionslos, steht Rodrigo neben seinem Bandkollegen, wird Zeuge eines Absturzes, der nicht auf dieser Toilette angefangen hat und auch sicherlich nicht am nächsten Morgen enden wird. Doch dieses Wissen behält er für sich allein.

> Rodrigo bleibt stumm. Sagt nichts zu Belas Eskapade, denkt nichts zu dem Stich in seinem eigenen Herzen. Es ist noch nie Rodrigo gewesen, von dem Bela gefunden werden wollte.

> Eifersucht kann glühend und zerstörerisch sein, ganze Welten ins Chaos stürzen. Manchmal ist sie aber auch nur kalt. Und dann wird Bewegung unmöglich.

> Von weiter weg erklingen die typischen Bar- Geräusche. Irgendetwas klirrt. Vielleicht ein Glas. Vielleicht eine weitere zerbrochene Existenz. Rodrigos Blick wird blind. Er hat Bela in seinem Fokus, und auch wieder nicht. Will einfach nur weg, aus dieser Situation, aus dieser Woche, aus dem Jahr. Berlin. Depp Jones. Und gleichzeitig nirgendwo anders sein.

> „Jan?“
> Es ist nicht der erste Ruf. Für Rodrigo sind es Sehnsuchtsschreie nach einem Monster. Und trotzdem. Was bleibt ihm anderes, als ins Wohnzimmer zu gehen, für Bela da zu sein? Als Einziger von angeblich so vielen.

> Fast ist Rodrigo selbst für den Schmerz zu müde. Für die Wut. Fast.

Wie gesagt, die ganze Geschichte könnte hier stehen. Diese Formulierungen, so ungewöhnlich sie sind, treffen das Gefühl ganz genau. Ich liebe Deinen Schreibstil. Schonmal gesagt? Es ist nie genug: Ich liebe Deinen Schreibstil. Und ich will immer noch mehr davon.
Liebe nach Opferhausen, dieses Loch von einer Stadt, und zwar so viel davon, bis es ganz gefüllt ist.
Von:  Toozmar
2009-08-03T20:15:18+00:00 03.08.2009 22:15
hattest du mir die mal geschickt? die kam mir beim lesen so bekannt vor...
also auf jeden Fall toll und ich muss sharingan-moerder recht geben, Bela ist einfach der passende Typ für solche Sachen.
Aber Rods Rolle gefällt mir auch richtig. Ein "Böser" Rod irgendwie...

Von:  YouKnowNothing
2009-07-31T15:14:35+00:00 31.07.2009 17:14
*seufz*
Bela ist der perfekte Typ für dramatisch-romantisch schrecklich-schöne Geschichten, das ist wohl war...
Und du setzt das natürlich alles noch schön perfekt um.
Mensch... da leidet mein armes Herzchen noch mal schön mit... Wobei ich noch nicht genau weiß, ob ich mit Bela auch mitleide XD
vielleicht ein bisschen...

großartig mal wieder!!

LG S-M
Von:  YouKnowNothing
2009-07-31T15:05:36+00:00 31.07.2009 17:05
ich wollte sie nicht lesen...
ich wusste, dass sie mich traurig macht - wie so oft bei dir.

Ich hab sie trotzdem gelesen.
Und ich war gefesselt, begeistert, ehrfürchtig, verwirrt, verliebt, habe mitgefühlt, mitgelächelt, mitgeweint.
alles, wie immer.
mensch, ich bin beeindruckt (ich sollte dringend ein synonym dafür suchen XD)

LG S-M
Von: abgemeldet
2009-04-17T10:25:20+00:00 17.04.2009 12:25
Danke für diese, mal wieder großartige, FanFic... Ich habe dich ja schon mal mit Komplimenten bezogen auf deinen Schreibstil überschüttet.. =P

Liebe Grüße,
Die Gräfin...
Von:  Science
2009-02-05T20:51:41+00:00 05.02.2009 21:51
Deine Geschichte ist wirklich fesselnd.
Auch wenn es nicht so ist, wie man sich Bela vorstellt, es ist wahnsinnig gut geschrieben. Man kann richtig fühlen, wie es in ihm aussieht, wie Vanitas schon geschrieben hat.
Einige Deiner Formulierungen sind so schön, dass ich sie mir am liebsten übers Bett hängen würde - zum Beispiel: "Wie Auftauchen aus Eiswasser und Luftschnappen. Nur andersrum."
Eigentlich kann man sich die ganze Geschichte übers Bett hängen; dieser Schreibstil mit den kurzen Sätzen, die Atmosphäre, die Eindrücke - einfach wundervoll.
Du hast leider teilweise "das und dass"-Fehler drin und die Fälle falsch eingesetzt, das stört den Lesefluss etwas.
Ich würde mich über eine Fortsetzung freuen!
Gruß,
Science
Von: abgemeldet
2009-02-04T17:18:25+00:00 04.02.2009 18:18
Das ist schön^^
Cih mag es wie du flashbacks einbaust..ich kann richtig nachvollziehen, wie es in Bela aussieht, bzw kann ich es sogar FÜHLEN!!
Das ist richtig gut geworden und zum Weinen *schnief*
Und Belas Seelenleben wirkt echt authentisch und so^^
Richti gut!!!!
Lg


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