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Der Reisende

Wöchentliche Schreibaufgabe
von

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Der Reisende
 

von chryssantes
 


 

Die harmonischen Töne flossen durch die Gassen der alten Stadt und trafen auf hungrige Ohren. Sie verführten einen einsamen Wanderer dazu einzukehren.
 

Der alte Mann betrat vorsichtig im Halbdunkel die zur Villa hinauf führenden Treppenstufen, welche von grünen Moosflechten überwuchert und bei der jetzigen feuchten Witterung besonders glitschig waren. Fröstelnd zog Ben Goodfield die Schultern hoch. Er war mit seiner kurzen Hose und dem hellem Sommerhemd unpassend für das hier vorherrschende feuchtkalte Wetter gekleidet. Wenn er auf freundlich gesinnte Bewohner in diesem Landstrich treffen würde und falls er lange genug ohne unliebsame Zwischenfälle hier bleiben könnte, dann wäre neue, etwas wärmere Kleidung - nach einer guten Mahlzeit - an der Reihe.

Leider hatte er die letzten Male nicht so viel Glück mit der Gastfreundschaft der Ansässigen gehabt. Schaudernd erinnerte sich der alte Ben an den für ihn glücklicherweise fehlgeschlagenen Versuch als Hauptgericht für einen Menschenfresserstamm zu enden. Das Kreuz wie ein gläubiger Katholik schlagend, gelangte er über die restlichen Stufen bis zur Vorhalle des völlig mit Flechten und Ranken überwachsenen Gebäudes.

Als er von der anderen Welt hier ankam, hatten ihn aus einer dem Urwald überlassenen Stadt liebliche Musik und Gesang begrüßt. Ben hoffte, dass er hier Menschen finden würde, die einem Fremden nicht gleich die Tür vor der Nase zuschlagen oder noch Schlimmeres mit ihm vorhatten.
 

Die Quelle der schönen Töne war ein junges Mädchen, welches an einem harfeähnlichem Instrument saß und versonnen deren Seiten berührte. Leuchtende Steine tauchten den Raum in ein angenehmes Licht. Zwischen ihnen saßen auf mit bunten Decken bedeckten Liegen mehrere Jugendliche. Sie lauschten gebannt der Musikerin und hatten Ben noch nicht bemerkt.

Dem alten Mann fiel auf, dass diese Menschen eher ungewöhnlich aussahen. Ungewöhnlich für seine Begriffe. Ihre Haare waren eher kraus aber von heller Farbe. Die Gesichter der jungen Leute wirkten wie eine Mischung aus afrikanischen und asiatische Herkunft. Dagegen waren ihre Augenfarbe eher europäischer Natur, was Goodfield als faszinierend empfand.
 

Die plötzliche Stille holte den Reisenden aus seinen müßigen Überlegungen zurück in die Wirklichkeit. Nun waren alle Augenpaare in dem Raum auf ihn gerichtet. Keiner sagte etwas. Seine Anwesenheit schien der Gruppe die Sprache verschlagen zu haben.

Ben fühlte sich unwohl so angestarrt zu werden. Würden sie ihn bei sich als Gast aufnehmen oder abweisen?

Das Mädchen mit der Harfe legte ihr Musikinstrument behutsam beiseite und ging auf den älteren Mann zu. Beide Hände vor der Brust gefaltet begrüßte sie ihn mit einer leichten Verbeugung.

„Sei willkommen, ehrenwerter Gast. Nimm Platz und lausche den Klängen des Herzens“, lud ihre angenehme Stimme ihn in ihre Runde ein. Ben wurde von ihr zu einer der Liegen geführt und nahm dankbar die ihm angebotenen Früchte und Wasser aus einer Karaffe an. Eine Decke wurde ihm noch über die Schultern gelegt und die jungen Leute lauschten gebannt, als sich die Harfenspielerin mit dem Gast zu unterhalten begann.

„Ich habe noch nie jemanden wie dich gesehen“, sie berührte ohne jede Scheu seinen nackten Unterarm und fuhr mit den Fingerspitzen über sein blasses, faltiges Gesicht. „Deine Haut ist hell und deine Kleidung ist so ganz anders als unsere“, ihre Blicke fuhren neugierig über seine Bermudas zu den mit Strümpfen bedeckten Beinen.

Ben Goodfield lächelte etwas verlegen. „Das ist bei mir zu Hause auf den Bermudas die normale Tageskleidung, Miss...?“, fragend sah er seine Gastgeberin an.

„Miss? Was ist Miss? Ah, ich verstehe! Meine Name ist Flora und wie nennt man dich in deiner Heimat?“ Floras dunkelblaue Augen lächelten ihn an.

Ben konnte sich nicht dem Charme der jungen Dame entziehen und lächelte sie ebenfalls an. „Ben, Ben Goodfield!“

Der blondhaarige Junge neben Flora hob sein Glas und prostete dem alten Mann zu. „Sei willkommen in unserer Runde, lieber Ben, Ben Goodfield!“

Seine Gefährten taten es ihm nach und prosteten Ben mit erhobenen Gläsern zu. Danach stimmte der Blonde so etwas wie ein Trinklied an. Das Eis schien gebrochen. Der Reisende entspannte sich und begann sich mit Flora über seine Erlebnisse zu plaudern.

„Wenn du noch nie hier gewesen bist und auch nicht von dieser Welt stammst, wie kommt es, dass du uns verstehst? Müsste es nicht eine Sprachbarriere geben?“

Der alte Mann zog nach einigem Zögern eine kristalline Kette unter seinem Hemd hervor und zeigte dem Mädchen den totenkopfähnlichen Anhänger. Die Reaktionen seiner Gastgeber auf den schimmernden Gegenstand fiel recht unterschiedlich aus. Flora wich ein wenig von Ben zurück, den Blick voller Unbehagen. Ihr Begleiter, der Blonde, beugte sich wissbegierig und fasziniert nach vorn um die Kette besser zu sehen. Der Reisende erinnerte sich an die fast gleichen Reaktionen von seinem Bruder und dessen Frau. Der kristalline Totenschädel schien die Meinung der Menschen zu spalten.

„Vor dem Beginn meiner langen Reise, tauchte ich mit meinem Bruder John vor der Küste Floridas und bei den Key West nach Schätzen. Wir hörten immer wieder von Unterwasserpyramiden, die besonders bei starker Ebbe und nach den letzten Unterwassererdbeben besonders gut zu sichten waren. Mit sehr viel Glück fand ich diese Kette bei einen unseren gemeinsamen Tauchgängen in einer offenen Nische von einer der Unterwasserpyramiden. Die Kette blieb bei mir und sie ist auch der Grund warum ich euch verstehen kann “, traurig betrachtete Ben den Anhänger. „Erst war es aufregend, ein Abenteuer. Ich war begeistert von dieser unglaublichen Möglichkeit fremde Welten zu besuchen. Doch jetzt möchte ich nichts anderes als zurück zu meinem Haus, zu meinem Bruder und mein altes Leben wieder leben.“

Schaudernd erinnerte er sich an vergangene Versuche sich der unheilvollen Kette zu entledigen. Sein Bruder John war von einem elektrischen Schlag getroffen worden, als er mit Gewalt das unheilvolle Geschenk über Bens Kopf entfernen wollte. Den Reisenden selbst hatte bei seinen eigenen Befreiungsversuchen gegen Erstickungsanfälle und Herzkreislaufversagen zu kämpfen. Danach stellte er für immer solche Versuche ein und ergab sich seinem Schicksal. Er hatte keinen Ahnung wie lange die Totenkopfkette ihn an sich gefesselt halten würde und was ihr eigentlicher Sinn und Zweck war.
 

Floras Hand berührte zögernd den Anhänger von Bens Kette und zuckte wie vom Schlag getroffen zurück. „Das ist keine gute Aura, Ben“, sagte sie überrascht und blickte mit leichtem Schaudern zu dem grinsendem Schädel.

Der Gast nickte und stopfte die Kette wieder unter sein Hemd zurück. Das Brennen des kristallinen Totenkopfes auf seiner Haut verstärkte sich. Dies war für Ben Goodfield das seit Jahren vertraute Zeichen des Aufbruchs. Das unheimliche Geschenk der Unterwasserpyramide zeigte ihm damit an, dass seine Zeit in dieser Welt und mit diesen jungen Leuten dem Ende entgegen ging.

„Ich muss los. Danke für deine wundervolle Musik, Flora. Sie tat meinem Herzen gut.“ An die anderen Leute in der Halle der Villa gewandt, verbeugte sich Ben mit gefalteten Händen zum Abschied. Flora und ihre Freunde geleiteten den fremden Gast bis zu den bemoosten Stufen der Eingangstreppe und sahen zu wie Ben Goodfield sich unter dem schwachen Licht der zwei Monde vor ihren Augen in Luft auflöste.

Flora betrachtete nachdenklich ihre Hand, die das kristalline Amulett des Fremden berührt hatte und schüttelte bedauernd den Kopf. Das war definitiv keine gute Aura gewesen. Sie wünschte dem Reisenden, dass er eines Tages die Kraft finden möge sich von der Kette mit dem Anhänger zu trennen und seinen Frieden zu finden.
 

ENDE



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