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Der erste Tag [EVA]

Ritsuko Akagi x Maya Ibuki
von

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Nach dem Second Impact gab es hier keine Jahreszeiten mehr.

Der Winter ging an den Menschen vorüber, ohne sie wirklich zu beachten. Kein einziges Mal fiel der weiße Schnee zur Erde, er legte sich nicht auf den Schmutz zwischen den verlassenen Häusern oder auf die ausgefahrenen Straßen. Fast konnte man glauben, der Schnee hätte es aufgegeben, all den Schmerz mit seiner Kälte zu bedecken.

Vielleicht hielt er es nicht mehr für nötig, weil der Winter längst in den Herzen der Menschen wohnte.
 

"Die Neuralverbindungen der Piloten sind aktiv, Synchronwert stabil." Konzentriert richtete Maya die Augen auf den Bildschirm, während ihre Finger über die Tastatur flogen.

"Bevor wir zur nächsten Phase übergehen", erklang hinter ihr eine warme Frauenstimme, "sollen sie sich erst einmal an den Zustand gewöhnen." Ritsuko beugte sich vor, um die Anzeigen auf dem Monitor zu mustern. Dabei nahm Maya ihr schweres Parfüm wahr, das so gut zu der femininen Ausstrahlung ihrer Vorgesetzten passte. Ein leicht roter Schimmer machte sich auf Mayas Wangen bemerkbar, doch sie ignorierte es. Stattdessen tippte sie rasch ein paar Befehle ein und meinte:

"Shinjis Wert ist erneut um acht Punkte gestiegen, Sempai."

"Du bist tatsächlich flink geworden." Irritiert schaute Maya bei dieser Aussage auf und begegnete den schwarzen Augen der Älteren. Ritsuko fuhr lächelnd fort:

"Der letzte Kampf gegen die Engel hätte schlecht für Shinji ausgehen können, hättest du seine Vitalfunktionen nicht sofort reguliert."

"Das habe ich alles nur Ihnen zu verdanken", wehrte Maya verlegen ab, "und so schnell wie Sie bin ich noch lange nicht."

Seufzend richtete sich Ritsuko wieder auf.

"Du solltest dich nicht unter deinem Wert verkaufen. In dir steckt viel mehr, als du denkst."

"Sehen Sie das wirklich so?", fragte Maya. Ihre Stimme war dabei jedoch so leise, dass sie niemand hören konnte.
 

Schweigend stand Ritsuko in dem kreisrunden Raum und starrte auf den Körper des jungen Mädchens, das in der trüben Flüssigkeit hinter dem Glas schwamm wie im Fruchtwasser eines weiblichen Leibes. LCL nannten die Mitglieder von NERV dieses Wasser des Lebens. Ein eiskalter Schauer lief Ritsuko den Rücken hinunter beim Anblick des nackten und leblosen Körpers.

"Was schuf Gott am ersten Tag?"

"Wie bitte?" Ritsuko richtete irritiert den Blick auf Kommandeur Ikari, der hinter ihr aufgetaucht war. Sie konnte nur erahnen, was er gesagt hatte. Etwas deutlicher sprach er nun weiter:

"Sind die Engel ein Beweis, dass Gott existiert?"

"Wer weiß", entgegnete Ritsuko, obwohl sie sich nicht sicher war, ob ihr Vorgesetzter überhaupt eine Antwort von ihr hören wollte, "ich glaube eher, dass der Mensch nicht erschaffen wurde, sondern dass er selbst Gott erschaffen hat. Genauso wie wir es mit den Evangelion getan haben." Oder mit Rei Ayanami, dachte Ritsuko bei sich, diesem toten Geschöpf vor meinen Augen. "Ansonsten sind wir womöglich nur willenlose Puppen, an unsichtbaren Fäden."

Ikari hatte ihr nicht zugehört und antwortete gedankenversunken auf seine eigene Frage:

"Am ersten Tag schuf Gott sich selbst."
 

"Nicht unter meinem Wert verkaufen", murmelte Maya, während sie eine Münze in den Automaten warf, "in mir steckt viel mehr." Vorsichtig entnahm sie dem Schacht eine Dose mit heißem Tee und setzte sich auf eines der grünen Sofas im Raum. Nichts war zu hören, nur das leise Surren der Neonröhren. Doch dann durchdrang das Geräusch von Schuhen mit hohen Absätzen die Stille. Maya wandte sich um und begegnete Ritsukos Blick mit einem schüchternen Lächeln.

"Du bist noch hier?", fragte die Blonde verwundert, aber dennoch mit Erleichterung in der Stimme.

"Ja, Sempai. Ich habe noch einmal die ganzen Systeme überprüft. Sie sagen doch stets, Wartung sei das A und O."

Das Lächeln auf Ritsukos Lippen wurde eine Spur milder. Sie griff in ihre Tasche und holte eine Schachtel Zigaretten heraus.

"Stört dich das?"

"Keineswegs", meinte Maya schnell und schüttelte dabei den Kopf.

Ritsuko setzte sich neben sie und rauchte schweigend ihre Zigarette. Sie wirkte, als wäre sie in Gedanken an einem anderen Ort. Nach einiger Zeit traute sich Maya ihr eine Frage zu stellen:

"Waren Sie gerade bei Kommandeur Ikari?"

Die Blonde nickte, ohne ein Wort zu entgegnen.

"Es kommt mir so vor", wagte sich Maya weiter, "als wäre der Kommandeur in letzter Zeit irgendwie anders."

"Nun, er verliert sein Ziel eben nicht aus den Augen."

"Die Engel zu vernichten?"

"Nicht ganz", erwiderte Ritsuko und drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus. Maya betrachtete den roten Rand an dem Filter, der von Ritsukos Lippenstift herrührte. Für einen Moment fragte sie sich, wie lange sie noch gegen die Engel kämpfen mussten, bis sie endlich in Frieden leben konnten.

"Hast du dich nicht schon einmal gewundert", fuhr Ritsuko fort, "gegen wen wir da eigentlich kämpfen? Wir nennen sie Engel. Wer sind wir, wenn wir gegen Engel kämpfen?"

"Wir sind Menschen", antwortete Maya schlicht, "wir wollen einfach nur leben."

Zuerst zeichnete sich auf Ritsukos Gesicht Erstaunen ab, doch dann lächelte sie wieder und meinte:

"Du hast eine sehr gute Einstellung. Wusstest du, dass du damit den Leuten in deiner Umgebung Kraft und Sicherheit gibst?"

"Aber ich bin doch selbst immer unsicher", rief Maya überrascht. Ihr Atem stockte, als sie eine Sekunde später die Hand ihrer Vorgesetzten auf ihrem Kopf spürte. Ritsuko fuhr mit ihren Fingern durch das braune Haar der Jüngeren. Der Moment dauerte nicht lange an. Sogleich löste sich die Blonde wieder von Maya und stand auf.

"Ich werde mich jetzt auf den Heimweg machen. Meine Katzen brauchen auch ihre Streicheleinheiten."

Maya wurde rot und stand ruckartig auf, um sich zu verbeugen.

"Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, Sempai."
 

"Die Neuralverbindungen sind aktiv, Synchronwert stabil." Mit voller Konzentration überprüfte Maya alle Angaben auf dem Monitor, bevor sie ihrer Vorgesetzten bestätigend zunickte. "Alles bereit für den Test."

"Wir beginnen mit Asuka", meinte Ritsuko, während sie mit rasender Geschwindigkeit diverse Befehle in den Computer eingab.

"Mit Asuka?", fragte Maya verwundert. "Der Sychronwert von Shinji ist doch mittlerweile der beste."

"Das mag sein", antwortete Ritsuko, wobei sie ihr Arbeitstempo in keiner Weise verringerte, "aber erstens ist Einheit zwei als Serienmodell am besten entwickelt und zweitens... Asukas Selbstwertgefühl ist angeschlagen. Darauf baut jedoch ihr Synchronwert auf. Sie will sich nicht nutzlos vorkommen, deshalb bevorzuge ich sie, soweit ich kann." Da Asuka schon von ihrer Mutter nicht gebraucht wurde, will sie nun von der gesamten Menschheit gebraucht werden, kam Ritsuko der freudlose Gedanke. Der Wert eines Menschen wird aus der Summe seiner Taten errechnet. Ritsuko war sich darüber im Klaren, dass sie Asuka in dieser Hinsicht sehr ähnelte.
 

"Das Dummy Plug System fungiert in etwa wie ein Autopilot", erklärte Ritsuko, während sie mit Maya den Gang entlangging, "dabei ist es dennoch wichtig, die Informationen über den Piloten im Auge zu behalten."

"Aber wenn der EVA vom Zentraldogma gesteuert wird", fragte Maya verwirrt, "warum ist ein Pilot dann überhaupt noch notwendig?"

"Der Grund ist das AT-Feld. Nur ein Mensch kann für den EVA ein AT-Feld als Schutz aufbauen. Der Dummy Plug allein kann das nicht."

Maya überlegte einen Moment, bevor sie meinte:

"Es erscheint mir so widersinnig, dass ein Mensch ein solches Feld im Evangelion aufbauen kann. Der Dummy Plug besteht den Werten zufolge schließlich auch auf organischer Basis."

"Du denkst zu technisch." Ritsuko musste darüber schmunzeln, solche Worte gerade aus ihrem eigenen Mund zu hören, befand sie sich doch selbst größtenteils in ihrer technisierten Welt. "Nach meiner Theorie dürfte jeder Mensch unabhängig vom Evangelion und der Synchronrate ein AT-Feld besitzen. Jedes Lebewesen stellt ein Biotop dar, einen abgeschotteten Raum, den das AT-Feld wie ein Mantel umhüllt. Das ist der Grund, weshalb wir nicht zueinander finden und uns niemals vereinen können."

Maya blickte verwirrt zu Ritsuko auf, die ihr gewohntes Lächeln auf den Lippen trug. Doch dieses Lächeln wirkte in jenem Augenblick auf die Jüngere ungemein traurig. Nichtsdestotrotz schwirrten etliche Fragen in Mayas Kopf umher, die ihr in letzter Zeit immer häufiger gekommen waren und ihr den Halt unter den Füßen zu nehmen drohten. "Sempai... mir kommt es so vor, als würden hier einige Dinge totgeschwiegen werden. Die Sache mit dem Dummy Plug System, dem AT-Feld oder den Engeln. Woraus bestehen sie, wie funktioniert das Ganze? Geht es wirklich nur um die Vernichtung der Engel oder steht dahinter eine viel grö..."

Auf einmal wurde Maya von lauten Stimmen unterbrochen, die aus dem Raum drangen, den Ritsuko und sie angesteuert hatten.

"...hasse dich, Shinji!" Das kam eindeutig von Asuka. Der überraschte Schrei eines Jungen und ein hölzernes Poltern waren zu hören, als etwas umfiel. Die beiden Frauen blieben verdutzt vor dem Raum stehen. "Du willst immer nur Mitleid, aber andere Menschen sind dir scheißegal. Wir sind alle nur Nebenfiguren in deinem persönlichen Drama. Selbst diese Marionette Ayanami hättest du verrecken lassen, wenn die Moral deiner Welt nicht dagegen sprechen würde!"

"Du bist...!", setzte plötzlich die abwehrende Stimme Shinjis ein, doch brachte er seinen Satz nicht zuende.

"Was bin ich?", fragte Asuka aufgebracht, fast hysterisch. "Was!?"

Stille folgte auf diese Frage. Es dauerte lang, bis von dem Jungen eine Antwort kam.

"Du bist doch genauso."

Wider Erwarten folgte kein weiterer Ausbruch von Asukas Seite. Leise, zornig, aber mit so viel Verletzlichkeit in der Stimme antwortete sie bloß:

"Du bist ein Idiot. So wie du werde ich niemals sein. Merkst du es nicht? Sie benimmt sich doch gar nicht wie ein Mensch, eher wie eine Puppe, die nicht mal leben will. Da seid ihr euch sogar sehr ähnlich. Alles und jeder sind euch scheißegal."

"Das ist nicht wahr." In Shinjis Worten schwang kaum Überzeugungskraft mit. "Ich leide darunter, dass so viele Menschen ihr Leben lassen müssen. Die Evangelion zerstören doch am Ende mehr als die Engel."

"Bist du blöd, oder was!?" Asuka wurde wieder lauter. "Was denkst du, wie viel von der Erde noch übrig wäre, wenn wir nicht kämpfen würden? Wir sind hier, um die Menschen vor den Engeln zu retten."

"Jetzt fängst du auch noch an wie Misato", sagte Shinji bitter, "sie meinte auch, dass wir durch jeden einzelnen Tod das Leben mehr schätzen und beschützen sollten. Aber letztendlich ist es dir doch selbst egal. Du willst genauso Anerkennung, du willst auch nur eine Daseinsberechtigung."

"Ach, und was denkst du dir?" Ein falsches Lachen erklang aus Asukas Kehle. "Durch die ganzen Todesfälle, die sich seit den Angriffen häufen, denkst du doch bloß, wenn die das können, kannst du das auch."

Ritsuko griff unvermittelt nach Mayas Hand und wandte sich ab, um den Gang zurückzugehen.

"Wir sollten sie in Ruhe lassen", sagte sie leise, "wir haben schon mehr als genug gehört." Ihre schwarzen Augen waren starr nach vorn gerichtet. Maya brauchte einen Moment, um die Worte ihrer Vorgesetzten zu verstehen, verwirrt aufgrund der plötzlichen Berührung. Ritsuko entließ sie erst nach einigen Metern aus ihrem kühlen Griff.

"Das klang aber sehr ernst zwischen den beiden", meinte Maya schließlich, wobei sie noch immer ein kribbelndes Gefühl auf der Handfläche verspürte.

"Asuka und Shinji mögen einander mit Sicherheit", erwiderte die Blonde seufzend, "sonst würden sie sich nicht solche Dinge sagen."

"Wie meinen Sie das, Sempai?"

"Nun, niemand will allein sein, nicht wahr?" Ritsuko blieb stehen und schaute Maya direkt in die Augen. "Alleinsein wäre einfacher, aber für kaum jemanden tragbar. Um es mit anderen Worten zu sagen, du kannst nicht ohne andere Menschen leben, weil sich dein Sein durch die Existenz anderer definiert. Aber solange du da bist, wirst du anderen Menschen immer Schmerz bereiten. Deine Existenz gefährdet die Existenz anderer, genauso wie ihre deine gefährdet."

Einen langen Moment noch blickten die beiden Frauen einander in die Augen.
 

"Neuralverbindungen aktiv, Synchronwert stabil." Es kam Maya vor, als befände sie sich in einem Kreislauf, der sich unendlich wiederholte. Das Auftauchen der Engel hatte sich gehäuft. Während die Geofront permanent attackiert wurde, hatte Maya das Gefühl, ihre Kräfte würden sie bald verlassen. Asuka, die Pilotin des Evangelions Einheit 02, musste bereits trotz ihres starken Willens aufgeben. Ihre Stelle wurde unlängst ersetzt. War ein menschliches Leben so leicht austauschbar?

"Meine Güte", stieß Maya plötzlich aus, als sie die Daten auf dem Monitor überprüfte, "Kaworu Nagisa hat keinerlei Schwierigkeiten mit der Synchronisation, obwohl Einheit zwei nicht an ihn angepasst wurde. Er übertrifft selbst Rei und Shinji bei weitem."

"Was haben sie uns da nur geschickt?", fragte Ritsuko, die hinter Maya getreten war, mit gedämpfter Stimme. "Das ist sicher das Werk von SEELE." Maya blickte ernst zu ihr auf, sagte jedoch nichts.
 

Ritsuko stand eine lange Zeit in dem von Kacheln gesäumten Raum vor dem Waschbecken und betrachtete ihr Spiegelbild, bevor sie ihren Lippenstift aus der Tasche nahm, um die Linie nachzuziehen. Ihre Kleidung war kaum durcheinander geraten. Auch ihr Haar saß noch immer perfekt, nachdem sie das Büro ihres Vorgesetzten verlassen hatte.

"Waren Sie bei Kommandeur Ikari?"

Durch das Spiegelbild begegnete Ritsuko dem Blick von Maya, die soeben die Toilette betreten hatte. Eine Antwort gab die Blonde nicht. Beide wussten, dass das nicht nötig war.

"Wissen Sie", begann Maya vorsichtig, "ich glaube, diese Beziehung ist nicht gut für Sie. Der Kommandeur scheint eher nach..."

"Ich weiß", unterbrach Ritsuko sie. Auch wenn sie sich lieber länger belogen hätte, wusste sie längst, dass Ikari sie nur benutzte, genauso wie er ihre Mutter benutzt hatte. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Waschbecken, senkte den Blick zum Boden und schwieg einen langen Moment. Maya fingerte unsicher an ihrer Kleidung herum und wartete auf eine weitere Reaktion von Ritsuko. Plötzlich erschien ein Lächeln auf den Lippen der Blonden.

"Du machst dir Sorgen, nicht wahr? Warum bemühst du dich so um mich?"

"Ich..." Maya stockte und konnte aus Nervosität der Anderen nicht in die Augen schauen. Diese stieß sich vom Waschbecken ab und ging zu der Jüngeren hinüber, um ihr beruhigend durch das Haar zu streichen. Ritsuko war selbst über ihr Handeln erstaunt. Sie fühlte sich bei Maya wohl und wollte ihr jenes Gefühl zurückgeben. Vielleicht hatte es ihr einfach gefehlt, geliebt zu werden.

"Sempai", brachte Maya endlich mit ernsthafter Stimme hervor, "diese Sache erscheint mir immer suspekter. Worauf will NERV hinaus, was passiert hier überhaupt? Ich möchte... Antworten. Sagen Sie mir bitte, was hier vor sich geht."

Ritsukos Lächeln erstarb und sie seufzte.

"Nun gut, wie wäre es dann mit einem gemeinsamen Abendessen? Ich kann allerdings nicht besonders gut kochen. Wie sieht es bei dir aus?"
 

Nachdem sich Ritsuko auf der Couch niedergelassen hatte, sah sie sich in der ihr fremden Umgebung um. Das Wohnzimmer von Maya war unerwartet spartanisch eingerichtet, jedoch auch ein wenig unordentlich. Eine offene Küche war direkt integriert. In dieser machte sich Maya gerade an die Arbeit, um ein Abendessen vorzubereiten. Doch durch ihre fahrigen Bewegungen merkte man ihr deutlich die Nervosität an.

Ritsuko entschloss sich sofort zum Thema zu kommen.

"Niemand weiß, wer die Engel schickt." Maya warf einen unsicheren Blick über die Schulter und nickte dann, damit Ritsuko fortfuhr. "Doch am Ende sind wir selbst Schuld, dass sie uns angreifen. Kommandeur Ikari legt es darauf an, weil er längst seine eigenen Ziele verfolgt."

"Ich dachte, Sie wären mit dem Kommandeur..." Maya sprach den Satz nicht zu Ende. Sie konnte ihrer Vorgesetzten nicht einmal in die Augen sehen. Diese antwortete dennoch auf die unausgesprochene Frage.

"Gefühle sind nicht so leicht zu verstehen, dass man sich ihrer sicher sein kann. Kommandeur Ikari ist jetzt kein Thema mehr für mich. Erst recht nicht, wenn ich daran denke, dass er alles zur Verwirklichung eines Third Impact unternimmt."

"Wie?", rief Maya erschrocken und hielt in ihrem Tun inne. "Wieso sollte er das wollen? Dann ginge doch sozusagen die gesamte Menschheit unter."

"Es geht nicht um den Untergang, sondern um einen Neuanfang. Alles Leben beginnt an einem bestimmten Punkt. Dieser Beginn jedoch basiert auf dem Tod. Um etwas zu erschaffen, muss etwas anderes zerstört werden." Ritsuko war aufgestanden und zu der Jüngeren hinübergegangen. Sie nahm Mayas Hand in ihre eigene und strich sanft über deren leicht zitternde Finger. "Wenn ich dich lieben will, Maya, dann muss ich Ikari aufgeben."

Die Augen der Jüngeren weiteten sich, als sich Ritsuko zu ihr hinab beugte und sie küsste. Maya fühlte Ritsukos Fingerspitzen über ihren Handrücken und den Arm hinaufgleiten, während sich in ihrem Körper langsam eine angenehme Wärme ausbreitete. Die sorgenvollen Gedanken verblieben allerdings in ihrem Kopf. Und als sich die Lippen der beiden Frauen wieder voneinander lösten, hörte Maya den darauf folgenden Worten Ritsukos aufmerksam zu.

"Ikari handelt nicht im Alleingang. Die Organisation SEELE steht über NERV. Ich habe herausgefunden, dass das Komitee zur Vollendung der Menschheit ein zweites Eden erschaffen will. Dir ist klar, was das bedeutet, oder?"

Maya war völlig durcheinander und schüttelte nur leicht den Kopf.

"Eden ist ein sumerisches Wort und bedeutet Wüste", erklärte Ritsuko. "SEELE will alle Menschen vereinen und in dieses karge Land führen, denn ihre perfekte Welt ist ausgetrocknet, verlassen und leer. Dadurch kann zwar niemand verletzt werden, aber das ist nicht meine Vorstellung von Glück." Das vertraute Lächeln der Blonden holte Maya aus dem Chaos in ihrem Kopf zurück in die Realität. Es war ihr kaum möglich, alles zu verstehen, doch dieses Lächeln schenkte ihr neuen Halt unter den Füßen. Ritsuko sprach weiter:

"Mein Glück ist die Gegenwart derjenigen, die mich lieben. Es geht nicht darum, wie vieles zugrunde geht, wie vieles ein Ende nimmt. Was eigentlich zählt, ist die Möglichkeit, immer wieder etwas Neues zu beginnen."

Mit diesen Worten verschloss Ritsuko erneut Mayas Lippen mit ihren eigenen.
 

"Wir können die Angriffe nicht stoppen!"

Der Boden wurde durch eine weitere Explosion erschüttert.

"Das Hauptquartier hält dem nicht lange stand. NERV ist nur auf Kämpfe gegen die Engel spezialisiert."

Schreie drangen durch die Gänge, ständig unterbrochen von Gewehrschüssen.

"Niemand hier hätte damit gerechnet, dass wir irgendwann von Menschen attackiert werden würden."

Maya hatte sich mit ihrem Laptop unter das Kontrollboard zurückgezogen. Mit zitternden Händen hielt sie sich die Ohren zu und hoffte damit alles um sich herum ausschalten zu können. Doch das ständige Rufen, die schrillen Sirenen der Alarmanlage und die Schüsse vermochte sie nicht auszublenden.

Plötzlich wurde sie an der Schulter gefasst und herumgedreht. Jemand legte ihr eine Schusswaffe in die Hand.

"Hier, wenn es hart auf hart kommt, musst du dich selbst verteidigen. Nachdem wir den letzten Engel vernichtet haben, hat SEELE keine Verwendung mehr für uns. NERV wird komplett von SEELE ausgelöscht. Niemand wird zögern dich zu töten."
 

Ikari tastete den Körper des jungen Mädchens mit den Augen ab.

"Deine Haut ist so weiß, Rei", sagte er, ein ungewohntes Lächeln auf den Lippen tragend, "dein Haar, schneeweiß. Nur die Augen schimmern wie Blut. Das ist das Zeichen für deine Verletzlichkeit und Reinheit."

"Wieso bezeichnet man etwas als rein, das so leicht schmutzig werden kann?"

Verwirrt wandte sich Ikari um und erblickte Ritsuko, die Hände in den Taschen ihres weißen Kittels und ein gelassenes Lächeln auf den Lippen tragend, als hätte sie den Angriff auf das Hauptquartier überhaupt nicht bemerkt.

Im nächsten Moment hallte eine Warnungsmeldung aus den Lautsprechern.

"Selbstzerstörungsmechanismus aktiviert."

"Was...!" Ikari richtete seinen erschrockenen Blick, in den sich zusehends Wut mischte, auf die Wissenschaftlerin. Diese nahm nun ihre rechte Hand aus der Tasche, sodass ein kleiner Computer zum Vorschein kam, und sagte:

"Ich verhindere diesen absurden Plan. Ich verhindere, dass ein paar alte Männer über das Schicksal der gesamten Welt entscheiden." Sie schaute auf das elektronische Gerät hinab und erstarrte. Das Lächeln auf ihren Lippen starb.

"Selbstzerstörungsbefehl einstimmig abgelehnt. Autodestruktion deaktiviert."

Ein verblüffter Laut entkam Ritsukos Kehle. Doch bevor sie überhaupt ein anderes Gefühl als Überraschung empfinden konnte, hatte Ikari eine Handfeuerwaffe gezogen. Ein Schuss erklang und Ritsuko fiel zurück.

Und während Ikari seinen Traum verwirklichte, alle Menschen eins werden zu lassen, schwamm Ritsuko mit dem Rücken nach oben im LCL, dem Wasser des Lebens.
 

Maya versteckte sich in einer Ecke des Kontrollzentrums. Sie versuchte die schrecklichen Bilder zu verdrängen, die unbarmherzig auf ihre Erinnerungen eindrängten. Darunter war auch das Bild ihrer Kollegen, deren Körper sich vor wenigen Sekunden in LCL aufgelöst hatten.

"Rechtfertigt deine Liebe meine Existenz?", hörte Maya die warme Stimme Ritsukos. Sie drehte sich um und sah vor sich das schöne Gesicht ihrer Vorgesetzten. "Die Frage ist doch, Maya, ob du dich dir selbst gegenüber rechtfertigst."

"Sempai..." Die Jüngere ließ es geschehen, dass Ritsuko über ihre Wange strich, über den Hals und das Schlüsselbein. Jede zärtliche Geste, jeglicher Kontakt auf Mayas Haut erinnerte sie an die gemeinsame Zeit, an den letzten Abend.

Doch da war noch mehr. Als hätte die Berührung jene Mauer beseitigt, die Mayas Herz umgab. Als würde Ritsuko langsam in ihr Inneres dringen und sie ausfüllen. Als würde sie geliebt werden.

In diesem Augenblick wurde ihr AT-Feld zerstört, ihr Körper verwandelte sich in LCL und Maya wurde ein Teil der Vollendung des Menschen.
 

Der erste Tag läutet das Ende ein. Beginn bedeutet auch immer Untergang. Wohin führt dich denn der erste Schritt, den du auf deinem Weg gehst? Eigentlich nur zum Abgrund.

Suchst du nach dem Sinn, nach dem Wert der Existenz, sobald das Leben endet?
 

Nach dem ersten Tag folgt das Nichts.
 

Und dann wird deine Liebe nichts mehr wert sein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Julie
2010-04-04T12:15:16+00:00 04.04.2010 14:15
Ich finde du hast die Beziehung der beiden sehr schön dargestellt, besonders diese vielen unausgesprochenen Gefühle, die man zwischen den Zeilen suchen muß. Das wirkt viel besser, als wenn man alles immer auf dem Silbertablett serviert bekommt.

Eine Frage hätte ich aber noch, wie kommst du zu dem doch sehr pessimistischen Schluß: "Nach dem ersten Tag folgt das Nichts. Und dann wird deine Liebe nichts mehr wert sein."

Im Grunde genommen geht es beim Human Instrumentality Project doch genau darum, dass alle Seelen miteinander verbunden sind und somit ohne Hinderungen ihre Gefühle ausdrücken können. Wieso sind die Gefühle dann nichts mehr wert?

Oder geht es dir eher darum, dass das Projekt (zumindest nach dem Movie-Ende) fehlschlägt?



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