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Neverland Sky

»Wie du mir, so ich dir«
von

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Welcome to Wonderland

Welcome to Wonderland
 

»I’m not fond of asking«
 


 

Wie gut, dass es ein Nachmittag gewesen war, als Val seine Rache vollstreckt hatte. So hatte ich die Chance gehabt, unbehelligt davon zu kommen. Weitgehend zumindest. Besser gesagt: Ich dachte, es würde so sein, bis mich die grausame Realität und mein partout nicht vorhandenes Glück auf den Boden der Tatsachen zurückholten. Wie immer.
 

Ich hatte mich hinter dem Haus ins Gras gelegt und war dabei eingeschlafen. Nach der Dusche, die ich mir gegönnt hatte, war ich dösig geworden. Meine Schwester war die einzige, die zu Hause war, aber sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich ihre verblödenden Girlie-Serien reinzuziehen, als dass sie mich großartig beachtet hätte.
 

Als aus meinem Nickerchen wieder erwachte, stellte ich fest, dass ich rosa bemalte Finger- und Zehennägel hatte. Ich meine … rosa! Und nicht so ein edles Altrosé, nein, ein widerliches Baby-Schweinchen-Rosa, gottverdammte Scheiße! Das Schlimmste war: Es glitzerte. Ja, es glitzerte! Ich hätte auf der Stelle im Boden versinken können. Wie in aller Welt war dieser Bastard auf die Idee gekommen, mir die Nägel zu lackieren? Wo zum Geier hatte er den verfluchten Nagellack überhaupt her? Stand er etwa auf rosa?
 

Nein, wurde mir klar, als ich das Gackern meiner Schwester aus dem Hausinneren hörte. Meine Schwester, dieses verräterische Stück. Sie hatte rosa Nagellack. Als ich durch die Glastür von der Veranda aus ins Wohnzimmer kam, schaute sie immer noch ihre dümmlichen Serien. Sie schaute mich kurz an und brach dann in schallendes Gelächter aus, als ich wütend meine Hände hinhielt. Das war mir Beweis genug, dass sie mit Val unter einer Decke steckte. Das hieß also, ich durfte niemandem mehr vertrauen, nicht einmal meiner eigenen Familie!
 

Eigentlich hatte ich gedacht, dass es nicht schlimmer werden könnte, aber wie immer irrte ich natürlich. Gewaltig.
 

Ich durchstöberte sämtliche Regale und Ablagen nach Nagellackentferner, aber das wäre ja zu einfach gewesen. Wir hatten keinen. Nirgends. Ich konnte es nicht fassen. Es konnte absolut unmöglich sein, dass mir das tatsächlich widerfahren sollte. Warum immer ich? Als hätte ich die Arschkarte im Namen der gesamten Menschheit gezogen … oder zumindest meiner Landesbevölkerung.
 

Aber das sollte noch nicht alles gewesen sein. Es war der reinste Domino-Effekt. Meine erste Überlegung war natürlich, Nagellackentferner kaufen zu fahren, wobei sich aber das schlichte Problem aufwarf, dass alle Läden mittlerweile zu hatten und morgen Sonntag war, demnach würde ich also erst Montag an dieses Zeug kommen. Ich knirschte mit den Zähnen und lief unruhig in meinem Zimmer auf und ab, während ich nach einer Lösung suchte. Doch mir fiel nichts ein. Ich konnte den Nagellackentferner frühestens Montag kaufen …
 

Der Domino-Effekt zog sich weiter. Der letzte Stein fiel, als meine Mutter meine lackierten Nägel sah. Nicht nur die Fingernägel, nein, auch meine Zehennägel, weil ich Idiot in aller Aufregung vergessen hatte, mir Socken anzuziehen. Ihr Blick war wirklich beunruhigend gewesen. Sehr beunruhigend. Nahezu beängstigend. Sie sah mich an, als wäre ich geistig nicht ganz da oder …
 

»Schatz, wenn du Schminke haben möchtest, dann kannst du mir das ruhig sagen. Wir können am Montag losfahren und dir dein eigenes Make-up besorgen. Dann musst du deiner Schwester nicht alles wegnehmen«, sagte sie schließlich zu mir und tätschelte dabei meine Schulter. Ich starrte sie fassungslos an und sie schaute mit besorgtem Blick und gerunzelter Stirn zurück. Für wen oder was hielt sie mich eigentlich? Für eine Tucke, eine sich im Vorstadium befindende Transe? Sah ganz danach aus.
 

Sie drückte noch einmal kurz meine Schulter, dann wandte sie sich ab und ging in die Küche. Ich hörte, wie sie mit meinem Vater darüber sprach, dass ich jetzt meine weibliche Seite entdeckt hätte. Es sei ja nur eine Frage der Zeit gewesen und sie habe sich schon die ganze Zeit gefragt, wann es so weit sein würde, bis es mich überkomme. Aber jetzt sei es soweit. Das Schärfste war, als meine Mom meinen Dad fragte: »Glaubst du, ich muss ihm auch meine BHs leihen?«
 

Ich wollte schreien. Wirklich. Das war der erste Impuls, den ich spürte. Aber das ging ja nicht. Die lieben Nachbarn hatten ihre Ohren überall. Der nächste Impuls war zerstörerisch. Ich wollte irgendwas kaputt machen. Als erstes fiel mir ein Glas gefüllt mit Wasser ins Auge, das auf dem Esstisch im Wohnzimmer stand. Ich griff bereits danach, hielt aber inne, ehe ich es berührte und suchte nach etwas anderem.
 

Da ich meinen Zerstörungstrieb aber auf nichts umlenken konnte, ging ich wieder nach oben und stellte mich unter die Dusche. Diesmal drehte ich kaltes Wasser auf. Ich japste auf, als die Kälte meine erhitzte Haut berührte. So unangenehm es auch war, es half. Meine Aufregung flaute ab und im nächsten Moment fragte ich mich, warum ich mich eigentlich so aufregte? Ich konnte meiner Mutter alles erklären und das bisschen Nagellack. Außer meiner Familie würde mich wohl niemand sehen, also war es doch egal.
 

Hoffte ich.
 

Ich schaffte es nicht, mir am Montag vor dem Unterricht Nagellackentferner zu besorgen und somit war ich gezwungen, den ganzen Tag mit rosa lackierten Nägeln durch das Leben zu laufen. Diesmal schien das Glück auf meiner Seite zu sein, denn niemandem schien dieser Fakt aufzufallen. Aber eigentlich hätte ich bereits ahnen müssen, dass es nicht so bleiben würde. Letztendlich hätte es aber auch schlimmer kommen können.
 

Einer meiner Freunde bemerkte es in der Sportumkleide beim Umziehen und schaute mich eine ganze Weile lang abschätzend an. Als er meinen Blick sah, zog er die Augenbrauen hoch.
 

»Deine Schwester?«, fragte er und ich nickte bloß. Er nickte ebenfalls, aber offenbar war er sich nicht ganz sicher, ob er mir das wirklich glauben sollte. Warum auch immer. Ich sagte nichts mehr dazu, er auch nicht und so beugten wir einer Auseinandersetzung vor.
 

Val war der Einzige, der jedes Mal fast Lachanfälle bekam, wenn er mich sah. Beim Sport ergab es sich aber auch, dass ich meinen kleinen Racheakt vollstrecken konnte. Man konnte es Glück nennen oder aber auch Zufall, dass Val mit einem seiner Freunde direkt neben dem — ausgeschalteten, wohlgemerkt — Sprenger stand und sich mit ihm unterhielt. Mir fiel in diesem Moment auch auf, dass ich direkt neben dem Wasserhahn stand, an dem der Sprenger angeschlossen war. Ich schaute zwischen dem Hahn und Val hin und her, ehe ich grinsend das Wasser aufdrehte.
 

Mit unverschämten Vergnügen sah ich zu, wie Val, der die volle Breitseite des eisigen Wassers abbekam, japste und erst realisieren musste, was gerade passierte. Sein dunkles Shirt färbte sich fast schwarz von der Nässe und klebte an seinem Körper, gleichfalls Hose und Haare. Auf seinen Freund achtete ich weniger, aber ich ging davon aus, dass es ihm nicht sehr viel anders ging.
 

Val schüttelte den Kopf, sodass seine nassen Haare wild um seine Stirn flogen und Wasserspritzer in die Luft entließen. Dann wrang er sein Oberteil provisorisch aus, während er den Blick aufmerksam über den Sportplatz gleiten ließ. Natürlich, er suchte nach mir. Er wusste gleich, dass ich dafür verantwortlich war. Er wusste es auch, obwohl ich mich inzwischen gar nicht mehr in der Nähe des Wasserhahns befand.
 

Nachdem er mich schließlich ausgemacht hatte, sah er mich kurz an, dann wandte er den Blick ab und zog sich das Shirt über den Kopf. Hinter mir hörte ich ein paar Mädchen kichern. Ich verdrehte die Augen und wandte den Blick über die Schulter, um zu sehen, wer aus dem Sportkurs es war. Nicht zu fassen, dass die immer noch so albern waren. Als hätten sie noch nie einen Kerl mit nacktem Oberkörper gesehen. Kopfschüttelnd drehte ich mich wieder um und mein Blick nagelte sich wie von selbst an Val fest.
 

Die Wassertropfen schimmerten im Sonnenlicht auf seiner hellen Haut und besprenkelten sein dunkles Haar mit hellen Tupfern. Mir war es noch nie aufgefallen, aber er war muskulöser, als es auf den ersten Blick schien. Ich hatte immer gedacht, er wäre ein wenig schlaksiger als ich. Aber offensichtlich hatte ich mich mal wieder geirrt. Irgendwie konnte ich sogar verstehen, warum die Mädchen so dämlich kicherten, denn ich war mir sicher, dass ich auch gleich anfangen würde, wenn ich mich nicht beherrschte. Aber ich wandte räuspernd den Blick ab und hustete gekünstelt vor mich her. Ich betete, dass es niemandem aufgefallen war, dass ich gerade Val begafft hatte.
 

Nach der Schule kaufte ich mir Nagellackentferner und als ich bezahlte, schaute die Verkäuferin mich seltsam an, nachdem ihr meine gefärbten Fingernägel aufgefallen waren. Ich zog eine säuerliche Schnute, packte die Flasche ein und verschwand so schnell wie möglich. Zumindest war ich wenig später endlich befreit von diesem hässlichen Zeug und konnte erleichtert aufatmen, dass alles mehr oder minder glimpflich verlaufen. Vielleicht hatte Val gedacht, ich würde bei Nagellack völlig aufgeschmissen sein und nicht wissen, wie man das entfernt. Falsch gedacht!, dachte ich schadenfroh.
 

Ich rätselte am nächsten Morgen, was Val wohl einfallen würde. Doch ich stellte fest, dass er gar nicht in der Schule war. Das wunderte mich ein wenig und ich fragte mich, ob er womöglich verschlafen hatte. Aber ich konnte mich nicht an einen Tag erinnern, an dem Val das passiert war. Also wenn er nicht verschlafen hatte, wo war er dann? Krank um diese Jahreszeit? Wohl kaum. Er hatte ein unbezwingbares Immunsystem. Das letzte Mal war er vor fünf Jahren so richtig krank gewesen, mit allem drum und dran. Aber irgendwie war ich auch enttäuscht, dass er nicht da war. Worauf sollte ich mich denn freuen? Über wen konnte ich mich ärgern? Wie sollte ich diesen Schultag ohne ihn überleben? Ich fragte einen von seinen Kumpels, aber der zuckte auch nur die Schultern. Niemand wusste, wo Val war.
 

Er blieb für den Rest der Woche weg.
 

Ich hatte dank meiner Eltern die Telefonnummer der Valentines, aber jedes Mal, wenn ich versuchte, anzurufen, sagte mir eine Stimme, dass der Teilnehmer nicht zu erreichen sei. Über die Straße zu gehen und zu klingeln, traute ich mich irgendwie nicht. Ich wusste nicht, was mich davon abhielt, einfach rüber zu gehen und nach Val zu fragen. Es war eigenartig.
 

Die ganze Zeit über konnte ich Val noch nicht einmal in seinem Zimmer sehen. Das Fenster blieb immer dunkel. Kein einziges Mal brannte Licht. Ich hatte noch nicht einmal den Ansatz einer logischen Idee, wo er sein könnte oder was los war. Alles, was mir in den Sinn kam, verwarf ich schnell wieder, weil nichts davon passte. Ich sah auch nie ein Auto in der Auffahrt stehen, aber das hatte nichts zu bedeuten.
 

Als ich meine Mutter wie nebensächlich fragte, ob sie wisse, ob die Valentines vielleicht in Urlaub gefahren seien, verneinte sie. Andernfalls hätten sie gebeten, dass wir auf Sherlock und Holmes aufpassen. Da hatte sie Recht. Der Gedanke war mir noch nicht gekommen. Dann standen die Autos vermutlich in der Garage … oder? Mussten Mr. Und Mrs. Valentine denn gar nicht zur Arbeit? Ich spekulierte wie wild herum, aber nichts schien schlüssig zu sein.
 

Und nie brannte Licht in Vals Zimmer.
 

Meine Unruhe hatte ihren Höhepunkt erreicht, als Val auch die nächste Woche nicht auftauchte. Ich hatte es geschafft, mir irgendwie Mut zuzureden, und stand vor der Haustür des Valentinehauses. Es vergingen einige Augenblicke, ehe die Tür nach meinem Klingeln geöffnet wurde. Mrs. Valentine sah ziemlich müde und erschöpft aus, als hätte sie lange Zeit nicht genug Schlaf bekommen. Als sie mich anlächelte, sah sie sogar noch schlimmer aus.
 

»Hallo, Jesse«, grüßte sie mich. »Kann ich dir helfen?«
 

Ich stammelte herum, als ich merkte, wie der Mut mich wieder verließ. Aber irgendwann schaffte ich es doch, nach Val zu fragen. Mrs. Valentine sah sehr wehmütig aus, als ich nach ihrem Sohn fragte, aber dann schüttelte sie nur den Kopf.
 

»Er ist nicht da, tut mir leid. Soll ich ihm etwas ausrichten?«, erwiderte Mrs. Valentine und schaute mich an.
 

»Nein, aber danke trotzdem«, sagte ich und zwang mir ein Lächeln auf die Lippen. Dann wandte ich mich ab und ging über die Straße zurück nach Hause. Irgendwie ärgerte es mich, dass Val nicht da war. Wo steckte dieser Idiot? War das seine Rache? Das hätte seine Mom nie zugelassen. Außerdem, was hätte er denn davon? Er würde nicht einmal meine Reaktion sehen. Aber vermutlich war das besser so, denn mir ging es auch nicht sonderlich gut seit seiner Abwesenheit.
 

Mich nervte alles nur noch. Ich hatte keine Abwechslung, keinen Spaß. Die Schule ödete mich an, weil niemand da war, der Pfeffer in die Sache brachte. Ich war gereizter als sonst, regte mich viel zu schnell über irgendwelche Dinge auf und fluchte die ganze Zeit.
 

Meine Eltern waren noch nicht zu Hause und meine Schwester war in ihrem Zimmer versunken. Ich setzte mich auf einen der Barhocker, die an dem Küchentresen standen, während ich ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch herumtrommelte. Gelangweilt ließ ich meinen Blick durch Wohnzimmer und Küche gleiten, bis ich mich an einem Punkte festhakte. Es war eine Postkarte, die wir mal von den Valentines aus dem Urlaub bekommen hatten. Vielmehr war es ein Foto von ihnen, das sie zu einer Postkarte umfungiert hatten. Ich stand auf und ging zu der Magnetwand, die am Kühlschrank befestigt war. Vorsichtig zog ich das Foto unter einem Magneten hervor und betrachtete es. Wie alt es mittlerweile war, konnte ich nicht sagen, aber ich schätzte es auf zwei Jahre, wenn ich Vals Haarlänge auf dem Bild beurteilte. Er hatte leichten Sonnenbrand auf der Nase, seine Augen waren klein auf dem Foto, weil er sie zukniff, da die Sonne blendete. Seine Haut war dunkler als gewöhnlich, damals war er zurückgekommen und sah aus wie ein geräucherter Fisch. Ich lachte bei der Erinnerung leise in mich hinein.
 

Ich legte die Karte weg, nahm meinen Autoschlüssel und setzte mich ins Auto. Nachdenklich fuhr ich einige Zeit durch die Gegend, bis ich mich auf den Weg aus der Stadt machte. Es dauerte einiges an Zeit, bis ich die Mühle wiederfand, an der ich mit Val zum ersten Mal gewesen war. Nachdem ich das Auto geparkt hatte, rannte ich regelrecht zu der Mühle.
 

Der Platz war leer und es war ruhig. Nichts außer den ruhigen Lüftzügen der Mühlenflügel war zu hören, während sie sich langsam wie von Geisterhand drehten. Es enttäuschte mich, denn irgendwie hatte ich gehofft, Val hier zu finden. Das war frustrierend. Wo war dieser Spinner? Was dachte er sich denn dabei, einfach so zu verschwinden?
 

Auf einmal kam mir eine passende Idee. Vielleicht war Val von Zuhause abgehauen, das würde auch Mrs. Valentines Zustand erklären. Wer würde nicht so übermüdet aussehen, wenn der Sohn davonlief? Das schien plausibel zu sein. Andererseits war es nichts, worauf ich hoffte. Mein Magen schien sich zu einem schmerzhaft schweren Klumpen zusammenzuziehen, als ich daran dachte. Langsam ließ ich mich ins hohe Gras nieder und schaute über die grünen Felder.
 

Wenn er wirklich abgehauen war, was sollte ich dann jetzt tun? Wenn ich es schon kaum zwei Wochen ohne ihn aushielt … wie sollte es sein, wenn er gar nicht erst zurückkam? Nein, sagte ich mir, nein. Er war nicht abgehauen. Das war Unsinn. Dazu hatte er keinen Grund, oder? Mir fiel das Geschrei seiner Mutter von neulich wieder ein. Vals Vater war am Telefon gewesen, hatte er mir gesagt. Hatte das etwas damit zu tun? War Val zu seinem Vater gezogen? Still und heimlich? Das war doch so gar nicht seine Art.
 

Ich legte mich rücklings hin, verschränkte die Arme unter dem Kopf und schaute in den Himmel. Er war strahlend blau, keine Wolke zierte diese Makellosigkeit. Während ich dalag und mir zwanghaft einredete, dass Val auf jeden Fall wieder auftauchen würde, dachte ich daran zurück, als ich mit ihm hier gewesen war. Es war noch gar nicht so lange her, aber es erschien mir, als würde es Jahre zurückliegen.
 

Als es leise raschelte, wandte ich den Kopf und erkannte ein paar Beine, die sich durch das hohe Gras schlugen. Mein Herzrhythmus verdoppelte sich mindestens und ich setzte mich abrupft auf. Val grinste schief, als er mich sah, während ich fassungslos zu ihm zurückstarrte. Er sah genauso müde und ausgelaugt aus wie seine Mom. Ich brachte kein Wort heraus, als er sich neben mir ins Gras ließ. Langsam schob er seine Hände ineinander und schaute mich aufmerksam an. Wieder hatte er dieses eigenartige Funkeln in den Augen, als er mich ansah.
 

»Wo warst du?«, platzte es aus mir heraus. Ich konnte spüren, dass Zornesröte mir ins Gesicht schoss. Jetzt, wo er hier war, konnte ich endlich wütend auf ihn sein. Er schien nichts anderes erwartet zu haben, denn er lachte leise. Trotz seines erschöpften Erscheinungsbilds schien ihn das wirklich zu amüsieren. Val sah aus wie ein kleines, glückliches Kind, wenn er lachte.
 

»Ich war bei meiner Oma«, antwortete er dann, als er sich wieder beruhigt hatte. »Mom hat mich vorhin angerufen und gesagt, dass du nach mir gefragt hast. Ich war mir nicht sicher, ob ich dich hier finden würde, aber siehe da: Du hast wirklich hierher gefunden.«
 

Ich starrte ihn weiterhin an. Es dauerte lange, bis mein Hirn diese Information verarbeitet hatte. Doch noch ehe ich weiter nachfragen konnte, sprach Val weiter.
 

»Dass ich bei meiner Oma und nicht in der Schule war, hat schon seinen Grund«, erklärte er dann und fuhr sich durch die Haare. Er seufzte tief. Offenbar wollte er nicht darüber reden. Für mich sah es ganz danach aus, als wäre ihm das ganze Thema überaus unangenehm. Aber auch diesmal fuhr er fort, ehe ich etwas sagen konnte.
 

»Ich hab dir doch neulich gesagt, dass mein Vater am Telefon war«, meinte er dann und schaute mich kurz fest an, bis ich genickt hatte. »Meine Mutter hat sich furchtbar aufgeregt, sie war völlig aufgelöst. Sie war wütend, weil mein Vater auf einmal auf die wahnwitzige Idee gekommen ist, dass er mich bei sich haben will. Damals bei der Scheidung haben sie das Sorgerecht zwar geteilt, aber ihm war es egal. Er hat seinen Teil davon nie in Anspruch genommen. Aber jetzt auf einmal fällt ihm ein, dass er einen Sohn hat.«
 

Val lachte humorlos, dann sah er auf seine verschränkten Hände. Er sah wieder sehr müde aus. »Er hat sie angeschrien. Hat gedroht, wieder vors Gericht zu ziehen, wenn er mich nicht sehen darf; wenn Mom ihm seinen Sorgerechtsanteil verweigert. Als sie ihm aber gesagt hat, dass ich ihn nicht sehen will, hat er ihr das nicht geglaubt. Wer hätte denn gedacht, dass er herkommen würde …? Ich bin vor ihm geflohen. Neulich am Montag sah ich sein Auto vor der Schule und ein Kumpel hat mir seinen Wagen geliehen, damit ich unbemerkt nach Hause fahren konnte. Mein Vater weiß, welches Auto ich fahre. Er hätte mich sofort erkannt. Jedenfalls war meine Mutter total am Ende, als ich es ihr erzählt habe. Ich hab schnell ein paar Sachen zusammengepackt und bin zu meiner Oma gefahren.«
 

Er schwieg einige Zeit. Auch ich sagte nichts, sondern versuchte, zu begreifen. Warum floh Val vor seinem Vater? Das ging doch über normales Nicht-sehen-wollen hinaus. Stumm schaute ich ihn an, während er weiterhin seine Hände ansah. Warum erzählte er mir das alles? Es war offensichtlich, dass er nicht gern darüber sprach? Warum also mühte er sich dann so ab?
 

»An und für sich wäre es kein Thema, meinen Vater zu sehen, wenn es da nicht eine Sache gäbe …«, fuhr Val schließlich langsam fort und holte tief Luft. »Mein Vater ist homophob, durch und durch. Er hat sich, soweit ich weiß, auch schon einige Klagen zugezogen, weil er gewalttätige ›Maßnahmen‹ gegen Homosexuelle ergriffen hat. Das hat ihn aber nie sonderlich beeindruckt, vor allem, weil es angeblich vor Gericht auch nie genügend Beweismaterial gegen ihn gegeben hat. Und du weißt ja, im Zweifel für den Angeklagten. Er ist immer davon gekommen. Aber was wohl geschehen würde, wenn er erführe, dass sein einziger Sohn auch homosexuell ist …?«
 

Es blieb lange still. Die Sekunden verstrichen, der Wind rauschte leise und die Schatten wurden langsam länger. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Eigentlich wusste ich es schon. Mir schwirrten die verschiedensten Sachen im Kopf herum, die ich gern gesagt hätte, aber ich wusste nicht, wie. Als hätte ich das Sprechen verlernt. Das Signal kam offenbar nicht bei meinem Sprachzentrum an. So saßen wir in Eintracht schweigend beieinander.
 

Val hatte den Blick wieder gehoben und schaute mich an, als würde er eine Reaktion von mir erwarten. Ich sah ihn kurz an, hielt seinen Augen aber nicht Stand. Irgendwie fühlte es sich schön an, dass er mir das anvertraute, es mir erzählte. Das hatte doch etwas zu bedeuten? So etwas erzählte man nicht jedem. Ich hätte es zumindest nicht getan.
 

Als ich den Kopf wieder hob, schwebte Vals Gesicht dicht vor meinem. Ich dachte, ich würde zurückzucken, aber ich war völlig ruhig, nur ein wenig überrascht darüber, dass er mir unbemerkt so nah gekommen war. Wieder konnte ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren, seinen Duft riechen, seine Wärme spüren. Ich hörte das Gras leise rascheln, als er das Gewicht verlagerte. Seine Fingerspitzen berührten meinen Arm. Ein heißes Prickeln jagte meine Haut entlang.
 

Ganz behutsam legte er seine Lippen auf meine. So vorsichtig, als hätte er Angst, ich würde zerbrechen, wenn er zu fest war. Mehr geschah nicht. Sanft lag sein Mund auf meinem, für einige, wenige Sekunden. Dann löste er sich wieder von mir und rutschte ein Stück zurück. Seine hellgrünen Augen glühten, als er mich ansah. Er sah schuldbewusst aus, fast verletzt.
 

»Verzeih mir«, wisperte er dann. »Ich frage mich schon die ganze Zeit, wie sich das anfühlen würde, deine Lippen auf meinen zu spüren. Jetzt weiß ich es. Unsere Rachespielerei … mir hat sie immer das Gefühl gegeben, dir zumindest dadurch nahe zu sein. Es gab mir das Gefühl, du könntest mich jemals mögen. Verzeih mir, Jesse. Ich kann verstehen, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst.«
 

Ich hatte das Gefühl, dass in meinem Kopf ein Feuerwerk stattfinden würde. Es war alles so verrückt, so eigenartig und neu. Mir schien, als würden sämtliche Empfindungen über den Haufen geworfen werden, ein Strudel aus Farben und Sinneswahrnehmungen. Mein Gesicht kribbelte. Ich hatte immer noch Vals Duft in der Nase.
 

Vielleicht war es leichter, als ich dachte. Vielleicht machte ich es mir alles zu kompliziert.
 

»Ich hab dich doch nie gehasst, du Spinner«, sagte ich schließlich. Ich war nachdrücklicher, als ich es mir in diesem Moment zugetraut hätte. Mein Schnaufen klang echt. Meine Empörung wurde deutlich.
 

»Ist mir doch egal, wer oder was du bist. Du bist gut so, wie du bist. Ich will nicht, dass es anders wäre. Und nur, damit du es weißt, für mich waren diese Rachespielchen doch genauso. Als würden sie je einen anderen Grund gehabt haben …«, fügte ich hinzu und setzte mich im Schneidersitz hin. Auf Vals Gesicht bildete sich ein erleichtertes, glückliches Lächeln. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er sah so hinreißend aus, wenn er lächelte. Mir fehlten die Worte. In meinem Kopf war noch immer nicht alles ganz klar.
 

»Machst du’s … noch mal?«, fragte ich dann leise und schaute Val an. Er grinste schief. Ich hatte ihn noch nie zufriedener gesehen. Langsam kroch er wieder zu mir herüber. Wir sahen einander einige Zeit in die Augen, und dann küsste er mich noch einmal. Ich schloss die Augen, kostete den Geschmack seiner Lippen. Er nahm meine Hand in seine, während er mit der Zunge sachte über meine Unterlippe strich. Seine Vorsicht hatte er immer noch nicht abgelegt. Vermutlich traute er meiner Zurechnungsfähigkeit noch nicht ganz.
 

Mich ärgerte seine übertriebene Zurückhaltung. Ich schob ihm meine Zunge entgegen und spürte, wie seine Mundwinkel sich zu einem Grinsen bogen. Er nahm meine Einladung an, öffnete die Lippen und ich fühlte, wie er meine Zunge zurückdrängte. Ja, in meinem Kopf gab es tatsächlich ein Feuerwerk. Ein großes. Ein sehr fulminantes. Ein unvergessliches.
 

Val strich mit der Nasenspitze an meiner entlang, nachdem er sich wieder von meinen Lippen gelöst hatte. Ein seliges Lächeln lag auf seinen Lippen. Dann gab er mir wieder einen kurzen, sanften Kuss auf die Lippen, strich mir kurz eine Haarsträhne aus den Augen und schaute mich an. Das Lächeln wandelte sich in ein Grinsen.
 

»Da fällt mir ein …«, murmelte er verschlagen. »Ich bin dran. Rosa steht dir übrigens ausgezeichnet.«



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Kommentare zu diesem Kapitel (45)
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Von: abgemeldet
2010-12-27T17:59:39+00:00 27.12.2010 18:59
Ich bin sprachlos :3
*schärm*
mein Herz klopft iwie total .. :)
ich liebe alle deine Storys ;D
besonders "Your Smile" ! Mach weiter so!!! =)
Von:  Donald
2010-07-20T14:01:46+00:00 20.07.2010 16:01
Ok, kein Wunder, dass das eines deiner Babys ist, das ist wirklich eine schöne Geshcichte - auch wenn man hierzu noch ne Fortsetzung schreiben könnte. Also auf dem Vater von Cas bezogen =D
Dein Schreibstil ist wirklich gut, weiß gar nicht, warum du dich da beschwerst xD
Schreibfehler und so passieren selbst den besten Autoren ;)

MEEEEEEHR DAVOOOOON! =D
Von:  nekochaninspe
2010-03-14T14:47:38+00:00 14.03.2010 15:47
Uh....ich bin eig die geborene >Schwarzleserin...-.- Aber ich will sie auf die favo-liste setzen...

Ich sehe meine Meinung nicht als wichtig an, da ich nur sagen kann das dein Schreibstil echt toll ist und ich die Entwicklung genossen hab. xD
Von daher "die Story ist toll" ist jetzt nicht das Kommentar was zu verbesserungen führt. ^^° Ich liebe es wenn ich geschichten lese und am ende einfach nur sprachlos bin...(absolut unvorteilhaft für kommis.)
Aber danke das ich deine Story lesen durfte.

Von: abgemeldet
2010-03-02T14:53:21+00:00 02.03.2010 15:53
»Da fällt mir ein …«, murmelte er verschlagen. »Ich bin dran. Rosa steht dir übrigens ausgezeichnet.«
Das Ende finde ich klasse. Vorallem weil es nicht zu sehr in`s Kitschige abgerutscht ist. Toll wie du den Charakteren so treu geblieben bist.
Oh...und glitzernder rosa Nagellack sieht wrklich scheiße aus.

Von:  Schwarzer_Fussel
2009-12-22T09:45:17+00:00 22.12.2009 10:45
uhi so toll *-*
die beiden sind so niedlich :)
ich mag sie :)

gleich ma favon ^^
und ich find deinen schreibstyl toll ^^

lg schwarzer_fussel :)
Von:  Kaoru
2009-11-21T15:11:14+00:00 21.11.2009 16:11
Wenn man deine Stories so liest, kann man es sich kaum verkneifen, verträumt vor dem PC zu sitzen und ein 'Awwwww' hören zu lassen.
Sehr niedliche FF, man erkennt einen roten Faden und es macht Spaß zu 'beobachten', wie sich die Hauptpersonen näher kommen. Auch bei 'Your Smile' dachte ich das...

Die Idee mit den Neckereien gefällt mir echt gut. Ich wäre nie darauf gekommen, dass Val ihm tatsächlich was 'gegeben' hat, was ihn vom Schlafen abhält. Kann man mal sehen...
Aber der pinke Nagellack war dann wohl die Krönung! Gott, als Junge hätt ich mich krankschreiben lassen!!! Aber mal im Ernst, warum hat er es eigentlich nicht abgekratzt? meines Erachtens hätte das zumindest grob gehen müssen... Der Blick von der Kassiererin war bestimmt Gold wert! (und der von Mama erst^^)
Aber wenn Val meint, dass es ihm steht...^^

Homophobie... ich finde es ist eine traurige Realtität, dass es so viele Menschen gibt, die mit Homosexualität nicht umgehen können und/ oder auch noch handgreiflich werden.

In diesem Sinne~
Von: abgemeldet
2009-11-02T19:44:55+00:00 02.11.2009 20:44
Wow, ich habe schon lange nicht mehr etwas soooo Süßes und wundervolles gelesen. Es hat mich irgendwo berührt und ich muss ganz dämlich grinsen, weil ich die ganze zeit endlich auf den Kuss gewartet habe *___*

eine zuckersüße, leichte story für zwischendurch, wundervoll!

lg bella
Von:  ConsciousCreation
2009-11-02T00:16:46+00:00 02.11.2009 01:16
ahhw ahhhhhhw das war ein super Ende!
Wieder mal etwas total unerwartetes mit dem plötzlichen Verschwinden von Cas. Super geworden!
Mir ist aufgefallen, dass Jesse eigentlich immer irgendwas mit Cas' Klamotten gemacht hat (sie waren danach immer reif für die Wäsche), während Cas immer so ziemlich direkt gegen Jesse körperlich seine Rache gewendet hat ;)
Und mir ist aufgefallen, du vergleichst Charaktere oder Eigenschaften wirklich gerne mit Tieren, aber das finde ich super! Es gibt dir einen eigenen Stil!

Also unterm Strich eine tolle Story und eine tolle Umsetzung. Ich finde es bei dir auch immer super, dass du so Absetze reinbringst. Das erleichtert das Lesen irgendwie richtig. Also mir zumindestens XD Außerdem verstehe ich deinen Satzbau immer sofort beim ersten Lesen. Bei manchen muss ich wirklich drei, vier Mal drüberlesen und jedes einzelne Wort zerlegen, weil versucht wird wie ein Profi zu klingen und dann ergeben lange Sätze irgendwie nur noch sinnloses und unzusammenhängendes Gebrabbel. Deine Sätze sind einfach zu verstehen, haben die richtige Länge und es macht (wie ich schon oft gesagt habe) einfach Lust auf mehr und macht Spaß zu lesen.

Liebe Grüße
kitty <3
Von:  Macha
2009-11-01T23:12:33+00:00 02.11.2009 00:12
Das ist soo kitschig <33
Ich liebe es *w*
Also gesamt fand ich waren öfters Wiederholungen drin, aber man hat das schnell überlesen weil es echt wundervoll war.

Gute Arbeit <33
Von:  leni_lue
2009-10-31T03:27:13+00:00 31.10.2009 04:27
wundervoll.
endlich ml wieder eine geschichte die mich von anfang bis ende fesselt. es ist immerhin halb 5
sehr schön. bin begeistert von deinem schreibstil.
liebste grüße


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