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Licht und Finsternis

von

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Licht

Prolog: Licht
 

Die fünf Vampire standen vor einem riesigen alten Haus. Seth blickte an der schon von Rissen gezeichneten Fassade herauf. Hier wohnten sie also. Die letzten Verbündeten, die noch übrig waren. Fast schon erwartete Seth ein leeres Haus vorzufinden. Ausgestorben und tot, so wie es die letzten Male auch gewesen war.

Plötzlich erhellte ein strahlendes Licht das Gebäude. Es drang durch die Fenster nach draußen.

„Was ist das?“, fragte Kryl.

Nadia sprang zu Victoria und klammerte sich an sie. Sie zitterte am ganzen Leib. „Nein … nein“, stammelte sie immer wieder.

Seth dagegen grinste freudig. „Na endlich.“ Ohne eine weitere Sekunde zu zögern, zertrümmerte er die Tür.

„Warte“, kam es noch von Rak’shir, doch es war schon zu spät. Das Licht überflutete sie wie eine riesige Welle. Und alle hielten in ihren Bewegungen inne. Wie heißes Feuer brannte sich das Licht in ihre Haut. Nadia fing an zu schreien. Victoria fiel auf die Knie vor Schmerzen. So etwas hatte sie noch nie erlebt, weder zu Lebzeiten, noch in ihrer Zeit als Vampir. In der Sonne prickelte es ein wenig, vielleicht brannte es auch mal, wenn man sich zu lange der Sonne aussetzte. Aber dieses grelle weiße Licht fraß sich direkt durch die Haut und schien einen von Innen zu verbrennen. Victoria spürte, wie alles in ihr kochte. Sie konnte kaum mehr einen klaren Gedanken fassen.

Unter größten Mühen und höllischen Schmerzen schaffte sie es, ihren Kopf zu heben und sich umzuschauen. Durch die Helligkeit war es schwer, etwas zu erkennen, doch Victoria war sich sicher, dass Rak’shir und Seth noch auf ihren Beinen standen. Kryl ging es wohl ähnlich wie ihr. Dann hörte sie von weitem ein Vogelkrächzen und kurz darauf Rak’shirs Stimme, jedoch konnte sie den Sinn seiner Worte nicht verstehen.
 

Seth hatte nicht mit dieser Reaktion gerechnet. Nicht nur waren seine scharfen Augen nun unnütz, sondern dieses merkwürdige Licht schien durch seine Haut zu dringen. Es verursachte höllische Schmerzen. Er hörte deutlich, wie Victoria vor Qualen stöhnte und er bezweifelte stark, dass es den Anderen besser ging. Dieses Licht hatte also all diese Vampire getötet und nur noch ein Häufchen Asche von ihnen übrig gelassen. Und jetzt würde es ihm und seinen Freunden nicht anders ergehen. Und alles war nur seine Schuld, weil er immer so voreilig sein musste. Er musste unbedingt etwas unternehmen, denjenigen aufhalten, der dieses verdammte Massaker begonnen hatte. Plötzlich spürte er, wie etwas ganz nah an seinem Ohr vorbeiglitt.

„Führe ihn!“, hörte er Rak’shirs schwache Stimme. Natürlich, Horus war immun gegen die Waffe. Das einzige Problem könnte das eingeschränkte Sichtfeld sein. Doch Seth vertraute auf den Falken. Er war auf dieser Reise ein nützlicher Begleiter gewesen. Seth verließ sich also auf die zwei Sinne, die ihm noch geblieben waren, und folgte Horus, zum einen durch seinen Geruch, zum Anderen durch das Geräusch seiner schlagenden Flügel.

Seth betrat nun das Haus und spürte sofort, dass die Macht des Lichts hier noch mächtiger war. Alles in seinen Innern zog sich durch die zusätzliche Hitze zusammen. Jeder Schritt war nun eine Qual. Nicht nur, dass die Schmerzen immer unerträglicher wurden, das Licht wurde auch immer heller, sodass Seth jetzt nicht mal mehr Umrisse erkennen konnte. Jedoch stimmte ihn diese Tatsache eher freudig, denn das hieß, dass er der Quelle immer näher kam. Und er würde denjenigen in Stücke reißen, bis nichts mehr von ihm übrig war. Er würde keine Gnade walten lassen, genauso wenig wie der Feind irgendein Anzeichen von Mitleid gezeigt hatte. Er hatte nichts Besseres verdient.

Seth fletschte die Zähne. Nur noch ein paar Meter, wenn er sich nicht irrte. Horus flog nämlich schon die ganze Zeit über derselben Stelle im Kreis. Dort war also sein Ziel. Aber er merkte, wie seine Kräfte mehr und mehr schwanden. Es fiel ihm schwer, sich überhaupt noch auf den Beinen zu halten. Wenn er jetzt einen Schritt nach vorne tat, würde er mit großer Wahrscheinlichkeit das Gleichgewicht verlieren. Aber er musste es wenigstens versuchen, immerhin war er das seinen Freunden schuldig. Mit größter Mühe hob er seinen bleischweren Fuß hoch und setzte ihn einen Schritt nach vorne. Direkt darauf fiel er auf die Knie. Ihm fehlte einfach die nötige Kraft für die nächsten zwei Schritte.

Nur noch ein paar Augenblicke und sein ganzes Inneres würde verbrennen und verätzen, zumindest fühlte es sich so an. Seth ärgerte sich über sich selbst. Nun waren sie solange unterwegs gewesen, um den Unbekannten zu finden und jetzt scheiterte er kurz vor dem Ziel. Das Licht wurde immer heller, obwohl er sich nicht mehr bewegte. Das bedeutete, dass die Quelle auf ihn zukam. Und Seth hatte einfach keine Kraft mehr, um den Arm auszustrecken und den Feind zu erledigen. Er würde hier und jetzt sterben. Es war alles umsonst gewesen.

Das Vorspiel

Kapitel 1: Das Vorspiel
 

„Das Beste daran ist, das Vorspiel in die Länge zu ziehen. Dann macht es hinterher viel mehr Spaß“, meinte Seth.

„Ich bevorzuge die schnelle Nummer. Das andere ist viel zu kindisch“, sagte sein Gegenüber und setzte dabei ein gefährliches Lächeln auf. Er hatte eine Narbe, die über seinem rechten Auge verlief. Seine Haare waren schwarz und lang, zusammengebunden zu einem Zopf.

„Du weißt nicht, was gut ist, Kryl. Erst wenn du die Frauen so richtig in Fahrt bringst, kannst du nachher von einem hervorragenden Abend sprechen. Ohne das alles ist es doch eher lieblos und genießen kannst du es ja dann wohl auch nicht, oder willst du mir das etwa einreden?“ Seth verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, lehnte sich auf dem Sessel zurück und warf Kryl einen fragenden Blick zu.

„Ich würde sagen, jeder hat seine eigene Art und Weise. Das Endprodukt ist sowieso immer dasselbe. Aber, was du wirklich mal ausprobieren solltest, sind Männer. Das wäre ein völlig neues Erlebnis für dich. Ständig nur Frauen, wird das nicht etwas langweilig?“

„Nein, überhaupt nicht. Außerdem würde mein Vorspiel bei Männern nicht den gewünschten Effekt erzielen. Glaub mir, ich habe es schon einmal ausprobiert. Und Männer sagen mir auch nicht so zu, das ist einfach nicht mein Geschmack.“ Seth verzog angewidert das Gesicht.

„Jedem das Seine. Aber man sieht ja eindeutig, wer der Stärkere von uns beiden ist. Dieses ganze Mädchenblut scheint wohl nicht sehr nährreich zu sein.“ Kryl erhob sich von der Couch und baute sich vor Seth auf. Seine Arme bestanden fast nur aus Muskeln, genau wie sein restlicher Körper. Dazu schien er fast zwei Meter groß. Seth dagegen sah daneben klein und schlaksig aus. Bei dem Anblick seines Freundes konnte Seth sich jedoch ein Grinsen nicht verkneifen. „Weißt du, Kumpel, dass du aussiehst, wie eine von diesen griechischen Statuen? Groß, muskulös und natürlich total blass. Man sollte dich im Museum ausstellen.“ Bevor Kryl ihn mit seinen großen Händen schnappen konnte, war Seth mit einem eleganten Sprung über die Sessellehne aus Kryls Reichweite entschwunden. Mit einem weiteren Sprung stand er schon hinter Victoria, die gerade das Zimmer betreten hatte. Diese Frau konnte man nie übersehen, denn mit ihrem knallroten engen Kleid fiel sie überall auf.

Sie hatte die Arme verschränkt und sah ziemlich genervt aus. „Ihr solltet mit euren Spielereien aufhören, sonst können wir das Wohnzimmer, genau wie die Küche letzten Monat, mal wieder renovieren.“

„Aber wir sind doch völlig harmlos, Süße“, flüsterte Seth ihr ins Ohr. Dabei strich er ihre kurzen roten Haare aus dem Weg.

Blitzschnell packte Victoria sein Handgelenk, um seine Hand wegzudrücken. Sie bedachte ihn mit einem finsteren Blick aus ihren ebenfalls roten Augen. „Nimm deine dreckigen Finger von meinen Haaren, Seth.“ Eine Sekunde später hatte sie sich wieder unter Kontrolle, entfernte sich ein Schritt von Seth und meinte: „Und harmlos nenne ich etwas Anderes, wenn Kryl wie ein wildgewordener Gorilla hinter dir herrennt und dabei alles und jeden, das ihm im Weg steht, einfach umnietet.“

„Hey“, rief Kryl empört. „Ich niete nicht jeden im Haus um, Red. Nur die, die nicht schnell genug weg sind. Außerdem hat der Meister unsere Spielereien nicht verboten. Er findet sie amüsant, hat er mir gesagt.“

„Ja, ich weiß“, seufzte Victoria resigniert. „Aber ich stehe direkt unter dem Meister, also hast du mir genauso zu gehorchen wie ihm.“

„Das glaubst auch nur du, Schätzchen. Vergiss nicht, dass du nicht der einzige Liebling des Meisters bist“, verkündete Seth mit einem frechen Grinsen auf dem Gesicht.

Victoria zuckte kurz zusammen und ein leises Zischen war zu hören. „Nur weil er dich mag, heißt das noch lange nicht, dass du hier irgendetwas zu sagen hast. Ich bin immerhin-“ Eine Bewegung ließ Victoria inne halten. Ein Falke kam aus dem Flur ins Zimmer geflogen. Er drehte eine Runde über ihren Köpfen, flog noch einmal um die Lampe herum und landete schließlich auf der Sofalehne. Kaum dass er festen Halt unter seinen Krallen hatte, streckte er seinen linken Flügel aus und fing an, mit seinen Schnabel jede einzelne seiner Federn zu putzen.

„Horus?“, fragten alle Drei gleichzeitig und schauten den Falken verwirrt an. Auf seinen Namen hin krächzte Horus einmal laut auf.

„Sollte Rak’shir nicht erst in einem Jahr oder so zurück sein?“ Seth schaute Victoria an.

„Eigentlich schon“, meinte sie. „Das ist wirklich merkwürdig. Sonst kommt er nie früher wieder als angekündigt. Es muss irgendetwas passiert sein.“ Victoria blickte auf die gegenüberliegende Wand und schien eher mit sich selbst zu reden als mit den Anderen. Tief in Gedanken versunken verharrte sie einige Sekunden so. Dann war sie plötzlich wieder ganz klar, drehte um und verließ den Raum. Im Hinausgehen sagte sie noch: „Ich werde mich mal erkundigen, was los ist – ihr bleibt hier, verstanden?“

Seth und Kryl starrten auf die Stelle, wo Victoria noch kurz zuvor gestanden hatte. „Jetzt ist sie weg“, stellte Kryl sachlich fest. Daraufhin stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. „Dann können wir ja da weitermachen, wo wir eben gestört wurden.“ Ohne eine weitere Vorwarnung schoss Kryl nach vorne, die Arme ausgestreckt, um Seth zu packen. Seth war jedoch um einiges schneller als Kryl, der sich mehr auf seine Muskelmasse verließ. So entschwand Seth geschickt Kryls Attacke und war keine Sekunde später schon auf der Flucht quer durch das Haus. Kryl ließ sich das nicht gefallen und spurtete hinterher. Dabei ignorierte er alles, was ihm auf dem Weg in die Quere kam.
 

Victoria eilte den langen Flur entlang zum Zimmer des Meisters. Nicht einmal ein paar Sekunden nach ihrem Verlassen aus dem Zimmer hörte sie es schon wieder Klirren und Scheppern. Victoria konnte über diese beiden Kindsköpfe nur die Augen verdrehen. Sie dachten nicht einmal einen Moment nach, was das frühe Erscheinen von Rak’shir bedeuten könnte.

Rak’shir war kurz nach Victoria zu dem damals noch sehr kleinen Clan gestoßen. Somit war er einer der ältesten Mitglieder. Jedoch hielt er sich nicht oft bei ihnen auf. Rak’shir verbrachte sein unsterbliches Leben damit, häufig auf Reisen zu sein. Dabei bevorzugte er das Alleinsein, wenn man seinen Freund Horus nicht dazuzählte. Victoria fragte sich häufig, was er eigentlich so auf seinen langen Reisen tat. Denn meistens war er ein paar Jahre unterwegs. Für einen Vampir mochte das vielleicht keine zu lange Zeitspanne sein, doch stellte Victoria sich das ziemlich einsam und auch langweilig vor. Wenn Rak’shir dann mal zu Hause war, verbrachte er die meiste Zeit in der Bibliothek, die er eigenhändig angelegt hatte. Victoria hatte ihm aus reinem Interesse einfach mal einen Tag lang zugesehen und wäre dabei fast eingeschlafen, was für einen Vampir schon eine Höchstleistung war. Victoria schlief vielleicht zwei oder drei Stunden im Monat.

Mit immer eiligeren Schritten bewegte sie sich vorwärts. Wenn Rak’shir zu früh kam, musste irgendetwas passiert sein. Bisher war es nur einmal passiert und da war in Griechenland schon fast der Notstand ausgebrochen. Victoria fragte sich, was wohl passiert sein konnte. So schlimm wie damals war es hoffentlich nicht. Selbst für einen alten Vampir waren das Bilder des Grauens gewesen. Victoria hatte sie nie wieder aus ihren Kopf löschen können. Seth und Kryl konnten davon nichts wissen. Sie waren damals noch nicht im Clan gewesen. Kryl war mittlerweile etwa 300 Jahre dabei, obwohl er schon um einiges älter war. Und Seth war erst seit kurzem dabei. Vielleicht etwa 30 Jahre. Victoria hatte ihn immer noch nicht akzeptiert. Er wurde sogar mit jedem Jahr ein wenig frecher, so kam es ihr immerhin vor. Deshalb waren die Beiden wohl auch so unbesorgt. Sie verbanden mit dem frühen Erscheinen von Rak’shir nichts. Sie fanden es höchstwahrscheinlich nur ein wenig merkwürdig, weiter nichts.

Endlich war Victoria angekommen. Es hatte zwar nur einige Sekunden gedauert und doch war es Victoria wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen. Sie befand sich im Vorraum, wo man sich normalerweise beim Meister anmeldete, doch sie hatte das nicht nötig, zumindest nicht in einer solchen Situation. Sie steuerte auf die große, aus Holz bestehende, Tür zu. Einen Moment bevor sie den Metallgriff greifen konnte, stellte sich ein Vampir dazwischen. Er diente hier als Wache, Victoria hatte nicht den leisesten Schimmer, wie er hieß.

„Geh mir aus dem Weg“, befahl sie.

Der Vampir bewegte sich nicht von der Stelle. „Es tut mir leid, aber der Meister hat ausdrücklich befohlen, dass ihn zurzeit keiner stören soll.“

„Was soll das heißen? Du weißt doch wohl, wer ich bin, oder?“ Sie sah ihn mit einem vernichtenden Blick an.

Victoria kam es so vor, als ob er ein paar Zentimeter kleiner wurde, was ihr ein äußerst befriedigendes Gefühl von Genugtuung bescherte. Mit neuer Zuversicht wollte sie nach der Klinke greifen, doch der Vampir ging ihr immer noch nicht aus dem Weg. Ein leises Zischen drang aus ihrer Kehle. „Was soll das?“, fragte sie, mit jedem Wort den aufkommenden Zorn in ihr mehr unterdrückend.

„Es tut mir leid, aber der Meister hat gesagt, es darf niemand, wirklich niemand, diesen Raum betreten.“

Damit ließ sich Victoria nicht so leicht abspeisen. Wenn sie wollte, könnte sie diesen mickrigen Vampir in einer Sekunde außer Gefecht setzten. Schon alleine wegen der Frechheit, sie mit den anderen Vampiren unter einen Hut zu stecken, hätte er es ohne weiteres verdient.

Der Vampir merkte, dass Victoria sich wohl nicht mehr lange beherrschen konnte und spielte seinen letzten Trumpf aus. Er streckte seinen Arm aus und zeigte auf die gegenüberliegende Wand. „Sie durften auch nicht dabei sein.“

Direkt danach erklang ein hohes kurzes Kichern. Victoria zuckte zusammen und drehte sich langsam um. Dort saßen zwei kleine Mädchen, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt. Die Zwillinge lächelten Victoria zu. „Hallo Victoria“, begrüßten sie sie synchron.

Die Zwillinge Nekra und Loima waren die persönlichen Berater des Meisters. Sie saßen immer rechts und links neben ihm und sie waren nie – wirklich nie – bei einer Besprechung aus dem Raum geschickt worden, zumindest nicht, soweit Victoria wusste. Dabei machte es obendrein nicht viel Sinn, denn sie wussten wahrscheinlich so oder so, was in diesem Raum vor sich ging.

Victoria überwand ihre Abscheu und trat einen Schritt auf die Zwillinge zu. „Was geht darin vor sich?“, wollte sie erfahren.

„Wir sitzen hier draußen“, erklärte Nekra sachlich.

„Woher sollen wir also wissen, was da drin passiert?“, fragte Loima unschuldig und legte dabei den Kopf etwas schief.

„Sagt es mir. Sofort!“, schrie sie. Victoria war kurz davor, jemanden den Kopf abzureißen.

„Der Meister würde uns bestimmt tadeln, wenn wir dir geheime Informationen zukommen ließen.“

Das gibt es ja wohl nicht, dachte Victoria. Erst Seth und Kryl und nun auch noch die Zwillinge. Keiner erkennt mich hier in diesem Haus als das an, was ich bin, dachte Victoria.

„Doch natürlich. Nämlich die Vampire, die Angst vor dir haben“, antwortete Nekra auf ihre Gedanken hin.

„So wie der da.“ Loima streckte den Arm aus und zeigte auf die Wache. Dieser zuckte kurz zusammen und man sah ihm deutlich an, dass er panisch wurde. „Es ist nur die Frage, vor wem er mehr Angst hat: Vor dir oder vor deinem Daddy?“

Von Victoria war nun nur noch ein tiefes Knurren zu hören, das immer lauter wurde. Sie kochte innerlich vor Wut und musste sich an irgendjemanden abreagieren. Ihr Blick fiel auf die Zwillinge, die sie immer noch so unverschämt angrinsten. Doch selbst in diesem Zustand wäre Victoria noch lange nicht verrückt genug, um sich an den Zwillingen zu vergreifen. Sie drehte sich um und ging auf die Wache zu. Dieser verteidigte immer noch den Eingang, auch wenn er nun leicht zitterte.

„Aus dem Weg“, knurrte Victoria. Die Wache bewegte sich kein Stück. Das störte Victoria jedoch jetzt nicht mehr. Mit einer Bewegung ihres Arms warf sie ihn ohne Mühe zur Seite. Anschließend stieß sie die schwere Holztür auf, sodass sie in viele kleine Splitter zersprang.

„Victoria?“ Der Mann, der vor ihr im Sessel saß, sah sie überrascht an. Durch seine langen weißen Haare und ein paar Falten im Gesicht sah er schon älter aus. Doch seine Stimme war die eines jungen Mannes, außerdem war sie angenehm sanft und ruhig. „Was machst du denn hier, mein Liebes?“ Es klang keinerlei Vorwurf in der Frage mit. Vielmehr hörte es sich so an, als ob er wirkliches Interesse an der Antwort hatte. Er erwähnte nicht einmal die nun vollständig zerstörte Tür.

Victoria schämte sich plötzlich, als sie ihren Meister vor sich sah, der ihr so liebevoll entgegen kam, dass sie ausgerastet war, dass sie nicht mehr wusste, was sie sagen sollte. „Ich ... es tut mir leid, dass ich gestört habe.“ Sie drehte sich um und wollte schon wieder den Raum verlassen.

„Nein, es ist nicht schlimm. Wir sind gerade fertig geworden.“

Erst jetzt bemerkte Victoria Rak‘shir, der nur ein paar Schritte neben ihr stand. Als sie ihn anschaute, sagte er: „Sei gegrüßt, Victoria. Es ist schön, dich mal wieder zu sehen.“

„Ebenfalls Rak‘shir. Es ist schon viel zu lange her“, antwortete sie höflich. Wieder einmal, so wie jedesmal, war Victoria überwältigt von Rak‘shirs äußeren Erscheinungsbild. Selbst für einen Vampir war er außerordentlich schön.

In dem Moment kamen die Zwillinge an Victoria vorbeigeschlichen. Sie bewegten sich so elegant, dass es schon fast so aussah, als ob sie schwebten. Sie ließen sich links und rechts vom Meister auf den Boden nieder. „Wir haben die Wache schon losgeschickt.“

„Das ist gut. Seth und Kryl müssen das auch unbedingt hören. Außerdem sollten wir keine Zeit verlieren.“ Er streichelte den Zwillingen über den Kopf, die sich daraufhin an seine Beine schmiegten.

Victoria versuchte dieses Bild so gut es ging, zu ignorieren. Gleichzeitig musste sie noch die drängende Frage, was eigentlich los war, unterdrücken. Der Meister hätte sie nur gebeten zu warten. So stand sie ungeduldig in der Ecke, mit einer Hand fest das Kreuz haltend, was an ihrem Hals hing.
 

Seth lief mit einer solchen Geschwindigkeit durch die Flure, dass ihn ein Mensch wohl nur als Luftzug wahrgenommen hätte. Kryl hingegen hätte man eher an den Lärm bemerkt, den er verursachte. Denn er achtete weder auf Kommoden und Lampen noch auf andere Vampire. Immerhin trug er keine Verletzungen davon. Er war hart wie ein Fels.

Diese Verfolgungsjadgend durchs Haus konnten ziemlich lange dauern. Sie hörten eigentlich nur auf, wenn sie jemand störte oder wenn einer von beiden keine Lust mehr hatte und dem Gegner dann freiwilligen den Punkt für diese Runde überließ. Demnach zog sich dieses Spiel meist über einen großen Zeitraum hinweg, sehr zum Leidwesen der anderen Clan-Mitglieder. Der Rekord lag bisher bei drei Tagen.

Nun waren die beiden Vampire gerade mal eine paar Minuten bei der Sache – also noch lange keine Anzeichen von Müdigkeit – als Seht plötzlich stehen blieb, sich umdrehte und Kryl abfing, der natürlich nicht darauf geachtet hatte, dass Seth sich nicht mehr bewegte.

„Hast du das gehört, Kryl?“ Seth horchte in die Ferne.

Kryl schüttelte den Kopf. „Nein. Was denn?“

„Du kannst wirklich nur eine Sache machen, oder? Laufen und gleichzeitig auf die Umgebung zu achten ist für dich wohl ein Ding der Unmöglichkeit.“ Seht grinste kurz, das Kryl auf die Anspielung nicht reagierte. „Naja, ist auch egal. Ich habe gewonnen.“

„Was? Du bist mir doch gerade freiwillig in die Arme gelaufen.“

„Nein, das meine ich doch nicht. Von mir aus kannst du den Punkt haben. Ich bekomme ja jetzt drei.“ Seth grinste übers ganze Gesicht.

„Was? Sag bloß-“

„Genau. Vor gerade mal einer Minute. Du hättest es auch hören können, wenn du besser aufpassen würdest.“

Kryl verschränkte die Arme. „Das will ich bezeugt haben.“

„Kein Problem“, meinte Seth. „Wie es aussieht kommt da auch schon ein Zeuge.“

In dem Moment kam ein Vampir um die Ecke, der ziemlich zerzaust aussah. Kryl sprang sofort auf ihn zu. „Ist Red ausgetickt?“, fiel er über ihn her.

„Was?“, fragte der Vampir ziemlich verwirrt und verängstigt.

„Victoria? Hat sie die Beherrschung verloren?“, übersetzte Seth mit ruhiger Stimme, um den armen mitgenommenen Vampir nicht noch mehr zu erschrecken.

„Ach so.“ Man sah deutlich, wie sein Gehirn begann, zu verstehen. „Ja und wie.“ Zur Bestätigung klopfte er sein Hemd ab, um den noch verbliebenen Staub zu entfernen.

„Ha, ich hatte Recht“, platzte es aus Seth heraus. Kryl zog eine beleidigte Miene.

„Gut. Die drei Punkte gehen dieses Mal an dich. Aber freu dich nicht zu früh. Nächste Runde gewinne ich wieder, du halbe Portion.“

„Das glaubst auch nur du.“ Seth offenbarte als Drohung seine scharfen Eckzähne.

„Ähm, entschuldigen Sie“, versuchte sich die Wache bemerkbar zu machen.

Seth drehte sich verwundert zu ihm um. „Du bist ja immer noch hier. Du kannst wieder gehen. Vielen Dank für deine Hilfe.“ Seth klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.

„Ich bitte um Verzeihung, aber die Zwillinge schicken mich. Der Meister möchte sie beide sofort sprechen.“

„Der Meister will uns sprechen?“, fragte Kryl, worauf die Wache heftig nickte.

„Was will der alte Knacker denn jetzt schon wieder von uns?“, wollte Seth wissen.
 

Seth und Kryl kamen mit einem Lärm herein, der sogar schlafende Hunde geweckt hätte, dabei hatten sie nicht mal eine Tür, die sie hatten auftreten können.

„Hey, der Vogeljunge ist auch mal wieder da“, meinte Kryl.

Rak’shir nickte den beiden zu. „Seth. Kryl.“

„Ja, wir freuen uns auch“, sagte Seth. „Und was verschafft uns die Ehre dieses gemeinsamen Kaffeekränzchens?“

Nun wurde auch Victoria hellhörig. Sie war schon sehr gespannt, was der Meister zu berichten hatte. Vielmehr platzte sie schon fast vor Ungeduld. Sie betete inständig, dass es nichts allzu Schlimmes war. Aber wenn der Meister die wichtigsten Mitglieder des Clans zusammenrief, konnte das nichts Gutes bedeuten.

„Also, wie ihr alle sehen könnt, ist Rak’shir schon etwas früher von seiner Reise zurückgekehrt. Leider mit sehr beunruhigenden Informationen. Wie es scheint wurde unser befreundeter Clan in Ägypten vollständig ausgelöscht.“

Rak’shir blickte traurig zu Boden und der Meister sah sehr besorgt aus. Victoria hatte ihn schon lange nicht mehr so voller Sorge gesehen. Da musste noch mehr dahinter stecken als dieses Massaker.

„Vielleicht war es ja ein großer Trupp Dämonenjäger“, schlug Seth unwissentlich vor, der die Ägypter bis jetzt nicht kennen gelernt hatte.

„Die müssen aber verdammt gut gewesen sein. Der Clan war doch nur wesentlich kleiner als unserer“, gab Kryl zu Bedenken.

„Ja, das stimmt, Kryl“, sagte der Meister. „Rak’shir hat auch keine Anzeichen eines Kampfes entdeckt. Und dennoch glauben wir, dass es die Dämonjäger waren. Es gibt da nämlich etwas, was wir euch bisher verschwiegen haben.“ Er tauschte einen wissenden Blick mit Rak’shir. Dieser nickte.

„Auf meinen vielen Reisen habe ich schon einiges gesehen und erlebt“, fing er an und schaute dabei verloren in die Ferne. „Vor etlichen Jahren habe ich tief in einer Höhle von Nigeria eine Schriftrolle entdeckt, die eine Prophezeiung enthielt. Sie besagt, dass eines Tages eine Waffe auftauchen wird, die in der Lage ist, Vampire zu töten. Außerdem stand dort, falls diese Waffe in die Hände unserer Feinde geraten sollte, dass das Ende unserer Gattung bedeuten könnte.“ Er schloss seinen Vortrag, ohne auf die entsetzten Gesichter seiner Kollegen zu achten.

Es war mehr als deutlich, dass alle Drei mehr wissen wollten. Victoria hatte zu viel Respekt, um dazwischen zu reden, bevor der Meister sie nicht um ihre Meinung gebeten hatte. Kryl und Seth war das jedoch ziemlich gleichgültig.

„Was soll das jetzt genau heißen?“, fragte Seth

Zur gleichen Zeit meinte Kryl: „Wir werden natürlich kämpfen.“ Kampfeslustig streckte er seine Faust aus und zeigte zusätzlich seine spitzen Zähne.

Der Meister präsentierte ein kleines Lächeln. „So sehe ich das gerne. Ich würde euch nämlich gerne losschicken, damit ihr rausfinden könnt, wer dahinter steckt.“

„Natürlich. Endlich mal wieder hier raus“, riefen Seth und Kryl gleichzeitig.

Nun erlaubte sich auch Victoria, sich einmal einzumischen. „Meister, wie gedenkt ihr, dass wir vorgehen sollen? Immerhin könnte der Täter nun überall sein.“

„Wir wissen, wo die Waffe ist“, kam es synchron von den Zwillingen. „Sie ist auf den Weg nach Prag.“

„Dann kann es ja sofort losgehen. Wenn die Teufelskinder das sagen, muss es einfach stimmen“, verkündete Kryl und grinste dabei über das ganze Gesicht. Die Vorfreude, endlich mal wieder aus dem Haus zu kommen, überschattete die Tatsache, dass es sich um eine gefährliche Angelegenheit handelte.

„Ich hatte eigentlich vor, dass ihr drei“, er schaute nacheinander von Victoria zu Seth und anschließend zu Kryl, „euch heute Abend noch auf den Weg macht. Rak’shir wird euch begleiten und die Mission auch anführen.“

Victoria war wie erstarrt. Hatte sie das gerade richtig verstanden? Bisher hatte sie immer die Leitung inne gehabt. Zwar hatten die Anderen selten auf sie gehört, doch sie hatte die Gewissheit, dass der Meister sie für geeignet hielt. Und nun erhielt Rak’shir diese vertrauensvolle Aufgabe. Bislang war sie noch nie mit ihm gereist. Er war bei den wichtigsten Missionen immer unterwegs gewesen. Victoria hielt in zwar durchaus für fähig, doch sie war immerhin länger in diesen Clan als er. Sie hatte das Vorrecht auf die Rolle der Anführerin. Das würde sie jedoch jetzt nicht vor den anderen mit ihren Vater ausdiskutieren. Sie würde später wieder kommen. Stattdessen lag ihr noch eine andere Frage auf der Zunge. Sie wandte sich an die Zwillinge. „Wenn ihr schon so genau wisst, wo sich die Waffe befindet, könnt ihr uns doch auch bestimmt sagen, wer hinter dieser grauenvollen Attacke steckt, oder?“ Victoria hatte ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen, denn sie wusste, dass die Zwillinge schon längst etwas gesagt hätten, wenn sie irgendetwas gesehen hätten.

Nekra schüttelte den Kopf. „Es tut uns leid, aber wir können nichts sehen.“ Dabei schaute sie den Meister entschuldigend an.

„Wir sehen nur ein merkwürdiges Licht. Mehr ist dort nicht.“ Loima wirkte mit ihren leeren Blick wie an einen anderen Ort, wo sie vermutlich auch war.

Der Meister legte seine Hände auf ihre Köpfe. Er streichelte sanft über ihr Haar. „Das ist nicht schlimm, meine Kleinen. Ihr habt uns wirklich hervorragend geholfen.“

Victoria konnte diesen Anblick nicht länger ertragen und drehte sich, vor Wut kochend, um. „Ich gehe packen“, raunte sie und war dann durch den türlosen Rahmen verschwunden.

Seth hatte ein breites Grinsen auf dem Gesicht. „Weiber“, sagte er nur.

Kryl legte seine Hand auf seine Schulter und sah ihm tief in die Augen. „Wie wär’s mit einem letzten Spielchen, bevor wir losmüssen? Der Verlierer darf ihren Koffer tragen.“

„Abgemacht!“, meinte Seth und war auch schon mit einer blitzschnellen Bewegung aus dem Zimmer verschwunden.

Gedanken und Gefühle

Victoria stand unschlüssig vor der provisorisch reparierten Tür. Sie hatte Angst, dass sie wie ein verwöhntes kleines Kind klingen würde, wenn sie mit den Meister über ihre Bedenken sprach. Besonders die amüsierten Gesichter der Zwillinge versuchte sie aus ihren Kopf zu verbannen. Wenn diese kleinen Gören nur nicht immer beim Meister sein mussten. Victoria vermisste die Zeit, als sie noch alleine mit ihm durch die Gegend gereist war. Nur er und sie, Vater und Tochter. Diese Zeit war für Victoria eine der Glücklichsten in ihren gesamten Leben gewesen. Und dann kam Rak’shir und bevor sie sich versah, wurde daraus ein ganzer Clan, einer der größten noch dazu. Nun war man hier so gut wie nie allein. Jeder kannte Victoria, immerhin stand sie direkt unter dem Meister, aber manchmal wünschte sie sich, dass es anders wäre. Sie musste immer die Haltung wahren, um für die niederen Vampire ein gutes Vorbild zu sein, doch manchmal wollte sie einfach nur flüchten. Wenn der Meister nicht wäre, wäre Victoria vermutlich schon lange weggelaufen. Hin und wieder beneidete sie auch Rak’shir, der sich so gekonnt vom Clan distanzierte und trotzdem vom Meister geschätzt und geehrt wurde. Victoria musste sich für diese Anerkennung immer den Arm ausreißen, zumindest kam es ihr öfters so vor. Sie zweifelte zwar nicht daran, dass der Meister sie wie eine Tochter liebte, doch trotzdem erzählte er ihr nicht alles. Das beste Beispiel dafür war die Tatsache mit dieser Prophezeiung. Rak’shir hatte davon gewusst, die Zwillinge natürlich auch und seiner Tochter erzählte er nichts davon. In dem Moment hatte Victoria sich gekränkt gefühlt. War sie etwa nicht vertrauensvoll genug, um ein Geheimnis zu bewahren? Früher hatte der Meister ihr alles erzählt. Alles, was wichtig war und noch so jede winzige Kleinigkeit. Seit nunmehr dreißig Jahren kam es ihr so vor, als ob sich der Meister immer mehr von ihr distanzieren würde. Seit Seth in den Clan gekommen war. Er hatte ihn sofort herzlich aufgenommen, ihn fast schon wie einen Sohn behandelt. Victoria verstand es nicht. Immerhin war er nur irgendein dahergelaufener Streuner. Und der Meister behandelte ihn, als ob er ein Heiliger wäre. Dabei war doch der Meister selber der Heilige, ihr persönliche Retter aus der Hölle gewesen.
 

Victoria holte einmal tief Luft, eine Handlung, die sie aus Gewohnheit immer noch tat, obwohl sie es nicht mehr benötigte. Langsam griff sie nach der Klinke. Wie in Zeitlupe drückte sie sie herunter, Millimeter um Millimeter. Vorsichtig öffnete sie die Tür und war erleichtert, als sie ihren Meister erblickte, der alleine in seinem Sessel saß. Es war keine einzige Wache zu sehen und was noch besser war, die Zwilling waren auch nicht zugegen. Gleich schon änderte sich die Stimmung von Victoria schlagartig. Ein Lächeln stahl sich auf ihr makelloses Gesicht. Wie lange schon war sie nicht mehr alleine mit ihrem Meister in einen Raum gewesen. Sofort schritt sie elegant zu ihm hin und ließ sich zu seinen Füßen nieder.

Mit einem wohligen Gefühl im Bauch schmiegte sie sich an ihn. Wie lange hatte sie nicht mehr diese Nähe gespürt? Es war viel zu lange her. Für einige Minuten genoss sie einfach, dass er für sie da war, spürte mit Freuden seine Hand, die auf ihrem Kopf ruhte.

Dann blickte sie zu ihm empor. „Ich muss mit euch reden, Meister.“

„Ich weiß, meine Liebe. Du fühlst dich bestimmt von mir verraten, oder? Immerhin habe ich dir nichts von dieser Prophezeiung erzählt, dabei bist du doch mein kleines Mädchen.“ Er lächelte sie an und für Victoria brauchte es gar nicht mehr, um vor Freude in die Luft zu springen.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich fühle mich nicht verraten. Ich verstehe es nur nicht. Vertraut ihr mir etwa nicht mehr? Bin ich nicht mehr gut genug?“ Sie blickte zu Boden, weil sie nicht sein Gesicht sehen wollte, wenn er genau diese Worte aussprach. Kurz musste sie an Seth denken, den er sofort freudig in die Arme geschlossen hatte, obwohl er ihn kaum kannte. Selbst bei Kryl hatte es einige Zeit gedauert, bis der Meister ihn akzeptiert hatte, aber Seth hatte wohl irgendetwas an sich, dass jeder ihn sofort mochte.

„Nein, ganz im Gegenteil, Victoria.“ Er nahm ihr Kinn in die Hand und zwang sie sanft dazu, ihm in die Augen zu sehen. „Ich würde dir mein Leben anvertrauen. Und trotzdem bleibst du mein kleines Mädchen, das ich nie unglücklich sehen will. Deshalb habe ich dir nichts erzählt. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst. Du denkst manchmal über so etwas viel zu lange nach. Ich werde nie diese traurigen Augen vergessen, als wir aus Griechenland zurückgekommen sind. Und noch heute sehe ich oft diesen Blick bei dir, der mir verrät, dass du schon wieder in irgendeiner traurigen Vergangenheit unterwegs bist. Darum habe ich es nicht übers Herz gebracht, dir von der Prophezeiung zu erzählen. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.“

Victoria nickte nur, zu mehr war sie nicht imstande. Sie war so überwältigt, dass sie nicht wusste, was sie darauf antworten konnte. Sie schmiegte sich einfach wieder an ihren Meister. Das musste genügen, um ihre Zuneigung auszudrücken. So blieb sie dort sitzen und vergaß völlig, warum sie eigentlich gekommen war, jedoch war dies auch kaum länger von Bedeutung.

Bis der Meister dieses Thema ansprach: „Ich habe eben auch noch bemerkt, dass es dir wohl nicht gefällt, dass Rak’shir euer Anführer sein soll.“

Victoria blickte wieder zu ihm auf. Wenn sie eben noch gedacht hatte, dass sie ihm egal war, dann waren spätestens jetzt die letzten Zweifel verschwunden. Immerhin kannte er sie gut genug, um so etwas zu erkennen.

„Ich weiß, dass du Rak’shir nicht besonders gut kennst, aber ich kann dir versichern, dass er ein ausgezeichneter Krieger ist. Und ich habe ihn als Anführer gewählt, weil er die Prophezeiung in und auswendig kennt. Außerdem war er schon fast in jedem Land, dass es hier auf dieser Welt gibt. Was für einen besseren Führer kann man sich denn vorstellen? Ich will doch nur, dass ihr alle wohlbehalten wieder zu mir zurückkommt.“ Er schaute auf die gegenüberliegende Wand und schien tief in Gedanken versunken zu sein.

Victoria sah es wieder, die Sorge in seinen Augen. Er hatte wirklich Angst, dass dies der Anfang vom Ende sein könnte. Und Victoria musste zugeben, dass sie auch Angst hatte. Damals in Griechenland war der Meister zuversichtlich gewesen, hatte ihr Mut gemacht und dennoch hatte sie dieses Schreckensbild nie wieder vergessen können. Und nun war er selber voller Sorge. In was sollte Victoria denn dann ihre Hoffnungen setzten?
 

Rak’shir schritt die lange, dunkle Wendeltreppe hinunter. Seine Gedanken waren immer noch in Ägypten. In diesem trostlosen Haus, das völlig ausgestorben war, als ob nie jemand dort gewohnt hätte. Nur noch ein wenig Staub zeugte von den einstigen Bewohnern. Und die vielen Katzen, die hungrig miauend auf den unangemeldeten Gast zurannten. Einige schnappten sogar nach Horus, was sie sonst nie gewagt hätten. Rak’shir untersuchte das ganze Haus, doch in allen Räumen sah es gleich aus. Leer und einsam.

Er verspürte Trauer über den Verlust dieser gottlosen Geschöpfe, denn immerhin waren sie seine Freunde gewesen. Den Anführer kannte er schon seit mehreren Jahrhunderten, hatte viele Expeditionen gemeinsam mit ihm unternommen. Katesh hatte sich als Erster mit Rak’shir messen können, was sein Wissen anbelangte. Und das hatte ihn zu einer Person gemacht, die Rak’shir sehr respektierte und zu schätzen wusste. Vielleicht konnte man ihn sogar als einen besten Freund bezeichnen.

Rak’shir hatte lange im Zimmer von Katesh gesessen. Vielleicht hatte er gehofft einen Anhaltspunkt zu finden, der diese Tragödie erklären würde. Doch auch in diesem Raum war nur der Staub auf dem Boden. Rak’shir nahm etwas davon und tat es in den Beutel, den er immer bei sich trug. Ein Andenken. Den Rest nahm er, trat zum Fenster und warf es hinaus. Nur eine Windböe und der Staub vermischte sich mit dem Sand und war nicht mehr zu sehen. Rak’shir lächelte traurig. Das hätte Katesh gefallen. Für immer in seiner geliebten Wüste.
 

Die schwere Eisentür knarzte, als Rak’shir sie öffnete. Dahinter lag ein Raum, der fast nur aus Regalen bestand. Über und über waren sie mit Büchern gefüllt. Rak’shir war ein leidenschaftlicher Sammler. Doch nicht nur die alten Werke waren hier vertreten, sondern auch Bücher über die neuesten Techniken. Rak’shir war schon immer fasziniert gewesen von Wissen. Und er konnte immer noch etwas dazu lernen. Es gab immer etwas Neues zu entdecken.

Rak’shir schritt zum Schreibtisch und legte seine Tasche darauf. Er pfiff kurz in einer Frequenz, die ein Mensch wohl nicht hätte hören können. Dabei zog er mit seiner Hand eine Kladde aus seiner Tasche. Sie war in Leder gebunden und vorne stand in verschnörkelter sauberer Schrift ‚2009’. Rak’shir blätterte kurz die Seiten durch. Bei der letzten beschriebenen Seite blieb er stehen. Die Schrift schien unsauberer zu sein als auf den anderen Seiten. Sie wirkte hektischer. Rak’shir konnte nicht anders und begann seinen eigenen Eintrag zu lesen.
 

6. Juni 2009
 

Es hat begonnen!

Der Clan von Katesh ist von der Erde getilgt worden. Die Waffe scheint aufgetaucht zu sein. Es waren keine Anzeichen eines Kampfes zu sehen gewesen. Eigentlich war da nichts außer dieser bedrückenden Stille.

Es hat sie wohl in einem Schlag vernichtet. Anders kann ich es mir nicht erklären.

Aber wer bedient diese Waffe? Dämonenjäger waren es nicht, wie ich glaube. Zumindest konnte ich keine Gerüche von Menschen wahrnehmen. Immerhin eine gute Nachricht.

Das heißt, dass der Täter vielleicht nicht mit einer bestimmten Taktik vorgeht, sondern einfach wahllos tötet. Das könnte jedoch sowohl ein Vorteil als auch einen Nachteil bedeuten. Ein Täter, der wahllos tötet, ist manchmal schwerer zu verfolgen als jemand, der einen Plan hat.

Ich hoffe nur, dass wir rechtzeitig etwas unternehmen können. Auch wenn diese Kreaturen anders sind, haben sie es nicht verdient, alle zu sterben. Vielleicht ist die Prophezeiung wirklich war und er kann uns alle retten.
 

Rak’shir blickte auf. Es war seltsam. Es schien so weit weg zu sein, dabei waren nur ein paar Tage vergangen. Er konnte es immer noch nicht so recht fassen. Der Krieg hatte begonnen und wer wusste schon, wie er ausgehen würde? Normalerweise hätte Rak’shir gesagt, dass man Vampire nur schwer töten konnte, aber diese Waffe war wohl etwas, das man bisher noch nicht kannte.

Es gab immer noch so viel, was er nicht kannte. Was er nicht wusste und es machte ihn rasend. Vielleicht hätte er dieses Leben schon längst beenden sollen, doch er war einfach zu schwach. Sein Wunsch war stärker als seine Reue. Er war nicht besser als jeder wertlose Mörder.

In eben diesem Moment kam Horus hereingeflogen. Er landete sanft auf der Schulter seines Herren und krächzte ihm leise ins Ohr. Es klang, als ob der Falke ihm tröstliche Worte zuflüstern würde. Rak’shir klappte daraufhin sein Notizbuch zu. „Wills du selber jagen oder soll ich dir eine Maus fangen?“

Rak’shirs Bibliothek wimmelte nur so vor Mäusen. Immer wieder huschten sie über den kalten Steinboden. Hin und her. Doch Rak’shir störte sich nicht dran. Er fütterte sie sogar. Solange sie seine Bücher nicht anrührten, war alles in bester Ordnung. Und für Horus waren sie eine ideale Mahlzeit für zwischendurch. Rak’shir wunderte sich manchmal, wie der Falke in einem Raum voller Regale jagen konnte, doch Horus kam fast immer erfolgreich mit einer Maus im Schnabel zurück. So auch dieses Mal ließ er sich nicht von seiner Jagd abringen und breitete die Flügel aus. Rak’shir schaute seinem Gefährten kurz nach. Schon seit fünf Jahren begleitete Horus ihn nun auf seinen Reisen. Er war ein treuer Gefährte geworden. Ein Freund, den er nicht mehr missen wollte. Er war klüger als so mancher Vampir oder Mensch, dem er begegnet war. Zumindest klüger als Kryl.

„Lass es dir schmecken“, meinte er, als er hörte, wie Horus gerade eine Maus totbiss.

Rak’shir hingegen ging zum Regal, was neben seinem Schreibtisch stand. Es sah aus wie alle anderen Regale in diesem Raum, doch waren die Bücher anders. Waren die Bücher sonst total ungeordnet, kleine neben großen, alte neben neuen, A neben K, so waren sie hier einheitlich. Alle waren sie große lederne Kladden, die nach Jahren sortiert waren. Es waren bestimmt hunderte. Er schritt am Regal entlang, strich mit seinen Fingern über die Einbände, bis er das Jahr gefunden hatte, das er gesucht hatte: 1832.

Vorsichtig zog er das Buch heraus. Er setzte sich auf seinen Sessel und tauchte in die über hundert Jahre vergangenen Erlebnisse ein.
 

November 1832, Nigeria
 

Seit mehreren Monaten verweile ich nun schon in Nigeria. Die Aufstände in Europa, besonders in Paris, interessieren mich nicht wirklich. Die Vampire haben sowieso keine Chance. Es gibt einfach zu viele Menschen. Und die sich immer weiter aufbauende Gemeinde von Jägern wird immer besser. Sie kennen nun bereits unsere Schwachstellen. Viele Vampire sind gefallen, wie ich gehört habe. Aber es ist mir gleichgültig. Ich wusste von vornherein, dass daraus nichts werden würde. Auch der Meister hat die Einmischung unseres Clans schlichtweg untersagt. Also hört er immer noch auf meinen Rat. Vermutlich haben die Zwillinge auch ihren Beitrag dazu geleistet. Kryl hat sich darüber geärgert, ist mir zu Ohren gekommen. Er war schon immer viel zu heißblütig.

Ich bin froh mich nicht in die Sache eingemischt zu haben, denn hier habe ich etwas sehr interessantes entdeckt. Erst wollte ich nur zur Entspannnung durch das Land reisen. Mir einfach mal eine Pause gönnen. Doch es hat sich etwas ergeben, was ich nicht vorhergesehen habe. Kaly hat eine Höhle entdeckt. Sie hat wirklich eine gute Nase. Mir war die Höhle nicht aufgefallen.

Aber erst hielt ich sie für nichts Besonderes. Immerhin war es nur eine ganz normale Höhle. Die kann man überall finden. Zumindest dachte ich das. Doch je tiefer ich in das Dunkel hineingelangte, desto vertrauter wurde es. Ich konnte nicht genau bestimmen, was diese Vertrautheit in mir auslöste. Es war so, als ob ich schon mal hier gewesen war. Aber nicht die Wände und Tunnel schien ich schon mal gesehen zu haben, sondern das Gefühl, das mich dabei beschlich. Irgendetwas Eigenartiges.

Mehrere Tage erkundete ich die Höhle. Sie war weit verzweigt. So weit verzweigt, dass es sogar für mich etwas dauern würde, alles zu sehen. Manchmal stellte ich mir die Frage, warum ich überhaupt hier war. Was mich dazu verleitete, immer tiefer vorzudringen? Mittlerweile glaube ich, dass es die Energie der Höhle war. Es erinnerte mich an etwas. Sie war ähnlich wie damals. Damals in der Höhle, wo alles begonnen hat. Hier war etwas Übernatürliches am Werk. Anders konnte ich es mir nicht erklären.

Und ich lag richtig. Nach vier Tagen, wo ich schon beinahe aufgeben wollte, entdeckte ich mitten im Gestein ein Tor. es waren seltsame Schriftzeichen darauf zu erkennen. Schriftzeichen, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Es störte mich, dass ich sie nicht kannte. Das es etwas gab, wovon ich noch nie gehört hatte. Zuerst beschäftigte ich mich damit, diese Zeichen ordnungsgemäß zu dokumentieren. Ich würde mich später damit näher beschäftigen. Ich werde sie bestimmt übersetzten können.

Dann machte ich mich daran, das Tor zu öffnen. Es ging nicht ganz, ohne es zu zerstören. Kaly saß die ganze Zeit neben mir und betrachtete mich desinteressiert. Wahrscheinlich fragte sie sich, was wir hier eigentlich suchten. Und in meinen schwachen Momenten fragte ich mich das auch. Immerhin war es so ähnlich wie damals. Und ich habe diese Erfahrung mein Leben lang bereut.

Aber es war richtig zu bleiben trotz meiner Bedenken. Etwas Unglaubliches habe ich entdeckt. Etwas, was uns in der Zukunft von Vorteil sein könnte. Es scheint eine Art von Prophezeiung zu sein. Und seine Aura, die es ausstrahlt, lässt keine Sekunde an deren Wahrheit zweifeln. Es ist eine Rede von einer Waffe. Einer Waffe, die dazu in der Lage ist, Vampire zu töten. Das ist natürlich nicht sehr erfreulich. Doch es ist auch von einem Mann die Rede. Einem Mann, der das Licht aufhalten kann. Ich bin mir nicht ganz sicher, was das bedeuten soll, jedoch werde ich das noch herausfinden. Wahrscheinlich war es vorherbestimmt, dass ich diese Prophezeiung finden soll.

Als erstes werde ich zum Meister gehen und ihm davon berichten. Vielleicht wissen die Zwillinge etwas dazu. Wahrscheinlich kennen sie sogar schon den Ausgang dieser Katastrophe. Bei den Beiden ist alles möglich.
 

Damit endete der Eintrag. Rak’shir schaute auf. Seit diesem Tag war einige Zeit vergangen. Er hatte viel gesehen und einiges war geschehen. Heute wusste er nicht mehr so Recht, ob er diese Prophezeiung immer noch als nützlich ansehen sollte. Sie wussten zwar davor, dass irgendwann diese Waffe auftauchen würde, doch sie wussten weder wo noch wann. Und nun war es geschehen. Sie hatten es nicht verhindern können und sie wussten immer noch nicht genau, womit sie es zu tun hatten. Sie wussten nur, dass sie es irgendwie aufhalten mussten. Rak’shir hoffte nur, dass der Mann, von dem die Rede war, auch wirklich dazu in der Lage wäre, diesen Schrecken aufzuhalten. Sonst würden sie alle vernichtet werden. Jeder einzelne Vampir.
 

„Warum vertraust du ihm so sehr?“, fragte Victoria geistesabwesend. Eigentlich hatte das in ihrem Kopf bleiben sollen und sie hatte es nur ungewollt ausgesprochen. Sie ärgerte sich über sich selbst, denn das klang, als ob sie ein kleines eifersüchtige Gör wäre. Und das war sie sicher nicht!

„Ach, mein kleiner Liebling, ich kenne Rak’shir schon so lange. Er ist ein guter Mann. Es gibt keinen Grund, ihm nicht zu vertrauen.“

Der Meister klang immer so verständnisvoll. Er hatte sie noch nie angeschrieen oder gar ermahnt. Sie durfte alles tun oder sagen, was sie wollte. Aber manchmal war er einfach stur und hörte nicht auf ihren Rat. Als Seth hier ankam, hatte sie sich sofort gegen ihn ausgesprochen. Es war ungewöhnlich, dass der Meister ihn direkt ohne einen Test in seinen Clan aufgenommen hatte. Doch er wollte seinen Fehler nicht sehen. Und das nagte immer noch an Victoria. Er hörte nicht auf sie, aber auf Rak’shir. Ein kleines Wort von ihm und schon änderte er seine Meinung. Nur weil Rak’shir gebildet war, war sein Wort doch nicht mehr wert als ihres.

Aber in gewisser Weise verstand sie ihren Meister. Rak’shir konnte man nichts abschlagen. Das ging überhaupt nicht.

Deshalb hatte sich ihr Gedanke zu Anfang auch auf Seth bezogen. Sie konnte selbst nach diesen dreißig Jahren immer noch nicht verstehen, warum ihr Vater ihn so mochte. Er war ein nerviges, ungehobeltes Arschloch. Sie hätte es dabei belassen können, dem Meister in dem Glauben lassen können, das es um Rak’shir ging. Doch irgendetwas verleitete sie dazu, es richtig zu stellen.

„Nein, Meister, ich meinte eigentlich Seth. Er ist respektlos und unerfahren. Außerdem ist er nicht mal annähernd so stark wie wir Anderen. Er würde uns vermutlich nur im Wege stehen.“ Victoria konnte es kaum glauben, dass sie das wirklich gesagt hatte. Alle ihre Bedenken auszusprechen tat wirklich gut, aber sie hatte Angst, dass der Meister das falsch verstehen könnte.

„Es wird kein Fehler sein, dass er euch begleitet, das verspreche ich dir.“ Ein weiteres Mal streichelte er ihr sanft über die Haare. „Ich würde nichts tun, das euch gefährdet.“

Victoria konnte es nicht mehr hören. Immer zu nahm er ihn in Schutz und versprach ihr Sachen, die er nicht kontrollieren konnte. Er wollte nicht, dass ihnen etwas geschah. Vielleicht stimmte das sogar, aber er war manchmal wirklich naiv. „Du willst also nicht, dass uns was zustößt? Trotzdem schickst du uns geradewegs nach Prag. Zu dieser Waffe, die es schafft, Vampire zu töten, ohne dass sie eine Hauch von Chance haben. Wieso tust du das, wieso wir?“ Victoria war wütend. Eigentlich hatte sie nicht so schreien wollen, doch irgendetwas in ihr musste raus. Diese ganze Heuchelei ihres Meisters ging ihr auf die Nerven. Er war nicht besser als ihr richtiger Vater.

„Victoria … ich …“ Zum ersten Mal schien der Meister sprachlos zu sein. Victoria hatte noch nie derart mit ihm gesprochen. Vielleicht sollte er ihr einfach alles erzählen. „Ich weiß, dass es gefährlich ist, aber wenn wir jetzt nichts unternehmen, werden wir früher oder später sowieso sterben. Es ist eine Notwendigkeit jetzt zu kämpfen.“

Victoria schüttelte fassungslos den Kopf. „Wenn es dir wirklich so viel bedeuten würde, würdest du mitkommen. Du würdest uns beschützen. Und jetzt erzähle mir nicht, dass du alt bist. Du bist wahrscheinlich stärker als alle anderen Vampire in diesem Clan. Du bist nicht umsonst immer noch der Meister hier.“ Victoria hatte noch nie so mit ihrem Meister gesprochen, eigentlich respektierte sie ihn viel zu sehr, als ihn so anzufahren. Aber irgendwie war sie heute nicht sie selbst. Sie hatte Angst. Angst, dass bald nichts mehr so sein würde, wie es war. Wer sollte sie vor dieser Katastrophe beschützen, wenn selbst der Meister keinen Ausweg sah?

„Ich bedaure es sehr, dass ich euch nicht begleiten kann. Aber Seth ist etwas ganz Besonderes. Du wirst es noch verstehen, Victoria. Ich würde euch nicht alleine lassen, wenn ich mir nicht sicher wäre, dass ihr – dass du zu mir zurückkommen wirst. Denn ich liebe dich, Victoria. Ich liebe dich seit dem Tag, als ich dich in meine Familie aufgenommen habe.“

Er war nicht wütend oder sauer. Er versuchte nur wieder, sie zu beruhigen. Eine kleine Träne stahl sich über ihre Wange. Sie hatte ihn angeschrieen, obwohl er es gar nicht verdient hatte. „Es tut mir leid, Vater.“ Mehr war sie nicht imstande zu sagen, aber sie war fest davon überzeugt, dass es reichen würde. Sie konnte sich zwar immer noch nicht so recht vorstellen, was an Seth so besonders sein sollte, aber das war jetzt nebensächlich. Sie war hier alleine mit ihrem Meister und das war alles, was zählte.

„Ihr werdet einen von eurer Gruppe verlieren“, kam eine glockenhelle Stimme vom hinteren Teil des Raumes. Nekra leckte sich die Lippen ab, um die letzten Blutreste zu beseitigen. Neben ihr betrat Loima den Raum, ihre Schwester an der Hand haltend.

Victoria sah geschockt zu den Zwillingen. Zum Einen, über die gerade ausgesprochene Vorhersage, zum Anderen, weil sie gerade in diesem Moment hereinplatzen mussten.

Der Meister dagegen erhob sich. „Nekra! Wieso sagst du so etwas?“ Er schien wütend zu sein, aber Victoria sah auch Bestürzung in seinen Augen. Bisher war alles, was die Zwillinge von sich gegeben haben, auch eingetroffen. Also konnte man auch jetzt davon ausgehen, dass sie die Wahrheit sprachen.

„Wir wissen nicht, wer es ist. Wir fühlen nur, dass Victoria eine unglaubliche Trauer empfinden wird über den Verlust einer geliebten Person.“ Loimas Stimme klang sachlich. Keinerlei Gefühl schwang darin mit. Victoria fragte sich manchmal, ob die beiden wirklich dazu imstande waren, irgendetwas zu empfinden oder ob es wirklich Kinder des Teufels waren.

„Victoria, sie wissen nicht, was sie sagen, wenn sie in Trance sind“, versuchte der Meister zu erklären, doch Victoria hatte sich bereits erhoben und war dabei den Raum zu verlassen.

Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal um und schenkte ihrem Meister ein aufmunterndes Lächeln. „Diesmal müssen sich die Zwillinge irren, denn ich würde keinen von den Dreien wirklich vermissen.“ Damit war sie verschwunden und behielt ihre eigentlichen Gedanken für sich.



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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von:  So-Chan
2013-11-13T17:44:12+00:00 13.11.2013 18:44
Hey ho^^

Dein Prolog schmeist einen direkt ins kalte wasser, was nicht jedermans sache is, es stellen sich viele fragen auf, die sich denke ich später erklären.
Es fällt mir schwer mich in die geschichte zu versetzen. Denoch mag ich deine schreibweise, die Fliesend und auch aufregend ist, was gutes hoffen läst.
Du hebst die Spannung was mir gut gefällt und durch das ende hat man den drang weiter zu lesen, freu mich schon.

werde sobald wie möglich weiter lesen.

LG
Sonora
✖✐✖ - RE
Von:  Varlet
2010-02-27T19:13:28+00:00 27.02.2010 20:13
Hey

also ich find dein Prolog sehr gut ausformuliert. Er ist kurz, aber genau das macht ihn so passend für den Anfang. Ich finde auch, dass du sehr gut die Dramatik in den Vordergrund stellst, ebenso wie die Tatsache, dass es den Leser einheitzt, weiter lesen zu wollen.
Mir hat es auch sehr gut gefallen, wie du die Dinge beschrieben hast, und das man dadurch auch mehr EInblick bekommen hat, aber auch hast du schon die ersten Fragen aufgeworfen, für die es bestimmt im weiteren Verlauf der Geschichte die Antworten findet.

Von:  Nochnoi
2010-02-15T12:26:54+00:00 15.02.2010 13:26
So, endlich bin ich mal dazu gekommen, das Kapitel zu lesen ^^

Und ich muss sagen, du machst wirklich Fortschritte beim Schreiben! Schön, wie du alles erklärst und die Atmosphäre einfängst.

Und Victoria (darf ich sie Vicky nennen? XDD) scheint ja ein bisschen von der Rolle zu sein. Sie Ärmste, dass sie glaubt, ihr Meister würde ihr nicht mehr vertrauen. Zugegeben, ich kenne den Herrn nicht persönlich und kann ihn nach den paar Kapiteln noch nicht einschätzen, aber ich denke, dass es um weit mehr geht.
Und sie ist nicht eifersüchtig? Sorry Vicky, dass ich das jetzt sagen muss, aber ehrlich gesagt klingst du seeeehr eifersüchtig! ;p Wie sie Seth immer runtermacht und sich darüber beschwert, dass ihr Meister ihn einfach so in den Clan aufgenommen hat … (P-Alarm???? XD)

Aber das mit dieser Waffe und dieser Prophezeiung … hm, ich frage mich wirklich, was es damit auf sich hat. Worum kann es sich nur handeln? Und wer ist dieser Mann, der das Licht aufhalten kann? Seth vielleicht? Immerhin behauptet der Meister, er wäre etwas ganz Besonderes. Oder möglicherweise auch jemand ganz anderes?
Ich bin auf jeden Fall gespannt, was nun genau dahintersteckt ^^

„Er war klüger als so mancher Vampir oder Mensch, dem er begegnet war. Zumindest klüger als Kryl.“
- Ich weiß auch nicht, aber bei dem Satz musste ich echt grinsen XD

„1832“
- Gut, dass du jemanden hast, der sich damit ganz gut auskennt, was? ;p Ach ja, das arme Paris zu dieser Zeit …

„Vielleicht wissen die Zwillinge etwas dazu. Wahrscheinlich kennen sie sogar schon den Ausgang dieser Katastrophe. Bei den Beiden ist alles möglich.“
- Hat mich irgendwie sehr an Necroma erinnert XD Ich glaube, sie und die Zwillinge würden sich prächtig verstehen!

„Diesmal müssen sich die Zwillinge irren, denn ich würde keinen von den Dreien wirklich vermissen.“
- Bist du dir da echt so sicher, Vicky? ;p

So, dann freu ich mich schon sehr auf das nächste Kapitel! Bleibt weiter kreativ, ihr beiden ;p

Hab euch lieb
Sarah

Von: abgemeldet
2009-12-27T20:20:08+00:00 27.12.2009 21:20
Huhu^^

na da gehts aber gleich zur Sache.
Mit gefällt, dass du/ihr(?) den Leser gleich mitten ins Geschehen schmeißt. Das macht wirklich Lust auf mehr!

Die Schmerzen waren ja wirklich fast zu spüren. Toll beschrieben.

Ich frage mich, wie alt die Vampire wohl sind. Den Namen nach würde ich sie auf ein paar hundert Jährchen schätzen.

LG
datHexe
~present for you~
Von:  Nochnoi
2009-06-03T10:10:03+00:00 03.06.2009 12:10
Meiner Meinung nach ein wunderschöner Einstieg ;)

Allein schon das Gespräch am Anfang, das man so wunderbar missverstehen kann XDD Erst reden die beiden vom Vorspiel und dann auch noch, dass man Männer anstatt Frauen einbeziehen sollte o.ô Tja, Kryl, auch wenn es nur ums Bluttrinken geht, ein bisschen schwul kam das schon rüber XDD

Mir gefallen besonders die Charaktere, die ihr geschaffen habt. Seth ist dreist und sorglos und Kryl ungestüm und nicht gerade helle - und zusammen geben die beiden wirklich ein entzückendes Paar ab XD Ich kann mir förmlich vorstellen, wie die beiden tagelang durch Haus poltern. Und besonders lustig ist es auch, dass Kryl dauernd irgendwelche Spitznamen benutzt XD
Victoria scheint mir aber auch ziemlich cool zu sein. Und offenbar hat sie trotz ihrer Reizbarkeit genügend Selbstbehrrschung, um die beiden eben erwähnten Krachmacher nicht einfach umzubringen ;) Alle Achtung! Ich würde sicherlich völlig ausrasten, wenn jemand drei Tage das Haus auf den Kopf stellen würde.
Die Zwillinge sind auch verdammt genial! Allein ihre ersten Sätze waren toll. Tja, das sind wohl so richtige Zwillinge, mit nem Schuss übernatürlicher Kräfte ;p Schade, dass sie auf die Reise nicht mitkommen, das wäre bestimmt sehr lustig geworden XD Aber okay, sind ja noch Kinder. Dann kann ich verstehen, dass der Meister sie nicht auf solch eine gefährliche Mission schicken will. Zumal wär's ihm sicher sterbenslangweilig, wenn die beiden nicht mehr da wären ;)

So, jetzt bin ich aber wirklich mal gespannt, was nun eigentlich vorgeht. Waren es wirklich Vampirjäger, die den Clan in Ägypten ausgelöscht haben? Und was ist das bloß für eine Waffe?

Ich freu mich schon auf die Antworten ^^

Hab euch lieb
Nochnoi
Von:  Nochnoi
2009-05-30T09:51:38+00:00 30.05.2009 11:51
Das nenn ich mal einen Prolog ;)

Kurz, knackig, dramatisch und mitten im Geschehen. Großartig verstanden hab ich zwar nichts, aber ist ja auch eure Absicht gewesen, nicht? ;) Auf jeden Fall hat der Prolog mich schon sehr neugierig gemacht. Was wohl dieses merkwürdige Licht ist? Ob sie das alles irgendwie überleben werden?

Dann lasst uns nicht zu lange auf das erste Kapitel warten ^^

Hab euch lieb


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