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Ein Leben ohne Vergangenheit?

Isamu - Die Suche nach dem Ich
von

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Bitteres Erwachen

Er schlug die Augen auf, doch ein sehr helles Licht blendete ihn und er schloss sie sogleich wieder. Der Geruch von Erde stieg ihm in die Nase. Erde, vermischt mit dem Geruch von Schweiß. Jetzt erst bemerkte er, dass er auf dem Boden lag. Hart und knöchern war er. Ein Gedanke, kurz und jäh, schoss ihm durch den Kopf: »Wo bin ich?«

Obwohl ihm die Zeit auf dem Boden mit geschlossenen Augen vorkam wie eine Ewigkeit, war es in Wirklichkeit doch nur eine kurze Weile, ein Augenblick, ein Herzschlag. Er spielte mit dem Gedanken, die Augen für immer geschlossen zu halten, dem gleißenden Licht zu entfliehen und noch eine Ewigkeit länger die innere Zufriedenheit zu spüren, die gerade durch seinen Körper strömte. Es drang gar ein leises Zwitschern der Vögel an sein Ohr, so lieblich und zart, als ob es eine Sinfonie der herrlichsten Töne wäre.

Doch kaum spürte er eine wohlige Wärme sich in seinem Körper ausbreiten, zerstörte ein kühler Windstoß seinen Frieden. Er musste die Augen öffnen und der Wahrheit ins Auge blicken. Nur einen Spalt breit, weiter wollte er seine Lider nicht entzweien. Und kaum drang der erste Lichtstrahl auf seine Netzhaut, schon war alles so hell, dass er seine Augen aus dem Reflex heraus allein schloss. Einen weiteren Augenblick, und damit einer weiteren halben Ewigkeit, konnte er seiner Seele Frieden schenken. Doch anstatt wieder in Träumereien zu versinken, stellte er sich nun ernsthaft die Frage nach seinem Aufenthaltsort. Draußen in der Natur musste er wohl aufgewacht sein. Denn wo sonst würde man Erde riechen, einen verwurzelten Boden spüren und die Vögel singen hören? Vielleicht war er sogar in einem Wald zu sich gekommen. Er wollte wissen, wo er war und auf einmal schien ihm die Idee, auf ewig die Augen geschlossen zu halten, recht albern. Was könnte ihm das schon bringen? Fest nahm er sich vor, die Augen zu öffnen, und der Wirklichkeit ins Angesicht zu blicken. Zunächst hielt er sich die Hände schützend vors Gesicht, doch schon bald konnte er die ersten Umrisse erkennen.

»Bäume«, murmelte er leise vor sich hin.

Er schien mit seiner Vermutung richtig zu liegen. In den Baumkronen bewegte sich etwas und bei näherer Betrachtung sah er die Vögel von Ast zu Ast hüpfen. Nachdem er dieses Schauspiel eine Weile beobachtet hatte, sah er sich weiter um. Ein Weg führte einen Hügel hinunter, ein anderer verlor sich im dichten Geäst der Bäume. Welchen sollte er nehmen, da ihm doch gar nicht bekannt war, wo er überhaupt herkam? Er besah seine Hände, sie waren schmutzig, ebenso seine Kleidung. Die Hose war an einer Stelle arg zerrissen und brachte eine tiefe Fleischwunde hervor. Notdürftig legte er einen Verband an, indem er von seiner Hose ein Stück abtrennte und über die Wunde legte. Doch wie sollte er dieses kleine Stück Stoff an seinem Bein befestigen? Die braune zerschlissene Weste, die er trug, war ungeeignet, doch ihm fiel das wohl einzig Kostbare an ihm auf. Ein Gürtel, aus robusten schwarzen Ledern mit einer reich verzierten Schnalle, welche ein Wappen zu tragen schien. Doch auch daran konnte er sich nicht erinnern. Diesen Gürtel konnte er sich um sein schmerzendes Bein schnallen und somit seine Wunde vorerst verschließen.

Als er eine Weile den Vögeln zusah, wie sie mit dem Nestbau begannen, versuchte er sich die Zeit vor seinem Erwachen ins Gedächtnis zu rufen. Wie war er hier hergekommen und was das für merkwürdige Kleidung an seinem Leib? Doch er erinnerte sich an nichts, seine gesamte Vergangenheit lag im Dunkeln. Wer waren seine Eltern und wo waren sie? Wie hieß er und wie alt war er eigentlich? Erdrückt von dem Gefühl, nicht zu existieren, begann er langsam dem kleinen Weg den Hügel hinunter zu folgen. Immer wieder tauchten Fragen auf, Fragen, auf die er einfach keine Antwort fand. So taumelte er eine ganze Weile durch den Wald, immer weiter den Weg entlang. Ein anschwellendes Geräusch von plätscherndem Wasser riss ihn schließlich aus diesem Loch der Gefühle. Das Nass war klar und kühl, welches er aus dem Bach mit beiden Händen schöpfte, um sich ein wenig zu erfrischen. Plötzlich erkannte er im Wasser sein eigenes Gesicht. Eine Schnittwunde, die er zuvor gar nicht wahrgenommen hatte, verlief quer über seine Wange. Wo hatte er sich die Wunde zugezogen? Sie sah noch recht frisch aus, höchstens ein paar Stunden alt. Und was er ebenfalls feststellen konnte: sie tat noch weh bei Berührung. Als der Schmerz nachließ, versank er wieder in Gedanken.

»Was soll ich jetzt nur tun?«, fragte er sich, die leeren Augen auf den Bach gerichtet. »Wo soll ich hin?«

Ein Ast trieb im Wasser dahin und da fasste er den Entschluss, am Bach entlang zu wandern, bis er diesem Wald entkam. So gingen einige Stunden ins Land. Immer einen Fuß vor den anderen setzend, stolperte er, nur langsam vorwärts kommend. Die herunterhängenden Zweige der alten Bäume waren ihm ständig im Weg, und so musste er oft einen kleinen Umweg machen.

Die Sonne glühte in einem hellen Rot, als er endlich den Rand des Waldes erreichte. In wenigen Augenblicken würde sich die Nacht über ihn legen. Ein weicher Grashügel bot ihm einen bequemen Platz, um sich ein wenig nach dem langen Marsch hinzusetzen und den müden Füßen und seiner Wunde am Bein eine kurze Pause zu gönnen. Der Feuerball sank nun immer schneller gen Horizont, doch ehe er vollkommen verschwinden konnte, offenbarte sich ihm ein letztes Mal für diesen Tag die vor ihm liegende Landschaft. Er konnte eine weite flache Wiese erkennen, in dessen Mitte, nicht weiter als einen halben Tagesmarsch entfernt, ein kleines Dorf aus dem Boden ragte. Obwohl eben noch alles hell erleuchtet war, begann innerhalb eines Augenblickes alles schwarz zu werden und ihn übermannte ein tiefer Schlaf.

Er war allein und hörte aus der Ferne Schreie. Er rannte los und ein ungutes Gefühl erfüllte ihn, als er sich ihnen näherte. Ein paar Leute kamen ihm mit angstverzerrtem Gesicht und Tränen auf den Wangen entgegen, doch er beachtete sie nicht. Weiter, immer weiter rannte er zu einem brennenden Haus hin, vor dem einige Männer standen, die er nicht erkannte.

»Ich geh da nicht hinein. Ich bin doch nicht lebensmüde!«, protestierte einer.

Als er näher kam, sprach ihn einer an.

»Du kommst genau richtig, Faulpelz! Du willst also immer noch zu uns gehören, ja? Dann beweise uns deinen Mut und bringe uns die Waffen!«

Todesmutig rannte er durch die Flammenwände und erreichte einen Raum, in dem einige Truhen standen. Er öffnete eine nach der anderen und suchte die Schwerter. Als er bei der letzten Truhe angelangt war, hörte er aus der anderen Ecke des Raumes ein leises Stöhnen. Er hielt sofort inne und drehte sich um. Ein Mann lag dort, das Gesicht voller Ruß. Er hatte sich scheinbar bei der Flucht sein linkes Bein eingeklemmt und der offene Bruch hinterließ rote Spuren auf seiner Hose.

»Hilfe!«, schrie der Mann. »Bitte hilf mir!«

Ein Balken krachte gefährlich und der er half dem Mann aus dem brennenden Haus zu entkommen.

»Was soll das, du Nichtsnutz?«, fragte einer der Männer, die vor dem Haus standen und auf seine Rückkehr mit der Beute warteten. »Du willst diesen Mann doch nicht etwa retten? Die Bewohner dieses Dorfes haben sich geweigert sich uns anzuschließen und verdienen es nicht zu leben!«

Der Mann kam näher. Sein Gesicht war nun dicht vor ihm. Im Feuerschein war eine Narbe quer über seiner Wange zu erkennen.

»Siehst du die Narbe?«, und deutete mit seinem Finger darauf »Wenn du zu uns gehören willst, dann tu, was wir dir sagen! Da du sein Leben in dem Haus verschontest, wirst du diesen Fehler wieder gutmachen, indem du ihn jetzt seinem Schicksal überlässt.«

Der Mann am Boden schrie auf. Er ahnte, dass sich sein Leben dem Ende näherte.

»Nein! Nein, bitte tötet mich nicht! Bitte!«

»Jetzt mach schon, töte ihn!«, brüllte der Mann mit der Narbe im Gesicht und schubste den einstigen Retter zu dem wimmernden Mann am Boden. Er warf etwas auf den Boden und sagte: »Hier, nimm das Messer und beeile dich, wir haben keine Zeit!«

Noch benommen von der Hitze im Haus nahm er das Messer auf und beugte sich über den schluchzenden Mann. Er hob den Arm, bereit zum Zustechen, doch etwas hemmte ihn. Ein Strom von Gefühlen und Gedanken hinderte ihn an dieser schrecklichen Tat. Er konnte doch nicht einfach einen wehrlosen Mann umbringen! Was konnte der arme Mann dafür, dass er in diese Situation geraten war? Für ihn war er unschuldig, jemand, zu dem er keine Beziehung hatte. Er schloss die Augen und hörte in aller Deutlichkeit die Rufe der Umherstehenden. »Töte ihn!«, »Worauf wartest du?«, »Tu es!.« Er wusste nicht, was er tun sollte. Zum einen wollte er Mitglied in der Gruppe werden, zum anderen fand er es falsch, wehrlose Menschen umzubringen! Er hielt die Augen weiterhin fest verschlossen und geriet in eine Art Trance. Dann geschah es, sein Arm wurde schwer und sauste, mit dem Messer fest in der Hand, auf den am Boden liegenden, schreienden Mann nieder.

Schweißgebadet wachte er aus diesem schrecklichen Albtraum auf. Er konnte es nicht fassen. War das nur ein Traum, oder war er einst Realität? Nein, er konnte niemanden umbringen, er wollte niemanden umbringen! Doch was war passiert vor jenem Augenblick, als er im Wald zu sich kam? Was, wenn er wirklich einmal so oder so ähnlich gehandelt hatte? Eine starke Übelkeit überkam ihn, doch er riss sich zusammen. Ängstlich und voller Scham blickte er sich um. Es war niemand in seiner Nähe. Er war allein, allein in der Dämmerung. Das Grau der Bäume wich langsam einem zarten Grün. Er blickte in Richtung der weit entfernten Berge und sah, dass die Sonne bald ihre ersten Strahlen über das Land vor ihm werfen würde. Alles sah so friedlich aus. Er fühlte geradezu die Harmonie der Natur. Doch er konnte nicht hier bleiben, denn ein starkes Hungergefühl überkam ihn. In diesem Wald würde er wohl nicht finden, wonach er suchte. Er wollte Antworten! In der Hoffnung, in dem nicht mehr weit entfernten Dorf, endlich seine Fragen beantwortet zu bekommen, lief er los. Doch schon nachdem er nur einige hundert Schritt mit schmerzenden Beinen gegangen war, wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wie er denn in Erfahrung bringen konnte, wer er war. Er kannte schließlich niemanden und auch ihn würde niemand kennen. So lief er immer weiter, bis die Sonne ihren höchsten Stand erreichte. Sein Hunger wurde immer unerträglicher, doch das Schlimmste war sein Bein, welches nun langsam taub zu werden begann und umso heftiger schmerzte. Ein immer stärker werdendes Schwindelgefühl machte ihm zu schaffen, sodass er, nur noch wenige Schritte von der ersten schäbig aussehenden Holzhütte entfernt, das Bewusstsein verlor und zusammenbrach. Er glaubte Stimmen in seinem Kopf wahrzunehmen. Eine Stimme, die er schon einmal gehört hatte. Es war die des Mannes auf dem Boden aus seinem Traum. Er schrie und schluchzte. »Nein! Nein, bitte töte mich nicht! Bitte!.«

Um ihn herum war es dunkel, als er wieder die Augen öffnete. Nur eine einzelne Lampe erhellte ein wenig den Raum mit schwachem Licht. Noch immer war ihm schwindlig zumute, doch er konnte noch einen großen Schrank zu seiner Rechten erkennen, bevor jemand die papierbespannte Tür zur Seite schob.

»Du bist ja wach«, sagte eine freundlich lächelnde alte Frau.

Ihre langen, mittlerweile ergrauten Haare waren zu einem festen Knoten zusammengebunden und sie trug einen kleinen Eimer mit Wasser darin.

»Da du nun wach bist, kannst du dich ja selbst waschen, mein Junge. Heißt du?«

Bevor er aber auch nur ein Wort hätte sagen können, fuhr sie fort.

»Ich bin Kurosawa Megumi, die Frau von Kurosawa Masao. Uns gehört diese kleine Herberge hier. Mein Mann fand dich unweit unseres Dorfes. Er sagte, du warst bewusstlos. Er hat so ein reines Herz. Er konnte dich dort nicht liegen lassen. Und so brachte er dich hierher. Ich habe mich bereits um deine Wunden am Bein und im Gesicht gekümmert. Sie sah schrecklich aus und du kannst glücklich sein, dass mein Mann dich gefunden hat, denn nicht mehr lange und deine Wunden hätten sich furchtbar entzündet. Wenn es dir wieder besser geht, dann möchte mein Mann, dass du zu ihm kommst. Glaubst du, du kannst laufen?«

Er setzte sich auf und ein jäher Schmerz zuckte durch sein verletztes Bein. Doch er dauerte nicht lange an und verschwand so schnell wie er gekommen war.

»Danke, dass Sie mich aufgenommen haben, Frau Kurosawa. Ich glaube, ich kann dank Ihrer Pflege wieder laufen.«

»Dann komm bitte mit«, und sie wies mit einer einladenden Geste in Richtung Tür.

Durch diese gelangten sie auf einen kleinen Hof, vorbei an einem kleinen Brunnen und einem gepflegten Garten, in dessen Mitte eine steinerne Buddha-Statue saß. Aus einem Stall drang das Wiehern eines Pferdes und er sah, wie einige Leute ihrer Arbeit nachgingen. Wieder im Haus, sah er an den Wänden einige Landschaftsbilder und auch einen Ständer, auf dem Schwerter aufbewahrt werden konnten. Trotz einiger kunstvoll verzierten Bilderrahmen wirkte der Eingangsbereich schäbig. Eine junge Frau kam aus einer Tür und verneigte sich vor Frau Kurosawa.

»Führe unseren Gast doch zu Herrn Kurosawa.«

Mit einer weiteren Verbeugung sagte die junge Frau: »Wie Sie wünschen«, und deutete dem etwas im Hintergrund stehenden Fremden an, ihr zu folgen.

»Setz dich zu mir«, sagte eine tiefe, aber freundliche Stimme und er setzte sich zu dem auf dem Boden knienden, alten Mann. Dieser lächelte ihn an und er wirkte trotz der grauen Haare und der vielen Falten im Gesicht recht jung. Er war ein wenig untersetzt und trug einen schlichten Kimono. Dennoch zeugte seine gerade Haltung von Würde. »Ich bin Kurosawa Masao, der Herr dieser Herberge. Wie ich sehe, geht es dir soweit wieder gut, denn als ich dich fand, warst du bewusstlos. Deshalb hatte ich bisher noch keine Möglichkeit dich zu fragen, wie dein Name lautet.«

Etwas verlegen, antwortete der Gerettete: »Ich kenne meinen Namen nicht. Ich wachte im Wald auf und weiß nicht, wer ich bin und wo ich war.«

»Das ist merkwürdig. Sehr merkwürdig. Nun, wie könnte ich dir helfen?«, sagte Herr Kurosawa und musterte ihn. »Wo willst du jetzt hin? Wenn du es nicht weißt, würde ich mich freuen, wenn du noch hier bleibst. Du könntest im Stall aushelfen, dort gibt es immer etwas zu tun.«

»Sehr gern.«

»Gut, dann werde ich meiner Frau davon berichten lassen. Sie soll dir neue Kleider geben, und ich gebe dir einen Namen. Wenn es dir recht ist, würde Isamu gut passen. Dieser Name wird denjenigen gegeben, die mutig und tapfer sind. Und Mut und Tapferkeit wirst du brauchen, wenn du deine Vergangenheit in Erfahrung bringen willst.«

»Ich danke Ihnen«, sagte er zu Herrn Kurosawa in einer tiefen Verbeugung.

»Kumiko, die Frau, die dich zu mir hereinführte, wird dich zu deinem Zimmer begleiten. Dort kannst du dich umziehen und im Anschluss wird sie dich zu Gosho, unserem Stallmeister, bringen.

Wieder in dem Zimmer seines Erwachens, war er gerade dabei sich umzuziehen, als ihn ein erneuter Strom von Gedanken überkam. Jedoch war er im Gegensatz zum letzten viel zuversichtlicher, da er nun nicht mehr allein war. Sobald er bereit war, würde er sich aber auf die Suche nach seiner Vergangenheit machen. Das nahm er sich fest vor. Nachdem er seine neue Kleidung angezogen hatte, betrachtete er etwas genauer die Schnalle an seinem Gürtel mit dem Wappen darauf. Es zeigte einen Kreis aus drei Schwertern, in dessen Mitte ein Kranich stand. War das eine Art Familienwappen? Sein Familienwappen? Woher hatte er den Gürtel? Ob Herr Kurosawa mehr über dieses Wappen wusste? Im selben Moment drang Kumiko´s Stimme von der anderen Seite der Tür zu Isamu.

»Seid Ihr fertig?«

»Ja«, antwortete er, noch in Gedanken mit dem Gürtel beschäftigt. Schon einige Augenblicke später führte Kumiko ihn zu Gosho, dem Stallmeister. Mit einer Verbeugung verabschiedete sie sich und Gosho trat näher an Isamu heran. Er trug ein einfaches Gewand und hatte ein strenges Gesicht, welches durch leichte Falten um Mund und Augen und einem festen Knoten in den langen schwarzen Haaren noch etwas ernster wirkte. Mit rauer, tiefer Stimme sprach er: »Du bist also Isamu? Ich bin Gosho der Stallmeister. Jedoch bin ich mir sicher, dass du das bereits erfahren hast. Viele Jahre schon arbeite ich für Kurosawa Masao und sorge stets dafür, dass die Rösser der Reisenden gut behandelt werden. Allerdings würde ich das allein niemals schaffen, deshalb habe ich einige Gehilfen. Einer von ihnen heißt…« und Gosho pfiff laut durch die Zähne »…Manabu.«

Kaum hatte er den Namen ausgesprochen, schon tauchte zu seiner Seite ein junger Mann auf. Auch er hatte wie Gosho sein schwarzes Haar zu einem Knoten gebunden, jedoch wirkte er viel freundlicher. Mit einem Lächeln verbeugte er sich und der Stallmeister fügte hinzu: »Er wird dich in deine Arbeiten einweisen. Wenn du eine Frage hast, dann wende dich zuerst an ihn. Er kennt sich hier gut aus und wird dir alles, was du wissen musst, zeigen. Und nun verliert keine Zeit, es gibt genug zu tun.«

Nachdem Gosho in einem der Ställe verschwunden war, sprach Manabu: »Tja, wo fangen wir am besten an? Ich hab eine Idee. Nun Isamu, unsere Aufgabe besteht darin, die Pferde der Gäste zu pflegen, denn sie sind von der langen Reise erschöpft. Sie müssen gefüttert und gestriegelt werden und wir müssen ihre Mähne neu flechten. Und dann wäre da noch das Auskratzen der Hufe. Eine Arbeit, die du lieben wirst, ist das Ausmisten der Ställe. Das wird auch unsere erste Aufgabe sein, denn nur wenn der Stall sauber ist, fühlen sich die Tiere wohl.«

Bevor die beiden mit dem Ausmisten begannen, zeigte Manabu ihm noch, wo all die Gerätschaften verstaut wurden.

»Hier in diesem kleinen Stallanbau findest du alles, was für die Pflege der Pferde benötigt wird. So, lass uns beginnen. Nimm dir schon einmal, was du brauchst und dann geht’s auch schon los«, sagte Manabu und konnte ein Lächeln nicht zurückhalten. So verging der Tag und als die Sonne langsam gen Horizont sank, kam Gosho zu Isamu und Manabu, um zu sehen, wie sich der Neuling an seinem ersten Tag geschlagen hatte.

»Isamu hat mir wirklich viel geholfen, Meister Gosho. Noch ein paar Tage, und er wird mir noch besser zur Hand gehen können.«

Gosho nickte zustimmend. So verging die Zeit, in der Isamu das Handwerk eines Stallknechts kennenlernte.

Wie gewohnt stand er schon in aller Frühe auf, um den Pferden ihre Futtervorräte aufzufüllen. Er ging in die Gerätekammer um die Bürste zu holen, lud mit einer Heugabel neues Heu in die Futterkorb und begann den Stall auszumisten. Plötzlich tippte ihm jemand von hinten auf den Rücken.

Er drehte sich in der Erwartung um, Manabu hatte sich angeschlichen, um ihm einen Streich zu spielen. Doch vor ihm stand ein großer schwarzer Hengst und wieherte laut.

»Hast du mich erschreckt.« Wieder wurde Isamu angestupst. Das Tier hatte es auf die Karotten in seiner Tasche abgesehen.

»Du bist wohl ein ganz Schlauer, was? Hier hast du was Feines.«

Er streichelte über die lange dunkle Mähne und fühlte eine seltsame Vertrautheit, obwohl er sich nicht erinnern konnte dieses Pferd schon einmal gesehen zu haben. Der Hengst sah ihn an und Isamu versuchte sich an diese Augen zu erinnern, doch er konnte es nicht.

»Hier bist du ja, Isamu. Wie ich sehe hast du dich bereits mit dem Hengst angefreundet. Er gehört einem Reisenden, der gestern spät in der Nacht eine Unterkunft suchte.« Es war Manabu, welcher gerade in den Stall trat.

Kurz darauf kam Gosho mit einem finsteren Blick in den Stall geeilt.

»Shun´s Besitzer, Herr Matsuko, hat´s sehr eilig und verlangt nach ihm. Ein ungehobelter, unfreundlicher Mann dieser Matsuko.«

»Shun? Ist das der Name des Hengstes?«, fragte Isamu.

»Allerdings. Und der Name passt vorzüglich zu dem edlen Tier. Nun sollte ich mich aber beeilen, bevor Herr Matsuko sich noch bei Meister Kurosawa über mich beschwert.«

Dann verschwand er mit dem Pferd aus dem Stall.

»Ich wette, Herr Matsuko ist zu Shun nicht sonderlich gut. Hast du diese Wunden an seinem Hinterleib bemerkt? Die stammen von Peitschenhieben. Das arme Tier. So darf man doch seinen treuen Begleiter nicht behandeln«, schimpfte Manabu.

»Wieso sagte Meister Gosho vorhin, dass der Name vorzüglich zu dem Pferd passt? Was bedeutet er?«, fragte Isamu. Er hatte diesen Namen noch nie gehört.

»Nun, der Name Shun bedeutet soviel wie „gutes Pferd“. Und das ist es auch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Grobian wie Herr Matsuko einem Pferd einen solchen Namen verleiht. Viel eher denke ich, dass ein wahrer Pferdefreund dies tat. Vielleicht musste der sein Pferd dann verkaufen. Tja, Shun hat´s nicht leicht.«

Isamu nickte zustimmend.

»Bist du fertig mit den Stallarbeiten?«, fragte ihn Manabu, als er gerade das Striegeln eines Pferdes beendete. »Lust auf einen Ausritt? - Du kannst doch reiten, oder?«, fügte er schnell hinzu, als er Isamu´s Gesichtsausdruck sah.

»Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern es je probiert zu haben«, antwortete er.

»Tja, dann wird es ja höchste Zeit. Ich habe heute das Pferd meines Onkels ausgeliehen bekommen. Ich dachte mir, wir können uns die Zeit mit einen Ausritt vertreiben. Jedoch, wenn du noch nie geritten bist, dann würde ich vorschlagen, wir fangen mit Reitstunden an.«

Kurz darauf saß Isamu zum ersten Mal – zumindest soweit er zurück denken konnte – auf einem Pferd. Es war ein wirklich merkwürdiges Gefühl, da sich die Stute mit einem starken Ruck plötzlich in Bewegung setzte.

»Verzeih ihr. Mein Onkel nutzt sie normalerweise, um die schweren Pflüge über seinen Acker zu ziehen. Ihr Name ist übrigens Kiriko.«

Indem Manabu etwas an den Zügeln zog, folgte sie ihm und sie drehten eine kleine Runde um die Herberge. Isamu wurde dabei ganz schön durchgeschüttelt, hielt sich dennoch tapfer im Sattel.

»Für den Anfang gar nicht mal so schlecht, versuche jedoch dich den Bewegungen des Pferdes anzupassen. Du darfst nicht zu fest und zu steif im Sattel sitzen.«

Wieder ein starker Ruck, der Isamu jedoch nicht so sehr überraschte wie beim ersten Mal und Manabu führte Ross und Reiter eine weitere Runde um die Herberge. Er versuchte Manabu´s Ratschläge so gut wie möglich umzusetzen und es wirkte. Nach einer Weile bekam er langsam ein Gefühl für das langsame Reiten auf Kiriko. So verging die Zeit und als es dämmerte, fasste Manabu Isamu´s ersten Reittag noch einmal zusammen.

»Im Vergleich zu heute Mittag, hast du dich um Einiges verbessert. Nun da die Anfänge gemacht sind, heißt es: weiter üben. Wenn du Lust hast, gleich morgen wieder, wenn alle Arbeiten erledigt sind.«

Isamu nickte und freute sich schon auf seine nächste Reitstunde. Am Abend, dachte er noch einmal an den nun zur Neige gehenden Tag. Wie schön es doch war, auf dem Rücken von Kiriko um die Herberge zu reiten. Noch war es nur im Schritttempo, aber er würde eines Tages schnell wie der Wind übers Land reisen. Er spielte mit dem Gedanken, ein eigenes Pferd zu besitzen. Doch das war im Moment unmöglich, denn er besaß nichts von Wert, was er gegen ein Pferd hätte eintauschen können. Nicht einmal eine Vergangenheit hatte er vorzuweisen. Doch wenn er sich seinen Wunsch eines Tage erfüllen könnte, würde er sein Pferd gut behandeln. Wie einen Gefährten, wie einen Freund! Und auf einmal dachte er an Shun, den schwarzen Hengst und an die Art, wie Herr Matsuko ihn, nach Manabu´s Meinung, behandelte. Das arme Tier tat ihm schrecklich leid, doch er konnte nichts unternehmen, denn ihm gehörte das Pferd nicht. Mit diesen Gedanken wiegte er sich in den Schlaf, voller Vorfreude auf den kommenden Tag

Nach dem Mittagessen trafen sich Manabu und Isamu wieder am Stall und wenige Augenblicke später saß Isamu wieder auf Kiriko´s Rücken. Nach einer kurzen Einführungsrunde, welche Isamu zu Manabu´s Zufriedenheit ganz gut meisterte, gingen sie nun über in den Trab. Da ging es schon etwas schneller voran. Am Abend fragte ihn Manabu, ob sie sich nicht zusammen in der Gegend umsehen wollten. Schon nach einigen Schritten aus dem Gehöft der Kurosawas erkannte Isamu, warum Manabu ihn an genau diesem Tag gefragt hatte. Vor einem Wirtshaus in ihrer Nähe sah er eine Gruppe von Männern. Es wurde viel gelacht und um das Feuer herumgetanzt.

»Was hältst du davon, wenn wir uns auch etwas zu trinken gönnen?«, brüllte Manabu durch die Rufe vieler Kehlen Isamu zu.

»Gern, aber was wird denn hier überhaupt gefeiert?«, brüllte Isamu zurück.

»Dieses Fest ist Buddha gewidmet, denn er hält seine Hand schützend über unser Dorf. Siehst du diese Opferschalen dort drüben? Sie werden nachher in das große Feuer geworfen, sodass Buddha unsere Opfergaben über den göttlichen Wind empfangen möge. – Ich weiß, dass ich dir noch nicht gesagt habe, dass ich Buddhist bin, aber in unserem Dorf ist es üblich, religiös zu sein«, fügte Manabu schnell hinzu, als er Isamu´s fragende Augen sah

»Bist du nicht religiös, Isamu?«, fragte er.

»Nein, ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, je an einen Gott geglaubt zu haben.«

Seit jenem Moment, in welchem er im Wald erwachte, waren nun schon mehr als fünf Mondphasen vergangen. Heute befand er sich nun zum ersten Mal im Dorf. Wo war er schon alles gewesen, vor jenem Moment des Augenaufschlags? War er viel herumgekommen? In Gedanken versunken bemerkte er nicht einmal, dass Manabu schon zur Schenke gegangen war, um etwas zu trinken zu bestellen. In der Menge suchend, fanden seine Augen letztendlich ihr Ziel.

»Wo warst du, du Tagträumer? Ich dachte schon, ich müsste dich suchen. Hier nimm erstmal diese Schale.«

Kurz darauf goss er Isamu ein klare Flüssigkeit ein mit den Worten: »Probier mal. Das ist Sake, auch Reiswein genannt.«

Als Isamu ansetzen wollte, um die Schale zu leeren, hörte er jemanden Manabu´s Namen rufen. Beide drehten sich um und entdeckten ein hübsches Mädchen, welches zu ihnen kam.

»Riu, ich wusste ja gar nicht, dass du auch hier bist«, antwortete Manabu verdutzt.

»Wenn ich euch kurz vorstellen darf. Riu, das ist Isamu. Er ist erst seit ein paar Mondphasen bei uns. Meister Kurosawa fand ihn in der Nähe unseres Dorfes. Seitdem wohnt er bei uns. Und das Isamu, ist Riu. Sie ist die Nichte eines guten Freundes von Meister Kurosawa. Früher wohnten sie noch in unserem Dorf und wir haben als Kinder oft miteinander gespielt, wenn ihr Onkel bei Meister Kurosawa zu Besuch war.«

Riu verbeugte sich kurz und Manabu sah sie an.

»Möchtest du dich vielleicht zu uns gesellen?“

»Gern, wenn euch meine Anwesenheit nicht stört«, antwortete sie lächelnd.

Der Abend näherte sich seinem Höhepunkt. Alle waren schon mit den letzten Vorbereitungen für die Verbrennung der Opfergaben beschäftigt. Immer wieder liefen ein paar Dorfbewohner zu einem kleinen Häuschen, welches ein Vorratslager zu sein schien, und brachten Feuerholz und weitere Gaben.

»Entschuldigt mich bitte, ich hab zu viel getrunken. Ich bin gleich wieder da«, sagte Manabu leicht lallend und stolperte davon.

Riu, welche ihre Haare hochgebunden hatte, lächelte Isamu an. Und er spürte auf einmal in sich eine wohlige Wärme aufsteigen. Etwas schüchtern schaute er sie an, doch konnte er seinen Blick auch nicht von ihr abwenden. Sie trug einen zartrosa Kimono, auf den kleine Kirschblüten aufgestickt waren. Ihre zarten Hände passten gut zu ihrem hübschen Gesicht mit den großen braunen Augen. Diese wunderschönen Augen richteten sich nun auf ihn.

»Bedrückt dich etwas Isamu?«

Um abzulenken, antwortete er schnell: »Mir geht’s gut. Ich habe mich nur gerade gefragt, warum du allein hier bist.«

»Oh…«

Riu schaute flüchtig nach, ob Manabu wieder zurück sei. Dann antwortete sie: »Nun, ich wollte mich einfach ein wenig amüsieren. Ich habe nicht oft die Gelegenheit.«

»Verbietet dir dein Ehemann, das Haus zu verlassen?«, fragte Isamu weiter.

»Ich bin nicht verheiratet«, antwortete sie leicht beschämt. »Aber wenn ich es wär, dann wäre es doch normal, dass die Frau sich nicht auf Festen vergnügen darf«, murmelte sie etwas traurig vor sich hin.

»Oh…das wusste ich nicht. Haben deine Eltern dich denn nicht schon in deiner Kindheit verlobt?«

»Doch, haben sie, aber mein Verlobter starb vor unserer Vermählung. Und meine Eltern schieden auch zu früh aus dieser Welt.« Sie schaute in Gedanken versunken auf ihre Finger, welche sie im Schoß zusammengefaltet hatte.

»Das tut mir wirklich leid, dass deine Eltern schon verstorben sind.«

Riu nickte geistesabwesend. Ihre Augen füllten sich etwas mit Wasser, doch bevor sie ihren Gefühlen Ausdruck verleihen konnte, kam Manabu eilig auf sie zugeeilt.

»Riu, ich muss mit dir sprechen«, und er zog sie beiseite. Nach wenigen Worten im Flüsterton kam sie noch einmal auf Isamu zu, um sich knapp zu verabschieden. Ihr Gesicht wirkte nun sehr ernst und nichts verriet den kurzen Moment der Schwäche. Dann eilte sie davon.

»Manabu, was ist geschehen und was hast du ihr gesagt?«, fragte Isamu völlig verdutzt.

Manabu, welcher sich finster umsah, packte ihn an der Schulter und zog ihn weg von dem Fest. Die anderen Feiernden hatten scheinbar noch nichts gemerkt und so plauderten und tranken und sangen sie fröhlich weiter.

»Jetzt sag mir doch bitte, was los ist«, drängte Isamu, nun etwas hartnäckiger.

»Ich, ähm, habe vergessen, dass Meister Gosho mich gebeten hatte, dass ich noch ein Pferd versorgen soll«, antwortete er hastig, doch Isamu erkannte sofort, dass das nur eine Ausrede war.

Bevor er jedoch erneut fragen konnte, was geschehen war, hörte er in der Ferne ein lautes Knacken.

»Was war das?«, fragte Isamu und schaute Manabu entsetzt an.

»Ich weiß es nicht. Aber dass ist egal jetzt, wir müssen weiter!«, und er zog ihn weiter zur Herberge. Schnell und unerkannt entfernten sie sich von der Quelle jenes Knackens und erreichten wenig später den Stall der Familie Kurosawa. Manabu ließ sich in eine Ecke sinken und holte tief Luft. Isamu hingegen ging es viel besser. Er hatte kaum das Gefühl sich verausgabt zu haben. Ruhig atmend fragte er: »Was hat dieses Geräusch verursacht?«

»Isamu…« keuchte Manabu, nach Atem ringend »jetzt sind wir – in Sicherheit. Dieses Knacken… . Dieses Knacken wurde – wurde durch einen Kampf ausgelöst. Einen Kampf zwischen Gut – und Böse. Als ich noch jung war, da wurde unser Dorf – da wurde unser Dorf von einer solchen bösen Macht zerstört. Ich hatte Glück, denn ich war – einer der wenigen – Überlebenden. Meister Kurosawa nahm mich auf und lehrte mir, dass ich, wann immer ich das Böse spüre, weglaufen muss, da ich dieser Macht nicht gewachsen bin. Und das solltest auch du, Isamu!«

Ein Kampf zwischen Gut und Böse? Eine Macht, die solch laute Geräusche hervorbrachte bei einem Kampf, dass die beiden sie noch deutlich in einiger Entfernung vernahmen?

»Isamu, versprich mir, dass du – versprich mir, dass du weglaufen wirst, wenn du so etwas spürst.« Manabu sah ihn, noch immer nach Atem ringend, eindringlich an. In Gedanken versunken nickte er, doch in seinem Inneren wehrte sich etwas gegen die Akzeptanz dieser Unterdrückung. »Geh jetzt am besten schlafen. Du bist in Sicherheit und brauchst dir keine Sorgen machen.«

Isamu merkte, dass es wohl keinen Sinn hätte, noch länger zu versuchen Manabu die Wahrheit zu entlocken. Er nahm sich vor, ihn am nächsten Tag zu fragen, was geschehen war.

Am nächsten Morgen jedoch kam Manabu zu seiner Überraschung zu ihm in sein Zimmer. Er hatte schlecht geschlafen und musste in seinen zahlreichen wachen Momenten an die vergangene Nacht denken. Noch bevor Isamu seinen Freund nach den Geschehnissen ausfragen konnte, sprach dieser: »Isamu, ich soll dir ausrichten, dass Meister Kurosawa dich sprechen will.«

Verwundert folge er dieser Bitte und saß wenige Augenblicke später bei dem alten Herrn der Herberge.

»Isamu, kannst du dir vorstellen, warum ich dich zu mir kommen ließ?«, fragte Masao Kurosawa.

»Nein, Meister«, antwortete er, obwohl er eine gewisse Vorahnung hatte.

»Versprich mir, wenn du je wieder solch eine finstere Macht spürst, das Gleiche zu tun wie gestern Nacht! Renn weg! Eine solche Macht kannst du nicht besiegen!«

»Aber Meister«, unterbrach ihn sein Schützling.

»Genug! Versprich es mir, zu deinem eigenen Schutz.«

»Ja, Meister« antwortete er etwas niedergeschlagen.

»Nun Isamu, kommen wir zu einem anderen Thema. Ich habe nachgedacht, bin aber zu keinem Ergebnis gelangt. An jenem Tage, als ich dich vor unserem Dorf fand, bemerkte ich das Symbol auf deinem Gürtel. Es handelt sich um ein Familienwappen, jedoch weiß ich nicht, welcher Familie es angehört. Isamu, wenn du wirklich erfahren willst welcher Familie du entstammst, dann gehe nach Furuta. Dort wohnt jemand, der dir helfen kann. Er kennt die Wappen der Landesfürsten, den so genannten Daimyo.« Er hielt inne und betrachtete ihn aufmerksam. Nachdem sich Meister Kurosawa sicher war, dass das eben gegebene Versprechen keinesfalls die Lösung des Problems war, fragte er einfühlsam: »Was bedrückt dich mein Junge?«

»Gestern Nacht war ich mit Manabu im Dorf feiern. Da bekam er auf einmal eine gewaltige Angst und er zerrte mich hierher. Auf dem Weg habe ich ein lautes Bersten gehört. Es klang, als ob ein Dutzend Bäume auf einmal umgeworfen würden. Es war grässlich laut und…«

»Isamu!«, Meister Kurosawas Stimme hallte durch den Raum. Er sah ihn sehr streng an. Dann erweichte sich sein Ausdruck. »Ich weiß, was in dir vor sich geht. Ich fühle es. Ich war früher genauso. Zum ersten Mal kam ich im Alter von 19 Wintern mit der Macht des Bösen in Berührung. Damals rettete mich Meister Shinaka. Er warf sich zwischen mich und einen Menschen. Doch dies war kein gewöhnlicher Mensch! Das lass dir gesagt sein. Er war umringt von mittleren bis großen Steinen. So schwer, dass ein starker Mann schon Mühe gehabt hätte auch nur einen zu heben. Sie schwebten um ihn herum als wären sie so leicht wie Federn. Er schleuderte einen, ohne sich auch nur zu rühren, auf mich. Einen so großen jedoch, dass es einen Ochsen hätte erlegen können. Und wie gesagt, warf sich Meister Shinaka zwischen uns. Ihn umgab ebenfalls etwas. Jedoch waren das keine Gesteinsbrocken, sondern eher eine Art silberne Aura. Beide begannen sich zu bekämpfen und vor Angst schloss ich die Augen und erhoffte ein baldiges Ende.« Meister Kurosawa starrte eine Weile ins Leere. Dann fasste er sich wieder und fuhr fort. »Zwei Tage später besuchte er mich, um in Erfahrung zu bringen, wie es mir erging. Ich lebte zu diesem Zeitpunkt schon seit zwei Tagen in Angst. Der Grund dafür war, dass ich das Geschehene nicht verstehen konnte. Ich flehte ihn an, es mir zu erklären, doch er riet mir das Gleiche wie ich dir«, sprach er mit einem leichten Lächeln. Dann fügte er hinzu »Das Wichtigste ist, dass du das verstehen lernst, was dich am meisten belastet. Meister Shinaka erklärte mir, dass es neben den Kräften des Guten auch die Kräfte des Bösen gibt. Jene, in welchem der Geist des Guten steckt, kämpfen gegen das Böse. – Dann prüfte er mich. Er prüfte mich, ob auch in mir solch eine Aura zu finden sei. Doch die Enttäuschung war groß, als er mir mitteilte, dass sich jener Geist nicht zeigte. Und somit verschloss sich mir ein Leben als Kura-Ki-Batsu, was übersetzt soviel wie Böser-Geist-Bestrafer bedeutet. Ich brauchte viele Jahre, das zu akzeptieren. Zumal ich dem Bösen begegnet bin und es nicht begreifen konnte.«

»Meister, ich sah es nicht, dennoch muss ich wissen, ob es Teil meiner Vergangenheit ist. Bitte nennt mir den Weg zu Meister Shinaka.«

»Wenn du wirklich wissen willst, woher du entstammst, dann suche Meister Chi-on auf.«

»Meister Chi-on? Sagtet ihr nicht, dass Meister Shinaka euch prüfte? Mein Wunsch ist es, ebenfalls geprüft zu werden.«

»Isamu«, sprach Meister Kurosawa, »Meister Shinaka war ein alter Mann, zu jener Zeit. Viele Sommer sind seitdem ins Land gegangen. Er ging von uns, lange vor deiner Geburt. Jedoch gab er sein Wissen weiter, an Meister Chi-on.« Er schwieg. Dann, einige Augenblicke später fragte er mit forschendem Blick »Bist du bereit, eine beschwerliche Reise anzutreten? Denn der Weg ist weit und durchwachsen von Hügeln und Flüssen, die dich oft behindern werden.«

»Ja, Meister Kurosawa. Ich muss wissen, wer ich bin oder besser gesagt, wer ich war«, antwortete der Jüngling ohne lange zu zögern.

»Nun gut. Wenn du dir das so sehr wünschst, werde ich mein Möglichstes tun, um dir zu helfen. Soweit ich weiß, lebt Meister Chi-on zurückgezogen im Süden von Furuta, am Meer. Dort musst du nach ihm suchen. Ich kann dir leider kein Pferd geben. Du wirst wohl dorthin laufen müssen und wenn du dich beeilst, dann bist du in wenigen Tagen dort. Jedoch überlasse ich dir ein wenig Verpflegung für die Reise. Dennoch wirst du wohl nicht lange davon zehren können, also sei sparsam mit dem, was du hast.«

»Vielen Dank, Meister«, sprach Isamu mit einer tiefen Verbeugung. Schon am nächsten Tag waren die wenigen Habseligkeiten gepackt und Isamu war bereit zur Abreise.

»Pass gut auf dich auf und vergiss uns nicht, so wie den Rest deiner Vergangenheit«, sagte Manabu grinsend zum Abschied.

»Sobald ich Klarheit über mein vergangenes Leben habe, werde ich euch besuchen kommen, versprochen«, gab Isamu mit einem ernsten Gesichtsausdruck zurück.

Er verabschiedete sich noch von den restlichen Bewohnern der Herberge und wenige Augenblicke später kniete er bei Masao Kurosawa und seiner Frau und trank Tee. Die Teezeremonie, welche der alte Mann für ihn abhielt, dauerte eine ganze Weile, faszinierte ihn jedoch so sehr, dass er es kaum wahrnahm. Als die Becher geleert waren, verabschiedete ihn der Meister mit den Worten: »Denke immer daran, mein Junge, es ist nicht wichtig, wer du warst, sondern nur, wer du bist. Denn was immer du in deiner Vergangenheit erlebt hast, ist bedeutungslos. Nach einem solchen Neuanfang hast du stets die Möglichkeit, vergangene Fehler wieder gut zumachen. Reise dorthin, wohin dein Herz dich führt!«

»Ich danke euch für alles, Meister«, bedankte Isamu und begann seine lange Reise in die ihm unbekannte Welt.
 


 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2009-07-10T19:14:49+00:00 10.07.2009 21:14
hiiiii :D
ich hab das kapitel auch endlich mal geschafft zu lesen^^ *auf sich selber stolz ist*
ist ja net so das ich deine ff net klasse finde es mangelt nur an der lieben Zeit =*(
ich find ja es ist ne super idee von dir so was zu schreiben da würd ich ja nie drauf kommen also respekt^^
iwie fällt mir gar nichts ein was ich an deiner ff kritisieren könnte...
wahrscheinlich weil ich die überarbeitete variante gesehen hab^^
und ich durft ja schon mal nen blick auf kapitel 2 werfen^^ *freu*
die geschichte ist echt spannend geschrieben und ich würd zu gern erfahren wie es weiter geht...
es ist nicht nur so das das thema total interessant und für mich außergewöhnlich ist ich find auch deinen schreibstil toll^^
deine ff lässt sooo viel platz für spekulationen^^
hoffentlich schreibst du gaaanz schnell weiter
ich will immerhin noch erfahren wie es mit isamu´s reise weitergeht^^

ganz ganz liebe grüße^^
Von:  Jillard
2009-06-29T19:03:57+00:00 29.06.2009 21:03
So hab das Kappi durch, wie ich dir schon gesagt habe, lässt dein Schreibstil nix zu wünschen übrig.
Ich finde deine Geschichte ist Top geschrieben.

Isamu hat in dem Dorf und speziell in der Herberge eine schöne Zeit gehabt, aber es stimmt schon um sich selbst zu finden muss er in die Ferne ziehen.
Die Fernen Geräusche des Kampfes heizen die Spannung an, ich frage mich wer sich da eine Konfrontation geliefert hat.
Aber ich habe eine Vermutung und sage nur:
"Welcome home Big Bro." XD

Nun noch zu ein paar 'Fehlern' dich ich ausgemacht habe:
Gegen Ende der ersten Seite wo Taku „Bäume“ sagt hast du noch Anführungsstriche, musst also dort ein paar Pfeildinger setzen damit es mit dem Rest deiner wörtlichen Reden übereinstimmt.

Auf Seite 12 sagt Manabu: "dass ich ein Pferd noch versorgen soll..."
Meiner Meinung nach müsste das 'noch' nach dem 'ich' kommen.

Und zu Letzt, am Anfang von Seite 14 da sagt Gosho:
"Damals rette mich Meister Shinaka."
ich sag mal da muss 'rettete' hin.

So das wär dann alles.
Ich bin gespannt wie Taku's/Isamu's Reise weitergeht, also schreib fleißig weiter. (was du ja eh machst ^^)

Mit Kameradschaftlichem Gruß
Hauptm... ne OG Hizu ;)


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